Ungezähmt für Jesus - Stephan Maag - E-Book

Ungezähmt für Jesus E-Book

Stephan Maag

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Beschreibung

Stephan Maag - ist heute ein Nachfolger Jesu, der keine Scheu davor hat, aufzufallen und ungewohnte Wege zu gehen, um Gott in den Mittelpunkt zu stellen. Seine Lebensthema ist die Suche nach Freiheit. Früh wurde er kriminell und sammelte Erfahrungen mit Drogen. Doch sein Leben drehte sich um 180 Grad, als Gott ihn rief. Und damit begann das echte Abenteuer, ein wildes und wahrhaft freies Leben -- Glaube ohne Kompromisse. Er predigt das Kreuz mit verrückten Aktionen, lebt mit Obdachlosen und Mördern und reist in Länder, in denen Christen unterrückt werden. Dabei begegnen ihm immer wieder Wunder. Er lebt die Apostelgeschichte ... Ein mutmachendes Buch für alle, die Jesus konsequent nachzufolgen wollen!

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7362-9 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5762-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2017

SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag

GmbH & Co. KG, Witten.

Weiter wurden verwendet:

HfA: Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel

LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch Titelbild: Lea Weidenberg

Fotos im Innenteil: Nadine Maag, Verein Fingerprint, Ben Koch, Samuel Schmidt

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Über die Autoren

Prolog – Ohnmacht über den Wolken

1. Nach der Geburt im Krankenhaus geblieben

2. Gangstas Paradise

3. Der junge Mann und das Partyleben

4. Die Suche nach dem Sinn

5. Die Stimme aus dem Baum

6. »Fingerprint«: Gottes Visitenkarte entsteht

7. Ein Dach für einen …

8. Dinner for Two

9. Mit Särgen durch Basel

10. Ein Dach für viele

11. Taufe vor dem Löwendenkmal: Die Apostelgeschichte geht weiter

12. »Klar helfe ich dir, dich umzubringen!«

13. Flashmob am Hauptbahnhof und Abbruchhaus in der Innenstadt

14. Der Mann aus der kosovarischen Befreiungsarmee

15. Zürcher Grossmünster geentert

16. Kerzenmeer vor Nordkoreas Botschaft

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DIE AUTOREN

Stephan Maag ist kreativer Evangelist und für spektakuläre Aktionen bekannt. Er studierte am ISTL (International Seminary of Theology and Leadership) in Zürich und ist ein gefragter Redner. Bis 2016 wohnte er zusammen mit entlassenen Häftlingen und Flüchtlingen, heute leitet er ein Haus für Begegnungen in Rüti bei Riggisberg.

Daniel Gerber, Jahrgang 1975, ist verheiratet und Vater einer Tochter. Er lebt in der Schweiz und arbeitet als freier Journalist, unter anderem für die Berner Zeitung, Open Doors und die Lepra-Mission. Er ist Autor mehrerer Bücher.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

PROLOG –OHNMACHT ÜBER DEN WOLKEN

Ich sank in den bequemen Flugzeugsitz, nachdem ich den Rucksack voller gut versteckter großer Geldscheine über mir verstaut hatte. Diese Summe sollte ich unbemerkt in ein Land im Nahen Osten schmuggeln. Wenige Wochen vorher war ich auf Umwegen gefragt worden, ob ich nicht wichtige Dokumente für syrische Flüchtlinge in ein islamisches Land bringen könne. Es gebe keinen anderen Weg, weil der Krieg Finanztransaktionen unmöglich gemacht habe. Bald wurde mir eröffnet, dass es sich bei den »Unterlagen« um einen Rucksack voller großer Banknoten handelte. Das war ziemlich gefährlich, doch meine Frau ließ mich ziehen. Sie sagte, dass wir das tun müssten, was Jesus getan hätte. Diese Flüchtlingsfamilien erlebten unbeschreibliche Not. Wir sollten ihnen helfen.

So saß ich nun im Flieger mit einem Rucksack voller Geld über mir. Als die Tür zuging und ein Fahrzeug die Maschine langsam rückwärtsschob, damit diese dann in Richtung Startbahn rollen konnte, schoss mir durch den Kopf, dass es nun keinen Weg mehr zurück gab. Gemächlich kroch der Vogel zur Piste. Dann heulten die Triebwerke auf, ein Ruck ging durch das Flugzeug, es wurde immer schneller und hob schließlich ab. Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch und überlegte, ob ich das unter mir weggleitende Land je wiedersehen würde.

Die Alpen hatten wir hinter uns gelassen. Meinem Bestimmungsort ging es fast mit Überschallgeschwindigkeit entgegen. Nach rund einer Stunde wurde das Essen serviert, doch der Appetit war mir gar nicht erst gekommen. Meine Gedanken drehten sich immer wieder um die gleichen nagenden Fragen. Ich überlegte, was passieren würde, wenn ich erwischt würde. Würde ich sterben? Oder in einem Gefängnis verschwinden? Oder würde mir einfach das Geld abgenommen? Beim Wälzen dieser Möglichkeiten wurde mir übel. Ich hatte das Gefühl, erbrechen zu müssen. Als Nächstes war mir, als hätte ich Durchfall. Mir schien, als müsste ich dringendst auf die Toilette. Es wurde mir richtig unwohl. Dann hatte ich am ganzen Körper Gänsehaut. Ich hatte Panik. Ich war gefangen, um nicht zu sagen verloren, in diesem Flugzeug mit dem vielen Geld. Dann hörte ich ein Piepsen in den Ohren, es wurde immer lauter, und zuletzt wurde mir schwarz vor Augen und ich tauchte weg.

Nach einiger Zeit kam ich schweißgebadet wieder zu mir. Ich schaute zu meinem Nachbarn. Hatte er etwas bemerkt? Ich realisierte, dass das Essen gar nicht mehr da war, das gerade noch auf der Ablage auf mich gewartet hatte. Vor lauter Angst war ich in Ohnmacht gefallen. Vermutlich hatten die Stewardess und die anderen Passagiere gemeint, ich sei eingeschlafen. Ich weinte wie ein kleines Kind. Der Druck, die Angst und die Ungewissheit übermannten mich. Tränen liefen mir über das Gesicht. Ich versuchte, das so gut wie möglich zu verstecken. Innerlich begann ich, zu Gott zu schreien: »Ich brauche dich, mache den Weg bereit, führe du mich.«

Langsam verlor die Maschine an Höhe. Die Landung auf einem ersten Flughafen in einem islamischen Land rückte näher. Ich musste dort in einen anderen Flieger umsteigen. Wegen einer Verspätung musste ich durch die Gänge rennen mit meinem prall gefüllten Rucksack. Bald stellte ich fest, dass ich den Rucksack erneut scannen lassen musste. Über Kopfhörer hörte ich gerade das Lied »I’m no longer a slave, I’m a child of God« von Bethel Music. Das entspannte mich auf einen Schlag. Mir wurde bewusst: Egal, was passieren würde, Gott hatte alles im Griff. Ob ich von Sicherheitsbeamten rausgenommen werden würde oder nicht. Ich war sein Kind. Der Rucksack wurde nach dem Durchleuchten zur Seite genommen. Ich konnte den Vorgang nicht einsehen. Dann kam er zurück, er war offen – doch das Geld war offenbar unentdeckt geblieben, es war noch drin. Wieder rannte ich weiter an unzähligen Gates vorbei und erwischte den Flieger gerade noch.

Links und rechts neben mir saßen zwei Araber, die unbedingt mit mir sprechen wollten. Doch dazu fehlten mir alle Nerven, zumal sie nur gebrochen Englisch redeten. Endlich – und irgendwie doch viel zu früh – landete die Maschine. Trotz der Hitze überfiel mich erneut ein kalter Schauer. Als ich den Koffer vom Gepäckband nahm, gab es keine Ausflüchte mehr, ich musste in Richtung Einreisekontrolle. Doch dort waren gerade viele Zöllner beschäftigt. Also ging ich noch rasch auf die Toilette, um mich frisch zu machen. Als ich wieder herauskam, sah ich, dass gerade kein Beamter da war. Mit zügigem Schritt wollte ich aus dem Gebäude rauslaufen. Genau da kam aber einer und winkte mich zu sich. »Hey you, hey you!« Ja, damit war ich gemeint. Ich schrie innerlich ein Stoßgebet heraus.

Ich betete: »Gott, mach diesen Rucksack bitte unsichtbar.« Ich gab ihm nur den Koffer, den Rucksack behielt ich an. Der Koffer wurde durchleuchtet, aber er schien in Ordnung zu sein, ich konnte gehen. Der Rucksack blieb wie unsichtbar. Würde ich noch abgefangen? Nein, ich war unversehrt im Land und traf bald die dortige Kontaktperson. Wir fuhren durch verschiedene Orte, an denen Attentate geschehen waren. Dann konnten wir die Übergabe an die nächste Verbindungsperson erledigen, die das Geld weiterschmuggelte. Ich hatte das Gefühl gehabt, fast zu sterben. Für die lokalen Helfer aber war das Alltag. Ich erkannte, dass es Männer und Frauen gibt, die an Orten leben und Dinge leisten, die unsere Vorstellungskraft bei Weitem übersteigt. Gott möge diese stillen Arbeiter segnen und schützen, die in Gefahr und Not die Botschaft von Jesus in die Welt tragen und Gottes Reich bauen. Sie sind Helden – ihnen ist dieses Buch gewidmet.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1.

NACH DER GEBURT IM KRANKENHAUS GEBLIEBEN

Im Jahr 1979 erblickte ich das Licht der Welt. Eigentlich ist das ein zu einfacher Einstieg in ein autobiografisches Werk. In meinem Fall ist der Satz aber angemessen, weil er nicht weniger als ein Wunder beschreibt. Denn ich war ein ungewolltes Kind. Meine Mutter wollte mich zur Adoption freigeben. Ihren Plan, dies in geordneten Bahnen vorzubereiten und abzuwickeln, vereitelte ich durch meine Frühgeburt. Offenbar wollte ich schon in meinen Entstehungswochen ausbrechen und meine Freiheit haben, so, wie es später im Leben immer wieder zu beobachten war. Ich kam zwei Monate zu früh zur Welt.

Selbstverständlich kriegte ich als Baby noch nicht mit, wie turbulent bereits meine ersten Tage auf dieser Erde waren. Meine ersten sechs Wochen verbrachte ich im Krankenhaus. Meine leibliche Mutter war noch zu jung und nicht in der Lage, sich um mich zu kümmern. So entschied sie sich, mich wegzugeben. Bis man mich jemandem mitgeben konnte, wurde ich im Krankenhaus versorgt. Im Nachhinein bin ich ihr dankbar, dass sie mir trotz allem das Leben geschenkt hat und ich somit meine Geschichte überhaupt erzählen kann.

Meine Mutter stammt aus dem Bündnerland, doch ich kenne weder sie noch meinen Vater. In meinem Verhalten spüre ich den Charakter des Bündner Wappentieres, des Steinbocks, der mit dem Kopf durch die Wand will und gern in der Natur ist. Nach einigen Wochen war mein Status endlich geklärt, und ich durfte zu meinen richtigen Eltern, wie ich meine Adoptiveltern nenne. Sie waren froh, mich zu bekommen, und sie lieb(t)en mich mit echter Hingabe. Ich durfte in einem Haushalt aufwachsen, in dem mir die Eltern ungemein dankbar waren, dass ich ihr Leben bereichert hatte. Mein Vater arbeitete als Polizist.

Bereits als kleiner Junge spielte ich gerne draußen. Ich war ein regelrechter Wirbelwind, so wie viele in den ersten Kinderjahren. Diese verliefen »normal« mit meinen Eltern, und ich verbrachte viel Zeit mit meinen Freunden.

Der Winterthurer Stadtteil, in dem ich aufwuchs, galt als Problemviertel. Das Hegi-Quartier war mit Hochhäusern überzogen; zumindest für Schweizer Verhältnisse. Kaltgraue Betonblöcke thronten nüchtern und robust am Stadtrand, umgeben von Industrie. Der Migrantenanteil war hoch, ebenso jener von alleinerziehenden Müttern. Heute sieht dieses Gebiet anders aus. Ein eigener Kreis ist daraus geworden, eine alternative, schöne Wohngegend. In meiner Jugend jedoch fand sich da eine klassische Hochbausiedlung, in der wir in einem großen Block wohnten. Dennoch blicke ich auf eine unbeschwerte Kindheit zurück, in der ich zum Beispiel mit meinen jungen Gefährten auf einer Wiese regelmäßig iglu förmige Hütten aus Gras und Ästen baute. Diese unbenutzte Wiese eignete sich vorzüglich zum Spielen. Heute ist sie mit einer Siedlung überbaut.

Ich war in meinen Buben- und Flegeljahren ungestüm und probierte gerne Dinge aus. Aus eigener Erfahrung kann ich heute beispielsweise sagen, dass es gefährlich ist, freihändig auf einer Schaukel zu schwingen. Bei einer solchen Aktion fiel ich übel auf die Nase. Durch dieses und ähnliche Manöver war ich regelmäßiger Gast beim Arzt und im Krankenhaus.

Natürlich war ich noch lange nicht fertig damit, mich auszutoben, als der Ernst des Lebens in Form der Schule begann. Zu diesem Zeitpunkt faszinierten mich gerade die japanischen Ninja-Kämpfer und deren Wurfsterne. Bereits in meinen ersten Schuljahren stolzierte ich mit solchen Kampfgeräten auf dem Pausenhof rum. Damals hatten alle Kinder im Quartier Waffen. Leider verboten mir meine Eltern meine private Aufrüstung. Da half auch mein Hinweis nichts, dass Papa schließlich als Polizist auch eine Dienstwaffe habe und ich natürlich ebenso ausgerüstet sein müsse. Doch irgendwo fand ich im Alteisen bei einem Grill einen spitzen Stab, mit dem man zum Beispiel Spanferkel wendete. Diesen konnte ich dann gegen Wurfsterne eintauschen. Natürlich setzten wir diese gefährlichen »Spielzeuge« nicht ein. So verroht waren wir nicht. Es war einfach nur Kinder-Proll-Gehabe.

Ich gehörte einer unruhigen Schulklasse an, in der ich zu den lauteren Gemütern zählte. Ich gewährte mir das Recht der freien Rede zur Zeit und zur Unzeit. Die Lehrerin wollte uns Respekt beibringen, indem sie immer, wenn jemand Unsinn machte, ein kleines Figürchen hervorkramte. Dieses zeigte sie und legte es dann in einen Joghurtbecher. Das war so eine Art Gelbe Karte. Sobald drei oder vier dieser Figürchen für eine Person zusammengekommen waren, erfolgte eine Strafe. Nun, eine Woche nachdem dieses System eingeführt worden war, war bei meinem Kameraden und mir der Becher bereits voll. Ungefähr zwanzig dieser kleinen Männchen passten in unsere Behälter. Erhalten hatten wir sie wegen allerlei Vergehen, die von Schwatzen bis zu Streichen in der Pause reichten.

Meistens wurden wir, wenn der Becher voll war, vor die Türe gestellt. Was nicht immer fruchtete. Manchmal machten wir sie leise wieder auf und zeigten den Stinkefinger in ihre Richtung oder streckten ihr die Zunge heraus. Für die Klasse war dies immer ein Gaudi und sie wurde noch unruhiger. Wenn die Lehrerin uns jedoch dabei entdeckte, wurde das Strafmaß gesteigert, oder es gab einen Anruf bei unseren Eltern – was dann weniger erfreulich war.

Während mir der schulische Unterricht nicht besonders zusagte, besuchte ich mittwochnachmittags gerne die Kinderstunde, die von einer älteren Frau in einem alten Bauernhaus gehalten wurde. Dort waren biblische Geschichten zu hören, die mir gefielen: David und Goliath, Josef, der sich in Ägypten durchsetzt, Gut und Böse – alle diese großen Storys. Dazu lud ich jeweils auch meine Freunde aus der Schule ein. Auch wenn ich des Lobes voll über die mittwöchentliche Sonntagsschule war, war ich freilich auch da der Wirbelwind, der ich in meinen jungen Jahren immer war. Das jedoch sollte sich belebend auf das Reich Gottes auswirken. Die alte Frau stellte mich nämlich nicht mit grimmigem Blick und unerbittlicher Härte vor die Tür, sondern sie zog einfach eine jüngere bei, damit ich als Wildfang besser – und durchaus liebevoll – in die Schranken gewiesen werden konnte. Das Gute daran: Diese junge Frau gelangte unter anderem dadurch in den christlichen Dienst hinein. Im Laufe der Jahre arbeitete sie unter Flüchtlingen und wurde in der Schweiz zur »Christin des Jahres« gewählt. Unsere Wege sollten sich später wieder kreuzen. Als ich Jugendpastor in ihrer Gemeinde wurde, stellte ich mich dem Team vor. Daraufhin erzählte sie, wie ihre Laufbahn damit begonnen hatte, dass sie einst in der Kinderstunde mit der Aufgabe betraut worden war, mich zu bändigen …

In diesen damaligen Tagen war es üblich, dass jeder Schüler ein Instrument zu spielen lernte. Ich besuchte den Flötenunterricht. Die Flötenlehrerin, die sonst schon etwas schrullig war, war einmal derart wütend auf mich, dass sie mir mit der Flöte auf den Kopf schlug.

Als ich einige Zeit danach die dritte Klasse erreichte, zogen wir um in ein Dorf. Dieses lag nicht weit von der Stadt entfernt, aber ich musste dennoch wieder »bei null« anfangen, weil alles – insbesondere die Schule und die Klassenkameraden – neu war. Logisch, dass ich, nicht zuletzt wegen meiner vorwitzigen Art, das ein und andere Mal auf dem Pausenhof zu leiden hatte. Die Hackordnung wurde neu ausgemacht. Ich war plötzlich nicht mehr das Zentrum der Klasse, und es gab andere, die stärker als ich waren, was vorher nicht unbedingt der Fall gewesen war. Weil ich den Bogen nicht selten überspannte, musste ich in ein schulpsychologisches Gespräch. Zu meinem Glück wurde die Klasse von einer christlichen Lehrerin betreut. Sie war dank ihres Glaubensfundaments dazu in der Lage, auch mit schwierigen Kindern umzugehen. Sie sorgte dafür, dass ich weder Medikamente nehmen noch die Klasse wechseln musste. Wenn ich zu unruhig war, ordnete sie an, dass ich dreimal um das ganze Schulhaus zu rennen hatte – was mir durchaus gefiel. Dann durfte ich wieder reinkommen. Dieses Prozedere half durchaus, und es war wohl auch sinnvoller, als wenn ich eine Handvoll Pillen verschrieben bekommen hätte. In der heutigen Zeit stellt man junge wilde Buben viel zu schnell mit Tabletten ruhig, anstatt sie zu fördern, mit ihnen in die Natur zu gehen und sie sich austoben zu lassen, was ihnen eher entspricht – das wäre natürlicher. Ich glaube, dass nicht die Kinder das Problem sind, sondern unsere Gesellschaft. Wir haben den Bezug zur Natur und zum Draußensein verloren, wir sind jedoch immer noch Geschöpfe Gottes. Mir half zum Beispiel, dass ich als Ausgleich Sport trieb. Ich arbeitete mich mehrere Grade im Judo hoch und gewann einmal bei einem Turnier eine Goldmedaille. Später wechselte ich zum Fußball. Daneben verbrachte ich viel Zeit auf dem Bauernhof, wo wir uns austobten, Bandenkriege führten und uns ab und zu auch mal nützlich machten.

Eines Tages erhielten wir Familienzuwachs: Meine Schwester. Sie war wie ich adoptiert. Unbewusst stellte dies für mich eine Herausforderung dar. Einerseits freute ich mich, ich kaufte ihr sogar ein Kleidchen. Gleichzeitig war ich nun nicht mehr allein und musste etwas hinten anstehen. Insgesamt überwog die Freude aber deutlich – ich war stolz darauf, eine kleine Schwester zu haben und diese zu beschützen.

So erlebte ich eine schöne, unbeschwerte Kindheit, in der ich oft im Wald spielte, wo wir »kämpften«, Schlachten austrugen und viele Abenteuer erlebten.

Ich erinnere mich, dass sich bei uns im Dorf ein lehrstehendes Haus befand. In dessen Garten machten wir ein Feuer. Wir schleppten alle Flaschen aus dem Gebäude heraus und kippten den Inhalt in die Flammen. Einmal folgte darauf eine größere Explosion. Weil dieses Gemäuer direkt neben dem Polizeiposten stand, wurden wir schnell erwischt. Der Kamerad, mit dem ich das Feuer entfacht hatte, war selbst ein Polizistensohn, und so wurden uns besonders heftig die Leviten gelesen.

In meinen Jugendjahren ging ich gerne mit den Eltern in die Kirche, wo ich sang und in mehreren Theatern mitspielte. Ich war wohl der klassische Jugendliche.

Eine besondere Beziehung entwickelte sich zu meinen beiden Großvätern. Der eine brachte mir das Skifahren bei, was später bei meinen Abenteuern mit den Tourenskis prägend sein sollte. Der andere Opa war für mich ein Glaubensheld, der mit mir viele Ausflüge unternahm. Einmal flogen wir sogar in den »großen Kanton«, wie wir Schweizer Deutschland liebevoll nennen, um ein Museum zu besuchen. Ein andermal lud er mich zu McDonalds ein, was zur damaligen Zeit etwas Außergewöhnliches war. Solche Imbissstände gab es auf helvetischem Boden nur etwa in ein oder zwei auserlesenen Großstädten. Dieser Großvater war Postbote und Schuhmacher. Gerne wäre er Abenteurer gewesen. So hatte ich einen guten Zugang zu ihm. Er war so ein ausgeflippter Typ, dass er immer wieder verschiedene Substanzen zusammenmischte. Einmal, als mein Vater selbst noch Kind war, hatte er damit ebenfalls eine Explosion ausgelöst, bei der zum Glück niemandem etwas passiert ist.

Als ich noch ein Kind war, besaßen wir ein Alphäuschen in den Bergen, wo wir manchmal als Familie hingingen. Wir wanderten viel, und meine Cousins und ich erzählten uns Abenteuergeschichten. Am Abend aßen wir gemeinsam, Opa malte mit uns Kindern. Es war eine schöne Zeit, die Geborgenheit gab.

Im Laufe der Jahre änderte sich meine Einstellung zur Gemeinde. Diese wurde von einem alten Pastor geführt, der Gott von ganzem Herzen liebte, doch zu uns Jungens nur schwer Zugang fand. Er stammte einfach aus einer ganz anderen Generation, und wir machten ihm das Leben auch nicht besonders leicht. Mit zunehmendem Alter stellte ich zum Beispiel Fragen, ob man eine Frau auf den Mund küssen dürfe und ob es gestattet sei, ihr an die Brüste zu langen. Es ging mir weniger darum, für mein Alltagsleben wegweisende Tipps zu erhalten, als einfach um Provokation. Wichtig aber finde ich heute, dass wir als Christen Antworten auf die Fragen des Alltags geben können. Wir wohnten damals neben der Gemeinde, und mehr und mehr kam es mir vor, als wäre dies ein Klub mit vielen Gesetzen. Mir schien, dass viele Menschen etwas vorspielten. Da wir neben der Gemeinde wohnten, machte ich die eine oder andere Beobachtung, die meine Meinung nicht gerade widerlegte.

War ich noch bis zur zweiten Oberstufe ein wildes, aber anständiges Kind gewesen, erfolgte nun im Laufe der heranrollenden Pubertät ein Wandel, der selbst im Schulzeugnis verbrieft ist: »Er nimmt die Rolle des starken Mannes und Dominators ein.« Was damit gemeint war, zeigte ein Vorfall, als mir einer meiner beiden Opas sein Mofa ausgeliehen hatte. Natürlich fuhr ich damit dauernd Vollgas, ohne nach links und rechts zu schauen. Plötzlich sah ich einen Traktor auf einem Feldweg herantuckern. Weil ich noch unerfahren war, bremste ich falsch und viel zu spät. Das Mofa schlitterte am Traktor vorbei und ich rutschte beinahe in diesen hinein. Ich blutete, vor allem am Knie. Wenn ich das Knie heute anschaue, ist eine bleibende Erinnerung sichtbar. Das geliehene Fahrgerät war kaputt, während bei mir alles aufgeschürft war. Zu meinem Erstaunen schimpfte Opa nicht, sondern er fand, dass bei Buben so etwas mal passieren kann. Er reagierte mit Liebe, was mir viel bedeutete.

Während meiner ganzen Jugendzeit – und natürlich auch später – war ich dankbar dafür, dass ich adoptiert bin. Bereits früh, etwa im Kindergartenalter, hatten mich meine Eltern darüber ins Bild gesetzt. Wie Kinder eben so sind, erzählte ich darüber auch in der Schule, was bei den Lehrern zunächst auf Unglauben stieß. So rief meine Klassenlehrerin daheim an, wo die Geschichte natürlich bestätigt wurde. Ich bewertete dies als etwas Spezielles, es war nichts Negatives für mich. Ich war dankbar dafür, dass ich leben kann. Kinder, wie ich eines war, wurden nicht selten abgetrieben. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich mich für das ungeborene Leben einsetze und weshalb mir wichtig ist, dass wir als gläubige Menschen uns bei diesem Thema mit Liebe und Klarheit für die Ungeborenen einsetzen. Ich denke dabei an meine zukünftigen Enkelkinder. Sie werden darüber sprechen, ob ich zu solchen Fragen Stellung genommen habe oder nicht, so wie wir unsere Großeltern für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft ziehen. Deshalb finde ich wichtig, dass wir das Leben ehren und feiern.

Ich glaube, jeder Mensch trägt einen Rucksack mit sich, eine Verletzung, eine Geschichte – so, wie ich mit meiner Adoption. Die Frage ist: Lasse ich mich davon runterdrücken, oder sehe ich das Gute daran? Wir sollten uns dem Leben stellen, vorwärtsgehen und uns an Gott halten und auch von ihm heilen lassen.

Drei Fragen an dich:

• Welches ist dein Rucksack, und wie gehst du damit um – hast du einen Ort, um ihn abzulegen?

• Wie hast du in deiner Kindheits- und Jugendzeit über Gott gedacht?

• Wie gehst du mit Kindern und Jugendlichen um – bist du ein gutes Vorbild?

Vers zum Thema:

»Dann gewinnt sein Körper die jugendliche Frische zurück, und er wird wieder wie ein junger Mensch sein.«

(Hiob 33,25)

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2.

GANGSTAS PARADISE

Als ich endlich die Schule hinter mir lassen konnte, befiehl mich ein Gefühl bislang unbekannter Freiheit. Kein Stundenplan mehr mit irrelevanten Fächern, keine missmutigen Pauker, keine Leitplanken links, rechts sowie oft auch unten und oben. Mit 16 Jahren feierte ich mit einem Kameraden auf dem Höhenzug Irchel, ganz in der Nähe von Winterthur, diesem notwendigen Übel entronnen zu sein.

Ich erinnere mich noch gut, wie die angenehme Kühle des Abends den warmen Herbsttag abgelöst hatte. Nur der warme Asphalt war ein verbliebener Zeuge der hohen Tagestemperatur. Mit einem Kumpel hatte ich gerade eine Jugendveranstaltung besucht, bei der ein christlicher Film gezeigt worden war und auf dem Heimweg gezecht und getafelt – was für uns bedeutete, mit unseren Fahrrädern irgendwo anzuhalten, uns an den Rand einer duftenden Wiese zu setzen und je zwei geklaute Bierdosen zu kippen, die wir beim Vater meines Kollegen »gefunden« hatten.

Es war das erste Mal, dass mehr als ein paar Schluck Alkohol meine Kehle hinuntergeflossen waren. Entsprechend deutlich spürte ich, dass er umgehend wirkte. Zusehends erheitert debattierten wir weniger über Gott und vielmehr über die Welt. Um letztere ohne den ersteren zu erobern, schwangen wir uns bald wieder auf unsere Räder. In meinem beduselten Zustand war ich mir der ersten Kurve zwar vollends bewusst, doch weder mein Kopf noch der restliche Körper bereiteten sich näher auf sie vor, und so rasselte ich schnurstracks einen kleinen Hang hinunter. Ich lag auf dem Rücken und lachte in den dunkler werdenden Sternenhimmel. Ich war jung, das Leben und die Zukunft gehörten mir. Ich lag am Boden und war unbesiegbar. Es fühlte sich ausgesprochen gut an.

Ich fühlte mich in dieser Nacht frei wie ein Schmetterling, der dem Leben als Raupe und der Einengung im Kokon entflohen war. Im Grunde war dieser Freudenausbruch nach der verpassten Kurve der Vorläufer eines kommenden, wichtigen »Schritts«. Denn kurze Zeit später ließen meine Kollegen und ich uns konfirmieren. Bei dieser gut schweizerischen Pflichtübung war die Kirche gerappelt voll. Aber ich konnte mit der Kirche und dem Christentum nichts anfangen. Als ich nach dieser Feier das kunstvoll ausstaffierte Gemäuer verließ, dachte ich mir: »Gott, du bleibst bei diesen Langweilern drin, ich lebe jetzt mein Leben.« Und dieses nahm ich voller Abenteuerlust in die Hand. Meine nächtliche Rauschfahrt sollte nur der Anfang gewesen sein.

Der Leichtsinn, der diesen Abend bestimmt hatte, zog sich in dieser Zeit durch mein ganzes Leben. Ich wollte tun, worauf ich Lust hatte. Bereits im letzten Schuljahr hatte ich einen Wandel durchgemacht. Während ich vorher angepasst gewesen war, hielt ich mich inzwischen für einen Bad Boy und Gangster. Und als solcher entdeckte ich bald nach meinem ersten Alkoholerlebnis eine neue Disziplin: das Kiffen.

Beim ersten Joint wurde mir speiübel – was nicht bedeutete, dass ich geläutert die Finger davon gelassen hätte. Im Gegenteil, ich fand diese erste Erfahrung lustig, kiffte immer mehr, hörte Hip-Hop, begann den Gangsta-Stil (übergroß und cool) zu lieben. Dazu passte, dass ich in dieser Zeit ein neues Vorbild fand, dem ich immer stärker anhing: Che Guevara. Ich bewunderte diesen wilden Kriegertypen, der sich von den Mächtigen nicht beeindrucken und von Geld nicht korrumpieren ließ. Seite an Seite mit Fidel Castro legte sich der Guerillaführer mit der kubanischen Regierung an. Man nannte ihn den »Christus mit der Knarre«. Er wollte die Welt in einen besseren Ort verwandeln, forderte soziale Gerechtigkeit und opferte sein Leben für ein höheres Ziel. Das beeindruckte mich.

Nach der Schule fuhr ich aber nicht nur betrunken und bekifft in der Gegend herum, sondern ich kriegte es auch mit dem Ernst des Lebens zu tun. Ich sollte »etwas Richtiges« lernen, wie man so schön zu sagen pflegt, wenn die Zeit der Ausbildung beginnt. In meinem Fall handelte es sich um eine Lehre als Maschinenmechaniker.

Von Beginn an war mir die vermeintliche Freiheit im Partyleben wichtiger als die Hingabe ans begonnene Lehrverhältnis. Das äußerte sich unter anderem darin, dass ich selten nüchtern und komplett clean erschien. Bereits morgens auf dem Weg in die Gewerbeschule oder zur Arbeit rauchte ich mit meinen Gefährten Joints. Leicht behämmert bestiegen wir den Bus. Das ging so weit, dass ich einmal sogar braven Studenten und Lehrlingen Bücher aus den Taschen riss und diese dann durch den Bus schmiss. Gegenwehr formierte sich keine, denn sie hatten Angst und Respekt vor mir. Und wenn doch – es wäre mir egal gewesen. Mein Vorbild Che schlug sich durch den Busch und ich mich durch den Großstadt-Dschungel. Winterthur ist immerhin die sechstgrößte Stadt der Schweiz.

So zogen die Tage, Wochen und schließlich die ersten Monate meines Berufslebens wenig ruhmreich ins Land. Auch den Lehrern gegenüber zeigte ich diese »Mir-egal-Haltung«. Für gewöhnlich trug ich Kopfhörer, auch im Unterricht. Eine Szene dürfte da geradezu symptomatisch für diese Zeit sein: Eines Tages im Zeichenunterricht fragte der Lehrer plötzlich: »Wer hat die Aufgabe gemacht?« Niemand hob die Hand, ich auch nicht. Seine Worte hatte ich wegen der Musik natürlich nicht verstanden. Auch seine nächste Frage verstand ich nicht, aber weil diesmal alle ihre Hand hoben, tat ich es ihnen gleich. Der Lehrer schaute mich an und bat: »Stephan, komm doch nach vorne und schreib die Antwort an die Tafel.«

Betont langsam schritt ich nach vorne (ich fühlte mich so richtig gangstamäßig), nahm lässig von ihm die Kreide entgegen und zog genüsslich einen Strich von links oben nach rechts unten über die ganze Wandtafel. Triumphierend sagte ich: »Das ist meine Antwort!«, und legte die Kreide behutsam in seine Hand zurück. Er reagierte mit einer schallenden Ohrfeige. Von diesem Tag an blieb ich dem Zeichenunterricht oft fern. Der Lehrer verriet mich nicht, denn ansonsten hätte er wegen der Klatsche wohl Probleme gekriegt. Zudem gehe ich davon aus, dass er mich nicht sonderlich vermisste.

Weil ich mehr mit meinen Süchten und revolutionären Ansichten beschäftigt war als mit der Realität des Lehralltags, gefiel mir diese Ausbildung nicht. Immer mehr sah ich mich in etwas gefangen, das ich im Grunde gar nicht wollte. Oft redete ich während der Arbeit mit mir selber. Als kommunikative Person hatte ich wesentlich lieber mit Menschen als mit diesen knorrigen, meist in einem ausladend matten Grün bepinselten Maschinen zu tun. Und es ist denkbar, dass es den Geräten nicht anders erging. Das gipfelte irgendwann in einen ebenso finalen wie wortwörtlichen Funkenregen: Bei einer Drehbank oder Metallfräse ist es so, dass generell entweder Vorschub oder Unterschub geleistet wird, aber logischerweise nie beides. Mit jointgestärktem Rücken leitete ich aber versehentlich eines Tages beide Arbeitsschritte ein. Schrecklicher Lärm drang in die Ohren, Funken stoben, und es roch beißend, wie wenn man längere Zeit in einer Autowerkstatt an einem Auspuff schweißt. Und während der Kopfteil des Gerätes durch die Hitze mit dem zu bearbeitenden Metallstück verschmolz, kam der Lehrmeister ebenfalls mit hochrot erhitztem Kopf angestoben, um mir einen vaterländischen Vortrag zu halten. Es dauerte nicht mehr lange, und wir kamen überein, dass diese Ausbildung nichts für mich war, und so beendeten wir das Lehrverhältnis.

Ich hatte zwar die Azubi-Zeit vorzeitig abgebrochenen, aber zuvor hatte ich noch ein Austauschjahr in die USA arrangiert. Dieses sollte mich sowohl für die Lehre als auch menschlich weiterbringen, und so wollte ich trotz allem daran festhalten.

Das Problem war, dass bis zur geplanten Abreise noch ein halbes Jahr Zeit war. Andere hätten sich vermutlich um einen neuen Bildungsweg bemüht. Ich dagegen entschied mich, in den Tag hineinzuleben und mich treiben zu lassen. Immerhin gab es in diesen Monaten noch viel »Neues« unter der Sonne zu entdecken, namentlich mehr Gras zu rauchen und Alkohol zu konsumieren.

Natürlich war das nicht im Sinne meiner Eltern, die ich über meine nächtlichen Streifzüge auch nicht weiter ins Bild setzte, zumal mein Vater wie erwähnt Polizist war. Ich tat ihnen gegenüber so, als würde ich aufrichtig nach einer anderen Lehrstelle suchen. Doch das Einzige, was ich nachweislich verbesserte, war das Herumlungern. Scheinbar früh legte ich mich abends schlafen, und wenn es schließlich ruhig im Hause war, hangelte ich mich vorsichtig die Katzenleiter aus Holz aus dem zweiten Stock hinunter. Das war gefährlich: Ich hielt mich bei diesem Quasi-Hochseilakt am Balkongeländer fest. Mit einem Fuß konnte ich dann auf der Katzenleiter stehen und mit dem anderen den Fenstersims des unten wohnenden Nachbarn erreichen. Von dort aus konnte ich runterspringen. Das geflügelte Wort »Nachts sind alle Katzen blau« erhielt in diesem Zusammenhang eine völlig neue Bedeutung. Sobald ich auf sicherem Boden angelangt war, fuhr ich mit dem Rad nach Winterthur, um zu kiffen und zu trinken. Viel Ruhmreiches aus diesem Halbjahr gibt es nicht zu erzählen, auch wenn ich damals überzeugt war, dass die Welt mir gehört. Jedenfalls war ich sehr weit davon entfernt, das zu tun, was ich heute tue. Einmal lagen wir beispielsweise mehrere Stunden auf einem Ping-Pong-Tisch. Wir hatten zuvor etwas geraucht, von dem wir nicht wussten, was es war. Wir waren so zugedröhnt, dass wir uns nicht mehr bewegen konnten.

Fremdes Eigentum sahen wir als Selbstbedienungsladen: Bei einem Gartenrestaurant entdeckte ich, dass es nach Betriebsschluss möglich war, »gratis« an Getränke zu kommen. In der Mitte der Laube stand eine etwa vier Meter hohe Holzbarrikade mit Schnitzereien. Dank diesen Verzierungen konnte man über die Schranke klettern und an die Kühlschränke und das Depot gelangen. Dort brach ich gerne ein, um die ein und andere Flasche mit hochprozentigem Inhalt zu stehlen. Mit der Zeit aber merkten wohl auch die Besitzer, dass immer wieder etwas fehlte, und so bauten sie einen Alarm ein. Dieser überschnellte uns laut und schrill mit einer auf- und abheulenden Sirene. Wir stoben auf, »sprangen« fast über das hohe Hindernis aus Holz und flohen.

In diesen unrühmlichen Tagen trug ich immer eine große Machete, ein Dschungelmesser, unter meinem Shirt versteckt mit mir. Einmal wollte ein Kollege mir gegenüber mit einem Klappmesser angeben und zeigen, wie bedrohlich er wirken konnte – da zog ich meine fürs Dickicht gedachte Waffe hervor, worauf er mucksmäuschenstill wurde.

Wir fühlten uns in diesem Halbjahr wie die Könige der Nacht, pöbelten rum und sorgten für Ärger. Nach einem Fest rissen wir Straßenpflöcke heraus und warfen sie auf die Straße. Die Polizei bemerkte das und nahm die Verfolgung auf. Wir versuchten, uns in Feldern zu verstecken. Die Ordnungshüter suchten mit Taschenlampen nach uns, bis es ihnen gelang, einen von uns dingfest zu machen. Ein andermal brachen wir nachts in eine Baustelle ein. Natürlich musste ich die Bußgelder selbst bezahlen, die von Zeit zu Zeit in unser Haus flatterten.

Man könnte witzeln, dass mein Vater, der Polizist, in meinem Falle die Arbeit mit nach Hause genommen hatte, doch mein Verhalten war für ihn nicht sonderlich lustig. Im Gegenteil: Mein Benehmen, bei dem sich keine Verbesserung abzeichnete, lastete schwer auf meinen Eltern. Doch wir hatten uns nicht viel zu sagen. Wir hatten uns längst auseinandergelebt, und ich war dauernd benebelt.

In diesem halben Jahr vor der Reise in die USA entwickelte ich wachsendes kriminelles Potenzial. So versuchten wir, am Rande des traditionellen Sechseläuten-Festes in Zürich Autos zu knacken. Da wir keine Profis waren, suchten wir zunächst nach Wagen, die nicht abgeschlossen waren. Damals war die Bordelektronik noch längst nicht so ausgefeilt, dass sich das Fahrzeug selbst verschließt, wenn der Zündschlüssel nicht mehr in Sensornähe ist. Tatsächlich fand ich ein Auto, das nicht verschlossen war. Ich plünderte es und riss auch eine schicke Apparatur, einen vermeintlichen CD-Player heraus, entfernte die Kabel und steckte das Gerät unter mein Hip-Hop-Shirt. Später auf dem Heimweg im Zug nahm ich die Beute triumphierend und neugierig unter meinem Kleidungsstück hervor – nur um zu erkennen, dass ich die Alarmanlage des Wagens hatte mitgehen lassen. Meine Weggefährten brachen in schallendes Gelächter aus, in das ich schließlich einstimmte.

Bei so viel Nachtschichten und Engagement war klar, dass ich vor dem Büffeln im Land der unbegrenzten Möglichkeiten doch noch etwas Urlaub verdient hatte. Mit Freunden fuhr ich mit einem Reisebus nach Lloret de Mar, einem Partyort in Spanien. Im Gepäck schmuggelten wir 25 Gramm Cannabis für den Eigenbedarf mit. Auf dem Weg tranken wir Bier in Strömen, zum Missfallen der anderen Fahrgäste. Beduselt schlief ich irgendwann ein. Als ich wieder erwachte, hatte mein Kamerad ein blaues Auge. Verwundert fragte ich, wie denn das passiert sei. Er erklärte, dass ich ihm im Suff eine reingedonnert hatte. Das tat mir die ganzen Ferien über leid. Das hatte ich nun wirklich nicht gewollt.

Während dieser zwei Wochen waren wir wohl keine Minute nüchtern. Wozu auch? Die ganze Zeit in Spanien war für uns eine einzige Party. Wir machten mit Frauen rum und kifften permanent. Selbst auf der Rückreise ließen wir uns nicht davon abbringen. Bei einem Halt hieß es, dass wir nun eine halbe Stunde Pause hätten. Dort wurden wir von einem jungen Paar, das ebenfalls mit dem Bus mitfuhr, eingeladen, mit ihnen Sangria zu trinken. Feuchtfröhlich blieben wir im Restaurant sitzen. Natürlich waren wir nicht rechtzeitig zurück, und der Bus fuhr ohne uns ab. Unterwegs fiel dann unser Fehlen auf, und der leidgeprüfte Fahrer musste wenden. Drei Stunden später fuhr der Bus wieder ein. Sie mussten uns ja mitnehmen. Das Unternehmen konnte schließlich nicht ein paar Minderjährige im Ausland einfach stehen lassen. Zuerst wollte uns die Gesellschaft zwar nicht an Bord nehmen, da wir besoffen waren; letztlich mussten sie uns aber mitschleppen.

Gut »erholt« aus dem Süden zurück, war ich daheim gleich mit zwei Freundinnen unterwegs. Kennengelernt hatte ich sie im Urlaub, natürlich unabhängig voneinander. Die beiden meinten aber selbstverständlich, dass sie jeweils die Einzige seien. Ich sorgte dafür, dass sie sich nicht begegneten, auch wenn das manchmal knapp war. Das konnte so weit gehen, dass ich die eine an einem Ort in der Stadt zur Bushaltestelle brachte und dann innerhalb der Ortschaft zu einer anderen Haltestelle wetzte, um die zweite Freundin abzuholen, die im gleichen Bus gesessen und ein, zwei Minuten vorher bereits ausgestiegen war. Sie musste somit kurz auf mich warten. Ich machte damals, was ich wollte. Was um mich passierte, war mir egal, und auch, ob ich durch mein Verhalten andere Menschen verletzte. Sex wollte ich in diesen Tagen aber noch nicht. Da war ich vorsichtig und hatte zudem eine gewisse Ethik. Außerdem wollte ich zwar »erobern«, aber letztlich dann doch keine Beziehung.

Irgendwann waren die Wochen und Monate dieses Halbjahres verjuxt und verplempert und der Sommer da und mit ihm die Reise nach Amerika. Um möglichst krass auszusehen, trug ich meine Hip-Hop-Kluft und nahm reines Koffein, um entsprechend aufgeputscht zu sein.

Gleich zu Beginn in den Staaten wurde uns Austauschschülern bei einem Ausflug die Gegend gezeigt. Zudem wurden wir mit einem üppigen Häppchen-Buffet herzlich willkommen geheißen.