ungeklärt - unheimlich - unfassbar 2016 - Gerhard Wisnewski - E-Book

ungeklärt - unheimlich - unfassbar 2016 E-Book

Gerhard Wisnewski

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Beschreibung

Verbrechen, die die Welt schockierten

Was geschah wirklich mit Germanwings-Flug 4U9525? Wie und warum verschwand die Familie Schulze aus Drage? Wurde Whitney Houstons Tochter Bobbi Brown ermordet? War Tugce wirklich eine Heldin?

Das sind nur einige Kriminalfälle, die uns 2015 beschäftigten. Wie schon in seinem erfolgreichen Jahrbuch verheimlicht - vertuscht - vergessen wirft Bestsellerautor Gerhard Wisnewski in diesem kriminalistischen Jahrbuch einen kritischen Blick auf die Ereignisse. Seine Chronik bietet nicht nur eine einzigartige Zusammenschau des kriminellen Geschehens, sondern auch packende Hintergründe und Perspektiven, die nicht in der Zeitung standen.

Erscheinungstermin: 17. Februar 2016 - bestellen Sie jetzt vor!

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© 2016 bei Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg Alle Rechte vorbehalten ISBN E-Book 978-3-86445-293-2 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-0 Fax: (07472) 98 06-11Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

ÜBER DEN AUTOR:

Gerhard Wisnewski, geboren 1959, beschäftigt sich mit den verschwiegenen Seiten der Wirklichkeit. Seit 1986 ist der studierte Politikwissenschaftler als freier Autor, Schriftsteller und Dokumentarfilmer tätig. Viele seiner Bücher wurden Bestseller, unter anderem Operation9/11, Das RAF-Phantom und vor allem das seit 2007 erscheinende Jahrbuch verheimlicht – vertuscht – vergessen.

www.wisnewski.de

Vorwort

Das Jahr 2015 hielt wieder jede Menge kriminalistischer Geheimnisse bereit: Was geschah zum Beispiel wirklich mit Flug 4U9525 der Germanwings, der am 24. März 2015 in den französischen Alpen abstürzte? Immerhin wurde uns dies ja als das Megaverbrechen des Jahres verkauft. War es wirklich ein »erweiterter Selbstmord« des Co-Piloten, wie behauptet wurde, oder steckte etwas ganz anderes dahinter? Und was war eigentlich mit der Familie Schulze passiert, die am 23. Juli 2015 plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwand, bis man den 41-jährigen Familienvater eine Woche später tot aus der Elbe fischte? War es wirklich ein Familiendrama, wie die Polizei behauptete, oder gibt es da noch eine viel dunklere Wahrheit? Was ließ eigentlich das Verfahren gegen den Schläger Sanel M. von der jungen Migranten-Heldin Tuğçe Albayrak übrig? 2015 wurde ihrem Peiniger der Prozess gemacht – aber hatte sie wirklich zwei junge Mädchen vor dem Raufbold gerettet, oder war das alles nur ein aufgeblasenes Medienereignis? Wie kam es dazu, dass ein Mann in den USA am 26. August 2015 zwei Reporter vor laufender Kamera erschoss und das Ganze auch noch filmte? Oder was war mit der bedauernswerten Tochter der Pop-Diva Whitney Houston, Bobbi Kristina Brown, die 2015 plötzlich mit dem Gesicht nach unten in der Badewanne lag – genau wie drei Jahre zuvor ihre Mutter? War das nur Zufall, oder hatte hier jemand nachgeholfen? Und was geschah mit jenem unerschrockenen Staatsanwalt Alberto Nisman, der die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner der Vertuschung der Hintergründe eines Bombenattentats bezichtigt hatte? Anfang 2015 lag der Ankläger auf einmal selbst tot in seinem Badezimmer, und die ganze Welt rief plötzlich »Yo soy Nisman« – »Ich bin Nisman«. Hatte ihn wirklich die Präsidentin aus dem Weg räumen lassen, wie von den Medien nahegelegt wurde? Klopfen wir also gemeinsam die unheimlichen Kriminalfälle des Jahres noch einmal ab. Ich bin sicher, wir werden dabei so manche Überraschung erleben …

Herzliche Grüße

Ihr

Gerhard Wisnewski

Einleitung

Die Opfer und die Täter sind diesmal wieder unser Thema. Glaubt man Medien und Polizei, ist eigentlich alles ganz einfach: Marco Schulze, der Familienvater, den man am 31. August 2015 tot aus der Elbe zog, war ein Täter. Ganz offenbar hatte er seine Frau und seine Tochter ermordet und sich dann selbst umgebracht. Oder nehmen wir Andreas Lubitz, den Co-Piloten von Germanwings-Flug 4U9525: War er ein Täter? 149 Menschen und sich selbst soll er umgebracht haben, indem er einen Airbus A320 am 24. März 2015 in den französischen Alpen abstürzen ließ. Oder wie wäre es mit Tuğçe Albayrak, die angeblich zwei junge Mädchen vor einem brutalen Schläger rettete, der anschließend sie erschlug? War die junge Türkin nicht ein Opfer par excellence und eine Heldin, wie sie im Buche stand? Im Juni 2015, als der Prozess gegen den Täter begann, konnten wir dieses Bild auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen.

Vorsicht vor der Realität aus zweiter Hand

Wie wir anhand dieser und vieler weiterer Beispiele sehen werden, ist das mit den Opfern und den Tätern nicht immer so einfach. Sicher: Meistens stimmt die Rollenverteilung – aber oft eben auch nicht. Denn der Staatsanwalt ist noch lange nicht der Richter. Und auch der Richter hat die Wahrheit nicht gepachtet. Das Medienereignis ist noch lange nicht das Ereignis selbst, und eine Medienfigur ist nicht die Person persönlich. Die Medien zeigen nur Spuren der Realität, aber nicht die Realität selbst. Es sind nur Trugbilder oder Schatten, wie in Platons Höhlengleichnis. Mit zunehmender Entfernung von uns sinkt der Realitätsgehalt eines Inhalts rapide. Wenn wir auf der Straße einen Unfall beobachten oder uns an einem Stein einen Fuß stoßen, ist das Realität erster Klasse. Aber schon wenn uns ein Freund etwas am Kneipentisch erzählt, handelt es sich bereits um Realität aus zweiter Hand. Noch schlimmer wird es, wenn uns ein Fremder etwas berichtet. Und am allerschlimmsten sind jene Fremden, die dafür bezahlt werden, dass sie uns etwas erzählen – also die Medien. Dabei ist es ganz egal, ob die betreffenden Personen Schlips und Kragen oder ein nettes Kostüm tragen oder eine vertrauenswürdige Stimme besitzen. Diese Mitteilungen haben die geringste Glaubwürdigkeit, erst recht, wenn es um weit entfernte Ereignisse geht, die wir schlecht nachprüfen können. Während Lokalberichterstattung aus naheliegenden Gründen noch den größten Wahrheitsgehalt besitzt, weil jeder Anwohner mit einem Blick auf die Straße feststellen kann, ob sich dort wirklich beispielsweise eine Baustelle befindet, ist alles andere mit dicken Fragezeichen zu versehen. Wer weiß schon, ob in China wirklich der berühmte Sack Reis umgefallen ist?

Die Alchemie der Wirklichkeit

Unsere heutige Wirklichkeit muss man sich daher eher vorstellen wie die moderne Chemie – wobei sich manche als die reinsten Alchemisten betätigen, indem sie uns Blei als Gold verkaufen wollen. Neben natürlichen Rohstoffen aus dem eigenen Garten gibt es Derivate ebenso wie Synthesen, also komplett künstlich erzeugte Produkte. Während Giftmischer und Panscher im Bereich der Lebensmittel seit Jahrhunderten bekannt und geächtet sind, glaubt alle Welt, dass auf dem Wirklichkeitsmarkt nur Bioprodukte angeboten werden. Dabei ist das lächerlich. Vielmehr gibt es, genau wie im Lebensmittelmarkt, Fälscher und Etikettenschwindler, die mit minderwertiger Ware Geld verdienen wollen – die also das Preis-Leistungs-Verhältnis manipulieren.

Noch schlimmer sind allerdings die Drogenköche, die nicht nur mit Ramsch Geld verdienen, sondern etwas zusammenmixen, damit wir etwas Bestimmtes tun und denken – die uns also steuern wollen. In früheren Publikationen habe ich diese Drogen »Auslöser« genannt – nämlich Nachrichten, die in uns bestimmte Gedanken, Denkweisen, Schlüsse und Handlungen auslösen sollen. Während mehrere solcher Auslöser zu regelrechten Lernprogrammen werden können, werden mehrere Lernprogramme zu Ideologien. Zum Beispiel: Migranten sind lieb, nett, hilfsbedürftig und heldenhaft – wie Tuğçe Albayrak. Und Waffenbesitzer sind böse und verantwortungslos – wie jener Bryce Williams, der im August 2015 zwei Reporter vor laufender Kamera erschoss.

Ein anderes Lernprogramm, auf das wir im Verlauf dieses Buches stoßen werden, lehrt uns, dass Prominente leider immer wieder aus heiterem Himmel seltsame Unfälle erleiden – wie beispielsweise die Tochter der Sängerin und Schauspielerin Whitney Houston, Bobbi Kristina Brown, oder die berühmte amerikanische Entertainerin Joan Rivers, deren seltsames Ableben 2015 immer noch die Öffentlichkeit beschäftigte. Ein früheres berühmtes Lernprogramm war zum Beispiel auch der »Fluch«, der angeblich auf der Familie Kennedy lastete, deren männliche Mitglieder reihenweise von Attentätern oder Unfällen dahingerafft wurden. Glauben Sie von alldem kein Wort. In Wirklichkeit sollten die meisten Medienprodukte unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.

Die Wahrheit ist eine Diva

Und noch etwas Interessantes gibt es über die Wahrheit zu sagen: nämlich, dass sie dummerweise oft unwahrscheinlicher wirkt als die Lüge. Das Gesetz der Lüge dagegen besagt, dass sie immer naheliegender und wahrscheinlicher aussehen muss als die Wahrheit. Nehmen wir beispielsweise den Angriff auf das World Trade Center vom 11. September 2001: Erscheint es nicht viel wahrscheinlicher, dass er von ausländischen Terroristen unternommen wurde als von der eigenen Regierung? Oder wie wäre es mit dem Verschwinden der Familie Schulze aus Drage bei Hamburg: Ist ein Familiendrama hier nicht viel naheliegender als ein hinterhältiger Mord? Oder der Tod von Joan Rivers: Wäre ein Mord hier nicht sehr weit hergeholt, während Ärztepfusch viel plausibler erscheint?

Und wie ist das nun mit diesem Buch? Wird Ihnen hier nun endlich die Wahrheit erzählt? Nun, die Wahrheit ist manchmal eine Diva und kompliziert obendrein. Oder freundlicher formuliert: eine scheue Geliebte, die man nie ganz besitzen kann, wie der österreichische Autor Hermann Bahr schrieb. Aber man kann sich immer wieder aufs Neue um sie bemühen. Und das ist denn auch genau das, was dieses Buch versuchen wird.

Alberto Nisman: Sein Ende kam nicht irgendwann

18. Januar 2015, Puerto Madero/Buenos Aires. In einem Apartment im 13. Stock des Wohnturms Torre del Parque klingelt wieder und wieder das Telefon. Es ist die Wohnung eines gewissen Alberto Nisman, 51 Jahre alt, Staatsanwalt. Doch niemand nimmt ab. Am Abend steht schließlich seine Mutter vor der Wohnungstür. Doch der Schlüssel steckt von innen. Um 22 Uhr holt sie einen Schlosser und lässt die Wohnung öffnen. Doch auch die Tür zum Badezimmer ist blockiert – allerdings nicht durch einen Schlüssel, sondern durch den Körper ihres Sohnes. Er ist tot. Erschossen. In seinem Kopf klafft ein Loch, neben (oder unter) ihm liegen eine Pistole vom Typ Bersa, Kaliber 22, sowie eine Patronenhülse. Alles weist auf einen Selbstmord hin.

Alberto Nisman war nicht irgendwer, und sein Ende kam nicht irgendwann. Als Sonderstaatsanwalt arbeitete Nisman seit Jahren an der Aufklärung des »argentinischen 9/11« – des Anschlags auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires, bei dem im Juli 1994 85 Menschen ums Leben kamen und rund 300 verletzt wurden. Das Attentat wurde angeblich mit einer Düngemittelbombe auf einem Lkw durchgeführt. Nisman war davon überzeugt, dass der Iran und die Hisbollah dahintersteckten – und dass die argentinische Präsidentin dies aus außenpolitischer Rücksichtnahme vertuschen wollte. Am nächsten Tag, am Montag, dem 19. Januar 2015, sollte Nisman einen ganz großen Auftritt vor dem argentinischen Nationalkongress haben und dem Parlament seine Vorwürfe gegen Präsidentin Kirchner erläutern. Und nun war er plötzlich tot.

»Yo soy Nisman«

War das ein Hype! Der außerhalb Argentiniens unbekannte Staatsanwalt wurde mit einem Schlag weltberühmt. Die Medien berichteten weltweit über den Fall des mutigen Ermittlers, der bei seiner Suche nach der Wahrheit ums Leben gekommen war. Und wem das nützte, war natürlich auch sofort klar: Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Sofort sprang die globale Empörungsmaschine an, und Millionen Menschen solidarisierten sich mit dem verstorbenen Staatsanwalt. Auch hierzulande trugen die Nachrichtensprecher quasi Trauerflor, als wäre ein Staatsoberhaupt dahingeschieden. Analog zu den Attentaten auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Februar 2015 liefen Menschen mit »Yo soy Nisman«-Schildern durch die Straßen und über die Bildschirme: »Ich bin Nisman«. Sogar das Design der Schilder war dasselbe wie nach den Charlie Hebdo – Anschlägen in Paris: weiße Schrift auf schwarzem Grund. Irgendwie hatte man das Gefühl, dauernd mit ein und derselben Corporate Identity konfrontiert zu werden. Oder mit einem Sprachkurs für die Phrase »Ich bin xy« in den Sprachen Spanisch und Französisch.

© Picture Alliance (pa) / Rodrigo Ruiz Ciancia / Anadolu Agency

Trauerkundgebungen für Alberto Nisman

Bösewicht Iran

Seit 2004 hatte Nisman vor allem in Richtung Iran ermittelt. Zusammen mit der palästinensischen Hisbollah habe das Teheraner Regime 1994 das jüdische Gemeindezentrum angegriffen, davon war der argentinische Staatsanwalt überzeugt. Ebenso überzeugt zeigte er sich, dass niemand Geringerer als die argentinische Präsidentin die Finger bei der Vertuschung der iranischen Täterschaft im Spiel hatte – aus außenpolitischer Rücksichtnahme. Ja, mehr noch: »Nisman warf Kirchner vor, einen geheimen Deal mit dem Iran eingefädelt zu haben, um die Rolle von [iranischen] Beamten zu vertuschen, die hinter dem Bombenanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum 1994 in Buenos Aires gesteckt haben sollen« (Die Welt, online, 15.3.2015). Argentinien habe versucht, »die iranischen Tatverdächtigen von der internationalen Fahndungsliste streichen zu lassen« (Süddeutsche Zeitung, 14./15.3.2015). Kein Zweifel: Nisman war ein unerschrockener Kämpfer für die Wahrheit über den schrecklichen Tod von 85 Menschen und schien ganz nahe daran zu sein, den Sturz der Präsidentin herbeizuführen. Wenige Tage vor seinem Tod hatte er Kirchner formell angeklagt, die Ermittlungen sabotiert zu haben, und er bereitete sogar einen Haftbefehl vor. War es deshalb nicht allzu offensichtlich, dass der angebliche Selbstmord nur vorgetäuscht war und diese skrupellose Präsidentin nun auch noch den mutigen Staatsanwalt auf dem Gewissen hatte – kurz bevor dieser vor dem Parlament gegen sie aussagen wollte? Natürlich: »Er starb, vier Tage nachdem er bei einem Richter formell Anklage gegen die Präsidentin und ihren Außenminister erhoben hatte und einen Tag bevor er diese Behauptungen vor dem Kongress erläutern wollte«, schrieb die australische Website news.com.au vielsagend (22.1.2015).

Selbstmord oder Mord?

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Todesnachricht begann ein politischer und kriminalistischer Kampf um die Todesumstände: Selbstmord oder Mord? Wie war der Staatsanwalt denn nun gestorben? Von der Antwort hing viel ab. Ihr Ex-Mann sei »ohne jeden Zweifel« umgebracht worden, meinte etwa Nismans geschiedene Frau Sandra Arroyo Salgado, ihres Zeichens argentinische Bundesrichterin: »Ich habe keinen Zweifel: So, wie er war, mit seiner Persönlichkeit, hätte er sich niemals das Leben genommen«, sagte sie laut BBC. »Er war extrem besorgt um seine Gesundheit und fürchtete sich davor, jung zu sterben. Also wusste ich im selben Moment, als man mir erzählte, dass er tot neben einer Waffe gefunden worden sei, dass ihn jemand getötet hatte« (online, 28.5.2015).

Zwar sprachen der angeblich von innen steckende Schlüssel, die Leiche hinter der Badezimmertür, der einzelne Schuss in den Kopf und die Waffe nebst Patronenhülse auf dem Boden für einen Suizid. Andererseits soll sich in der Wohnung ein Einkaufszettel für den folgenden Tag gefunden haben. Außerdem gab es keinen Abschiedsbrief, und an Nismans Händen konnten keine Schmauchspuren gesichert werden. Letzteres war besonders wichtig. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet und der forensische und politische Hahn in Richtung Kirchner gespannt. Denn der Tote hätte sich die Pulverreste ja schließlich nicht mehr selbst abwaschen können. Zwar erklärte die leitende Ermittlerin Viviana Fein, die Pulverrückstände der benutzten Bersa Thunder Kaliber 22 seien für den benutzten »elektronischen Wischtest« möglicherweise zu gering gewesen. Doch auch ein weiterer Test mit einem Elektronenmikroskop förderte keine Schmauchspuren an Nismans Händen zutage. Die Erklärung von einigen Experten, die Bersa produziere manchmal überhaupt keine Schmauchspuren, ist jedoch unglaubwürdig. Spätestens unter einem hochempfindlichen Elektronenmikroskop hätte man Pulverrückstände auf der Hand des Staatsanwalts finden müssen. Denn wenn eine Patrone explodiert, setzt sie nun einmal Rauch frei, und dieser Rauch muss irgendwohin. Da die Waffe ja nicht luftdicht ist, entweicht der Pulverdampf sowohl durch den Lauf als auch seitlich aus dem Schießeisen und gelangt so an die Hände des Schützen und in die weitere Umgebung. So gering sie auch sein mögen, spätestens mit Hilfe eines Elektronenmikroskops müssen sich diese Spuren finden lassen. Und während alle Welt über die fehlenden Pulverreste an Nismans Hand diskutierte, redete von einer weiteren fehlenden Spur niemand: Da bei einem aufgesetzten Schuss Blut aus der Wunde spritzt, hätte auch auf Nismans Schusshand Blut vorhanden sein müssen. Das war aber ebenfalls nicht der Fall.

© MARCOS BRINDICCI / Reuters / Corbis

Staatsanwalt Alberto Nisman: Selbstmord oder Mord?

Ein Selbstmord löst sich in Rauch auf

Tatsächlich löste sich Nismans angeblicher Selbstmord zunehmend in nichts auf. Darüber hinaus platzte auch die Version vom »innen steckenden Schlüssel«. Zwar war dies ohnehin noch nie ein zwingendes Argument für einen Selbstmord gewesen – denn warum sollte ein von innen steckender Schlüssel einen Täter vom Verlassen der Wohnung abhalten? Wenn, dann könnte er ihn höchstens am Betreten hindern. Was aber wäre, wenn das Opfer seinen Mörder freiwillig in die Wohnung gelassen hätte? Dann hätte er hinterher ganz einfach hinausspazieren können. Wie sich herausstellte, gab es zum Haupteingang der Wohnung gar keinen Schlüssel, wie ein Schlosser erklärte, der zur Öffnung der Wohnungstür gerufen worden war. Sondern diese Wohnungstür verfügte vielmehr über ein elektronisches Schließsystem. Da der Haupteingang elektronisch verriegelt gewesen sei, hätten er und Nismans Mutter sich entschieden, die Personaltür zu benutzen, sagte der Schlosser gegenüber der Presse (Buenos Aires Herald, 21.1.2015). Zwar steckte hier tatsächlich ein Schlüssel von innen, doch dieser habe sich – da er nicht im Schloss gedreht war – leicht mit einem Draht von außen nach innen hinausstoßen lassen. Daraufhin habe die Mutter die Personaltür mit einem Zweitschlüssel aufschließen können. Für die Frage »Mord oder Selbstmord« ist das aber, wie gesagt, ohnehin ohne Bedeutung. Denn verlassen hätte ein Täter die Wohnung allemal können.

Schlupflöcher wie ein Taubenschlag

Damit waren wichtige Argumente und Bedingungen für einen Selbstmord hinfällig. Es kommt aber noch besser: Denn die Wohnung von Staatsanwalt Nisman hatte offenbar mehr Schlupflöcher als ein Taubenschlag. Die argentinische Zeitung Clarin wartete noch mit einem dritten Zugang auf, nämlich einem Verbindungsgang zu einem anderen Apartment. Das Blatt veröffentlichte ein Foto einer kleinen Metalltür, die von Nismans Wohnung in einen engen Versorgungsgang führte, in dem nur eine große, etwa hüfthohe Klimaanlage stand. Wie aus den Bildern hervorgeht, hätte man entweder über die Klimaanlage hinwegsteigen oder sich vielleicht auch daran vorbeizwängen können. Tatsächlich wurden Clarin zufolge in dem Gang auch ein Fuß- und ein Fingerabdruck sichergestellt – wie frisch oder wie alt sie waren, wurde nicht mitgeteilt (21.1.2015). Jedenfalls hätten eventuelle Täter die Wohnung wahrscheinlich auf drei Wegen betreten und verlassen können: Über den Haupteingang, den Nebeneingang und den Verbindungsgang zur Nachbarwohnung. Nun wäre natürlich interessant gewesen zu erfahren, wer diese geheimnisvolle Nachbarwohnung bewohnte. In dieser Frage hielten die Behörden sich jedoch bedeckt. Man stellte lediglich klar, dass es sich nicht um einen Iraner handelte. Die argentinische Nachrichten-Website The Bubble schrieb, der Nachbar sei ein Chinese (22.1.2015).

Eine fremde Waffe

Der nächste Schlag für die Selbstmord-Version bestand darin, dass es sich bei dem gefundenen Schießeisen gar nicht um Nismans Waffe handelte. Eine fremde Waffe ist aber allemal ein Prima-facie-Indiz für Fremdverschulden. Die Erklärung, wie Nisman zu dieser Waffe kam, ist besonders interessant. Gegeben wurde sie von seinem EDV-Mitarbeiter Diego Lagomarsino. Für die Betreuung von Nismans Computern erhielt der 38-Jährige aus einem Regierungsfonds für die Aufklärung des Attentats auf das jüdische Gemeindezentrum das stolze Salär von rund 4000 Euro im Monat – selbst für westliche Verhältnisse ein stattliches Gehalt. Den Medien berichtete Lagomarsino, er sei am Samstag, dem 17. Januar, gegen 16 Uhr von Nisman herbeigerufen worden. Als er bei seinem Chef eintraf, sei es allerdings nicht um Computer gegangen; vielmehr habe Nisman ihn gefragt, ob er ihm eine Pistole leihen könne. Er habe kein Vertrauen in seine Sicherheitsleute, fühle sich bedroht und habe Angst um seine Kinder. Angeblich fuhr Lagomarsino daraufhin nach Hause und holte seine Pistole, eine Bersa Kaliber 22, um sie dem Staatsanwalt zu geben. Anschließend habe er seinem Arbeitgeber den Umgang mit der Waffe erklärt. Gegen 20 Uhr habe er Nisman wieder verlassen (u. a. The Guardian, online, 31.1.2015). Zeugen oder Beweise für diese Schilderung gibt es nicht.

Der letzte Zeuge

Demzufolge war der EDV-Techniker also der Letzte, der Nisman lebend gesehen hat. Und damit ist er schon per se verdächtig. Zwar ist natürlich nicht jeder, der ein Mordopfer zuletzt lebend gesehen hat, auch der Mörder. Auf der anderen Seite ist der Mörder aber immer der Letzte, der ein Opfer lebend gesehen hat. Und natürlich behauptet er immer, sich von dem Opfer verabschiedet zu haben. Bei vielen »letzten Zeugen« mag das auch stimmen – aber stimmte es auch bei Lagomarsino? Gab es also nach Lagomarsino wirklich noch einen allerletzten Lebenszeugen, nämlich den wirklichen Mörder? Oder war es doch Lagomarsino? Die Frage ist berechtigt, denn immerhin lag seine Pistole am nächsten Tag neben dem toten Nisman. Und die tödliche Kugel stammte aus dieser Waffe. Damit befinden wir uns bereits sehr nahe an einem Mordverdacht, es sei denn, der Verdächtige könnte diese Umstände plausibel erklären und diese Erklärung möglichst auch beweisen – was hier nicht der Fall war. Im Gegenteil: Lagomarsino schilderte hier einen durch und durch unwahrscheinlichen Vorgang.

Das Rätsel um die Waffe

Das Problem ist nämlich, dass sich Nisman gar keine Waffe leihen musste, weil er selbst zwei Schießeisen besaß, einen Rossi-Revolver Kaliber 38 und sogar eine Bersa Kaliber 22, ganz ähnlich der von Lagomarsino. Während er den Rossi 2009 abgegeben habe, wurde die Bersa 22 in der Wohnung seiner Mutter gefunden (Buenos Aires Herald, online, 23.4.2015). Warum sollte er sich also Lagomarsinos Bersa leihen, statt sich seine eigene zu holen? Zumal Lagomarsinos Waffe, wie der EDV-Techniker angab, auch noch eine »Macke« hatte: Bei vollem Magazin mit sechs Patronen klemmte sie. »Ich sagte zu ihm: Schau, das ist eine alte Waffe. (…) Ich weiß nicht, ob du dich damit schützen kannst«, erklärte Lagomarsino hinterher. »Mach dir keine Sorgen«, habe der Staatsanwalt geantwortet: »Ich will sie nur im Handschuhfach haben, falls mir ein Irrer mit einem Stock über den Weg läuft, der meint, ich sei ein Verräter« (International Business Times, 29.1.2015). Doch schon in dieser Schilderung liegt ein Widerspruch. Denn erstens verträgt sich Todesangst nun mal nicht mit einer unzuverlässigen Waffe. Da Angst zu einem großen Teil aus Phantasien besteht, würde sich jeder verängstigte Mensch sofort vorstellen, wie die Pistole im Ernstfall versagt. Auch wenn nach Auskunft des Eigentümers die Ladehemmung angeblich erst bei vollem Magazin auftritt. Denn damit war das Schießeisen nun mal unzuverlässig: Wer garantierte denn, dass sie nicht morgen schon bei drei Patronen blockierte? Und auch für einen Selbstmord würde sich niemand eine unzuverlässige Waffe leihen, schon gar nicht, wenn er selbst eine besitzt. Die Vorstellung, die Waffe könnte versagen, wäre hier genauso wenig akzeptabel wie in einer Selbstverteidigungssituation. Zweitens würde sich kein ängstlicher Mensch, der selbst eine Waffe besitzt, ein fremdes Schießeisen leihen, mit dem er nicht vertraut ist. Auch dann nicht, wenn es sich um dasselbe Modell handelt, denn jede Waffe ist nun mal individuell.

© http://peru.com/actualidad/internacionales/alberto-nisman-revelan-impactantes-imagenes-caso-fotos-noticia-338169; Quelle: Divisio fotografica policial

Durch eine Kugel aus dieser Waffe starb Alberto Nisman

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob jemand ernsthaft einen anderen ohne dessen Wissen in die furchtbare und auch kritische Situation bringen würde, mit dessen Waffe Selbstmord zu begehen. Zwar kennt man das Verhältnis der beiden nicht im Detail, aber das wäre doch recht ungewöhnlich. Und wenn Lagomarsino die Waffe gerade erst von zu Hause geholt und dem Staatsanwalt anschließend ganz unverfänglich geliehen hatte – warum befanden sich dann eigentlich keine Fingerabdrücke von ihm darauf (El Litoral, online, 26.2.2015)? Das wäre nach Lage der Dinge eigentlich zwingend gewesen. Also hatte er die Fingerabdrücke offenbar abgewischt.

Eine Geschichte mit Fragezeichen

Hinter der Geschichte, wie der Staatsanwalt zur Waffe seines Mitarbeiters kam, stehen also dicke Fragezeichen. Beweise oder Zeugen für seine Schilderung hat Lagomarsino ohnehin nicht. Dafür wurde der Mann womöglich bei einer Ungenauigkeit ertappt. Wie schon gesagt, ist der »Abschied« oder die »Trennung« des letzten Lebenszeugen von einem späteren Mord- oder »Selbstmordopfer« ein entscheidender Punkt. Wann und wo man sich angeblich getrennt hat und vor allem wodurch sich das belegen lässt, sind wichtige Ermittlungsthemen. Denn hier geht es ja darum, den letzten Lebenszeugen entweder als Verdächtigen auszuschließen oder aber als Mordverdächtigen zu identifizieren. Die Darstellung des letzten Lebenszeugen sollte also felsenfest »stehen«, da sie ihn gegen den Mordverdacht und Mordvorwurf quasi »abschottet«. Aber ausgerechnet hier ist Lagomarsino offenbar ein kapitaler Fehler unterlaufen. Demnach verließ er Nisman keineswegs am Samstagabend, dem 17. Januar, gegen 20 Uhr, sondern erst kurz vor eins am Sonntagmorgen (18. Januar), wie die Pforte des La-Parc-Gebäudes notierte. »Theoretisch werden alle Besucher des Turms, in dem Nisman lebte, erfasst«, hieß es in der argentinischen Zeitung Página 12 (online, 30.1.2015). »Das Sicherheitspersonal notiert den Namen, die Passnummer und wohin der Besucher möchte, einschließlich der jeweiligen Zeiten.« Die Ermittler hätten jedoch festgestellt, dass die Aufzeichnungen ungenau seien. Was Lagomarsino angehe, »sei dieser am Samstag [17.1.] gegen 15 Uhr angekommen, um 15.30 Uhr wieder gegangen und gegen 20 Uhr wieder zurückgekommen«, sagte die untersuchende Staatsanwältin Viviana Fein laut Página 12. Er ging also nicht wieder weg, wie er selbst erklärt hatte. In Wirklichkeit verließ er Nisman also wohl viel später als ursprünglich angegeben. Wobei sich die Frage stellt: Wenn sich die Sache mit der Waffe tatsächlich so abspielte, wie er es dargestellt hat, warum sollte Lagomarsino dann über den Zeitpunkt seines Abschieds lügen?

»Ohne Zweifel das Opfer eines Mordes …«

Allmählich wurde der zunächst plausibel erscheinenden Selbstmordtheorie der Boden entzogen. Langsam verschob sich das Gewicht in Richtung Mord, insbesondere wegen der fremden Waffe sowie aufgrund der fehlenden Schmauch- und Blutspuren an Nismans Schusshand. Und einen Verdächtigen gab es auch schon. Auch die argentinischen Offiziellen änderten ihre Meinung im Verlauf der Untersuchungen. Folgten sie zunächst dem Prima-facie-Eindruck eines Selbstmordes, erklärte die zuständige Staatsanwältin Viviane Fein später, sie könne sich weder auf das eine noch auf das andere festlegen. Und auch Staatspräsidentin Kirchner, die im ersten Moment von einem Selbstmord ausgegangen war, änderte ihre Meinung und zeigte sich bald darauf überzeugt von einem Mord. Doch dazu später. Während die amtliche Untersuchung noch andauerte, beauftragte Nismans Ex-Frau, Richterin Salgado, eine eigene Kommission aus hochkarätigen Kriminalisten und Experten mit der Ermittlung der Todesursache. Am Nachmittag des 5. März 2015 präsentierte sie die Resultate in einer Pressekonferenz. Die Untersuchungen »basierten auf Fotos der Leiche, des Tatorts und einer Videoaufzeichnung der Autopsie«. Die wichtigsten Ergebnisse aus dem Bericht:

»Der Teil von Nismans rechter Hand, die die Waffe gemäß der Selbstmordthese abgefeuert haben müsste«, habe tatsächlich »keine Spuren von Blut« aufgewiesen.

Das Blut spritzte »aus geringer Höhe auf das Badezimmer-Bidet – was bedeutet, dass der Staatsanwalt kniete, als er von der Kugel getroffen wurde«.

»Die Kugel bewegte sich von hinten unten rechts nach vorne oben links.« Also ein »Genickschuss«.

Fazit: Staatsanwalt Nisman »wurde ohne Zweifel Opfer eines Mordes. Diese Schlussfolgerung ist wissenschaftlich belegt.« »Alberto Nisman wurde in das Bad geführt und gezwungen, sich mit seinem rechten Knie auf den Boden zu knien, bevor ihm eine Kugel in den Kopf geschossen wurde« (International Business Times, online, 6.3. und 12.3.2015).

© Computerkartographie Carrle nach International Business Times, online, 12.3.2015

So starb Staatsanwalt Alberto Nisman

Zusammenfassend spricht für …

Selbstmord

Mord

eine Waffe, eine Kugel und eine Patronenhülse bei der Leiche

dass die Leiche hinter der Badezimmertür verklemmt war. Fraglich: Diese Darstellung wurde so nicht wiederholt. Überdies kann ein Täter in einem engen Bad die Tür auch gegen den Widerstand eines toten Körpers öffnen, sodass sich dieser anschließend wieder in seine Liegeposition zurückbewegen kann

die von »innen verschlossene« Wohnungs- bzw. Personaltür (kein zwingendes Argument für Selbstmord)

»Genickschuss«: Schusskanal von hinten unten rechts nach vorne oben links (ungewöhnlich für einen Selbstmörder)

fremde Waffe

kein bekanntes Selbstmordmotiv

kein Abschiedsbrief

Einkaufszettel für den nächsten Tag

unwahrscheinliche Erklärungen eines Verdächtigen

Tür- und »Schlüsselargument« ohne Bedeutung, da der Täter die Wohnung auch bei einem steckenden Schlüssel jederzeit hätte verlassen können

keine Schmauchspuren an der Schusshand

fehlendes Blut an der Schusshand

Tot gefährlicher als lebendig

Fragt sich jetzt nur noch, wer Nisman wirklich auf dem Gewissen hatte. Gegen Präsidentin Kirchner hatte nur der erste Eindruck gesprochen: Zu Beginn hatte Nismans Ex-Frau noch darauf hingewiesen, »dass Alberto, nur vier Tage nachdem er die Präsidentin dieses Landes einer möglichen Vertuschung eines Terroranschlags beschuldigt hatte, bei dem 85 Menschen gestorben waren, tot aufgefunden wurde«. Auf der anderen Seite schien der tote Nisman der Präsidentin noch viel mehr zu schaden als der lebende. Und das gilt übrigens auch für andere Leichen, die in jüngster Zeit unbequemen Staatschefs vor die Füße geworfen wurden, wie beispielsweise Wladimir Putin. Auch ihm schadeten die Toten von Flug MH17 (17. Juli 2014) viel mehr, als ihm ein Abschuss der Maschine jemals hätte nützen können (wobei hier ein möglicher Nutzen ohnehin nicht sichtbar ist). Und auch der Regimekritiker Boris Nemzow, der Anfang 2015 vor dem Kreml erschossen wurde, hatte paradoxerweise wohl noch nie in seinem Leben einen solchen gegen Putin gerichteten Einfluss wie im Augenblick seines Todes. Und das gilt auch für den argentinischen Staatsanwalt Nisman. Nach seinem Tod gab es einen globalen Aufschrei gegen Kirchner und ihre Regierung. Argentiniens Präsidentin stand weltweit als heimtückische Mörderin am Pranger. Ein Mordauftrag gegen Nisman wäre für sie also überhaupt nicht nützlich gewesen.

Eine windige Anklage

Und das lag auch daran, dass Nismans Anklage und Vorwürfe gegen Kirchner für sie gar keine juristische, sondern höchstens eine propagandistische Gefahr darstellten. Fakt ist: Nismans Anklage fiel bei der Kritik durch. Selbst das Urteil des regierungsfernen Buenos Aires Herald fiel vernichtend aus. Auf ein Faksimile der Anklageschrift gegen Kirchner hatte die Zeitung die große Schlagzeile »Nichts Neues: Nismans Bericht kann keinen Verschwörungsverdacht anfachen« gedruckt (»Nothing new: Nisman’s report fails to fan flames of conspiracy«, online, 21.1.2015). Präsidentin Fernández de Kirchner zeigte sich zufrieden: »Ich glaube, niemand kann dieser englischsprachigen Zeitung eine zu große Regierungsnähe vorwerfen«, schrieb sie. »Der Buenos Aires Herald, Página 12 und andere (ich möchte hier niemanden bevorzugen) haben die sogenannte ›Anklage des Jahrhunderts‹, die angeblich die Komplizenschaft der argentinischen Präsidentin, des argentinischen Außenministers und des Generalsekretärs der politischen Vereinigung La Cámpora bei der Vertuschung der Schuld der iranischen Staatsbürger in das AMIA-Bombenattentat vor 21 Jahren hätte beweisen sollen, wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht« (Cristina Fernández de Kirchner, online, 22.1.2015).

Zertrümmert und in der Luft zerfetzt

Ende Februar 2015 stellte der zuständige Richter Daniel Rafecas fest, dass Nismans Vorwürfe »nicht im Geringsten« standhielten, ja, es nicht einmal Indizien für die Richtigkeit der Anschuldigungen gegen Kirchner und andere gebe, und lehnte ein Gerichtsverfahren gegen die Präsidentin ab. Laut Süddeutscher Zeitung, die dem Juristen einen Besuch abstattete, fiel Rafecas’ Urteil niederschmetternd aus: »Richter Rafecas wurde bekannt, weil er die Klage [gegen Kirchner] abwies. Genau genommen hat er sie abgeschmettert, zertrümmert, in der Luft zerfetzt. Es gebe nicht einmal ›minimale Anhaltspunkte für einen Strafprozess‹ gegen Kirchner, hat Rafecas in seiner Begründung geschrieben.« Der Richter weigere sich, »überhaupt von einer Anklage zu sprechen, weil er der Meinung ist, dass der tote Staatsanwalt gar keine solche vorgelegt hat, sondern nur einen wertlosen Stapel Papier. ›In diesem Schriftstück wird kein Delikt präsentiert‹, sagt Rafecas. ›Fin de historia‹, Ende der Geschichte.« Wobei Richter Rafecas nicht dafür bekannt sei, dass er voreilig Geschichte und Geschichten beende (SZ, 14./15.3.2015). Ein Desaster. War das etwa Nismans letztes Geheimnis gewesen: dass er zehn Jahre lang einem Phantom nachgejagt war und versucht hatte, einen windigen Fall gegen die argentinische Präsidentin zu konstruieren? Und dass er nach Ablauf dieser langen Zeit in Wirklichkeit gar nichts gegen sie in der Hand hatte? Dass also sein Verfahren mit einer Riesenblamage enden würde? Hatten etwa diejenigen recht, die in seiner Anklage gegen die Präsidentin nichts weiter sahen als einen »juristischen Staatsstreich«? Lag hierin vielleicht sogar doch ein Selbstmordmotiv, und richtete Nisman nach Art gescheiterter Putschisten die Waffe gegen sich selbst? Denn wer einen Putsch versucht und unterliegt, hat am Ende normalerweise nur noch eine Wahl: den Tod. Dieser Tod half zunächst, die Substanzlosigkeit der Anklage zu vertuschen. Denn nun blickte zumindest der Rest der Welt erst einmal auf Nismans Ableben und seine merkwürdigen Umstände und nicht mehr auf die Stichhaltigkeit seiner Anklagen.

Eine Art Abschiedsbrief

Sollte Nisman davon wirklich keine Ahnung gehabt haben? Wusste er wirklich nicht, dass sich seine steile Karriere an ihrem Scheitelpunkt befand und nun der ebenso steile Absturz folgen würde?

Die Wahrheit ist: Alberto Nisman hat sehr wohl eine Art Abschiedsbrief hinterlassen, wenn auch nicht explizit. Kurz vor seinem Tod schrieb er eine merkwürdige und hintergründige Nachricht voll sinistrer Andeutungen an seine Freunde. Nur warum er diesen »Abschiedsbrief« schrieb, ist nicht ganz klar. Weil er doch wusste, dass seine Anklage scheitern würde und er sich deshalb umbringen wollte? Oder weil er wusste, dass andere es tun würden? Am 12. Januar 2015, wenige Tage vor seinem Tod, brach Nisman eine Europareise mit seiner Tochter vorzeitig ab. Er sei zurückgekommen, um eine Aufgabe zu erfüllen, auf die er sich lange vorbereitet habe, von der er aber nicht geglaubt habe, »sie so bald erfüllen zu müssen«, schrieb er auf WhatsApp. Aber was meinte er damit? Seine Anklage? Oder etwas anderes? Lesen wir selbst:

»Dies ist ein Rundbrief an eine kleine und liebe Gruppe von Freunden und Begleitern, die meine Aktivitäten nicht Tag für Tag mitbekommen. Er ist nur als Information gedacht, also bitte nicht antworten. Ich musste meine Rundreise mit meiner 15-jährigen Tochter durch Europa plötzlich beenden und zurückkommen. Ihr könnt Euch vorstellen, was das bedeutet.«

Bis hierhin ist alles ganz normal: Ein Mann muss den Urlaub mit seinem Kind abbrechen und ist darüber natürlich nicht erfreut. Doch danach wird es seltsam, denn Nisman scheint die Ebene solcher alltäglichen Unbill zu verlassen:

»Aber manchmal haben wir keine Wahl, wenn im Leben etwas passiert. Es passiert einfach, und es passiert aus einem Grund. Was ich nun tun werde, wäre sowieso passiert. Es wurde bereits entschieden. Ich habe mich darauf lange vorbereitet, aber ich habe nicht erwartet, dass es so bald geschehen würde. Es würde zu lange dauern, es jetzt zu erklären. Wie Ihr alle wisst, passieren Dinge eben einfach. Das ist alles. Das ist das Leben.«

Nach dem banalen Anfang bekommt die Nachricht hier plötzlich eine ganz andere Dimension und Dramatik. Was bedeutet: »… wäre sowieso passiert«? Seine bevorstehende Anklage gegen die Präsidentin ist ja schließlich nicht einfach »passiert«, sondern wurde von ihm initiiert. Aber in Wirklichkeit scheint er nicht Herr der Ereignisse gewesen zu sein, die »bereits entschieden« wurden – von wem auch immer. Aus dieser Passage geht also hervor, dass »etwas«, das »bereits entschieden« wurde, mit ihm »geschieht« – dass »Dinge eben einfach passieren«. Ist damit wirklich seine Anklage gegen Kirchner und andere gemeint? Denn anders als bei einer selbst verfassten Anklage zu erwarten, scheint Nisman auch nicht über den Zeitpunkt bestimmen zu können, wenn er sagt: »Ich habe nicht erwartet, dass es so bald geschehen würde.«

»Der Rest ist gleichnishaft. Einige von Euch werden wissen, wovon ich rede, andere werden es sich vorstellen können, und wieder andere werden keine Ahnung haben. Aber BALD wird jeder Bescheid wissen. Ich habe eine Menge dafür riskiert. Eigentlich alles, würde ich sagen. Aber ich habe immer Entscheidungen getroffen, und heute wird keine Ausnahme sein. Ich tue es aus Überzeugung. Es wird nicht leicht werden – ganz im Gegenteil. Aber eher früher als später wird die Wahrheit triumphieren, und ich bin sehr zuversichtlich. Ich werde alles tun, was ich kann, und noch mehr, egal, wem ich gegenübertreten muss.