Ungewollt - Sophie Christina Aichinger - E-Book

Ungewollt E-Book

Sophie Christina Aichinger

5,0

Beschreibung

Sophie ist ein Kuckuckskind. Nach einer von Kälte, Ablehnung und Gewalt geprägten Kindheit erfährt sie erst im Alter von 35 Jahren, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist. Erneut tief verletzt von den Lügen ihrer Jugend und der Erkenntnis, dass sie sich jahrelang um die Liebe und Zuneigung des falschen Mannes bemüht hat, begibt sie sich auf die Suche nach der Wahrheit. Ein jahrelanger, dramatischer Kampf um die Ermittlung ihres tatsächlichen Vaters beginnt. Bence, ihr ungarischer Erzeuger, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die amtliche Feststellung seiner Vaterschaft zu verhindern. Der Unternehmer geht dazu bis zum Bundesverfassungsgericht. Dabei übersieht er jedoch etwas Entscheidendes: Seine Tochter hat nicht nur seine Augen geerbt, sondern auch seine Beharrlichkeit. Weder das jahrelange Warten auf Gerichtsbeschlüsse noch die unzähligen persönlichen Angriffe aus der Familie ihres vermeintlichen Vaters oder der Verlust des gerade erst gewonnenen Halbbruders, der sich von ihr abwendet, können sie von ihrem Weg abbringen. Die Entscheidung der Autorin, ein Buch über ihre Erfahrungen als sogenanntes Kuckuckskind zu schreiben, ist quasi ein Nebeneffekt des Versuchs, mit den emotionalen Auswirkungen eines jahrelangen Kampfes um die eigene Herkunft umzugehen. Aus dem Drang, sich vorwiegend belastende, aber auch erfreuliche Gedanken und Emotionen im Zusammenhang mit besagter Suche von der Seele zu schreiben, sowie dem Kennenlernen vieler weiterer Betroffener ist der Wunsch gewachsen, ihre Geschichte in Buchform in die Öffentlichkeit zu tragen. Namen und Handlungsorte wurden aus Personenschutzgründen verändert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 364

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (24 Bewertungen)
23
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meinen Mann, meine Kinder und meinen Enkelsohn

Über das Buch

Sophie ist ein Kuckuckskind. Nach einer von Kälte, Ablehnung und Gewalt geprägten Kindheit erfährt sie erst im Alter von 35 Jahren, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist. Erneut tief verletzt von den Lügen ihrer Jugend und der Erkenntnis, dass sie sich jahrelang um die Liebe und Zuneigung des falschen Mannes bemüht hat, begibt sie sich auf die Suche nach der Wahrheit. Ein jahrelanger, dramatischer Kampf um die Ermittlung ihres tatsächlichen Vaters beginnt. Bence, ihr ungarischer Erzeuger, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die amtliche Feststellung seiner Vaterschaft zu verhindern. Der Unternehmer geht dazu bis zum Bundesverfassungsgericht. Dabei übersieht er jedoch etwas Entscheidendes: Seine Tochter hat nicht nur seine Augen geerbt, sondern auch seine Beharrlichkeit. Weder das jahrelange Warten auf Gerichtsbeschlüsse noch die unzähligen persönlichen Angriffe aus der Familie ihres vermeintlichen Vaters oder der Verlust des gerade erst gewonnenen Halbbruders, der sich von ihr abwendet, können sie von ihrem Weg abbringen.

Die Entscheidung der Autorin, ein Buch über ihre Erfahrungen als sogenanntes Kuckuckskind zu schreiben, ist quasi ein Nebeneffekt des Versuchs, mit den emotionalen Auswirkungen eines jahrelangen Kampfes um die eigene Herkunft umzugehen.

Aus dem Drang, sich vorwiegend belastende, aber auch erfreuliche Gedanken und Emotionen im Zusammenhang mit besagter Suche von der Seele zu schreiben, sowie dem Kennenlernen vieler weiterer Betroffener ist der Wunsch gewachsen, ihre Geschichte in Buchform in die Öffentlichkeit zu tragen. Namen und Handlungsorte wurden aus Personenschutzgründen verändert.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1: Eine Lebenslüge fliegt auf

Kapitel 2: Auf den Spuren der Vergangenheit

Kapitel 3: Wink des Schicksals

Kapitel 4: Schwarz auf weiß

Kapitel 5: Bitte, Papa, ich möchte mit dir sprechen

Kapitel 6: Ein unmoralisches Angebot

Kapitel 7: Eine erneute Fügung

Kapitel 8: Mama, das ist deine Chance!

Kapitel 9: Der Kampf beginnt

Kapitel 10: Oder sollen wir noch mal fünfzigtausend Euro drauflegen?

Kapitel 11: Die erste Einladung

Kapitel 12: Geschwisterliebe

Kapitel 13: Bence verklagt mich

Kapitel 14: Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin

Kapitel 15: Bence wehrt sich

Kapitel 16: In höchster Instanz

Kapitel 17: Die Bombe platzt

Kapitel 18: Die Offenbarung

Kapitel 19: Neue Pläne

Kapitel 20: Mein Vater hört mir zu

Kapitel 21: Alles ist nur eine Frage der Zeit

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

»Das schaffst du nie! Dazu fehlt dir der Biss, und der Grips sowieso«, hatte mein Vater immer gesagt. Und nun war es so weit; ich konnte es kaum erwarten. Ein paar Wochen noch, und ich würde meinen Traum verwirklichen. Mein lang ersehnter Wunsch, für den ich so hart gearbeitet hatte, würde in Erfüllung gehen.

Die letzten Jahre waren kraft- und nervenaufreibend gewesen. Meine Ehe war nicht so verlaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Stefan hatte sich viele Kinder gewünscht und eine Partnerin, die in ihrer Aufgabe als Hausfrau und Mutter völlig aufging. Doch ich hatte schon immer eine andere Vorstellung von meinem Leben gehabt. Wir heirateten jung, und er hatte Jonas, meinen Sohn aus einer früheren Beziehung, als sein Kind angenommen. Ich liebte Stefan, doch zum Ende hin stritten wir nur noch miteinander. Er war nicht damit einverstanden, dass ich die Abendschule besuchte, um den ersehnten Realschulabschluss zu erlangen, die Voraussetzung für den Beruf Krankenschwester.

Sicher hätte ich klein beigeben können, aber ich setzte mich über seine Wünsche hinweg, um meinem eigenen Ziel näherzukommen. Doch auch wenn unsere Ehe nicht hielt, aus ihr waren noch zwei weitere tolle Kinder entstanden, und somit hatte ich die drei besten Söhne, die man sich nur vorstellen konnte. Nun musste ich mich eben alleine um die drei kümmern. Ich hielt trotz aller Schwierigkeiten an meinem Traum fest, auch wenn ich ihn um ein paar Jahre nach hinten hatte verschieben müssen.

Im Sommer 1995 erhielt ich schließlich die Zusage für meine Ausbildung. Sicher würde auch das nicht einfach werden – und wie so oft in der Vergangenheit beschlichen mich Zweifel. Aber immer wenn diese Gedanken hochkamen, erinnerte ich mich an meinen sehnlichsten Wunsch, meinen Kindern und mir aus eigener Kraft ein besseres Leben zu ermöglichen. Dieses Ziel gab mir den Antrieb und die Entschlossenheit, meinen Weg weiterzugehen.

Für meinen Ausbildungsbetrieb, ein Krankenhaus in Bremen, benötigte ich nur noch meine Abstammungsurkunde, die ich beim Standesamt besorgen musste. Kleinkram, dachte ich, aber da täuschte ich mich.

Diese Kleinigkeit, eigentlich nur ein unwichtiges Stück Papier, sollte dafür sorgen, dass für mich nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.

1

Eine Lebenslüge fliegt auf

Die Kringel, die ich mit dem Qualm meiner Zigarette in den klaren Himmel blies, waren perfekt. Kreisrund und gleichmäßig, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass es mir gut ging. Wie das kam, wusste ich gar nicht. Aber wer mich kannte, war tatsächlich in der Lage, anhand meiner Rauchkringel meine aktuelle Stimmung zu erraten.

Als ich den inarisilberfarbenen Golf II startete, dachte ich kurz darüber nach, warum man die Farbe nicht einfach Grünmetallic genannt hatte, und drehte das Radio an. Zu meiner Freude lief La Bouche mit ihrem Hit ›Be My Lover‹, und ich trällerte mit. Es war ein wundervoller Tag und ich konnte meine Aufregung fast greifen. Ein letzter Gang zum Standesamt – dann wäre es geschafft. Das Amt lag genau in der Stadtmitte von Bremen, in der Hollerallee, an die auch der Bürgerpark mit seinen zwei Seen angrenzte. Ganz in der Nähe waren der Bahnhof und das Messegelände. Eine beliebte und stark frequentierte Gegend also. Es glich einem Sechser im Lotto, hier einen Parkplatz zu bekommen, von dem aus man keinen gefühlten Halbmarathon bis zum Ziel zurücklegen musste. Aber heute schien so etwas wie mein Glückstag zu sein; ich erspähte tatsächlich einen Platz genau vor dem Eingang. Meiner, dachte ich und lenkte meinen kleinen Flitzer in die Lücke, bevor ich meinen Blick über den Bau schweifen ließ. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude im neubarocken Stil des 19. Jahrhunderts schaffte es immer wieder, mich zu beeindrucken.

Ich hastete die wenigen Treppenstufen hinauf, die zur großen Eingangshalle führten, und öffnete die schwere Eichentür. Es überraschte mich, wie viel sich seit meinem letzten Besuch hier verändert hatte. Die gewaltige Treppe, die ins Obergeschoss führte, war genauso restauriert worden wie die alten Türen aus Eichenholz, die zwar alt belassen worden waren, aber nun eindrucksvoll wieder in ihrer alten Pracht erstrahlten. Ich betrat den Raum, in dem sich die Regale mit den Geburtsregistern befanden, die teilweise älter zu sein schienen als das Gebäude selbst.

Ich stellte mich auf eine längere Wartezeit ein. Doch schneller als erwartet wurde ich zu der zuständigen Sachbearbeiterin, einer älteren Dame, gerufen, die mir freundlich lächelnd meine Abstammungsurkunde aushändigte. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Dokument, ging zur Kasse und bezahlte die Gebühr. Ich war bereits auf dem Weg nach draußen, als ich hinter mir die Stimme der Standesbeamtin hörte. Sie bat mich, noch einmal kurz bei ihr Platz zu nehmen.

»Haben Sie noch eine Minute Zeit, Frau Schulze? Möchten Sie sich setzen?«, fragte sie. Ich war etwas verwundert, folgte aber der Bitte der Dame. »Frau Schulze, als ich eben sah, dass Sie Ihre Abstammungsurkunde lediglich flüchtig angeschaut haben, war ich mir nicht sicher, ob Sie wissen, was dort drinsteht. Deshalb habe ich ein wenig gezögert und jetzt möchte ich mich für meine Indiskretion entschuldigen, halte es aber für meine Pflicht als Standesbeamtin, Ihnen mitzuteilen, was mir aufgefallen ist.«

»Was ist Ihnen denn aufgefallen? Stimmt etwas nicht?«

»Es kann sein, dass es vielleicht gar nicht so wichtig ist, aber mir ist ins Auge gefallen, dass Ihre Eltern schon geschieden waren, bevor Sie geboren wurden. Vermutlich wissen Sie das längst, aber ich dachte, ich sollte vielleicht sichergehen.«

»Wie bitte? Nein, davon wusste ich überhaupt nichts. Meine Eltern waren geschieden, als ich noch nicht auf der Welt war? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, wie gesagt, ich hielt es für meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen. Heute mag das nicht mehr so eng gesehen werden, aber damals galt so etwas noch als besonderer Umstand. Es tut mir sehr leid, dass Sie das auf diese Weise erfahren mussten.«

Das war in der Tat seltsam. Ende der Fünfzigerjahre hatte es noch eine strikte Rollenverteilung gegeben. Sich scheiden zu lassen, während ein Kind unterwegs war, galt als gesellschaftliches No-Go. Aber warum hatte mir das bis jetzt niemand gesagt? Ich wusste natürlich aus den Erzählungen meiner Großmutter, bei der ich aufgewachsen war, dass meine Eltern sich nicht mehr gut verstanden hatten. Dass die beiden schon vor meiner Geburt die Scheidung eingereicht hatten, war mir indes vollkommen neu.

Zerstreut bedankte ich mich und verließ den Raum. Wie sollte ich nun mit dieser Information umgehen?

Im Auto las ich die Urkunde aufmerksam durch. Tatsächlich war dort zu lesen, dass meine Eltern im Sommer 1959 geschieden worden waren. Ich selbst war jedoch erst im Dezember des gleichen Jahres zur Welt gekommen. Die Standesbeamtin hatte recht. Da stimmte irgendetwas nicht! Mein Magen begann zu rebellieren und ich konnte spüren, dass mir übel wurde. War ich vielleicht am Ende sogar der Grund für die Scheidung gewesen? Fragen über Fragen schwirrten in meinem Kopf umher und ich schluckte den sauren Magensaft hinunter.

Ich kannte die Erklärungsversuche meiner Großmutter väterlicherseits, denn natürlich hatte ich auch als Kind schon wissen wollen, warum ich bei ihr und meinem Vater und nicht bei meiner Mutter aufwuchs. Glaubte man meiner Oma, so hatte meine Mutter Regine einen ziemlich liederlichen Lebenswandel geführt. Bereits mit siebzehn Jahren hatte sie ihren ersten Sohn Ralf bekommen: ein uneheliches Kind, damals eine große Schande. Regine wollte ihr Kind von Anfang an nicht. Daher gab sie Ralf zu ihrer Mutter, meiner anderen Großmutter, die den Jungen schließlich großzog.

Einige Zeit später lernte Regine Werner kennen, meinen Vater. Die Ehe lief schlecht und die Scheidung war am Ende nur die Konsequenz des ewigen Auf und Ab in der Beziehung. Mal lebten Regine und Werner getrennt, dann wieder zusammen. Waren sie gerade wieder zusammengekommen, trennten sie sich erneut, nur um sich wenig später wieder zu versöhnen. Bereits nach der Geburt meines zweiten Bruders Martin im Jahr 1958 hatten sie von Trennung gesprochen. Doch es sollte noch ein wenig dauern, bis die beiden endgültig auseinandergingen und Martin in die Obhut eines Kinderheims kam.

Später erhielt Werner das Sorgerecht für Martin. Nach meiner Geburt und einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt brachte man mich ebenfalls im Kinderheim unter, da meiner Mutter auch für mich das Sorgerecht aberkannt worden war.

Mit eineinhalb Jahren holten mein Vater Werner und dessen Mutter Hedwig mich wieder aus dem Kinderheim. Werner hatte nun auch das Sorgerecht für mich erhalten – obwohl die Fürsorge sich dagegen ausgesprochen hatte. Er galt als mein rechtlicher Vater. Also musste er für die Kosten meiner Unterbringung im Kinderheim aufkommen. Das war vermutlich auch der Grund dafür, mich bei sich aufzunehmen: einfach die billigere Lösung.

Kurz nach der Scheidung von Werner hatte Regine wieder geheiratet und zwei weitere Kinder bekommen, Nadine und Agnes. Beide gingen schon früh ihren eigenen Weg. Agnes zog zu ihrer Großmutter väterlicherseits, Nadine geriet auf die schiefe Bahn und wurde drogenabhängig. Zu Ralf bestand kein Kontakt, und auch Nadine und Agnes lernte ich erst mit achtzehn kennen. Wir hatten kaum etwas miteinander zu tun. Ich wusste lediglich, dass Regine den Vater von Nadine und Agnes zweimal geheiratet hatte. Nach allem, was ich mit Regine erlebt hatte, konnte ich diese Frau nicht Mutter nennen. Sie war eine Fremde für mich.

Gedankenverloren kramte ich meine Zigaretten aus der Handtasche und steckte eine an; dabei verstieß ich gegen meine eigene Regel, nicht im Auto zu rauchen. Die Kringel, die ich nun vor mich hin paffte, hatten nichts mehr von der Anmut der vorhergehenden und passten exakt zu meiner aktuellen Stimmung. Aufgewühlt fragte ich mich, was ich jetzt tun sollte.

Da fiel mir Karla ein, die Schwägerin meines Vaters. Sie war die Einzige aus meiner Familie, zu der ich ein gutes Verhältnis hatte. Karla war ein warmherziger Mensch und hatte mir oft die Geborgenheit gegeben, die ich zuhause bei meinem Vater und meiner Großmutter nie kennengelernt hatte. Karla, eine typische Bremerin, die über den ›spitzen Stein stolperte‹, wenn sie sprach, war eine großgewachsene, hübsche, blonde, moderne Frau um die Fünfzig, die mittlerweile verwitwet war, sich aber gut mit ihrer Situation arrangiert hatte. Ich hatte mir damals immer eine Mutter gewünscht, die so war wie sie, und im Stillen meine Cousine oftmals um ihre Mutter beneidet.

Ich fädelte mich in den Verkehr ein. Dass ich völlig neben mir stand, wurde mir durch das wütende Hupen meines Hintermanns bestätigt. Blinker vergessen – klar! Die Musik aus dem Radio registrierte ich nicht mehr, nach Singen war mir nicht mehr zumute. Während der gesamten Fahrt hämmerten die offenen Fragen durch meinen Kopf. Was passierte hier mit mir? Mit einem sonderbaren Gefühl im Bauch bog ich schließlich in die Straße ein, in der meine Tante wohnte.

***

Karla lebte noch immer in dem makellosen Mehrfamilienhaus in gutbürgerlicher Umgebung, und schon an der Haustür nahm ich den Geruch der Putzmittel wahr, mit denen das Treppenhaus gereinigt wurde. Ich atmete noch einmal tief durch und ließ meinen Blick über das Gebäude wandern, bevor ich auf die Klingel drückte. Als Karla mit einer Tasche in der Hand die Wohnungstür öffnete und mich sah, erhellte sich ihre Miene und ich konnte sehen, dass sie sich über meinen Besuch freute.

»Sophie, das ist aber schön, dass du mich besuchst! Ich wollte eigentlich gerade einkaufen, aber das kann warten. Komm doch herein!«

Sie führte mich ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und bot mir den gegenüberstehenden Sessel an.

Ich betrachtete das Foto von Heiner, Karlas verstorbenem Mann, der mich nie gemocht hatte und nun mit einem strengen Blick auf mich herabsah. Bei jedem Besuch, den er seiner Mutter, meiner Großmutter, abgestattet hatte, hatte ich abfällige Bemerkungen über mich ergehen lassen müssen. Er war ein erfolgreicher Boxer gewesen und der erklärte Lieblingssohn meiner Großmutter.

»Karla«, begann ich, »hast du mitbekommen, dass ich meinen Realschulabschluss nachgeholt und jetzt einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester habe?«

»Aber ja! Ich habe mich sehr für dich gefreut, als ich das hörte. Du hast ja schon als Kind immer die Puppen verbunden«, erwiderte sie lachend.

»Deshalb bin ich gewissermaßen auch hier. Für meinen Ausbildungsvertrag brauchte ich noch meine Abstammungsurkunde, und die habe ich vorhin auf dem Standesamt abgeholt.«

»Und was war damit? Stimmte etwas nicht?«

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber laut Urkunde waren Papa und Regine bereits geschieden, als ich geboren wurde. Warum weiß ich nichts davon? Warum hat man mir das nie erzählt? Was war da los?«

Die Farbe wich aus Karlas Gesicht. Sie strich sich fahrig durchs Haar und versuchte sich zu sammeln. Sie antwortete mit leiser Stimme.

»Ja, das stimmt, Regine und Werner waren bereits geschieden, als du auf die Welt kamst. Aber ich war davon ausgegangen, du wüsstest das mittlerweile.«

»Nein, Karla, ich wusste überhaupt nichts davon. Ich bin vorhin von der Standesbeamtin absolut kalt erwischt worden. Oma hat mir nie etwas diesbezüglich erzählt. Du weißt ja, wie sie war. Über meine Eltern hat sie nur gesprochen, wenn sie über Regine herzog und sich über deren Benehmen beschwerte. Ich weiß lediglich, dass Werner und Regine sich immer wieder neu getrennt und versöhnt haben und dass es permanent Streitereien um meinen Bruder Martin gab. Mehr Informationen waren aus Oma nie herauszubekommen, und wenn ich mal nachgehakt habe, ist sie meinen Fragen immer ausgewichen oder hat vom Thema abgelenkt. Irgendwann hat sie mir mit den Worten ›Man soll die Vergangenheit ruhen lassen!‹ sogar verboten, weiter nachzubohren.«

»Dann wird es wohl Zeit, dass du endlich die ganze Wahrheit erfährst«, seufzte meine Tante. »Deine Oma lebt nicht mehr, und meiner Ansicht nach hätte sie oder Werner es dir längst sagen müssen.«

Karla faltete die Hände, als wolle sie zum Gebet ansetzen. Ich beugte mich nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und sah sie erwartungsvoll an.

»Was hätten sie mir sagen sollen? Nun sag schon!«

»Ach Sophie, das ist nicht so einfach, und ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll.« Nervös rutschte Karla an die Sofakante; ihren Kopf hielt sie gesenkt und nur zaghaft kamen ihr die Worte über die Lippen. »Werner …, also, er …«, stotterte sie und neigte ihren Kopf noch tiefer, »… er soll nicht dein Vater sein.«

Sichtbar erleichtert darüber, dass das Geheimnis nun keines mehr war, lehnte sich Karla zurück und spielte verlegen mit ihren Fingern. Gleichzeitig rechnete sie damit, dass ich, die bekanntermaßen temperamentvolle Nichte, gleich explodieren würde. Doch alles, was ich zustande brachte, war:

»Was?«

Danach beherrschte eine unheimliche Stille den Raum. Ich ließ mich gegen die Sessellehne fallen und starrte meine Tante an. Bis ich das, was sie mir gerade gesagt hatte, verstand, verging eine halbe Ewigkeit, und es löste unbeschreibliche Gefühle in mir aus. Eiskalte Schauer liefen mir über den Rücken. Mein Hals schnürte sich zusammen und ich versuchte vergeblich, den dicken Kloß hinunterzuschlucken. Nur flüsternd brachte ich ein paar Worte über die Lippen.

»Werner ist nicht mein Vater? Ja, aber wieso? Warum soll er nicht mein Vater sein? Wie kommst du darauf?«

Ruckartig stand ich auf und drehte meiner Tante den Rücken zu. Ich stellte mich vor das Fenster und zog die perfekt arrangierte Gardine beiseite, um die Balkontür zu öffnen. Ein seltsamer Schmerz breitete sich in meiner Brust aus und nahm mir fast die Luft zum Atmen. Innerlich war auf einmal alles leer. Nach einem Augenblick drehte ich mich wieder um und schaute Karla eindringlich an.

»Warum hat mir keiner etwas gesagt, auch du nicht?«

»Bitte, Sophie, ich durfte doch nichts sagen! Du weißt doch, wie Heiner war. Er hätte mir die Leviten gelesen, und deine Großmutter erst recht. Ich hatte in der Familie doch nie etwas zu sagen. Du musst mir glauben, ich habe mehrmals gefordert, dass man dir die Wahrheit sagt. Aber letztlich musste ich mich fügen, so war das eben damals. Aber was ich überhaupt nicht verstehe, ist, dass man es dir nicht einmal gesagt hat, als du schließlich erwachsen warst.«

Beschämt senkte Karla wieder den Kopf und in ihren Augen glitzerte es verdächtig. Sie atmete tief ein, aber ehe sie weitererzählen konnte, fiel ich ihr ins Wort.

»Wer ist es? Wer ist mein Vater?« Der Schmerz hatte sich nun mit Wucht vom Magen bis in die kleinste Ecke meines Gehirns vorangearbeitet und nahm mir erneut fast die Luft zum Atmen. »Ich bin eine Fremde!«, schoss es aus mir heraus. »Wer verdammt noch mal bin ich und woher komme ich?«

»Setz dich, sonst fällst du mir noch um«, forderte Karla mich auf. »Ich erzähle dir, was ich weiß.«

Wie sollte ich mich jetzt setzen können? Unruhig lief ich auf und ab und wandte mich erneut an Karla.

»Sag es einfach, mach nicht so ein Drama daraus. Wer ist es?«

Karla nestelte derweil in ihren Haaren herum. Ihr Gesicht war hochrot, und es schien, als bliebe nun auch ihr die Luft weg. Ihr großer Busen bewegte sich mit jedem Atemzug deutlich auf und ab.

»Dein Vater soll Bence Horváth sein«, sagte sie leise. Sie hob den Kopf und blickte beinahe flehend in meine Richtung.

»Bence Horváth?«, fragte ich und sank im selben Moment auf den Sessel. »Wer bitte ist Bence Horváth?«

»Bence hat bei uns in der Straße gewohnt«, setzte Karla an. »Er hat drei Kinder, Glora, Pypa und Roman. Seine Frau und ich hatten Kontakt zueinander und haben uns häufig unterhalten, wenn wir uns irgendwo trafen.« Karla wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Deine Mutter hat ihn damals im Sorgerechtsverfahren als deinen Vater angegeben«, fügte sie hastig hinzu, während sie mich genau beobachtete.

Ein Sorgerechtsverfahren, grübelte ich. Und dieser Mann hatte drei Kinder? Wild kreisten meine Gedanken umher.

»Aber Karla«, unterbrach ich sie, »die Kinder, das wären ja dann meine Halbgeschwister!«

Ich schüttelte den Kopf. Ich war fassungslos. Meine langen dunklen Haare hatte ich zu einem Zopf zusammengebunden, der nun hin und her schwang. Eine erste dicke Träne kullerte mir über die Wange und schließlich ließ sich der Tränenschwall nicht mehr zurückhalten. So hatte Karla mich wohl noch nie gesehen. Sie kannte mich als starke Persönlichkeit, die ihr Leben im Griff hatte und einen festen Willen besaß. Doch nun saß ich – ihre Nichte, die sonst nichts erschüttern konnte – vor ihr wie ein Häufchen Elend.

Lügen, dachte ich, alles Lügen. Wie lange hatte es gedauert? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Karlas Offenbarung hatte innerhalb kürzester Zeit mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und das Vertrauen in meine Großmutter restlos zerstört. Ich fühlte mich, als sei mein ganzes bisheriges Leben von Lügen, Einsamkeit und Verrat geprägt gewesen.

»Ich erinnere mich, dass ich, wenn wir euch besucht haben, mit den Kindern aus eurer Nachbarschaft gespielt habe. Und ihr habt das zugelassen, obwohl ihr wusstet, dass sich auch meine möglichen Halbgeschwister darunter befanden?« Meine Niedergeschlagenheit verwandelte sich schlagartig in Zorn.

Karla erschrak.

»Ja, Sophie, du warst oft bei uns, und es war unvermeidbar, dass du auch zu Bences Kindern Kontakt hattest. Aber bitte trage es mir nicht nach. Ich hätte es dir wirklich viel früher erzählt. Aber mir wurde verboten, mit dir darüber zu sprechen.«

Karlas Worte verfehlten ihre Wirkung nicht und meine Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Ich schnäuzte mir die Nase, wischte mir die Tränen aus den Augen und nahm meine Tante in den Arm.

»Nein«, stammelte ich, »ich trage es dir nicht nach. Ich war eben nur so erschrocken. Bitte entschuldige meinen Wutausbruch.«

Schlagartig wich die Anspannung aus Karlas Gesicht.

»Ich verstehe dich, Kind. Und ich bin froh, dass du nun die Wahrheit kennst.«

Krampfhaft versuchte ich, all die wirren Gedanken und Gefühle, die in Kopf und Bauch um die Wette tobten, zu ordnen und bat Karla:

»Erzähl mir mehr. Wer ist dieser Bence? Was macht er? Wohnt er noch hier?«

»Bence war ein äußerst attraktiver Mann. Er hatte dunkle Haare und tiefbraune Augen. Sein dunkler Teint war auffällig unter den Menschen hier im Norden. Er sah sehr gut aus.« Karla konnte sich ein vieldeutiges Grinsen nicht verkneifen. »Die Frauen waren scharenweise hinter ihm her. Und dass deine Mutter auf ihn stand, war auch nicht zu übersehen. Aber wie ihr Verhältnis sich damals entwickelte, kann ich dir leider nicht genau sagen. Es war, als sei einfach ein Mantel des Schweigens über die Sache geworfen worden. Gerade in Anwesenheit deiner Großmutter durfte man nicht darüber sprechen.«

Bence war in jungen Jahren aus Ungarn nach Deutschland gekommen, um hier Karriere zu machen. Daran konnte sich Karla noch erinnern. Sie vermutete, dass er nach seiner Ankunft in Deutschland zunächst in den Baracken untergebracht war, die sich ganz in der Nähe der Wohnung meines Vaters und meiner Großmutter befanden. Dort hatte auch meine Mutter gelebt, und vermutlich hatten sich die beiden so kennengelernt. Er war zunächst alleine nach Deutschland gekommen, hatte seine Frau erst später nachgeholt und war dann mit ihr zusammen in die Straße, in der meine Tante wohnte, gezogen. Meine Mutter erzählte ihr damals unter dem Mantel der Verschwiegenheit, dass der neue Nachbar der Vater ihrer Tochter sei. Später war er mit seiner Familie in einen anderen Stadtteil verzogen, und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

»Warum waren sie nicht fähig, den Mund aufzumachen, Karla? Ich verstehe es nicht. Oma und Papa haben mich ein Leben lang belogen. Sie haben mich bei sich wohnen lassen, obwohl ich für sie ein fremdes Kind war!«, brach es aus mir heraus. »Und dass er ganz in der Nähe gewohnt hat, grenzt schon an Wahnsinn. Mein Schulweg führte direkt an den Baracken vorbei, und jetzt stehen dort die Häuser, wo ich wohne! Werner war so brutal und unberechenbar. Er ging lieber in die Kneipe, als sich mit uns Kindern abzugeben und für unser Essen zu sorgen. So oft hatten wir Hunger, Karla, und wenn, dann gab es nur das Einfachste. ›Arme-Leute-Essen‹ würde man heute wohl sagen. Oma hatte reichlich Mühe, uns mit ihren bescheidenen Mitteln satt zu bekommen. Und ich war nur geduldet, er hat mich gehasst und gedemütigt!« Weinend sackte ich zusammen.

»Beruhige dich, Kind. Du bist trotz allem ehelich geboren: Wenn ein Kind innerhalb von dreihundert Tagen, glaube ich, nach der Scheidung geboren wurde, so wurde es immer noch als ehelich angesehen. Und somit war Werner rechtlich dein Vater. Ich glaube, er hat damals sogar versucht, die Vaterschaft aberkennen zu lassen, nachdem deine Mutter ihm später offenbarte, dass du nicht seine Tochter bist. Aber genau kann ich mich nicht mehr erinnern.«

Sie strich mir übers Haar und reichte mir ein Taschentuch.

»Karla, wenn du wüsstest, was ich alles erlebt habe. Diese Familie ist nicht meine Familie. Ich habe immer gespürt und auch zu spüren bekommen, dass ich nicht dazugehöre. Ich fühlte so eine unbestimmte Fremdheit in mir und konnte nie verstehen, warum.«

»Ja, ich weiß. Ich hatte keine Chance, Sophie, ich durfte nichts sagen.«

Die Zeit war rasch vergangen; ich schaute auf die Uhr und erschrak.

»Die Kinder kommen bald, ich muss nach Hause.« Ich nahm meine Tante in den Arm und drückte sie an mich. »Du weißt nicht, wie froh ich bin, dass du den Mut besessen hast, mir endlich die Wahrheit zu sagen. Aber ich bin auch traurig darüber, dass Oma mir nichts erzählt hat. Ich kann nicht verstehen, warum. Aber dass ich nicht zu dieser, entschuldige bitte, Sippe gehöre, bestätigt doch mein Gefühl, das ich immer hatte, dass hier nämlich irgendetwas nicht gestimmt hat. Ich bin froh, wenn dem so ist, dass ich da nicht dazugehöre!«

Karla wischte sich verlegen einige Tränen weg und erwiderte meine Umarmung.

»Ich bin auch froh, dass es jetzt raus ist, und ich unterstütze dich so gut ich kann, deinen Vater zu finden, falls du das möchtest.«

Liebevoll verabschiedeten wir uns. Karla stand in der Haustür und ich konnte im Rückspiegel sehen, dass sie mir hinterherwinkte. Aber ich fuhr nicht weit. Ich war überhaupt nicht fähig, ein Auto zu lenken. Erneut kullerten mir die Tränen die Wangen hinunter. Immer wieder fragte ich mich, warum ich über meine wahre Herkunft getäuscht worden war. Schmerzhaft wurde mir bewusst, dass der Mann, der mich erzogen oder es vielmehr versucht hatte, nicht mein Vater war. So verharrte ich noch eine Weile in meinen traurigen Gedanken, bis ich mich plötzlich daran erinnerte, dass nur noch wenig Zeit blieb, bis die Kids aus dem Hort kommen würden.

***

Ich eilte in meine Wohnung, die ich gemeinsam mit meinen Kindern im Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses bewohnte. Jedes meiner drei Kinder hatte ein eigenes Zimmer, und ich hatte das Wohnzimmer in Beschlag genommen. Unsere Küche war der Lebensmittelpunkt. Abends saßen wir dort oft bei Kerzenlicht zusammen, knabberten alle möglichen Leckereien und erzählten uns, was der Tag gebracht hatte. Erst rückblickend wurde mir bewusst, dass dieser Ort für mich das erste richtige Zuhause überhaupt gewesen war – und das galt trotz oder vielleicht sogar wegen der Scheidung auch für meine Kinder.

Zuhause waren Schmerz und Hilflosigkeit wie verflogen; sie hatten einem unkontrollierten Zorn Platz gemacht. Ich rannte wütend ins Wohnzimmer, holte meine alte Fotokiste heraus und kramte ein Bild meines Vaters aus dem abgegriffenen Karton hervor. Intensiv betrachtete ich den Mann, der mit offenem Hemd – das weiße feingerippte Unterhemd war zu sehen – auf einem Sofa sitzend fotografiert worden war. Er blickte ohne jeglichen Glanz in seinen blauen Augen ausdruckslos in die Kamera. Verzweifelt suchte ich nach Ähnlichkeiten zu ihm. Auch wenn er kein netter Mensch war, hatte das Alter es gut mit ihm gemeint. Seine braunen Haare waren grau geworden, doch er gehörte zu den glücklichen Männern, denen das Haar erhalten blieb. Sein eckiges Gesicht saß auf einem viel zu kurzen Hals, was ihn ein wenig gedrungen aussehen ließ. Ich fühlte nichts. Gar nichts. Mit Wucht warf ich das Foto zurück in den Karton und verbannte diesen in die hinterste Ecke des Wohnzimmerschranks. Erst jetzt merkte ich, wie aufgewühlt ich wirklich war. Du musst dich beruhigen!, sagte ich mir, ging ins Badezimmer und stellte mich vor den Spiegel.

Wer bin ich bloß?

Angestrengt starrte ich in meine braunen Augen und strich mir durchs Haar. Ich hatte festes, dunkles langes Haar, um das ich immer beneidet worden war. Eine Fremde! Du bist eine Fremde!, stellte die Stimme in meinem Kopf mit unbarmherziger Klarheit fest. Wer ist mein Vater? Wie sieht er aus? Hat er mein Gesicht, meine Hände? Tausend Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf.

Ich hatte nun keinen Zweifel mehr: Ich war jahrelang konsequent belogen worden. Mit tiefer Verunsicherung setzte ich mich in die Küche. Erinnerungen an meine Kindheit, die keine war, krochen in mir empor.

Schon immer hatte ich mich irgendwie fremd gefühlt. Waren es die äußeren Merkmale oder die Erfahrungen, die ich gemacht hatte? Eine Mischung aus beidem vermutlich. Als braunäugiges, südländisch wirkendes Kind stach ich aus meiner hellhäutigen Familie deutlich heraus. Sogar meinen Klassenkameraden schien das aufzufallen, denn nicht nur einmal hatte ich sie den ungeliebten Namen ›Fatma‹ hinter mir herrufen hören. Dass ich anders aussah als meine norddeutschen Klassenkameraden, war unbestreitbar.

Auch bei meiner Großmutter hatte mein dunkler Hautton schon zu Irritationen geführt. Ich erinnerte mich genau an den Tag. Oma hatte sich einen Waschlappen genommen und meinen Hals damit ziemlich unsanft geschrubbt – die ganze Zeit in der Annahme, ich habe ihn mir nicht gewaschen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass das, was sie für Schmutz gehalten hatte, nichts anderes war als mein natürlicher Teint.

Wenn ich es mir recht überlegte, war ich in meiner Familie eigentlich nie wirklich zuhause gewesen, bestenfalls übergeben zur Verwahrung. Werner, mein gesetzlicher Vater, ein herrschsüchtiger, rechthaberischer und egoistischer Mann, hatte sich nie um mich gekümmert. War eine wichtige Entscheidung zu treffen, wurde die Großmutter vorgeschickt. Werner begleitete mich nicht einmal zu meiner Einschulung.

Als meine Großmutter mich bei sich aufnahm, war sie um die fünfzig Jahre alt. Sie war vorzeitig gealtert und relativ unbeweglich, doch Hedwig wurde mein Mutter- und Vaterersatz. Sie gab wahrscheinlich ihr Bestes, um mich – das kleine, fremde Kind – und meinen Bruder Martin großzuziehen. Doch Liebe und Zuneigung hatten wir beide nicht erfahren.

Verzweifelt hatte ich um die Liebe meines Vaters gekämpft. Jeden Wunsch las ich ihm von den Augen ab. Ich brachte ihm abends sein Bier und die Hausschuhe. Und ja, ich holte ihn sogar aus den Kneipen ab, wenn er wieder einmal nicht nach Hause kam und meine Großmutter mich losschickte. Ich malte meinem Vater Bilder, die er keines Blickes würdigte. Pure Ablehnung statt der Liebe, die ich mir so sehr gewünscht hatte. Nun kannte ich endlich den Grund. Er hat mich gedemütigt, verprügelt und bestraft, weil ich das Kind eines anderen war. Bei diesen Gedanken zog sich mein Hals eng zusammen. Unvermittelt musste ich an einen besonders schlimmen Tag in meinem Leben zurückdenken.

Meine Großmutter hatte für ihr Leben gern Graupensuppe gekocht. Noch heute wird mir übel, wenn ich daran auch nur denke. Ich hatte den glibberigen Eintopf gehasst und Mühe gehabt, ihn hinunterzuwürgen. Bis zum Mittagessen war es eigentlich gar kein so schlechter Tag gewesen, doch wie immer an Graupensuppe-Tagen stocherte ich lange in meinem Teller herum. Mein Ekel vor den kleinen aufgeschwemmten Gerstenkörnchen, die nicht weniger zu werden schienen, war unermesslich. Während ich angewidert vor dem Teller hockte und mein Bestes gab, fluchte meine Oma ununterbrochen und ermahnte mich, meinen Teller leer zu essen. Obwohl sie natürlich sah, wie ich mich mit der längst kalten Suppe quälte, musste ich jedes Mal so lange sitzen bleiben, bis der Teller leer war.

So war es auch an diesem Nachmittag. Ich saß vor meinem Teller und kämpfte gegen meinen Ekel an. Als mein Vater von der Arbeit kam und mich betrübt am Küchentisch sitzen sah, geriet er außer sich vor Wut. Er flößte mir die kalte Suppe so lange gewaltsam ein, bis ich nicht anders konnte, als mich zu übergeben. Das wiederum machte ihn nur noch rasender. Er packte mich, nahm mein Erbrochenes und schaufelte es mir so lange wieder in den Mund, bis ich in meiner Verzweiflung lautstark schrie und um mich trat. Ein Benehmen, das Werner auf keinen Fall hinnehmen konnte. Ich kann mich noch heute deutlich an die Schläge erinnern, die dann auf mich einprasselten. Und ich erinnere mich daran, dass ich anschließend ohne ein tröstendes Wort einfach ins Bett geschickt worden war.

Keine Seltenheit, denn für Dummheiten jedweder Art wurde ich immer sofort ins Bett gesteckt. Doch auch dort konnte ich nicht aufatmen, denn ein eigenes Zimmer hatte ich nicht. Wir wohnten damals in einer Gegend, die man heute zu Recht als asozial bezeichnen würde, und hatten lediglich eine Zweizimmerwohnung, in der ein Raum für meinen Bruder und der andere für meine Großmutter und mich bestimmt war, während mein Vater auf einem Sofa in der Wohnküche schlief. Einzig die Wand neben meinem Bett gehörte allein mir. Die Wand mit den Strichen. Für jede neue Strafe einen neuen Strich. Ich malte viele Striche.

Werner hatte sich mir gegenüber als Tyrann erwiesen. Doch auch als ich längst eine junge Frau war, hatte ich mich immer um die Liebe meines Vaters bemüht – allerdings vergeblich, wie mir auch in diesem Moment wieder schmerzhaft bewusst wurde. So schmerzhaft wie das Ereignis, welches mir damals endgültig klarmachte, was für ein Mensch der Mann war, den ich bis heute für meinen leiblichen Vater gehalten hatte: Werner war wieder verheiratet und lebte mit seiner zweiten Frau Margarete nur zwei Hauseingänge entfernt. Die beiden schienen füreinander geschaffen zu sein. Während er seinen mittlerweile enormen Bierbauch stolz zur Schau trug, gehörte Margarete zu der Sorte Frau, die ihre grau gewordenen Haare pechschwarz färbte und dazu fragwürdige Outfits kombinierte, die nur allzu leicht Rückschlüsse auf ihren sozialen Status zuließen. All das wäre noch kein Grund gewesen, Margarete zu verurteilen, doch sie war darüber hinaus ein überaus kaltherziger Mensch und zeigte mir immer ausgesprochen deutlich, dass sie mich nicht ausstehen konnte. Abfällige Bemerkungen standen auf der Tagesordnung, wobei sie natürlich nie vergaß, ihre eigenen fünf Kinder, die sie mit in die Ehe gebracht hatte, lobend in den Vordergrund zu stellen.

An diesem Tag hatte ich meinen Vater besuchen wollen, doch statt Werner riss Margarete die Tür auf.

»Was willst du hier?«, schrie sie mich augenblicklich an. Was dann geschah, konnte ich auch nach so vielen Jahren nicht begreifen. Im selben Atemzug und noch ehe ich mich versah, packte Margarete meinen Pferdeschwanz und drückte meinen Kopf nach unten. Ich stürzte zu Boden und Margarete schlug immer wieder auf mich ein, während sie wie eine Furie unablässig den gleichen Satz wiederholte: »Du Bastard, was willst du hier?«

Bastard? Hätte ich damals schon etwas ahnen können? Margaretes Wut verlieh ihr so viel Kraft, dass sie mich an den Füßen die steile Treppe zu ihrer Wohnung herunterzerrte. Auf jeder Treppenstufe knallte mein Kopf mit solcher Wucht auf, dass mir übel wurde und ich dachte, ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Meine Hilfeschreie »Papa, Papa, Hilfe, Papa hilf mir!« verhallten. Mein Vater, der sich die Szene aus der Ferne besah, blieb in der Wohnungstür stehen und regte sich nicht. Er schaute teilnahmslos zu, wie Margarete auf mich einprügelte. Für mich dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich von mir abließ und schimpfend in der Wohnung verschwand. Von draußen konnte ich hören, wie sie nun meinen Vater anbrüllte.

»Dieses Miststück, dieser Bastard! Ich will nicht, dass sie hier andauernd auftaucht. Sorg dafür, dass sie hier nie wieder klingelt, Werner – und zwar sofort! Ich kann dieses Balg nicht ausstehen!«

Wimmernd vor Schmerzen lag ich in der Ecke des Hauseingangs. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich brachte keinen Ton heraus. Margaretes Worte trafen mich tief und überlagerten sogar den stechenden Schmerz in den Rippen, der mir das Atmen erschwerte. Doch das Schlimmste war, dass mein Vater noch nicht einmal versucht hatte, seine Frau zurückzuhalten. Ich muss hier weg, dachte ich verzweifelt.

Gerade als ich mich mühsam aufgerappelt hatte und in Richtung Hauseingang wankte, begegnete ich einem Nachbarn, der damit beschäftigt war, seine Einkäufe in die Wohnung zu tragen. Als er mich sah, ließ er seine vollen Taschen einfach fallen und eilte mir zu Hilfe. Ich wurde sofort ins Krankenhaus gebracht.

Viele, eindeutig zu viele schlechte Erinnerungen an meine Vergangenheit – und nun kannte ich wohl endlich den Grund dafür.

Den Kopf in beide Hände gestützt, saß ich da; meine Tränen hatten sich zu einer beachtlichen Pfütze auf dem Tisch entwickelt. Erschöpft wischte ich die nasse Stelle mit einem Tuch auf, trank meinen kalt gewordenen Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Die Kringel sahen nicht schöner aus als die, die ich produziert hatte, als ich den ersten aufmerksamen Blick in meine Abstammungsurkunde warf. Trotzdem hatte das Nikotin eine einigermaßen beruhigende Wirkung und ich war bald wieder in der Lage, einige klare Gedanken zu fassen. Nein, man kann es drehen und wenden, wie man will, dieser Mann, den ich Papa genannt hatte, war kein guter Vater gewesen und alles andere als ein guter Mensch.

Und vielleicht war ja mein echter Vater ein netter Kerl.

2

Auf den Spuren der Vergangenheit

Das kalte Wasser linderte die Schwellung meiner Augen und half mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich nahm das Handtuch vom Halter, trocknete mir das Gesicht ab und band meine Haare zum Zopf. Ich warf einen Blick in den Spiegel. Nicht gut, aber besser, dachte ich. Es wurde Zeit, das Essen auf den Tisch zu bringen, denn jeden Moment kämen die Kinder. Ich würde ihnen alles erzählen müssen. Auch wenn sie bei Weitem noch nicht erwachsen waren, so waren sie doch immerhin in einem Alter, in dem sie vieles verstehen konnten.

Jonas, mein ältester Sohn, war dreizehn Jahre alt, Noah zehn und Finn neun Jahre. Jonas war bereits ziemlich groß, hatte dunkle Haare und braune Augen, die seine große Sensibilität widerspiegelten. Noah war ebenfalls ein dunkler Typ und mein Ebenbild, manchmal jähzornig, aber gleichfalls sehr sensibel. Finn war mit seinen blauen Augen und den blonden Haaren seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, und hochintelligent war er auch. Sie waren die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben und sie hatten ein Recht, die Wahrheit auch über ihre Abstammung zu erfahren. Keine weiteren Lügen mehr! Davon hatte es weiß Gott schon zu viele gegeben. Doch wie sollte ich es ihnen schonend beibringen, dass ihr Großvater nicht der Mann war, für den sie ihn immer gehalten hatten?

Ich machte mich an die Vorbereitungen für das Abendessen und wartete darauf, dass die Kinder nach Hause kamen.

Die drei schienen zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Während die Jungen normalerweise recht pflegeleicht waren, waren sie heute außer Rand und Band, ganz so, als wollten sie unbedingt mit besonderer Vehemenz ihre Grenzen austesten. Bleib ruhig, Sophie, jetzt ist kein guter Zeitpunkt, sie anzuschreien und aufs Zimmer zu schicken.

Ich zählte in meinem Kopf bis zehn, atmete tief ein und aus und wandte mich schließlich mit Bestimmtheit an sie:

»Schluss jetzt! Bitte setzt euch, ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen!«

Offenbar war der Tonfall doch schärfer gewesen, als ich beabsichtigt hatte, denn augenblicklich kehrte Ruhe ein und drei Paar erschrockene Kinderaugen schauten mich an. Nervös ging ich in der Küche auf und ab, öffnete das Fenster und strich mir mehrmals durchs Haar, während ich nach den richtigen Worten suchte.

»Ich habe heute etwas erfahren, das mich traurig macht«, setzte ich an, wurde jedoch gleich von Jonas unterbrochen, der mich prüfend ansah.

»Mama, was ist denn mit dir? Hast du geweint?«

Mist, dachte ich, dabei hatte ich mir so fest vorgenommen, stark und ruhig zu sein, aber schon diese einfache Frage meines Sohnes brachte mich aus der Fassung. Meine Kehle schnürte sich wieder zu.

»Ihr wisst ja«, begann ich, »dass ich nie einen guten Kontakt zu Opa hatte.«

Jonas fiel mir erneut ins Wort:

»Der mit dem Holzbein?«

»Ja, genau der«, erwiderte ich.

Werner hatte vor Jahren einen schweren Unfall gehabt, bei dem er seinen rechten Oberschenkel verlor. Es spricht schon Bände, dachte ich, dass den Kindern zuerst Werners körperliches Erkennungsmerkmal statt seines Namens in den Sinn kommt. Auch meine Kinder hatten keinerlei Bezug zu dem Mann, den ich bis heute für meinen Vater gehalten hatte. So wenig er sich schon um mich gekümmert hatte, noch weniger Interesse – falls das überhaupt möglich war – hatte Werner an seinen Enkelkindern gezeigt. Besucht hatte er sie nie, zahlreiche Einladungen unbeantwortet verstreichen lassen, und selbst zu Weihnachten war Werner nie zu uns gekommen, um uns ein frohes Fest zu wünschen. Es hatte Geschenke gegeben, aber während die meisten Menschen gerade zu Weihnachten versuchen, ihren Lieben einen lang ersehnten Wunsch zu erfüllen, beschränkten sich Werners Geschenke für die Kinder auf das, was der Anstand verlangte: eben irgendetwas völlig Fantasieloses, innerhalb weniger Minuten in irgendeinem Großkaufhaus zusammengeworfen. Und da er es selbst zu diesem Anlass nicht für nötig hielt, persönlich vorbeizukommen, stand einer seiner Stiefsöhne pünktlich zu Weihnachten mit einer Plastiktüte in der Hand vor unserer Haustür und leierte dazu den in jedem Jahr gleichen Satz herunter: »Frohe Weihnachten und Gruß von Werner.«

»Werner«, stotterte ich nun an die Kinder gewandt, »soll nicht mein Vater sein.«

Nun war es also raus. Erwartungsvoll blickte ich zu meinen Jungs hinüber. Doch die regten sich nicht. Sie saßen auf ihren Stühlen, als seien sie dort festgewachsen. Waren sie zu geschockt oder hatten sie nicht verstanden, was ich ihnen da gerade erzählt hatte? Ich beschloss, nicht auf eine Reaktion zu warten, und begann stattdessen zu erzählen, was am Vormittag vorgefallen war. Als ich fertig war, setzte sich Finn zu mir auf den Schoß und wischte mir liebevoll die Tränen aus dem Gesicht. Er kuschelte sich an mich und sah mich mit großen Augen an.

»Dann ist Opa Holzbein nicht mein Opa?«

Überrascht von seiner schnellen Auffassungsgabe sah ich meinen Filius an und strich ihm dabei über seinen blonden Schopf.

»Ja, wenn das stimmt, was man mir erzählt hat, dann habt ihr einen anderen Opa.« Aufgewühlt berichtete ich den Kindern von Bence und dass dieser fremde Mann aus Ungarn mein Vater sein sollte.

»Dann haben wir ungarische Wurzeln?« Jonas war erstaunt.

»Ja, dann haben wir ungarische Wurzeln.« Ich nahm Jonas, Finn und Noah in den Arm und drückte sie fest an mich.

Noah stellte treffend fest:

»Und darum habe ich so braune Augen und dunkle Haut.«

Auch wenn sie noch so klein sind, haben Kinder ein untrügliches Gefühl dafür, wie sie ihren Eltern eine Stütze sein können. Instinktiv tun sie das Richtige. Die bedingungslose Liebe meiner Kinder tat mir unendlich gut. Wir redeten an diesem Abend noch lange über Bence, Werner und Tante Karla, bevor ich mich erschöpft, aber auf seltsame Weise auch erleichtert in mein Bett fallen ließ und in einen unruhigen Schlaf fiel.

Gerädert schlug ich am nächsten Morgen die Augen auf. Der Blick in den Badezimmerspiegel verriet mir, dass die Ereignisse des gestrigen Tages deutliche Spuren in meinem Gesicht hinterlassen hatten. Rasch sprang ich unter die Dusche und ließ das kalte Wasser über meinen Körper laufen. Eine Wohltat, die mir neue Kraft gab. Dann weckte ich die Jungs und machte ihnen das Frühstück und die Pausenbrote für die Schule fertig, war aber nicht ganz bei der Sache. Meine Gedanken drehten sich um Bence. Es musste doch möglich sein, etwas mehr über ihn herauszufinden, vielleicht sogar mit ihm zu sprechen.

Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, schnappte ich mir ein Telefonbuch und suchte nach ›Horváth‹, fand den Namen jedoch nicht. Ich hatte zwar nicht daran geglaubt, dass es so einfach werden würde, aber schön gewesen wäre es schon. Ich war fest entschlossen, nichts unversucht zu lassen, und fuhr zum Einwohnermeldeamt.

Dort teilte man mir mit, dass man eine Adresse von Bences Tochter Glora habe, die offenbar in Süddeutschland lebte.