Unguarded - Scottie Pippen - E-Book

Unguarded E-Book

Scottie Pippen

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Scottie Pippen wird nicht ohne Grund als einer der größten NBA-Spieler aller Zeiten bezeichnet. Ohne Pippen gäbe es keine Meisterschaftsbanner – geschweige denn sechs –, die vom Dach des United Center hängen. Es gäbe keine Dokumentation The Last Dance. Und es gäbe keinen »Michael Jordan«, wie wir ihn kennen. Wie kam es also dazu, dass das jüngste von zwölf Kindern, das in einer Kleinstadt in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und zwei Familientragödien überstand, zu einer verehrten NBA-Legende wurde? Wie wurde aus dem schmächtigen Teenager, der von allen großen College-Basketball-Programmen übersehen wurde, der fünfte Pick im NBA Draft 1987? Und, was vielleicht am faszinierendsten ist, wie konnte Pippen sein Ego beiseiteschieben, damit die Chicago Bulls zur dominantesten Basketball-Dynastie des letzten halben Jahrhunderts werden konnten? In Unguarded öffnet sich der sechsfache Champion und zweifache Olympiasieger endlich und nimmt pointiert und transparent Stellung zu Michael Jordan, Phil Jackson, Dennis Rodman und vielen anderen. Pippen schildert, wie es war, täglich mit Jordan zu arbeiten und als sein Sidekick abgestempelt zu werden, während er als Initiator die Offensive leitete und als Anker für die Defensive des Teams fungierte. Er gibt einen unverfälschten, ungeschminkten Einblick in sein Leben und seine Rolle in einem der größten und beliebtesten Teams aller Zeiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 467

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SCOTTIE PIPPEN

MIT MICHAEL ARKUSH

UNGUARDED MEINE WAHRE GESCHICHTE

UNGUARDED MEINE WAHRE GESCHICHTE

SCOTTIE PIPPEN

MIT MICHAEL ARKUSH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2022

© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Atria Books einem Imprint von Simon & Schuster unter dem Titel Unguarded. © 2021 by Scottie Pippen. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Projektleitung: Fabian Neidl

Übersetzung: Jan Großöhmigen

Redaktion: Tillmann Courth

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer in Anlehnung an das Original von James Iacobelli

Umschlagabbildung: Kareem Black/Dayreps (Cover), Andy Hayt/Getty Images

Satz: abavo GmbH, Buchloe

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-581-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-097-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-098-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Für meine Kinder, die mich dazu inspirieren, mein bestes Ich zu sein und ein sinnvolles Leben zu führen:

Antron, Taylor, Sierra, Scotty Jr., Preston, Justin und Sophia.

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1 Hamburg

KAPITEL 2 Ich hab’s drauf

KAPITEL 3 Der grössere Mann auf dem Campus

KAPITEL 4 Genau meine Stadt

KAPITEL 5 Neuanfang

KAPITEL 6 Die erste Hürde

KAPITEL 7 Frischer Wind mit Phil

KAPITEL 8 Auf einer Mission

KAPITEL 9 The First Dance

KAPITEL 10 Wieder zusammen

KAPITEL 11 Von einem Traum zum nächsten

KAPITEL 12 Aller guten Dinge sind drei

KAPITEL 13 1,8 Sekunden

KAPITEL 14 Er ist zurück

KAPITEL 15 Zwei weitere Ringe

KAPITEL 16 The Last Dance

KAPITEL 17 Go west, old man

KAPITEL 18 My Last Dance

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTOREN

Prolog

19.Mai 2020, 18:31 Uhr.

Die SMS war von Michael. Er meldete sich nicht sehr oft.

Wie geht’s, Alter? Ich habe gehört, dass du sauer auf mich bist. Würde gerne mit dir darüber reden, wenn du Zeit hast.

Mein Terminkalender war an diesem Abend voll und ich wusste, dass das Gespräch eine Weile dauern würde.

Ich meldete mich erst anderthalb Stunden später zurück:

Lass uns morgen reden.

Michael hatte recht. Ich war sauer auf ihn. Das lag an The Last Dance, der zehnteiligen ESPN-Dokumentation über die letzte Meisterschaftssaison der Chicago Bulls (1997/98), die Millionen von Menschen in den ersten Wochen der Pandemie sahen.

Ohne Live-Sport im Fernsehen bot The Last Dance ab Mitte April an fünf Sonntagabenden in Folge eine dringend benötigte Ablenkung von der neuen Normalität, in der wir uns plötzlich befanden. Man konnte eben nur eine bestimmte Menge an Neuigkeiten über Hotspots und Krankenhausüberlastungen und Todesfälle verkraften.

Die letzten beiden Folgen wurden am 17. Mai ausgestrahlt. Ähnlich wie in den vorherigen acht wurde Michael Jordan verherrlicht, während ich und meine stolzen Teamkollegen nicht annähernd genug gelobt wurden. Michael trug einen großen Teil der Schuld daran. Die Produzenten hatten ihm nämlich die redaktionelle Kontrolle über das Endprodukt eingeräumt. Die Doku hätte sonst nicht veröffentlicht werden können. Er war der Hauptdarsteller und der Regisseur.

Ich hatte viel mehr erwartet. Als mir vor über einem Jahr zum ersten Mal davon erzählt wurde, konnte ich es kaum erwarten, The Last Dance einzuschalten, da ich wusste, dass diese Doku seltenes Filmmaterial enthalten würde.

Meine Jahre in Chicago, im Herbst 1987 hatte ich dort als Rookie angefangen, waren die herausragendsten meiner Karriere: Zwölf Männer kamen als Einheit zusammen, um sich die Träume zu erfüllen, die wir als Kinder auf Spielplätzen im ganzen Land hatten, als wir nur einen Ball, einen Korb und unsere Vorstellungskraft brauchten. In den 1990er-Jahren ein Mitglied der Bulls zu sein, bedeutete, Teil von etwas Magischem zu sein. Damals und für alle Zeiten.

Michael allerdings war entschlossen, der aktuellen Generation von Fans zu beweisen, dass er zu seiner Zeit überlebensgroß war – und immer noch größer als LeBron James, der Spieler, den viele als ebenbürtig, wenn nicht sogar als überlegen betrachten. Also präsentierte Michael seine Geschichte, nicht die Geschichte des »Last Dance«, wie unser Coach Phil Jackson die Saison 1997/98 bezeichnete, als klar wurde, dass Eigentümer Jerry Reinsdorf und Geschäftsführer Jerry Krause die Absicht hatten, die Gang aufzulösen – egal, was passieren würde.

Wie Krause im Herbst 1997 zu Phil sagte: »Sie können eine Bilanz von 82:0 erreichen und es wird keinen Unterschied machen. Das wird Ihre letzte Saison als Coach der Chicago Bulls sein.«

ESPN schickte mir ein paar Wochen vorab Links zu den ersten acht Folgen von The Last Dance. Als ich mir die Doku zu Hause in Südkalifornien mit meinen drei Söhnen anschaute, traute ich meinen Augen nicht.

Zu den Szenen der ersten Folge gehörten:

Michael, ein Freshman an der University of North Carolina, trifft beim NCAA-Finale 1982 gegen die Georgetown Hoyas den siegbringenden Sprungwurf.

Michael, der 1984 nach Hakeem Olajuwon (Houston) und Sam Bowie (Portland) von den Bulls als Dritter gedraftet wurde, spricht über seine Hoffnung, die Franchise wieder auf Linie zu bringen.

Michael führt die Bulls in seinem dritten Spiel zu einem Comeback-Sieg über die Milwaukee Bucks.

So ging es immer weiter, das Scheinwerferlicht war ausschließlich auf die Nummer 23 gerichtet. Selbst in der zweiten Folge, die sich eine Weile auf meine schwierige Kindheit und meinen unwahrscheinlichen Weg in die NBA konzentrierte, kehrte die Erzählung zu MJ und seinem Siegeswillen zurück. Ich war nichts weiter als ein Statist. Seinen »besten Teamkollegen aller Zeiten« nannte er mich. Er hätte nicht herablassender sein können.

Bei näherer Betrachtung traute ich meinen Augen dann doch. Ich habe viel Zeit mit dem Mann verbracht. Ich wusste, wie er tickt. Ich war naiv, etwas anderes erwartet zu haben.

Jede Folge verlief nach demselben Muster: Michael hob sich auf ein Podest, seine Teamkollegen waren zweitrangig; die Botschaft war nicht anders als damals, als er uns als seine »Nebendarsteller« bezeichnete. Gewannen wir ein paar Spiele, ernteten wir von Saison zu Saison wenig oder gar keine Anerkennung, verloren wir hingegen, war uns der Großteil der Kritik sicher. Michael konnte 6 von 24 Würfen aus dem Feld treffen, 5 Turnover begehen und war in den Augen der ihn anbetenden Presse und Öffentlichkeit immer noch »Jordan, der Fehlerfreie«.

Jetzt saß ich hier, mit Mitte 50, 17 Jahre nach meinem letzten Spiel und war Zeuge, wie wir wieder einmal erniedrigt wurden. Es damals durchzustehen, war schon beleidigend genug gewesen.

In den nächsten Wochen sprach ich mit einigen meiner ehemaligen Teamkollegen, die sich ebenso herabgesetzt fühlten wie ich. Wie konnte Michael es wagen, uns so zu behandeln, nach allem, was wir für ihn und seine kostbare Marke getan hatten? Ohne mich, Horace Grant, Toni Kukoč, John Paxson, Steve Kerr, Dennis Rodman, Bill Cartwright, Ron Harper, B. J. Armstrong, Luc Longley, Will Perdue und Bill Wennington wäre Michael Jordan nie Michael Jordan gewesen. Ich entschuldige mich übrigens bei allen, die ich ausgelassen habe.

Ich behaupte nicht, dass Michael kein Superstar geworden wäre, wo immer er gespielt hätte. Er war nichts weniger als spektakulär. Nur war er auf den Erfolg, den wir als Team erzielten – sechs Titel in acht Jahren – angewiesen, denn der hatte ihm weltweit zu einem Bekanntheitsgrad verholfen, den außer Muhammad Ali kein anderer Sportler dieser Zeit erreicht hatte.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, erhielt Michael zehn Millionen Dollar für seine Rolle in der Doku, während meine Teamkollegen und ich keinen Cent daran verdienten – eine weitere Erinnerung an die Hackordnung aus alten Zeiten. Eine ganze Saison lang ließen wir Kameras hinein in die heilige Abgeschiedenheit unserer Umkleidekabinen, unserer Trainingseinheiten, unserer Hotels, unserer Huddles … in unser Leben.

Michael war nicht der einzige ehemalige Teamkollege, der sich in dieser Woche bei mir meldete. Zwei Tage später erhielt ich eine SMS von John Paxson, dem Starting-Point-Guard unserer ersten beiden Meisterschaften, der spätere Geschäftsführer der Bulls und Vice President of Basketball Operations. Von Paxson hörte ich seltener als von Michael.

Hey, Pip… hier ist Pax.

Michael Reinsdorf [Jerrys Sohn, der die Franchise leitet] hat mir deine Nummer gegeben. Ich möchte dich nur wissen lassen, dass ich alles an dir als Teamkollege respektiert habe. Man kann Geschichten zwar verdrehen, aber ich verlasse mich auf meine eigenen Erfahrungen. Ich habe gesehen, wie du dich vom Rookie zum Profi entwickelt hast. Lass dich nicht von anderen, einschließlich der Medien, definieren. Du bist erfolgreich und geschätzt und ich war immer froh darüber, dein Teamkollege zu sein.

War es Zufall, dass ich im Abstand von nur zwei Tagen SMS-Nachrichten von Michael und Paxson erhielt? Ich glaube nicht.

Beiden war bewusst, wie sauer ich wegen der Doku war. Sie meldeten sich, um sicherzustellen, dass ich keinen Ärger verursachen würde: gegenüber den Bulls, die Paxson immer noch als Berater bezahlten; oder gegenüber Michaels Vermächtnis, das immer ein zentrales Anliegen war.

Paxson und ich waren seit Jahren nicht mehr gut miteinander ausgekommen. Im Sommer 2003 lehnte ich ein Angebot der Memphis Grizzlies ab, um einen Zweijahresvertrag bei den Bulls zu unterschreiben. Dort sollte ich jungen Spielern wie Eddy Curry, Tyson Chandler, Jamal Crawford und Kirk Hinrich als Mentor zur Seite stehen, während ich eng mit dem Coach, Bill Cartwright, zusammenarbeitete. Mit Bill hatte ich von 1988 bis 1994 gespielt. Damals nannten wir ihn Teach. Er sagte nicht viel. Tat er es doch, regte es einen zum Nachdenken an.

»Pip, ich will, dass du Bill unter die Arme greifst«, sagte Paxson, »als eine Art Coach am Spielfeldrand.«

Warum nicht? Eine neue Herausforderung war genau das, was ich brauchte. Mit 38 neigte sich meine Karriere dem Ende zu. Ich hatte viel zu bieten, auf und neben dem Court, und ich war zuversichtlich, dass diese Erfahrung mir den Weg ebnen würde, eines Tages selbst einmal Coach zu werden, vielleicht sogar bei den Bulls.

So ganz hat das nicht geklappt. Denn Bill wurde nach 14 Spielen gefeuert und von Scott Skiles ersetzt.

Ich bestritt nur 23 Spiele, ehe ich im Oktober 2004 in den Ruhestand ging. Mein Körper war nach 17 Jahren in der Liga hinüber – man könnte auch 19,5 Jahre ansetzen, wenn man die 208 Playoff-Spiele mitzählt. Paxson fand, ich hätte ihn und die Franchise im Stich gelassen. Was erklären könnte, warum er, nachdem meine Karriere vorbei war, meine Meinung in Personalangelegenheiten nicht einholte – obwohl er wusste, wie sehr ich die Zukunft des Teams mitbestimmen wollte.

Als ich 2010 endlich auf die Gehaltsliste der Bulls kam, war ich nichts weiter als ein Maskottchen, das jedes Jahr ein paar Mal für »Auftritte« herausgeschoben wurde: Ich gab Autogramme und traf mich mit Dauerkarteninhabern. Ich war hauptsächlich angeheuert worden, um als Bindeglied zu den glorreichen Zeiten zu dienen.

Anfang 2014 schien es endlich, als dürfte ich eine bedeutendere Rolle spielen. Die Bulls schickten mich zu einer Reihe von College-Spielen, um ein bisschen zu scouten. Eine der Reisen führte mich zum Cameron Indoor Stadium in Durham, North Carolina. Dort beobachtete ich, wie Duke, die Nummer 5, Syracuse empfang, die Nummer 1. Ich hatte zwar viele Duke-Spiele im Fernsehen gesehen, dennoch breitete sich eine tolle Szene vor mir aus: Die Studenten, ihre Gesichter blau angemalt, standen während des ganzen Spiels, um ihre geliebten Blue Devils anzufeuern und ihre armen Gegner zu erschüttern.

Duke, angeführt von Freshman-Forward Jabari Parker, besiegte Syracuse mit 66:60.

Ich konnte nicht fassen, wie laut die Kulisse war. Lauter noch als im Chicago Stadium, wo wir viele Jahre gespielt hatten. Ich freute mich, wieder am Basketballbetrieb beteiligt zu sein. Und darüber, dass die Bulls von meinem Expertenwissen profitieren wollten, anstatt bloß meinen Namen für Werbezwecke auszunutzen.

Nachdem ich die Scouting-Berichte eingereicht hatte, wartete ich auf eine Rückmeldung von Paxson und anderen Mitgliedern der Organisation. Was würden sie als Nächstes von mir wollen?

Nichts kam zurück, kein Wort.

Die Bulls luden mich in den Wochen vor dem NBA Draft 2014 auch nicht zu Meetings oder Workouts mit Prospects ein. Es dämmerte mir, dass sie mich von Anfang an nur bei Laune gehalten hatten.

Am 22. Mai 2020, dem Tag, nachdem Paxson seine SMS verschickt hatte, telefonierten wir beide ein paar Minuten lang. Er kam direkt zur Sache: »Pip, es tut mir leid, wie sich die Dinge entwickelt haben, als du nach Chicago zurückgekommen bist. Diese Organisation hat dich immer schlecht behandelt und ich möchte dich wissen lassen, dass ich das nicht für richtig halte.«

Ich war froh zu hören, dass Paxson einen Fehler eingestand, der mir seit Langem auf der Seele brannte. Was nicht bedeutete, dass ich bereit war, ihm zu vergeben. Sofern es tatsächlich das war, was er wollte. Dafür war es zu spät.

»John«, sagte ich, »das ist alles schön und gut, aber du hast fast 20 Jahre lang im Front Office der Bulls gearbeitet. Du hattest die Chance, die Dinge zu ändern und hast es nicht getan.«

Daraufhin hörte ich ihn schluchzen. Da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, wartete ich darauf, dass er damit aufhörte. Warum er weinte, war mir erstens nicht klar und zweitens auch egal.

Bald danach war unser Gespräch glücklicherweise vorbei.

. . . .

Die ESPN-Dokumentation enthält vieles, was dort nichts zu suchen hat. Und vieles, was drin sein sollte, wurde weggelassen.

Fazit: Die Doku behandelt meine Hall-of-Fame-Karriere nicht so, wie sie es verdient hat.

Da sie von jemandem stammt, der mein Teamkollege und angeblich mein Freund war, gibt es dafür keine Entschuldigung. Mir kam es vor, als hätte Michael das Bedürfnis verspürt, mich schlechtzumachen, um sich aufzuwerten. Angesichts dessen, was er innerhalb und außerhalb des Basketballs erreicht hat, würde man annehmen, er sei selbstbewusster.

Offenbar nicht.

Betrachten wir zum Beispiel, was in Spiel 6 der NBA Finals 1992 gegen Clyde Drexler und die Portland Trail Blazers passierte. Wir führten drei Spiele zu zwei und versuchten, den Sack zuzumachen, um unsere zweite Meisterschaft in Folge zu gewinnen, die erste vor unseren geliebten Fans. Auf diesen Moment hatten sie Jahrzehnte gewartet.

Es lief leider nicht nach Plan.

Zu Beginn des vierten Viertels lagen die Blazers mit 15 Punkten vorne. Jerome Kersey, ihr Small Forward, und Terry Porter, ihr Point Guard, spielten extrem gut.

Michael versuchte unterdessen, zu sehr zu zaubern, was prompt nach hinten losging.

»Du musst ihn da rausnehmen«, flehte Tex Winter, einer unserer Assistenztrainer, Phil an. »Er hält den Ball zu lange und zerstört die Action.«

Niemand konnte das Spiel so analysieren wie Tex. Er scheute sich nicht, jemanden zu kritisieren, einschließlich Michael, wann immer ein Spieler von der Triple-Post-Offensive abwich, die er in den 1960er-Jahren bei Kansas State populär gemacht hatte. Das Triangle, wie es genannt wurde, mit seinem Schwerpunkt auf Ball- und Spielerbewegung, bedeutete Tex alles und war für unseren Erfolg entscheidend.

Ein Spiel 7 schien unvermeidlich. In einem Spiel 7 kann alles passieren. Eine Verletzung. Ein schlechter Pfiff von den Offiziellen. Ein Wundertreffer. Alles.

Wir begannen das vierte Viertel mit der Second Unit und mir auf dem Spielfeld – Michael blieb auf der Bank – und tatsächlich drehten wir das Spiel. Bobby Hansen, ein Guard, den wir zu Beginn der Saison von den Sacramento Kings verpflichtet hatten, erzielte einen immensen Dreier und startete damit eine Aufholjagd von 14:2. Andere Reservespieler, wie Stacey King und Scott Williams, machten an beiden Enden des Courts einen entscheidenden Spielzug nach dem anderen. Die Fans flippten aus.

Es stand 81:78 für die Blazers, als Michael etwa achteinhalb Minuten vor Schluss zurückkam. Phil hatte ihn ein paar Minuten länger als sonst auf der Bank gelassen.

Die Blazers waren fertig. Der Endstand: 97:93.

Ich kann mir kein besseres Beispiel dafür vorstellen, worum es beim Basketball geht: das Team, nicht irgendein Individuum. Dieses Comeback taucht in der Dokumentation mit keiner Silbe auf, als wäre es nie passiert. Das einzige Filmmaterial von Spiel 6 konzentrierte sich auf die letzten Sekunden.

Warum? Die Antwort ist offensichtlich.

Es hätte Michaels Vermächtnis geschmälert, wenn man gezeigt hätte, dass seine »Nebendarsteller« in einem Spiel dieser Größenordnung den Unterschied ausmachten. Die Bulls hätten dieses Spiel wahrscheinlich verloren, wenn Phil Michael im vierten Viertel schon früher wieder eingesetzt hätte. Tex hatte recht. Michael bewegte den Ball nicht.

Das Filmmaterial von den Finals 1992 konzentrierte sich stattdessen auf Spiel 1, womit Michael beweisen wollte, dass ihm Clyde, der in dieser Saison im MVP-Rennen Zweiter wurde, nicht das Wasser reichen konnte. Das war in der Doku ein wiederkehrendes Thema: Michael stellt jemanden als Bösewicht dar, real oder imaginär, um sich selbst zu motivieren. Ich habe mich immer gefragt: War das Ziel, eine Meisterschaft zu gewinnen, nicht Motivation genug?

Eine weitere krasse Auslassung hat mit dem zu tun, was am Sonntag, dem 1. Juni 1997, in Spiel 1 der Finals gegen die Utah Jazz geschah. 9,2 Sekunden vor Schluss, beim Stand von 82:82, bekam ihr hochgepriesener Power Forward Karl Malone, alias »Mailman«, zwei Freiwürfe zugesprochen.

Als Karl an der Linie stand, reizte ich ihn mit dem Spruch: »Der Postbote liefert nicht am Sonntag.«

Karl, der 76 Prozent seiner Freiwürfe verwandelte, warf beide Male daneben.

Beim nächsten Ballbesitz traf Michael während der Schlusssirene einen Sprungwurf, um das Spiel für uns zu holen. Wir schlugen die Jazz in sechs Spielen für unsere fünfte Meisterschaft.

Was ich zu Karl sagte, hätte in der Doku enthalten sein müssen. Sie können darauf wetten, hätte MJ diese Worte ausgesprochen, wäre der Moment ausführlich behandelt worden, mit dem pompösen Resümee: Michael Jordan ist nicht nur ein großartiger Basketballspieler. Er ist auch ein Meister der Psychospielchen.

In Spiel 6 derselben Serie wehrte ich in den Schlusssekunden einen Einwurf ab, als die Jazz die Chance hatten, das Spiel auszugleichen oder in Führung zu gehen.

Der Steal war in der Doku zu sehen. Es wurde nur nicht betont, wer ihn tatsächlich gemacht hat. Der Fokus lag darauf, wie uneigennützig Michael war, als er Steve Kerr den Ball zuwarf, der den siegbringenden Sprungwurf traf, so wie Michael ihn in Spiel 5 der Finals 1991 gegen die Lakers in der Crunch Time, den entscheidenden letzten Minuten eines Spiels, zu Paxson gepasst hatte, als wir unsere erste Meisterschaft gewannen.

Es war nichts Heldenhaftes an dem, was Michael tat. Den freien Mann zu finden, war das, was uns Phil und Tex vom ersten Tag an beigebracht hatten.

Dafür wurden die wenigen Fälle, in denen ich nicht besonders gut abgeschnitten habe, genauer untersucht als der 26-sekündige Zapruder-Film des Attentats auf JFK.

Beweisstück A: Die letzten 1,8 Sekunden des Playoff-Spiels zwischen den Bulls und den Knicks im Mai 1994, als ich mich selbst aus dem Lineup nahm, nachdem Phil verlangt hatte, dass Toni Kukoč den letzten Wurf macht und ich den Ball einwerfe. Ich habe in 1 386 Spielen gespielt, reguläre Seasons und Playoffs zusammengezählt. Doch diese vermaledeiten 1,8 Sekunden sind bei Weitem das, wonach mich die Menschen am häufigsten fragen.

»Warum haben Sie draußen gesessen? Bedauern Sie es? Würden Sie sich bei einer zweiten Chance anders verhalten?«

Das sind in der Tat berechtigte Fragen (auf die ich später noch eingehen werde). Nur hat der Vorfall nichts mit The Last Dance zu tun und gehört deshalb nicht in die Doku. Warum hielt Michael es jedoch für nötig, ihn noch einmal zur Sprache zu bringen? Hat er vielleicht einen Moment lang überlegt, wie sich das auf mich und mein Vermächtnis auswirken könnte? Außerdem war er 1994 gar nicht im Team. Er spielte Baseball.

Verstehen tue ich hingegen, warum meine Entscheidung, die Fußoperation auf Oktober 1997 zu verschieben, in der Doku vorkommt. Dasselbe gilt für meine Forderung, in jenem Herbst getradet zu werden. Beide Ereignisse geschahen zeitlich während The Last Dance.

Trotzdem: Wie kann Michael es wagen, mich »egoistisch« zu nennen?

Wollen Sie wissen, was wirklich egoistisch ist? Egoistisch ist es, kurz vor Beginn des Trainingslagers zurückzutreten, wenn es für die Organisation zu spät ist, um noch Free Agents zu verpflichten. Als Michael die Bulls 1993 in diese Zwickmühle brachte, war Jerry Krause gezwungen, einen Journeyman zu holen: Pete Myers, der zuletzt für ein Team in Italien gespielt hatte.

Das ist nicht das einzige Beispiel für Michaels Heuchelei. Er beschuldigte Horace Grant, eine Quelle für Sam Smiths Bestseller von 1991, The Jordan Rules, gewesen zu sein – dem Buch, in dem enthüllt wurde, was sich in den Monaten vor unserer ersten Meisterschaft hinter verschlossenen Türen abgespielt hatte. In der Dokumentation verpetzt Michael seine Teamkollegen, die im Hotel Koks konsumiert und Gras geraucht haben, während er als Rookie bloß Zeuge gewesen sein will.

Horace drückte es letztes Jahr in einem Radiointerview am besten aus:

»Wenn man jemanden ein Kameradenschwein nennen will, dann hätten wir hier ein Paradebeispiel vor uns.«

Michael kann unglaublich gefühllos sein.

In einer Folge erinnerte er sich daran, wie verärgert er über Dennis Rodman war, weil der während der Saison 1997/98 aus einem Spiel geworfen wurde. Ich erholte mich immer noch von der Fußoperation. Michael beschuldigte Dennis, »mich da draußen alleine gelassen zu haben«.

Alleine? Das wertet die anderen Profis, die auf dem Court standen, gehörig ab, oder? Ich könnte immer so weitermachen und seine subtilen und nicht so subtilen Beleidigungen gegenüber mir und meinen Teamkollegen aufzählen. Was aber sollte das bezwecken? Die Einschaltquoten bestätigten, dass Amerika heute genauso in Michael Jordan verliebt ist wie in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Das wird sich nie ändern und ich kann damit leben.

Alles, was ich kontrollieren konnte, war, wie ich auf The Last Dance reagieren würde. Mit Schweigen.

Das bedeutete, dass ich nicht bei The Jump auftrat, der täglichen Basketballshow auf ESPN, die von meiner Freundin Rachel Nichols moderiert wurde, wo ich in den letzten Jahren regelmäßig zu Gast war. Wäre ich dort erschienen, hätte Rachel erwartet, dass ich kommentiere, was Amerika jeden Sonntagabend zu sehen bekommt. Ich habe auch keine der Dutzenden von Medienanfragen akzeptiert, die auf mich einprasselten.

Ich habe zu der Angelegenheit allerdings nicht vollständig geschwiegen. Das konnte ich nicht. Ich war zu wütend. Als die Folgen ausgestrahlt wurden, trat ich mit ehemaligen Teamkollegen wie Ron Harper, Randy Brown, B. J. Armstrong und Steve Kerr in Kontakt. Die Verbundenheit zwischen uns bleibt so eng wie zu unseren aktiven Zeiten.

In der Doku versucht Michael, die Fälle zu rechtfertigen, in denen er einen Teamkollegen vor der Gruppe beschimpfte. Er war der Meinung, dass diese Jungs die richtige Härte entwickeln mussten, um an den robusteren Teams der NBA vorbeizukommen. Als ich erneut sah, wie schlecht Michael seine Teamkollegen behandelte, fand ich es höchst peinlich, genau wie damals schon.

Michael lag nämlich falsch. Wir haben keine sechs Meisterschaften gewonnen, weil er die Jungs fertig gemacht hat. Wir haben sie gewonnen, obwohl er die Jungs fertig gemacht hat.

Wir haben sie gewonnen, weil wir Team-Basketball gespielt haben, was in meinen ersten beiden Saisons, als Doug Collins unser Coach war, noch nicht der Fall war. Das war das Besondere daran, für die Bulls zu spielen: Die Kameradschaft, die wir miteinander aufbauten, und nicht, dass wir uns gesegnet fühlen konnten, mit dem unsterblichen Michael Jordan im selben Team zu sein.

Ich war ein viel besserer Teamkollege, als Michael es jemals war. Fragen Sie jeden, der mit uns beiden gespielt hat. Ich war immer mit einem Schulterklopfen oder einem aufmunternden Wort zur Stelle, besonders, wenn er jemanden aus dem einen oder anderen Grund zusammenstauchte. Ich half den anderen, an sich zu glauben und aufzuhören, an sich zu zweifeln. Jeder Spieler zweifelt irgendwann an sich. Entscheidend ist, wie man mit diesen Zweifeln umgeht.

Michael und ich stehen uns nicht nahe – heute nicht und damals nicht. Wenn ich ihn anrufe oder ihm eine SMS schreibe, antwortet er mir normalerweise zeitnah, aber ich melde mich nicht, nur um zu sehen, wie es ihm geht. Er tut das auch nicht. Viele Menschen mögen das kaum glauben, wenn man bedenkt, wie reibungslos wir auf dem Court funktioniert haben.

Abseits des Courts sind wir zwei sehr unterschiedliche Menschen, die zwei sehr unterschiedliche Leben führen. Ich kam vom Land: Hamburg, Arkansas, etwa 3 000 Einwohner; er kam aus der Stadt: Wilmington, North Carolina.

Als ich die Highschool verließ, rekrutierte mich niemand. Alle rekrutierten ihn.

Nachdem die Saison zu Ende war, sprachen wir beide bis zum Trainingslager im Oktober kaum ein Wort miteinander, egal, ob wir mit Champagner gefeiert hatten oder nicht. Michael hatte seinen Freundeskreis und ich hatte meinen. Daran war niemand schuld. Man kann Intimität zwischen zwei Individuen nicht erzwingen. Entweder ist sie da oder sie ist nicht da.

Doch im Lauf der Jahre entwickelte jeder von uns eine tiefere Wertschätzung für den anderen, besonders, nachdem wir beide endgültig zurückgetreten waren.

Vielleicht war der Sport zu klein für unsere großen Egos. Er betrachtete mich als seinen Sidekick – Gott, ich hasste diesen Begriff und ich hasste es, als der Robin zu seinem Batman bezeichnet zu werden –, als jemanden, von dem er glaubte, er müsse ihn mitschleifen, um an jedes Spiel und jede Trainingseinheit mit genauso großer Intensität heranzugehen wie er. Ich, ein teamorientierter Purist, war beleidigt, wenn er versuchte, Spiele alleine zu gewinnen.

. . . .

Zwei Tage, nachdem Michael die SMS geschickt hatte, nahmen wir Kontakt auf. Ich hielt mich nicht zurück:

»Ich war enttäuscht von der Dokumentation, sie hat kein gutes Licht auf mich geworfen. Du hast The Last Dance in Angriff genommen, aber die Michael-Jordan-Dokumentation daraus gemacht. Ich weiß nicht, was du da vermitteln willst: War ich großartig oder war ich ein Bösewicht?«

Ich fragte, warum er zugelassen habe, dass das 1,8-Sekunden-Spiel in die Endfassung kam. Michael tat nicht viel mehr, als sich zu entschuldigen und anzuerkennen, dass auch er sauer wäre, wenn es um ihn gegangen wäre. Ich hakte nicht weiter nach. Ich wusste, dass es nichts bringen würde. Nachdem wir aufgelegt hatten, befanden sich Michael und ich in der gleichen Situation wie vor unserem Gespräch: Freundlich zueinander, sogar herzlich, aber ich spürte deutlich die Distanz, die schon immer zwischen uns bestanden hatte.

Als Ron Harper im September 1994 als Free Agent bei den Bulls unterschrieb, fragte er mich, was jeder neue Spieler, der nach Chicago kam, fragte: »Wie ist deine Beziehung zu Michael?«

»Schöne Frage. Ich habe keine schöne Antwort darauf.«

Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit Michael und ich zusammen gespielt haben und ich habe immer noch keine schöne oder richtige Antwort. Normalerweise stört mich unsere mangelnde Nähe nicht. Ich habe viele Freunde. Dennoch gibt es Momente, wo es mich schmerzt, wenn ich an die Beziehung zwischen uns denke. Die Doku war definitiv ein solcher Moment, der weh tat. Er tat sehr weh.

Ich bin daran keineswegs unschuldig. Ich habe ein paar Gelegenheiten verpasst, die womöglich einen Unterschied gemacht hätten, damit muss ich leben. Als ich 1987 ein Rookie war, schenkte mir Michael einen Satz Golfschläger von Wilson. Er lud mich in sein Refugium ein. Allerdings war ich zu naiv, die Bedeutung zu erkennen. Dummerweise hatte ich zu dem Zeitpunkt ernsthafte Probleme mit meinem Rücken und mein Arzt hatte mir eingeschärft:

»Spielen Sie kein Golf, wenn Sie noch eine Basketballkarriere haben wollen.«

Eine weitere Gelegenheit, wenn man es so nennen kann, bot sich im Sommer 1993 und ich fühle mich jedes Mal schrecklich, wenn ich daran denke. Michaels Vater, James Jordan, zu dem er ein untrennbares Vertrauensverhältnis hatte, war ermordet worden. Als ich die Neuigkeit hörte, hätte ich mich sofort bei Michael melden sollen. Stattdessen wendete ich mich an die PR-Abteilung der Bulls. Als ich dort hörte, dass noch niemand von der Organisation mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, tat ich es auch nicht. Da ich drei Jahre zuvor meinen eigenen Vater verloren hatte, hätte ich Michael vielleicht etwas Trost spenden können. Bis heute haben er und ich nicht über den Tod seines Vaters gesprochen.

Man rät mir, von The Last Dance nicht so enttäuscht zu sein. Immerhin gibt man mir die Rolle einer liebenswerten Person, die von den Bulls nicht den Respekt erhielt, den sie verdiente. Immerhin zeigt man den Fans, die zu jung waren, um uns spielen zu sehen, wie unverzichtbar ich für unseren Erfolg war.

Michael persönlich zollte mir Anerkennung. »Wann immer sie über Michael Jordan sprechen«, sagte er, »sollten sie über Scottie Pippen sprechen.«

Ich habe seine Worte und die ähnlich netten Worte, die ich im Frühjahr 2020 von Freunden, ehemaligen Teamkollegen und Fans erhielt, sehr geschätzt. Trotzdem dämmerte es mir, als ich eine Folge nach der anderen sah, dass meine Geschichte noch nicht erzählt ist.

Teilweise ist das meine Schuld – ich hätte selbstbewusster auftreten können – und teilweise ist es die Schuld einer Presse und Öffentlichkeit, die schon lange den Verführungskünsten von Michael Jeffrey Jordan erlegen sind. Alle waren so von seinen akrobatischen Moves fasziniert, dass sie die weniger plakativen Werte übersahen, die nicht im Spielbericht oder in den Highlights auf SportsCenter auftauchen: einen Angriff einleiten, den Gegenüber aussperren, einen Laufweg verstellen. Die Liste ist endlos. Ich beherrschte diese Grundlagen genauso gut wie Michael, wenn nicht sogar besser.

Nichtsdestotrotz war er in den Köpfen aller der Superstar, nicht Scottie Pippen. Niemals Scottie Pippen.

Das lag nur daran, dass er zuerst dort war, drei Jahre bevor ich in die Liga kam. Da er bereits etabliert war, wurde von mir erwartet, die Nummer 2 zu bleiben, egal wie schnell ich mich an beiden Enden des Courts entwickelte. Die Wahrheit ist, dass ich nach drei oder vier Jahren für die Chicago Bulls genauso wertvoll war wie er, egal wie viele Scoring-Titel er gewonnen hat. Die Menschen erkannten nicht, wie wertvoll ich war, bis Michael 1993 zurücktrat.

In unserem ersten Jahr ohne ihn gewannen die Bulls 55 Spiele und erreichten die zweite Runde der Playoffs. Ohne den fürchterlichen Pfiff eines Schiedsrichters in den Schlusssekunden von Spiel 5 gegen die New York Knicks hätten wir vielleicht eine weitere Meisterschaft gewonnen.

Michael Jordan war 1:9 in den Playoffs, bevor ich zum Team kam. In der Postseason, die er verpasste, kamen die Bulls auf 6:4.

The Last Dance war Michaels Chance, seine Geschichte zu erzählen.

Dies ist meine.

Kapitel 1

Hamburg

Ich wünschte, ich hätte eine dieser idyllischen Kindheiten erlebt, die in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren in den amerikanischen Kleinstädten so verbreitet waren.

Hab ich aber nicht.

Ich erinnere mich nicht an den Tag, an dem sich in unserer Ecke des Universums alles änderte. Ich weiß nur, dass mein Bruder Ronnie, 13 Jahre alt, für eine ganze Weile nicht mehr da war, um zu spielen. Er lag im Krankenhaus, nachdem er im Sportunterricht schwer verletzt wurde. Angegriffen trifft es eher. Ich war drei Jahre alt, als es passierte, das Jüngste von zwölf Kindern.

Ronnie wartete auf den Unterrichtsbeginn, als ihm dieser Schläger ohne Vorwarnung einen heftigen Schlag mitten auf den Rücken verpasste. Er fiel zu Boden und konnte nicht mehr aufstehen. Meine Schwester Sharon, zwei Jahre jünger als Ronnie, eilte zu ihm, als sie es mitbekam, aber die Behörden räumten schnell die Sporthalle und ließen niemanden in seine Nähe. Der Schläger hatte Ronnie schon seit einiger Zeit in der Schule drangsaliert. Sharon drängte ihn, sich zu wehren. Doch das tat er nicht. So war Ronnie nicht. Ich habe nie eine sanftere Seele gekannt.

Eines Tages, nach Monaten im Krankenhaus, kam er endlich nach Hause.

Ich erinnere mich, dass ich mich fühlte, als würde ich meinem Bruder zum allerersten Mal begegnen: Er war vom Hals abwärts gelähmt und würde nie wieder gehen können. Erst viele Jahre später erfuhr ich die genauen Umstände der Geschichte, unter denen meine Mutter, Ethel Pippen, Ronnie aus dem Krankenhaus geholt hatte.

Das Krankenhaus lag ein paar Stunden von Hamburg entfernt. Meine Eltern besuchten ihn am Wochenende. Mom hatte alle Hände voll zu tun, uns alle großzuziehen, während mein Vater, Preston Pippen, ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, in der 15 Meilen entfernten Papierfabrik Georgia-Pacific in Crossett, wo sie Toilettenpapier, Taschentücher und Küchenrollen herstellten, Baumstämme zuschnitt. Jeder kannte jemanden, der in der Fabrik arbeitete. Die Fabrik verströmte einen deutlich wahrnehmbaren Geruch, den man von überall in Hamburg riechen konnte. Ich kann den Geruch nicht beschreiben. Aber glauben Sie mir, er war ekelhaft.

Jedenfalls wurde Mom und Dad eines Sonntags, als sie im Krankenhaus ankamen, gesagt, sie könnten Ronnie nicht sehen. Die Ärzte hatten ihn in ein neues Programm eingewiesen und waren besorgt, dass Ronnie keine Fortschritte machen würde, wenn meine Eltern ihn weiter verhätschelten.

Mit dem Rücken Ihres Sohnes sei alles in Ordnung, behaupteten die Ärzte. Das Problem liege in seinem Kopf. Deshalb liefe er nicht.

Die Ärzte hatten Ronnie von seinem Bett im Haupttrakt des Krankenhauses in die psychiatrische Abteilung verlegt. Da ich Mom kenne, die übrigens härter war als jeder der Bad Boys (der Detroit Pistons) aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren, kann ich mir gut vorstellen, wie sie die Ärzte ansah, als sie herausfand, was sie getan hatten. Ich habe diesen Blick viele Male gesehen, als ich aufwuchs. Er war furchteinflößend.

»Ich werde das Krankenhaus nicht verlassen, ohne meinen Sohn gesehen zu haben«, beharrte sie.

»Wenn wir Sie ihn sehen lassen«, warnten sie sie, »werden Sie ihn mitnehmen müssen. Wir werden ihn nicht aufnehmen können.«

Kein Problem. Mom war mehr als glücklich, Ronnie dorthin zu bringen, wo er hingehörte. Nach Hause.

»Also gut«, stimmten sie schließlich zu. »Das kann uns egal sein. Er wird sowieso sterben.«

»Wenn er sowieso sterben wird«, sagte sie, »wird er bei mir sterben.«

Meine Mutter erwähnte diesen Tag im Krankenhaus nach Möglichkeit nie. Tat sie es doch, war sie furchtbar mitgenommen. Ich frage mich, ob ein Teil von ihr vielleicht befürchtet hatte, dass die Ärzte die Wahrheit sagten.

Nachdem Ronnie wieder eine Weile bei uns war, bekamen wir ein klareres Bild davon, was sie ihm im Krankenhaus angetan hatten. Kein Wunder, dass er monatelang Albträume hatte.

Nicht vom Unfall selbst, sondern davon, wie er behandelt wurde.

Jeden Abend, bevor wir schlafen gingen, wussten wir, dass die Albträume kommen würden. Wir wussten nur nicht, wann. Ronnie wachte schweißgebadet auf und fing zu schreien an. Mom und meine Brüder und Schwestern taten alles, um ihn wieder zu beruhigen.

»Du wirst nie wieder an diesen Ort zurückkehren müssen«, versicherten sie Ronnie. Nachdem mein Bruder zur Ruhe gekommen war, wandte Mom ihre Aufmerksamkeit uns anderen zu.

»Ihr müsst wieder schlafen gehen«, befahl sie uns. »Ihr müsst morgen früh aufstehen.«

Niemand jedoch stand früher auf als sie. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, machte sie sich morgens oft auf den Weg, um die Häuser anderer Menschen zu putzen. Jeder Cent wurde in der Haushaltskasse gebraucht.

Ich wünschte nur, wir hätten damals das Geld gehabt, um die Menschen zu verklagen, die meinem armen Bruder so viel Leid zugefügt haben. Dazu gehörte auch die Schule, die den Schläger hätte disziplinieren sollen, lange bevor er Ronnie angriff. Sie haben nichts getan.

Die Krankenschwestern im Krankenhaus stellten ein Tablett mit Essen neben Ronnies Bett und meinten frech, er könne sich etwas zu essen nehmen, wann immer er wolle.

Ronnie konnte sich nichts zu essen nehmen. Er konnte sich nicht bewegen. Er lag einfach da, hilflos und hungrig.

Ronnie hatte Angst vor der Dunkelheit. Wir mussten das Licht anlassen, bevor er ins Bett ging, und es ausschalten, sobald wir wussten, dass er eingeschlafen war. Nach ungefähr einem Monat fühlte er sich sicher genug, um seine Augen im Schein einer kleinen Schreibtischlampe zu schließen, anstatt das große Licht von der Decke zu benötigen. Sein Rücken war mit wundgelegenen Stellen übersät. Unsere Aufgabe war es, sie zu behandeln und das Bett zu säubern, wann immer er sich einnässte.

Tag für Tag pflegten wir alle ihn mit viel Mühe und viel Liebe wieder gesund – und ich meine uns alle. Wir badeten ihn. Wir fütterten ihn. Wir halfen ihm bei seinen Übungen. Es dauerte Jahre, aber wir brachten Ronnie dahin, sich mit zwei Stöcken fortbewegen zu können, was ihm den Spitznamen »Walking Cane« (Wanderstock) einbrachte. Er lernte, auf einem speziell angepassten Fahrrad zum Lebensmittelgeschäft zu fahren.

Ronnie ist heute Mitte 60 und lebt immer noch in Hamburg auf demselben Grundstück, auf dem er aufgewachsen ist. Meine Schwester Kim kümmert sich um ihn. Die Albträume sind längst vorbei. Ich besuche ihn, so oft ich kann. Er hat mich wie kein anderer inspiriert. Ronnie hatte jedes Recht, aufzugeben und das Schicksal zu verfluchen, das ihm zuteilwurde. Er tat es nicht. Er kämpfte hart, um sich ein produktives und glückliches Leben aufzubauen. Ich bin nicht die größte Erfolgsgeschichte in der Pippen-Familie. Er ist es.

Ronnie glaubte weiter an sich, egal welche Hindernisse sich vor ihm auftürmten. Er verbrachte viele Abende vor seinem kostbaren CB-Funkgerät und sprach stundenlang mit Lastwagenfahrern in ganz Amerika. Das war seine Brücke zur Außenwelt.

Wahrscheinlich sollte ich den Schläger hassen, der Ronnie und unserer Familie so viel Schaden zugefügt hat. Ich tue es nicht. Er war ein Kind und Kinder tun einander schreckliche Dinge an. Gleichzeitig verstehe ich nicht, warum er oder irgendjemand aus seiner Familie sich nicht bei meinem Bruder oder meinen Eltern entschuldigt hat. Letztes Jahr nahm der Schläger, der sich immer noch in der Gegend herumtreibt, Kontakt auf, um zu sehen, ob er Ronnie besuchen könne.

Mein Bruder war nicht interessiert. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Für eine Entschuldigung ist es jetzt zu spät.

Ich habe Ronnie nie nach diesem Tag im Sportunterricht gefragt oder danach, was sie ihm im Krankenhaus angetan haben. Ich sehe keinen Sinn darin, diese schmerzhaften Erinnerungen noch einmal aufzuwärmen. Für ihn und für uns.

. . . .

Ungefähr zehn Jahre nach dem Angriff auf Ronnie brach ein weiterer Schrecken über meine Familie herein. An diesen Tag hingegen erinnere ich mich gut. Allzu gut.

Dad saß auf dem Sofa und genoss sein Abendessen. Nichts mochte er lieber, als sich im Fernsehen ein Baseballspiel anzusehen. Er war in jungen Jahren ein verdammt guter Spieler gewesen. Mittlerweile war Dad, der ungefähr 60 Jahre alt war, aufgrund von Arthritis arbeitsunfähig. Die Arthritis machte ihm so zu schaffen, dass er in seinem Truck auf dem Parkplatz saß statt auf der Tribüne, wenn er bei meinen Baseballspielen in der Little League zuschaute.

An jenem besonderen Abend war Mom in der Kirche um die Ecke und probte für eine Choraufführung. Ihr Glaube bedeutete ihr sehr viel.

Plötzlich ließ Dad seinen Teller fallen und sackte zur Sofakante. Ein verwirrter Ausdruck lag in seinen Augen und er übergab sich, Essen kam sogar aus seinen Nasenlöchern. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Kim, die ihm sein Abendessen gebracht hatte, rannte hinaus, um einen Nachbarn zur Kirche zu schicken, um Mom zu holen, die es nach Hause schaffte, bevor der Krankenwagen eintraf.

Dad hatte einen Schlaganfall auf der rechten Seite seines Körpers. Irgendwie dachte ich, er würde schon wieder. Ich war zu jung, um zu verstehen, was ein Schlaganfall einem Menschen antun kann. Dad würde nie wieder gehen oder richtig sprechen können. Er konnte ja oder nein sagen, doch keinen ganzen Satz bilden, außer seltsamerweise diesen: »Du weißt, was ich meine.« Wir haben nie verstanden, warum er keine anderen Sätze bilden konnte. Er war sich bewusst, was mit ihm passiert war, das muss grausam für ihn gewesen sein. Ich kann mir die Verzweiflung und Frustration nicht vorstellen, die er Tag für Tag empfunden haben muss, ein Gefangener in seinem eigenen Körper, ohne Hoffnung auf Flucht.

Wieder einmal arbeiteten alle zusammen, um zu helfen, wo sie konnten. In solchen Fällen ist es ein Segen, zu einer großen, liebevollen Familie zu gehören.

Wir fütterten Dad, wir trugen ihn in die Dusche, und weil er seine Körperfunktionen nicht kontrollieren konnte, machten wir hinter ihm sauber. Ein anderer Bruder hob ihn hoch, während ich eine Windel unter ihn schob oder umgekehrt. Jahre später fragte ich mich, ob die Rückenprobleme, die ich in meiner ersten Saison in Chicago hatte, vom Krafttraining herrührten oder vom Hochheben von Dad und Ronnie. Beide waren schwer.

Mom wusste wie immer, wie sie mit der Situation umzugehen hatte. Sie sorgte dafür, dass Dad sich bei keinem Treffen ausgeschlossen fühlte. Nachdem er gelernt hatte, alleine zu essen, saß er in seinem Rollstuhl mit uns anderen am Esstisch. Manchmal vergaß ich fast seine Behinderungen.

Moms Stärke und Kraft waren bemerkenswert. Ihr Glaube hatte viel damit zu tun. Niemals tat sie sich selbst leid.

Was hätte das auch genützt?

Ihre Mutter, Emma Harris, war noch zäher. Auf der Straße hieß es, Oma könne so hart arbeiten wie jeder Mann. Ich glaubte es sofort. Auch sie verfiel nicht in Selbstmitleid. Vielleicht lag es daran, dass sie in einer Zeit aufwuchs, in der sich die Schwarzen im Süden nicht über ihr Schicksal beschwerten. Sie akzeptierten einfach, was der liebe Gott ihnen gab und taten ihr Bestes, um ihre Umstände zu verbessern, Tag für Tag.

Mom wuchs in Louisiana auf und pflückte als kleines Mädchen mit ihrer Mama Baumwolle. Zur Erntezeit war es Brauch, dass der Besitzer der Farm seine Arbeiter mit einer Prämie belohnte. In einem Jahr blieb die Prämie allerdings aus und sie kamen gerade so über die Runden, indem sie sich mit Lebensmitteln aus ihrem eigenen Garten versorgten.

1940, als sie 16 war, verursachte ein Hurrikan in weiten Teilen des Südostens Überschwemmungen, was Mom dazu bewog, mit ihrer Familie nach Arkansas zu ziehen. Als Kind besuchte ich manchmal die Verwandten, die zurückgeblieben waren, und war immer wieder erstaunt, dass sich drei Familien die Unterkünfte auf einer Plantage teilen mussten. Wir haben es Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger mit der Aufhebung der Rassentrennung, dem Bürgerrechtsgesetz und dem Wahlrechtsgesetz zwar weit gebracht. Dennoch hatten wir noch einen langen Weg vor uns.

Ich war in der achten Klasse, als Dad seinen Schlaganfall erlitt. Von da an konnte er nie mehr der Vater sein, den ich brauchte. Auch konnte er mir nicht zeigen, was es heißt, ein Mann zu sein – vor allem ein schwarzer Mann in einer weißen Welt.

Unter der Führung meiner älteren Brüder fand ich meinen Weg, obwohl die Leere, die ich fühlte, bestehen bleiben würde, egal wie sehr ich mich über die Jahre bemühte, sie mit älteren Männern, schwarz und weiß, zu füllen. Dazu gehörten meine Basketballtrainer in der Highschool und am College. Auch wenn ich sie nicht direkt als Vaterfiguren betrachtete, schaute ich mir von jeder Person gewisse Werte ab, die mir für den Rest meines Lebens etwas bedeuten würden.

Außerdem fehlte mir die Freiheit, die andere Jungs in meinem Alter hatten.

An den meisten Tagen gingen sie nach Schulschluss nach draußen, um zu spielen, um die Gegend zu erkunden … um Kinder zu sein. Es stand für sie nichts anderes auf dem Plan, als eine fröhliche Kindheit zu verbringen. Wenn ich nach Hause kam, begann die Arbeit: Ich war für alle Aufgaben bereit, die Mom oder einer meiner Brüder oder eine meiner Schwestern für mich bereithielten. Sogar meine Hausaufgaben kamen oft an zweiter Stelle.

Nach landläufigen Maßstäben gemessen, waren wir arm. Als ich im September 1965 geboren wurde, hatte unser Haus nur vier Schlafzimmer und viele Jahre lang teilten wir uns ein Badezimmer. Einer von uns stand am Waschbecken, ein anderer lag in der Wanne, ein weiterer saß auf der Toilette. Niemand dachte darüber näher nach. Eine ganze Weile hatten wir kein Telefon. Die Menschen riefen Oma an, die nebenan wohnte. Die holte uns dann ans Gerät.

Trotz allem fühlte ich mich nie arm. Ich fühlte mich gesegnet.

Es gab reichlich Essen auf dem Tisch. Wir bauten Kürbis, Mais und anderes Gemüse im Garten an und züchteten Schweine und Hühner. Auch an Liebe mangelte es nicht. Viele schwarze Kinder hatten in ihrem Leben keinen Vater – oder eine Mutter, die sich so für ihre Kinder aufopferte wie Ethel Pippen.

Im Gegensatz zu vielen Jungs, die ich kannte, hielt ich mich von Ärger fern. Dafür sorgte auch schon meine Mom. Wollte ich raus zum Spielen, fragte ich sie zuerst um Erlaubnis – und wenn einer der Jugendlichen, mit denen sie mich sah, mit den falschen Leuten zu tun hatte, schärfte sie mir unmissverständlich ein, diesen Jungen fortan zu meiden. Ihr nicht zu gehorchen, war keine Option.

Zu spät nach Hause zu kommen, ging ebenfalls gar nicht. Wenn Mom die Tür abschloss, um schlafen zu gehen, blieb sie für die Nacht verschlossen. Da ihr ein weiterer langer Tag bevorstand, würde sie sich nicht wecken lassen, bloß weil sich jemand nicht an die Regeln hielt. Schlaf war die einzige Pause, die Mom hatte und sie dauerte nie lange genug.

Sie war strenger zu mir als zu meinen Brüdern und Schwestern. Sie mussten nicht wie ich zur Sonntagsschule und zur Kirche gehen. Ich ärgerte mich manchmal darüber und fühlte mich bestraft, weil ich Kirchenlieder singen und Predigten anhören musste, die ich nicht verstand, während meine Freunde draußen spielen durften. Rückblickend könnte ich nicht dankbarer sein. Gott ist heute eine mächtige Präsenz in meinem Leben und das liegt ganz an ihr.

Sie war nicht die einzige Person, die mich bei der Stange hielt. Das taten auch meine Brüder und Schwestern und unsere Nachbarn. Irgendjemand hatte mich immer im Blick. Baute ich in irgendeiner Weise Mist, gelangte die Nachricht von meinem Fehltritt direkt zu mir nach Hause. Wie sagten die Menschen aus der Nachbarschaft früher zu mir:

»Mach das noch einmal und ich sag es deiner Mama.«

Hamburg vermittelte mir ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl. Alle waren immer bereit, sich gegenseitig zu helfen. Wenn ein Freund ein bisschen Kohle brauchte, gab ich sie ihm und umgekehrt. Unabhängig davon, ob es das letzte Geld war, das einer von uns in der Tasche hatte.

Damals ließen die Menschen einen noch in Ruhe. Störtest du sie nicht, störten sie dich nicht.

Mit einer Ausnahme, die mir nach über 40 Jahren noch frisch im Gedächtnis geblieben ist.

Es war der 1. Juni 1979. Charles Singleton, 20 Jahre alt, ein Typ, den ich aus der Nachbarschaft kannte, ging vor unserem Haus die Straße entlang. Ich dachte mir nichts dabei. Charles bin ich immer wieder begegnet. Ich würde Hallo sagen und er würde ein Hallo erwidern.

Charles war auf dem Weg zu Yorks Lebensmittelladen, einen halben Block entfernt. Ich kaufte fast jeden Tag dort ein, denn Mrs. York war eine nette Dame, die meine Familie anschreiben ließ. Sie lebte in einem kleinen Haus hinter dem Laden.

Mrs. York wurde zweimal in den Hals gestochen. Sie starb im Krankenhaus. Vorher konnte sie der Polizei noch mitteilen, Charles sei für die Tat verantwortlich. Es hat mich umgehauen, als mir klar wurde, dass ich ihn nur wenige Augenblicke zuvor gesehen hatte, bevor er einem anderen Menschen das Leben nahm.

Als sich die Nachricht in der Stadt herumgesprochen hatte, suchte die Polizei überall nach Charles. Hamburg ist ein kleiner Ort. Er würde sich nicht lange verstecken können. Bald fand man ihn.

Singleton verbrachte 24 Jahre im Gefängnis, ehe er 2004 hingerichtet wurde.

Als Charles noch auf freiem Fuß war, wollte mein Bruder Jimmy einmal zur Haustüre raus. Jimmy hatte einen hellen Teint und trug einen damals modischen Afro – ähnlich dem von Charles Singleton.

»Sohn, geh nicht so auf die Straße, du siehst ja aus wie Charles Singleton«, sagte Dad. Das war etwa ein Jahr vor dem Schlaganfall.

Wollte eine Person meiner Hautfarbe Ärger vermeiden, lautetet die Faustregel: Bleib auf deiner Seite der Straße.

Natürlich ist das ein Klischee. Es war aber auch wahr.

In der Kantine unserer Grundschule saßen bis auf wenige Ausnahmen Schwarze mit Schwarzen und Weiße mit Weißen zusammen – Weiße machten etwa zwei Drittel der Schülerschaft aus. Mir kam das normal vor.

Meine Eltern hatten mit mir nie Diskussionen hierüber geführt. Es musste nichts gesagt werden. Es wurde von selbst verstanden.

Egal wie viele Meisterschaften ich gewonnen und wie viele Millionen ich verdient habe, niemals vergesse ich meine Hautfarbe und dass mich manche Menschen auf dieser Welt nur ihretwegen hassen.

. . . .

Ich habe lange nicht darüber nachgedacht, wie meine Erziehung mich zu dem Menschen geformt hat, der ich heute bin. Ich konzentrierte mich auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit.

Heutzutage gehe ich anders vor. Da ich Mitte 50 bin, möchte ich einen tieferen Einblick gewinnen, warum ich die Entscheidungen getroffen habe, die ich getroffen habe – und was das für mich in Zukunft bedeuten könnte.

Nehmen wir meine Entscheidung, im Juni 1991 die fünf Jahre umfassende, 18 Millionen Dollar schwere Vertragsverlängerung bei den Bulls zu unterzeichnen, ungefähr eine Woche bevor die Franchise ihre erste Meisterschaft gewann. Die ESPN-Dokumentation ließ mich naiv erscheinen, wenn man bedenkt, wie viel mehr Geld Spieler unter dem überarbeiteten Tarifvertrag mit den Eigentümern letztendlich verdienen würden.

Wünschte ich, die Vertragsverlängerung nicht unterschrieben zu haben?

Natürlich.

Das kostete mich Millionen von Dollar und wirkte sich für den Rest meiner Zeit in Chicago negativ auf meine Beziehung zu Jerry Reinsdorf und Jerry Krause aus. Mein Mindset wäre völlig anders gewesen. Wer weiß? Vielleicht hätte ich meine ganze Karriere bei den Bulls gespielt.

Das heißt nicht, dass ich es bereue. Ich traf die Entscheidung aufgrund der Informationen, die mir damals vorlagen. Ich habe keinen Zweifel, dass es die richtige Entscheidung für mich war.

Ich war nicht wie andere Spieler, weiß oder schwarz, die aus stabilen Verhältnissen kamen. Durch das, was meinem Bruder und Vater passiert war, lernte ich früh, dass einem ohne die geringste Vorwarnung alles genommen werden kann. Ich konnte mir das Risiko nicht leisten, mich zu verletzen und am Ende mit leeren Händen dazustehen.

Ein warnendes Beispiel war das Schicksal des ehemaligen NFL-Wide-Receivers Darryl Stingley, der oft hinter unserer Bank im Chicago Stadium saß.

Darryl, 1973 beim Draft der Erstrunden-Pick der New England Patriots, lebte seinen Traum. Bis er brutal platzte: 1978 wurde er während eines Freundschaftsspiels gegen die Oakland Raiders von Defensive Back Jack Tatum, einem der grausamsten Tackler im Profi-Football, getroffen.

Ein Treffer reicht manchmal aus. Darryl konnte nie wieder laufen.

Er und ich freundeten uns Anfang der Neunzigerjahre an. Nach den Spielen trafen wir uns zum Abendessen oder auf einen Drink. Er liebte das Gefühl, trotz seiner Einschränkungen noch einer der Jungs zu sein. Wie gut er sich an seine Umstände angepasst hatte, war für mich inspirierender als alles, was er auf dem Spielfeld erreicht hatte. Darryl erinnerte mich sehr an meinen Bruder. Ich bewunderte ihn außerordentlich und war zutiefst traurig, als er 2007 starb.

Was ich in meiner Kindheit durchgemacht hatte, beeinflusste auch, wie offen ich anderen Menschen gegenüber war. Ich konnte mir nie sicher sein, dass sie mich nicht verlassen würden, ob sie es vorhatten oder nicht. Vertrauen aufzubauen, braucht Zeit. Was erklärt, warum meine besten Freunde, abgesehen von meinen Brüdern und Schwestern, immer meine Teamkollegen waren. Wenn ich mich auf dem Spielfeld auf sie verlassen könnte, würde ich mich ebenso gut auf sie verlassen können, wenn es um wirklich wichtige Lebensbereiche ging.

Eine Basketballmannschaft unterscheidet sich nicht von einer Familie, denn jeder Person wird eine bestimmte Rolle zugewiesen. Erfüllt man diese Rolle nicht, hat dies negative Auswirkungen auf alle anderen. Das galt für den Pippen-Haushalt und für jedes Team, für das ich in der Highschool, am College und bei den Profis gespielt habe. Da ich mich nun in einer anderen Zwölfergruppe bewegte, konnte ich fast instinktiv sagen, was jeder Teamkollege in jedem Moment brauchte. So wie ich spürte, was meine elf Brüder oder Schwestern brauchten.

Deshalb serviere ich einen Pass zu einem Werfer an dessen Lieblingsposition, um sein Selbstvertrauen wieder aufzubauen, nachdem er ein paar Würfe verfehlt hat.

Deshalb mache ich Kollegen ein Kompliment, nachdem ein Coach (oder Michael) zu hart zu ihnen war, weil sie einen Turnover begangen oder ihren Gegenspieler nicht ausgeboxt hatten.

Deshalb nehme ich mir die Zeit, jemandem zuzuhören, der wegen der einen oder anderen Geringschätzung Dampf ablassen möchte.

Das Interesse, anderen zu helfen, ging weit über den Basketballplatz hinaus. Als ich älter wurde, stellte ich fest, dass ich eine Beziehung zu solchen Menschen aufbaute, die am meisten Fürsorge brauchten.

Ein Beispiel ist Amy Jones, die Tochter von Arch Jones, einem meiner Assistant Coaches am College. Als Amy zwei Jahre alt war, stieß sie sich den Kopf, was ein Blutgerinnsel im Stirnlappen ihres Gehirns verursachte. Die Ärzte entfernten das Gerinnsel, doch das führte dazu, dass Amy für den Rest ihres Lebens geistig behindert war.

Ich lernte sie kennen, als sie elf Jahre alt war. Wann immer ich in Amys Nähe war, sah ich kein Mädchen, das in irgendeiner Weise eingeschränkt war. Ich sah ein Mädchen, mit dem man herumalbern, das man umarmen und so normal behandeln konnte wie alle anderen. Genau so, wie sie mich behandelte. Wir zwei wurden Freunde.

Glauben Sie mir, ich versuche nicht, wie ein Heiliger zu wirken. Indem ich Amy half, half ich mir selbst. Es half mir, besser zu verstehen, was ich als Kind durchgemacht hatte. Bis zum heutigen Tag ist das Hochgefühl, das mich befällt, wenn ich für jemanden da sein kann, der in Schwierigkeiten ist, erfüllender als alles andere – und ja, dazu zähle ich auch den Gewinn einer NBA-Meisterschaft.

Das Lächeln auf Amys Gesicht zu sehen, hob meine Stimmung für den Rest des Tages. Genauso geht es mir, wenn ich Zeit mit Ronnie verbringe. Ich behandle ihn keinen Moment anders, weil er an den Rollstuhl gefesselt ist. Ich mache mich über ihn lustig und er macht sich über mich lustig.

Keiner von uns würde es anders haben wollen.

Kapitel 2

Ich hab’s drauf

Einen Block von unserem Haus entfernt befanden sich die Basketballplätze in der Pine Street. Die Courts waren so nah, dass ich abends, wenn wenig oder kein Verkehr mehr auf der Straße war, jedes Dribbling hören konnte, jeden Abpraller am Korb, jeden Spieler, der ein Foul forderte. Ich kann in diesem Moment meine Augen schließen und höre immer noch diese wunderschönen Klänge, diese Geräusche, die mich an meine Jugend erinnern.

Ich war sieben Jahre alt, als die Courts in der Pine Street gebaut wurden. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können.

Ohne diese Plätze hätte ich das Spiel in einem so prägenden Alter nicht gelernt. In der Nähe unserer Nachbarschaft gab es sonst keine anderen Courts. Man konnte stundenlang alleine auf seinem eigenen Feld trainieren, aber natürlich findet man nur heraus, ob man das Zeug zum Basketballer hat, wenn man sich Tag für Tag mit Gleichgesinnten misst. Und das findet man besser früher als später heraus.

Die Courts in der Pine Street hatten echte Nylonnetze – Gott sei Dank nicht die unattraktiven Kettennetze – und der Boden war betoniert, der Ball hüpfte gescheit. Es gab für mich als Kind mehr als genug Platz, um meinen Träumen freien Lauf zu lassen.

In meiner Fantasie war ich Julius Erving, der in der NBA für die Philadelphia 76ers spielte. Dr. J, wie er genannt wurde, glitt durch die Luft, als käme er aus einer anderen Galaxie. Er brauchte ewig, um auf den Boden zurückzukehren. Schloss er sich dann wieder dem Rest der Menschheit an, endete seine Rückkehr mit einem spektakulären Dunk oder einem wunderschönen Unterhand-Korbleger in der Zone.

Welch ein Charisma! Seitdem gab es in diesem Sport keinen mehr wie Dr. J. Sorry, MJ. Sorry, Magic. Sorry, LeBron. Immer wenn eines von Dr. Js Spielen im Fernsehen lief, konnte ich meinen Blick nicht abwenden.

Mein Spiel jedoch ähnelte in keinster Weise dem von Dr. J. Ich bewegte mich mehr wie sein Teamkollege Maurice »Mo« Cheeks, den Hall-of-Fame-Point-Guard, der 15 Jahre lang in der Liga spielte.

»Ich nehme Mo Cheeks«, sagten die Kinder bei Pickup-Spielen auf dem Spielplatz, wenn sie mich meinten. Ich hätte mir kein schmeichelhafteres Kompliment wünschen können.

Ironischerweise ist Maurice mein zweiter Vorname und der Mann selbst hat mich gegen Ende meiner Karriere für ein paar Saisons in Portland trainiert. Als ich zurücktrat, fehlten mir 3 Steals bis zu seinen insgesamt 2 310. In der ewigen Bestenliste ist er Sechster, ich bin Siebter.

»Du wirst mich niemals einholen«, sagt er jedes Mal zu mir, wenn ich ihn treffe.

Mo war ein Point Guard aus einer Ära, die leider vorbei ist, wahrscheinlich für immer. Er dachte nämlich als Erstes daran, zu passen und als Zweites daran, zu punkten, und obwohl ich in der NBA als Small Forward galt, sah ich mich während meiner gesamten Karriere eher als Point Guard – manche nannten mich einen Point Forward – der versuchte, Mo und anderen selbstlosen Guards nachzueifern. Mit nur 1,85 Metern war er für einen professionellen Basketballspieler eher klein. Als ich in der Highschool etwa 1,75 Meter groß war, konnte ich so tun, als wäre ich er und das schien nicht so weit hergeholt, als so zu tun, als sei ich der 2,01 Meter große Dr. J.

Mo kam eindeutig aus unserer Galaxie.

In meinen Teenagerjahren hing ich mit Ronnie Martin ab, einem Freund, den ich in der Grundschule kennengelernt hatte. Ronnie und ich traten oft im Pop-Warner-Football und im Little-League-Baseball gegeneinander an.