Unser Kind ist tot - Dona Kujacinski - E-Book

Unser Kind ist tot E-Book

Dona Kujacinski

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Beschreibung

Ein Kind stirbt. Die Welt der Eltern zerbricht. Nichts wird mehr so sein wie früher. Nie mehr. Wie soll da ein Weiterleben möglich sein?

Dona Kujacinski lässt Mütter und Väter zu Wort kommen, die dieses Schicksal ertragen, den Schmerz über den Tod ihres Kindes aushalten müssen. Da ist beispielsweise die 15-jährige Jacqueline, die beim Amoklauf an einer Schule in Winnenden erschossen wurde. Jenny Böken, die als 18-jährige Marine-Kadettin über Bord der "Gorch Fock" ging und ertrank. Oder der 23 Jahre alte Giuseppe, der in Berlin von einem Auto überfahren wurde, als er vor U-Bahn-Schlägern flüchtete. Die zurückgelassenen Eltern erzählen von ihrer Trauer, ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit, ihrer Wut auf das Schicksal. Aber sie berichten ebenso von der Unterstützung durch die Familie oder Freunde. Und von der leisen Zuversicht, ja der Hoffnung, dass das eigene Leben vielleicht doch wieder lebenswert wird.

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Seitenzahl: 302

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Dona Kujacinski

Unser Kind ist tot

Mütter und Väter erzählen von

Verlust, Schmerz und Hoffnung

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jürgen Abel, Hamburg

Übersetzung des Gedichtes »Der Tod bedeutet gar nichts«: Jürgen Abel, Hamburg

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagmotiv: © Veer.com/Veneratio

Bildnachweis: Alle Fotorechte privat mit Ausnahme Portrait Irmgard Bielke (Copyright Ostkreuz, Berlin)

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-5882-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der Tod bedeutet gar nichts,

was auch immer wir einander waren,

wir sind es uns noch.

Ich bin nur hinübergeglitten, in das Zimmer gleich nebenan.

Ich bin immer noch ich und du bist du,

Ruf’ mich bei meinem altvertrauten Namen,

erzähl’ von mir so beiläufig und selbstverständlich,

als sei nichts Besonderes passiert.

Verlier’ dich bloß nicht in allzu feierlicher Traurigkeit,

ich will dich lachen hören, so wie sonst, wenn wir uns

über all unsere kleinen Späße freuten.

Lache, spiele, denk’ an mich, bete für mich.

Nenn’ mich so ungezwungen bei meinem Namen,

wie du es immer getan hast,

so frei und ungebrochen, dass kein Platz bleibt

für auch nur den Hauch eines Schattens zwischen uns.

Das Leben geht weiter, wie es immer schon weiterging,

als ewiges Werden und Vergehen.

Warum muss der Tod denn eine so große Sache sein?

Bin ich etwa nicht mehr mit dir und in allem, was du tust,

nur weil du mich nicht siehst?

Ich warte auf dich für diese kleine Weile,

ich bin ganz in deiner Nähe, bin nur

um die Ecke.

Alles ist gut.

Nichts ist vergangen und nichts verloren!

Nur ein flüchtiger Moment, und alles wird sein wie zuvor.

Ach, und wie werden wir lachen über den Kummer des Getrenntseins,

wenn wir uns wiedersehen.

Henry Scott Holland (1847–1918)

Inhalt

Vaja Marcone aus Berlin

Ihr Sohn Giuseppe Marcone stirbt im September 2011 auf der Flucht vor U-Bahnschlägern bei einem Autounfall.

Er ist 23Jahre alt

Silvia und Joachim Matthes aus Berlin

Ihr Sohn Markus Matthes, Hauptmann bei der Bundeswehr, dient in Afghanistan, als er im Mai 2011 mit seinem Fuchspanzer auf eine Mine fährt, die ihn tötet.

Er ist 33Jahre alt

Beate und Calogero Barbarotto aus Recklinghausen

Ihr Sohn Luca Barbarotto wird im Oktober 2009 bei einer Klassenreise von einem Mitschüler mit einem Butterflymesser angegriffen und stirbt an den schweren Verletzungen.

Er ist 18Jahre alt

Irmgard Bielke aus Berlin

Im Mai 2009 bekommt ihre Tochter Gabriela Wildenhein die Diagnose Lungenkrebs. Drei Monate später, im August 2009, erliegt sie ihrer Krankheit.

Sie ist 53Jahre alt

Gudrun Hahn aus Winnenden

Ihre Tochter Jacqueline Hahn wird im März 2009 bei dem Amoklauf in der Albertville-Realschule erschossen.

Sie ist 15Jahre alt

Tamara Hücker-Zülke aus Berlin

Ihre Tochter Jeannine Zülke erkrankt 2005 an Magersucht, stürzt sich im Januar 2009 aus dem vierten Stock eines Wohnhauses.

Sie ist 17Jahre alt

Marlis und Uwe Böken aus Geilenkirchen

Ihre Tochter Jenny Böken dient als Kadettin bei der Marine, als sie im September 2008 bei einer Nachtwache vor Norderney über Bord der Gorch Fock geht und stirbt.

Sie ist 18Jahre alt

Brit Schnegelsberg und Christoph Rösenberger aus Berlin

Ihr Sohn Frederik Rösenberger stirbt im Dezember 2006 an einer Meningokokkensepsis.

Er ist vier Jahre alt

Renate und Gunter Scheunemann aus Magdeburg

Ihr Sohn Thomas Scheunemann stirbt im Juli 2002 an einem bösartigen Gehirntumor.

Er ist 19Jahre alt

Aysel Atila aus Berlin

Ihr Sohn Arif Atila kommt mit einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung zur Welt und stirbt im Dezember 2002.

Er ist 8Jahre alt

Christa Maar aus München

Ihr Sohn Felix Burda stirbt im Februar 2001 an Darmkrebs.

Er ist 33Jahre alt

Jürgen Schulz aus Hamburg

Sein Sohn Rainer Schulz stirbt im Oktober 1996 auf dem Schulweg bei einem Fahrradunfall.

Er ist 18Jahre alt

Mary Paluselli aus Berlin

Ihr Sohn Philipp Paluselli stirbt im Januar 1987 an einer Virusinfektion.

Er ist vier Jahre alt

Die Eltern

Stiftungen

Vorwort

Vor einigen Jahren saß ich der Politikerin Dagmar Wöhrl gegenüber, die im Sommer 2001 ihren jüngeren Sohn durch einen tragischen Unfall verloren hatte. Der zwölfjährige Emanuel war in einer Julinacht auf das Hausdach der elterlichen Villa geklettert, verlor das Gleichgewicht und stürzte sechs Meter tief in den Tod. Dagmar Wöhrl erzählte mir bei dieser Begegnung, dass sie in der Nacht zuvor wieder von ihrem Kind geträumt hatte und es wie in jedem Traum anfassen wollte. Doch das sei zum ersten Mal nicht möglich gewesen. Emanuel sei zurückgewichen. Wir schwiegen beide lange, bis sie irgendwann in die Stille sagte: »Dona, du musst ein Buch über Eltern schreiben, deren Kinder gestorben sind. Nur sie können anderen Müttern und Vätern helfen, diesen nie vergehenden Schmerz auszuhalten und mit ihm weiterzuleben.«

Sie selbst hat mir ihre Geschichte nicht erzählen können, weil sie zu den Menschen gehört, für die das aus emotionalen Gründen nicht möglich ist. Aber Vaja Marcone hat es getan, ebenso wie Silvia und Joachim Matthes, Beate und Calogero Barbarotto, Irmgard Bielke, Gudrun Hahn, Tamara Hücker-Zülke, Marlis und Uwe Böken, Brit Schnegelsberg und Christoph Rösenberger, Gunter und Renate Scheunemann, Aysel Atila, Christa Maar, Jürgen Schulz und Mary Paluselli. Ihnen allen gilt mein Dank für ihr Vertrauen, ihre Offenheit und den Mut, mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit zu gehen und damit vielleicht anderen Eltern zu helfen, die dieses Schicksal teilen.

Dona Kujacinski, im Sommer 2014

Giuseppe Marcone

Geboren am 14.Juni 1988 in Berlin, gestorben am 17.September 2011 in Berlin

Der Schmerz über den Verlust meines Sohnes ist das zentrale Thema meiner Trauerarbeit. Ich will diesen Schmerz behalten, weil ich ohne ihn den Tod von Giuseppe nicht aushalten könnte.

Vaja Marcone, 53Jahre alt

Am Anfang war der Schrei. Ganz laut, ganz lang, nicht von dieser Welt. Danach kam ein Schweben, das sich so leicht anfühlte, als würde sie durch eine Wolke von Abermillionen Baldriantropfen gleiten. Und dann brach er über sie herein, der Schmerz, den es nur einmal gibt auf dieser Welt. Der nicht in Worte zu fassen ist und der für immer bleibt: Mein Kind ist tot. Vaja Marcone, die Mutter von Giuseppe Marcone, hatte in der Sekunde, als sie nach dem Schrei, nach dem Schweben begriff, dass ihr Sohn nie wieder heimkommen würde zu ihr, nur den einen Gedanken: »Das Einzige, was dir bleibt, ist zu lernen, es auszuhalten. Und das kann ich nur, wenn ich an dem Schmerz über den Verlust meines Sohnes festhalte.«

Giuseppe ist ein gut aussehender junger Mann mit einem Charme, der Menschen verzaubert, und einem Humor, der andere grundsätzlich zum Lachen bringt. Doch das ist es nicht allein. Die Menschen mögen ihn, weil er klug ist, weil er mit dem Verstand agiert, aber mit dem Herzen denkt. Und es ist wichtig für ihn, dass es den anderen gut geht. Wenn das nicht so ist, fühlt er sich schlecht. Vaja, seine Mutter, sagt, dass er schon als Kind hartnäckig gewesen ist, immer alles durchgesetzt hat, was er erreichen wollte, und dass er schnell gelebt hat, sehr schnell, so schnell, als hätte er nicht viel Zeit dazu. Alles musste gleich sein. Sofort. »Er hatte immer vor«, erzählt Frau Marcone, »später einmal Politiker zu werden, weil er etwas Großes beschützen wollte. Sein Gerechtigkeitssinn war ungeheuer ausgeprägt. In diesem Punkt war er fast fanatisch. Schon in der Schule hat er sich mit den Lehrern angelegt, wenn er eine Entscheidung als ungerecht empfand. Nach der Mittleren Reife hat er jedoch erst mal eine Ausbildung zum Koch gemacht, weil wir ein Restaurant besitzen.« Nach seiner Ausbildung im Sommer 2011 bewirbt er sich bei der Bundeswehr und soll am 4.Oktober seinen Dienst bei den Gebirgsjägern in Bayern antreten.

2007, mit neunzehn Jahren, beginnt Giuseppe Krav Maga zu trainieren. Ein vielseitiges israelisches Selbstverteidigungssystem aus Schlag- und Tritttechniken, das auch Grifftechniken und Bodenkampf beinhaltet und unter anderem bei der israelischen Armee eingesetzt wird. Vaja Marcone: »Er hatte viele israelische Freunde, die ihm später Jobs als Personenschützer in Berliner Synagogen verschafften. Zu den wichtigsten Dingen, die man bei diesem Training lernt, gehört es, Angriffen aus dem Weg zu gehen, sich nicht auf jeden Kampf einzulassen. Das hat mein Sohn in den frühen Morgenstunden des 17.September 2011 versucht.«

Am Abend zuvor steht Giuseppe in der Küche der Wohngemeinschaft, in der er mit einem Freund wohnt, und trifft Vorbereitungen für die Party am nächsten Abend. Andere Freunde wollen zum Fußball Gucken kommen, er will für sie kochen. Gegen 21Uhr ruft er seine Mutter an und fragt, ob er sich morgen früh um acht Uhr den Fleischwolf bei ihr zu Hause abholen kann. Er will die Bratwürste selber machen. Die Mutter ist einverstanden. Ungefähr eine Stunde später schwingt sich Giuseppe auf sein Fahrrad und macht sich auf den Weg zu ein paar Kumpels, die an diesem Abend eine Party feiern. Darunter ist auch Raoul, sein bester Freund. Er braucht zehn Minuten für die Strecke. Als sich die fröhliche Gesellschaft nach vier Uhr morgens auflöst, beschließt Giuseppe, nicht direkt mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, sondern seinen Freund Raoul noch eine Station in der U-Bahn zu begleiten. Als die beiden jungen Männer die Treppen zum Bahnhof Kaiserdamm hinuntergehen, geraten sie mit zwei jungen angetrunkenen Typen aneinander, die offenbar aus purer Langeweile Streit suchen. Der Jüngere, AliT., fragt drohend, ob sie Zigaretten haben. Raoul antwortet freundlich, dass er nur noch zwei hat, die er für sich selber braucht. Als AliT. daraufhin immer aggressiver wird, beschließen Giuseppe und Raoul den U-Bahnhof zu verlassen. Doch die Angreifer lassen nicht von ihnen ab, provozieren weiter. AliT. zieht sogar seine Jacke aus und fordert Giuseppe zu einem Zweikampf auf. Fast im selben Augenblick, in dem Raoul ihm dann doch seine Zigarettenschachtel zuwirft, schlägt BarisB., der zweite junge Mann, Giuseppe aus heiterem Himmel mit der flachen Hand gegen den Nacken. Kurz darauf schlägt auch AliT. zu, er verpasst Giuseppe einen Faustschlag ins Gesicht. Dieser wehrt sich, und Raoul eilt ihm zu Hilfe, trifft BarisB. am Auge. Dann geht alles ganz schnell. Giuseppe und Raoul rennen die Treppe hinauf, Raoul trägt das Fahrrad seines Freundes. Oben trennen sie sich. Raoul flieht, mit dem Fahrrad unterm Arm, weil die Kette abgesprungen ist, in Richtung Theodor-Heuss-Platz, Giuseppe läuft auf den zu dieser Zeit kaum befahrenen Kaiserdamm. Als er die Fahrbahn betritt, hört er hinter sich Schritte und schnelles Atmen. Er dreht sich um, erkennt AliT. und erhöht das Tempo, den VW Sharan übersieht er. Giuseppe hat keine Chance. Der Wagen fegt ihn weg. Zuerst wird das Bein getroffen, mit dem er gerade einen Schritt nach vorn macht. Durch die Wucht des Aufpralls hochgeschleudert, knallt er sofort wieder zurück auf den Wagen. Der Aufschlag ist derart heftig, dass seine Lunge platzt, er wird hoch- und gegen einen Ampelmast geschleudert, der einen Genickbruch verursacht. Als er am Ende mit dem Gesicht auf den Asphalt stürzt und sich dabei massivste Kopfverletzungen zuzieht, ist er bereits tot. Die Mutter sagt: »Mein Kind ist an diesem Morgen drei Mal gestorben. Jede der drei Verletzungen war tödlich. Gott sei Dank ist er ganz schnell in den Himmel katapultiert worden. So wie er gelebt hat.« Giuseppe Marcone wurde 23Jahre alt.

Vaja Marcone sitzt am Esszimmertisch in ihrem Einfamilienhaus, das in einer ruhigen Villengegend in Berlin-Charlottenburg liegt, und erinnert sich: »Es war acht Uhr früh an diesem Samstagmorgen, als es klingelte. Mein Mann und ich lagen noch im Bett, und ich dachte, heute ist Giuseppe aber mal pünktlich. Dann bin ich aufgestanden, habe mir einen Bademantel übergezogen, bin die Treppen runtergegangen und habe die Tür aufgemacht. Es war aber nicht mein Sohn, der geklingelt hatte, sondern sein Freund Raoul und dessen Vater, der Arzt ist. Das hat mich gewundert, und ich habe Raoul gleich gefragt, was er hier schon so früh macht, und ob er jetzt schon mit Giuseppe verabredet sei. Dann haben wir uns alle angeschaut und nichts mehr gesagt. Plötzlich dachte ich, wieso ist Raoul denn mit seinem Vater hier? Er wohnt doch am Mierendorffplatz. Na ja, vielleicht war er über Nacht bei seinen Eltern in Kladow, vielleicht hat sein Vater ihn auf dem Weg in die Klinik mitgenommen und hier abgesetzt. Trotzdem war es irgendwie eigenartig. Raoul und sein Vater haben auch so komisch geguckt. Ich dachte, bestimmt haben sich die beiden Jungs gestern ganz doll gestritten und der Vater will vermitteln. Vielleicht haben sich die beiden sogar geprügelt, Giuseppe sitzt im Gefängnis, und ich muss jetzt gleich aufs Polizeirevier, um ihn aus dem Knast zu holen.« In ihre Gedanken hinein fragt Raouls Vater, ob sie hereinkommen dürfen. Als sich die beiden im Wohnzimmer auf dem Sofa ganz eng nebeneinandersetzen, beginnt Vaja Marcone zu ahnen, dass etwas viel Schlimmeres passiert sein musste, und gerät urplötzlich in eine Art blutleeren Zustand, in dem sie wie aus weiter Ferne hört, was Raoul sagt: dass es einen Unfall gegeben habe, dass Giuseppe mit einem Auto zusammengestoßen sei und er noch versucht habe, seinen Freund wiederzubeleben. Das Letzte, was sie mitbekommt, sind die Worte von Raouls Vater: »Er hat es nicht geschafft. Er ist tot.« Dann beginnt sie zu schreien.

Nicht mal eine Viertelstunde später beginnt ihre Trauerarbeit. »Ich konnte Minuten nach dem Schrei, nach dem ersten Schock wieder völlig klar denken. Mein erster Gedanke war: Das Einzige, was dir bleibt, ist zu lernen, es auszuhalten. Und das kann ich nur, wenn ich an dem Schmerz über den Tod meines Sohnes festhalte. Der zweite: Wir verkaufen alles, gehen weg aus Berlin, flüchten. Der dritte: Aber wo ist man denn sicher auf dieser Welt? Auf einer einsamen Insel? Der vierte Gedanke war: Das geht doch alles überhaupt nicht. Dann würden wir Giuseppe ja allein lassen. Das hier ist doch sein Zuhause, das will ich ihm doch nicht nehmen. Dann kam der fünfte Gedanke, der mich am meisten belastet hat: Wie gehe ich weiter vor? Und die größte Frage dabei war: Wie sage ich es seinen beiden Brüdern? Wie sollen sie diesen Schmerz aushalten? Mein Mann wusste ja schon, dass unser Sohn tot war. Er war dabei, als Raoul und sein Vater erzählten, was passiert war. Er war es dann auch, der zu unserem jüngsten Sohn hinaufging. Später hat er mir erzählt, dass er zu ihm gesagt hat, er soll ruhig schreien und brüllen und auch sein Zimmer demolieren, wenn er dadurch seinen Schmerz rauslassen kann. Als ich unseren Kleinen dann schreien hörte, war mir plötzlich klar, dass ich nichts mehr für Giuseppe tun kann. Nie mehr. Dass ich aber für die anderen beiden eine Menge tun muss, und wir alle noch mehr werden aushalten müssen. Von da an habe ich angefangen zu funktionieren. Die Beerdigung musste organisiert werden, und wir wurden gefragt, ob wir uns in der Gerichtsmedizin von Giuseppe verabschieden wollen.«

Ihren Sohn dort zu sehen, darauf haben die Marcones verzichtet, nicht nur weil man ihnen dringend davon abgeraten hat, sondern weil sie ihn so in Erinnerung behalten wollten, wie sie ihn an seinem letzten Freitagnachmittag erlebt hatten, den er im Garten seines Elternhauses gemeinsam mit seiner Familie verbracht hatte, so fröhlich, so jung und so voller Lebenslust. »Ich wollte den Tod nicht sehen. Und weil ich das nicht konnte, ist mein Sohn für mich auch nicht richtig tot. Sein Körper ja. Aber nicht er, nicht seine Seele. Bald danach habe ich das erste Mal von ihm geträumt. Er lag im Krankenhaus mit ganz blassem und total aufgeschürftem Gesicht. Neben ihm standen zwei Ärzte und unterhielten sich. Und dann machte mir Giuseppe klar, dass er wusste, worüber die Ärzte reden, und dass er keine Chance hat. Da habe ich im Traum noch einmal geschrien. Als ich aufwachte, war mir klar, dass wir uns verabschiedet hatten. Den Obduktionsbericht kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Was da drinsteht, erfuhr ich erst später bei der Gerichtsverhandlung, als die Ärztin den Inhalt vorgetragen hat. Unser Anwalt meinte, Giuseppe habe nichts mitbekommen, nichts gespürt. Er war sofort tot. Das ist tröstlich für mich. Was nicht tröstlich ist für mich, ist nicht zu wissen, ob er vor dem Unfall Angst hatte und ob ihn diese Angst gequält hat und wann sie, wenn sie denn da war, in ihm hochgekommen ist. Diese Gedanken lassen mich bis heute nicht los. Vielleicht auch, weil ich das Video aus der U-Bahn mit dem Streit gesehen habe. Das war nicht einfach zu ertragen.«

Vaja Marcone fällt es leicht, über ihren toten Sohn zu reden. »Weil es mir hilft und weil er so wunderbar war. Wenn ich aufhören würde, über ihn zu reden, dann wäre er nicht mehr da, nicht mehr bei mir.« Als das Urteil über die jungen Männer verkündet wird, die ihren Sohn provoziert und geschlagen haben, sitzt die Mutter mit ihrem ältesten Sohn Velin im Gerichtssaal. Sie will den Tätern ins Gesicht sehen, will erfahren, wer sie sind. Raoul, Giuseppes Freund, ist ebenfalls anwesend. Die beiden jungen Täter erhalten Bewährungsstrafen. Der Haupttäter AliT., türkischstämmig und zwei Jahre jünger als Giuseppe, bekommt zwei Jahre Haft auf Bewährung. Der Mitangeklagte BarisB., der zum Zeitpunkt der Tat 22Jahre alt ist und als Erster auf Giuseppe eingeschlagen, sich aber nicht an der Verfolgung beteiligt hat, wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu vier Monaten Haft verurteilt, die ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Kammer geht in ihrem Urteil von einer Körperverletzung mit Todesfolge aus. Vaja Marcone zeigt während der Verlesung des Urteils kaum eine Regung. Giuseppes Vater ist nicht im Gerichtssaal. Er hat die Kraft dazu nicht.

Hass hat die Mutter auf AliT. und BarisB. nie empfunden. »Dazu ist der Schmerz, so wie ich ihn bis heute empfinde, einfach zu groß. Für Gefühlsregungen wie Hass, Wut oder Rache lässt er keinen Platz. Vielleicht hat aber auch die Tatsache, dass sich Ali und Baris am Tag nach der Tat gestellt, wirkliche Reue gezeigt und sich sehr respektvoll über meinen Sohn geäußert haben, die Situation abgemildert.« Geholfen hat der Mutter auch, dass sie während der Gerichtsverhandlungen viel über die Herkunft und das Leben der Täter erfahren hat. Als sie selbst aussagt, sieht sie beide direkt an und stellt ihnen ihren Sohn vor, erzählt, was er für ein Mensch gewesen ist. Am Ende sagt sie in Richtung BarisB.: »Ich weiß nicht, was in dir vorgegangen ist. Aber Giuseppe hätte nicht zugeschlagen. Vor allem nicht ohne Grund. Er hätte seinen Freund am Kragen gepackt und gesagt: ›Schluss jetzt, wir gehen nach Hause.‹«

Vaja Marcone wirkt bei ihren Erzählungen sehr ruhig, ja fast zu ruhig. So als ob sie immer noch in einer Art Schockstarre verharrt. »Natürlich habe ich im allerersten Moment gedacht, sein Tod ist auch mein Tod. Wenn ich allein gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich daran zugrunde gegangen. Aber ich habe die Verpflichtung, für Giuseppe weiterzuleben, und ich habe meine Familie. Meinen Mann, meine Söhne und meine Mutter, die ich liebe und die mich lieben. Wenn ich gehen würde, wäre ja niemand mehr da, der sie liebt und der sich um sie sorgt. Ich könnte die beiden anderen Jungs nie alleinlassen. Der Gedanke, ihnen wehzutun, ist genauso schmerzhaft wie der, zu wissen, dass Giuseppe nicht wiederkommt. Und dann gibt es ja noch die Natur, die es so eingerichtet hat, dass man bei extrem schweren Schicksalsschlägen eine Kraft entwickelt, die man vorher gar nicht für möglich gehalten hat. Diese Kraft sorgt dafür, dass ich den Schmerz in mir drin bewahren und aushalten kann. Jede Sekunde, jede Minute meines Lebens und auch dann, wenn er sich massiv bemerkbar macht. Als Schlag in die Magengrube, als starker Schmerz im Brustkorbbereich oder dem Gefühl, der ganze Körper würde gleich zerspringen. Wenn der Schmerz nachlässt, weiß ich, dass meine Seele geweint hat. Ich selbst kann nicht viel weinen, mir kommen nur ganz selten die Tränen. Vielleicht verweigere ich mich ihnen auch, weil ich denke, es bringt nichts. Ich habe von Anfang an nicht geweint. Nicht mal bei der Beerdigung. Meine Familie macht sich deswegen keine Sorgen. Ich habe nie viel geweint. Sie würden sich wahrscheinlich eher Sorgen machen, wenn ich ständig weinen würde. Mein Mann weint viel mehr als ich. Aber er redet kaum.«

Es ist der Stärke von Vaja Marcone zu verdanken, dass ihre Ehe und ihre Familie nicht zerbrachen. Sie lässt ihren Mann still und allein trauern, und wenn er will, trauern sie gemeinsam. »Dann weint er viel und ich bekomme Magenschmerzen. Reden tun wir dabei kaum. Weil wir das nicht müssen. Manchmal schauen wir uns auch Fotos von Giuseppe als Baby oder als kleiner Junge an. Das geht. Ganz schlimm sind jedoch die Videos. Dabei bricht der Schmerz wie bei einem Vulkanausbruch aus mir heraus. Aber ich halte das aus. Vielleicht bin ich in diesem Punkt auch ein wenig masochistisch veranlagt. Ich zwinge mich dazu, die Filme anzusehen, weil es auch eine Erfüllung ist, dieses Lachen in seinem kleinen Gesicht zu sehen. Er war ein glückliches Baby, ein glückliches Kind, ein glücklicher Junge, ein glücklicher Teenager, ein glücklicher junger Mann. Das tröstet mich und gibt mir innere Ruhe. Mein Sohn hat nicht lange gelebt, aber er hat richtig gelebt. Die Erinnerung an ihn ist schön. Die Erinnerung an seinen Tod und die Umstände, wie er gestorben ist, tun weh.«

Giuseppes Brüder hat sie nach seinem Tod zu einer Trauma-Therapie geschickt. »Mein Mann und ich wollten, dass sie so wenig wie möglich leiden. Das war unsere Pflicht. Wir müssen für unsere Jungs da sein, egal wie es uns geht. Wenn unsere Söhne glücklich sind, ist mein Leben erfüllt. Ich hänge sehr an ihnen und an meinem Mann. Wir können uns mittlerweile auch wieder ganz normal über Alltägliches und die Zukunftspläne der Jungs unterhalten.« Was ihr dabei manchmal schwerfällt, ist, die Angst nicht zu zeigen und so wenig wie möglich eine Gluckenmutter zu sein. »Weil ihnen das nicht helfen und auch nerven würde.«

Vaja Marcone selbst hat seit dem Tod ihres Kindes keine psychiatrische Hilfe angenommen, sie hat keine Tabletten geschluckt und noch nicht einmal ein Glas Wein getrunken. »Ich habe noch nie gern fremde Hilfe in Anspruch genommen. Und ich habe in meinem Leben noch nie Alkohol angerührt, ich nehme höchstens mal ein Aspirin gegen Kopfschmerzen. Ich will alles ganz bewusst erleben. Ich hatte nach dem Tod von Giuseppe auch null Schlafstörungen.« Was ist mit Gott? Kann er ihr helfen? »Nein«, sagt sie. »Es lohnt sich auch nicht, nach dem Warum zu fragen, weil es sowieso keine Antwort darauf gibt. Was Gott angeht: Ich bin nicht gläubig und habe mich auch nie mit Religion beschäftigt. Dass es ein Leben nach dem Tod gibt, glaube ich eigentlich nicht. Das Einzige, was bleibt, sind die Erinnerungen und Gedanken, die man an andere weitergeben kann, die sie dann vielleicht eine Weile behalten und Giuseppe darin weiterleben lassen. Trotzdem wünsche ich mir, meinen Sohn eines Tages wiederzusehen. Wenn ich an ihn denke oder daran, dass er nicht mehr wiederkommt, breitet sich immer ganz schnell dieser wahnsinnige Schmerz in mir aus, dem gleich danach der tröstende Gedanke folgt: Ich liebe ihn. Dass ich ihn liebe, das habe ich ihm zu Lebzeiten oft gesagt. Heute sage ich zu seinen Fotos: ›Schatz, ich liebe dich.‹« Im Haus der Marcones hängen und stehen sehr viele Fotos von Giuseppe.

Dass Vaja Marcone eine starke Persönlichkeit wurde, hat viel mit ihrer Kindheit und Erziehung zu tun: »Meine Mutter stammt aus Bulgarien, mein Vater war Grieche. Von ihnen habe ich gelernt, dass die Familie und der Familienzusammenhalt mit das Wichtigste im Leben sind. Und man um sich selbst nicht so viel Aufhebens machen soll. Meine Großeltern mütterlicherseits haben mir beigebracht, dass das Leben aus Geben und Nehmen besteht. Meine Urgroßmutter war felsenfest davon überzeugt, alles Schlechte müsse auch eine gute Seite haben. Das stimmt, obwohl das bei einem Schicksalsschlag wie dem unseren kaum vorstellbar ist. Die Welt dreht sich weiter. Wir lieben weiter und wir leben weiter. Es ist durch den Tod meines Sohnes bei mir jetzt nur so, dass ich die Dinge, die ich behalten durfte, viel mehr wertschätze als früher und bestimmte Dinge keine Rolle mehr für mich spielen. Über Lappalien rege ich mich seit dem 17.September 2011 nicht mehr auf. Ich bin insgesamt gelassener geworden und habe mir mehr Freiräume genommen. Mein Mann respektiert das. Wir waren früher sehr viel enger miteinander, auch beruflich. Mein Mann besitzt ein Restaurant, in dem ich mitgearbeitet habe. Nach dem Tod von Giuseppe hatte ich immer stärker das Bedürfnis, bewusster zu leben, mehr eigenes Privatleben zu haben, weil ich mich dadurch spontaner entscheiden kann. Früher konnte ich nicht einfach sagen: ›Ich gehe jetzt mal raus und treffe mich mit einer Freundin auf einen Kaffee.‹ Diese Zeit musste ich mir jedes Mal abknapsen. Jetzt nehme ich mir diese Freiheit, und das tut mir gut. Mein Mann lenkt sich durch das Geschäft ab. Ich arbeite nicht mehr dort. Ich habe jetzt eine Stelle in einem Kaffeehaus. Das ist nicht nur schön, es bringt mich auch auf andere Gedanken, wobei ich nicht zu den Menschen gehöre, die sich von ihrer Trauer auffressen lassen. Das erlaube ich mir nicht, so bin ich nicht. Gegen Selbstmitleid habe ich mich schon als Kind gewehrt. Außerdem gibt es nichts, wofür ich mich bemitleiden müsste. Meine Großmutter hat, wenn ich mit Liebeskummer nach Hause kam, stets gesagt: ›Sei nicht traurig, dass es vorbei ist, sei einfach nur dankbar dafür, was gewesen ist.‹ Diese schlichte und doch so richtige Lebensphilosophie versuche ich jetzt mit Giuseppe zu leben: Dankbar zu sein für 23Jahre und den Schmerz als eine Riesenbereicherung für mein Leben zu sehen, aber nicht als Trost.«

Der Schmerz ist für Vaja Marcone zum Fundament ihres Lebens und Überlebens geworden. Ihn auszuhalten zum zentralen Thema ihrer Trauerarbeit. »Ich möchte den Schmerz für immer behalten und will nicht, dass er weniger wird, weil er den Kontakt zu meinem toten Kind herstellt. Ich fühle mich wohl mit ihm. Er hilft mir. Er bringt mich nicht um. Was natürlich nicht bedeutet, dass ich morgens fröhlich aufwache. Im Gegenteil, morgens ist es besonders schlimm. Da muss ich mich immer wieder aufs Neue sammeln, um meinen Schmerz auszuhalten und mit dem normalen Alltag klarzukommen. Wenn es ganz schlimm wird, lasse ich den Schmerz erst mal zu und mache dann mit dem weiter, was ich gerade gemacht habe. Von Herzen lachen, nein, das geht noch nicht und vielleicht auch nie wieder. Genauso wie wirklich glücklich sein. Ein bisschen vielleicht. Als unsere Enkeltochter geboren wurde, konnte ich nicht glücklich sein, weil sofort wieder der Gedanke da war: Dieses Glück wird Giuseppe nie mit uns teilen können. Natürlich freue ich mich für meinen Sohn Velin. Aber ich habe seinen Bruder, als ich meine Enkeltochter zum ersten Mal im Arm hielt, wahnsinnig vermisst.«

Wirklich begriffen, dass ihr Sohn tot ist, hat es seine Mutter bis heute nicht, und sie weiß auch nicht, ob ihr das jemals gelingen wird. Vom Verstand her vielleicht, aber ihre Seele, die wird diese Endgültigkeit immer blockieren. »Ich habe monatelang geglaubt, dass er gleich zur Tür hereinkommt. Da muss man aufpassen, dass man nicht wahnsinnig wird. Um mich vor solchen Gedanken zu schützen, gehe ich dreimal die Woche auf den Friedhof. Dann spreche ich mit ihm. Und ich schreibe ihm viele Briefe, in denen ich ihm von all dem berichte, was so passiert ist, und auch von meinen Gefühlen. Die Briefe sammle ich, aber ich lese sie nicht mehr, wenn ich sie geschrieben habe. Manchmal stehe ich auch einfach nur da und denke, irgendwo ist ein Teil von meinem Sohn. Irgendwo ist er. Aber nicht mehr hier bei uns. Dass Giuseppe nicht mehr zurückkommt zu mir, begreife ich wahrscheinlich erst dann, wenn ich selber vor der Tür zur anderen Seite stehe.« Angst vor ihrem Tod hat sie nicht, weil sie sich nicht wichtig nimmt und das Sterben kennt. Ein Jahr bevor Giuseppe starb, hat sie ihren Vater verloren. »Ich habe sehr um ihn getrauert, ihn unheimlich vermisst und mich oft gefragt, ob ich ihm wirklich gezeigt habe, wie lieb ich ihn habe, und ob wir uns auch alles gesagt haben. Und dann gab es Momente, in denen ich mich fragte: Auf was werde ich hier eigentlich gerade vorbereitet? Mein Papa ist tot, was gibt es da noch Größeres? Und was bedeutet: nie wieder? Heute weiß ich, dass ich tief in meinem Inneren wusste, dieser Schmerz würde nicht der endgültige Schmerz sein, den ich erleiden muss. Diesen Schmerz habe ich jetzt. Trösten tut mich, dass uns Giuseppe reich gemacht hat, durch seine Persönlichkeit, seine Einstellung zum Leben und die Leichtigkeit, mit der er gelebt hat. Deshalb fühle ich mich nur verletzt, nicht arm. Ich spüre auch keine Leere. Ich habe ja meinen Schmerz.«

***

Bald nach der Gerichtsverhandlung, die im März 2012 stattfand, hat Vaja Marcone die »Giuseppe Marcone Stiftung für gegenseitige Achtung und Zivilcourage« gegründet. Diese Aufgabe hilft ihr nicht nur, mit dem Tod ihres Sohnes zu leben. Sie hat ihr auch gezeigt, dass sie nicht allein ist mit ihrem Schmerz. Und sie in der Lage ist, anderen Menschen zu helfen, die ihr Schicksal teilen.

An der Unfallstelle am Kaiserdamm pflanzt sie einen Baum zur Erinnerung an das Schicksal ihres Sohnes und in der Hoffnung auf ein respektvolleres und toleranteres Miteinander.

Markus Matthes

Geboren am 28.Mai 1977 in Berlin, gefallen am 25.Mai 2011 nahe Kundus in Afghanistan

Uns hilft die Liebe zueinander. Ohne ihre Kraft würden wir den Tod unseres Sohnes nicht aushalten.

Silvia und Joachim Matthes, 64 und 74Jahre alt

Er war ein absolutes Wunschkind und ein Einzelkind. Er war höflich, zuvorkommend, charmant, intelligent und stets hilfsbereit. Und er starb früh oder, um es mit den Worten des englischen Schriftstellers Oscar Wilde zu sagen: »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung werden.« Für seine Eltern ist das kein Trost. Markus, ihr Sohn, war ihr Engel, ihr Augenstern. Die Taliban töteten ihn in Afghanistan.

Kurz vor dem Abitur bekommt Markus Matthes die Einberufung zur Bundeswehr und verpflichtet sich, nach bestandener Prüfung dorthin zu gehen. Seinen überraschten Eltern erklärt er diese Entscheidung mit den Worten des ermordeten US-Präsidenten JohnF. Kennedy: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.« Dreizehn Jahre später ist Hauptmann Markus Matthes tot. Gefallen nahe Kundus in Afghanistan, bei einem Sprengstoffanschlag während einer Patrouille. Eine der Minen, die ihn zerfetzen, detoniert direkt unter seinem Sitz in dem Fuchspanzer, in dem er unterwegs ist. Markus Matthes ist 33Jahre alt.

An einem Spätnachmittag sitzen seine Eltern Silvia und Joachim Matthes in der Küche ihrer Berliner Altbauwohnung und erinnern sich an ihr Kind. Sprechen über die wunderbaren Zeiten, die sie zusammen hatten, und über ihr leeres Leben nach seinem Tod. Die Mutter: »Mein Mann wollte unbedingt einen Sohn haben, kein Mädchen. Als Markus drei war, ging er in den kirchlichen Kindergarten, anschließend auf die Scharmützelsee-Grundschule, danach besuchte er das Walther-Rathenau-Gymnasium in Grunewald. Als er in die elfte Klasse kam, entschloss er sich nach Amerika zu gehen, um dort ein Jahr lang die Schule zu besuchen. Nach seiner Rückkehr musste er die elfte Klasse wiederholen, weil man hier in Berlin die Ausbildung in den USA nicht anerkannte. Dafür war er ab diesem Zeitpunkt in Englisch perfekt in Wort und Schrift. Als er uns mitteilte, nach dem Abi Berufssoldat werden zu wollen, haben wir ihn wenig begeistert angeschaut.« Trotz der Bedenken und ihrer Angst, Markus würde unterschreiben müssen, dass er gegebenenfalls an Auslandseinsätzen teilnimmt, unterstützen die Eltern seine Entscheidung. Mit dem Auto fährt er am 1.Juli 1998 nach List auf Sylt, da er sich für die Marine entschieden hat. Dass diese Fahrt der Beginn einer großen Karriere bei der Bundeswehr sein wird, daran denkt an diesem Tag keiner der drei. Den Grundstein dafür legt Markus Matthes an dem Tag, an dem er sich entschließt, bei der Bundeswehr zu studieren. Einziger Wermutstropfen: Er kann das nicht bei der Marine tun, weil das die kleinste Einheit ist. Er muss zum Heer wechseln, tut das und wird zu den Panzergrenadieren nach Munster in der Lüneburger Heide versetzt. Danach geht es mit seiner Karriere stetig steil bergauf. Im Panzergrenadierlehrbataillon92 kommt er zu den Fernspähern, wechselt im Frühjahr 2003 in die Fernspäherlehrkompanie200 in Pfullendorf bei München. Im Herbst desselben Jahres beginnt er an der Bundeswehrhochschule in München ein Maschinenbaustudium. 2007 kehrt er als Diplom-Ingenieur in Maschinenbau und Waffentechnik zu seiner Kompanie zurück und schließt wenig später auch seine Ausbildung zum Fernspäher ab. Doch dieser Erfolg reicht dem ehrgeizigen jungen Mann noch nicht. Er geht nach Bonn zu einer Spezialeinheit und später in den Stab der Division Spezielle Operationen in Stadtallendorf. Mitte 2010 bekommt er den Einberufungsbefehl nach Afghanistan. Markus Matthes ist zu diesem Zeitpunkt bereits Hauptmann. Am 21.März 2011 kommt er als Auswerteoffizier zu der Division Spezielle Operationen/ISAF nach Kundus und wird in den nächsten Wochen ganz wesentlich dazu beitragen, dass die Truppe über geheime Informationen ihrer Gegner verfügt. Um an diese Informationen zu kommen, trifft er sich bei Patrouillen gelegentlich auch mit afghanischen Informanten.

Die Eltern versuchen, sich ihre Angst um ihren Sohn nicht anmerken zu lassen. Sie wollen ihn nicht beunruhigen und schon gar nicht, dass er sich Sorgen um sie macht. Wenn sie mit ihm telefonieren, machen sie ihm Mut, geben sich burschikos, erzählen ihm von ihrem Leben in Berlin. Dann kommt der 3.Mai 2011. Markus ist mit Soldaten und einem Übersetzer auf Patrouille, als sie Ziel eines Sprengstoffanschlags werden. »Was da genau passiert ist«, erzählt die Mutter, »wissen wir aus Geheimhaltungsgründen nicht ganz genau. Markus hat uns nur kurz angerufen und gesagt, er sei bei einer Patrouille verletzt worden, dass wir uns aber keine Sorgen machen müssten. Er hätte nur eine kleine Verletzung am Kinn, die genäht worden wäre. Später erfuhren wir, dass er danach sofort wieder aus dem Militärkrankenhaus rauswollte, sein Vorgesetzter konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten. So war unser Sohn: pflichtbewusst durch und durch und immer für andere da, egal wie gut oder wie schlecht es ihm ging. Ein Kamerad, der mit ihm in Kundus war, hat mir berichtet, Markus hätte nach diesem ersten Anschlag zu ihm gesagt: ›Keiner kann mich hindern, so schnell es geht wieder rauszufahren. Ich bin für meine Männer da, bis zum letzten Tag. Alles andere ist mir egal.‹ Dass es bis zu seinem letzten Tag nicht mehr lange dauern sollte, konnte keiner ahnen.«

25.Mai 2011, 13Uhr, eine Kurklinik in Oberstaufen. Im Zimmer von Joachim Matthes klingelt sein Handy. Am anderen Ende ist General Peter Braunstein, der dem Vater mitteilt, dass er ihm leider die traurige Mitteilung machen müsse, sein Sohn sei um acht Uhr dreißig deutscher Zeit gefallen. Was Joachim Matthes geantwortet hat, weiß er nicht mehr. Nach dem Telefonat nimmt er sein Handy und geht zu seinen Freunden, die bereits beim Mittagessen sitzen: »Ich war total neben der Spur und erinnere mich nur noch, dass ich geschrien habe, nachdem ich aufgelegt hatte. Und geweint, was ich, Gott sei Dank, bis heute immer mal wieder kann. Na ja, auf jeden Fall bin ich dann raus aus meinem Zimmer und dachte, nimm mal lieber das Handy mit. Vielleicht ruft ja deine Frau an oder die Nachbarin, die sie ins Krankenhaus gebracht hat. Ich selber wollte Silvia nicht anrufen, die am Morgen eine Hüftoperation gehabt hatte. Auf jeden Fall bekam ich irgendwann die Information, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, wie ich nach Berlin zurückkäme, noch am gleichen Tag würde mich ein Oberstabsfeldwebel abholen und nach Hause begleiten. Danach habe ich meine Koffer gepackt und Bescheid gesagt, dass ich früher abreise.« Das nächste Telefonat führt Joachim Matthes mit seinem Bruder, der verspricht, sofort zu ihm zu kommen, wenn er in Berlin angekommen ist. Danach trifft er sich mit seinem Freund Dieter, mit dem er bis zu seiner Abreise zusammensitzt und redet und weint.

Am Abend fliegt der Vater in Begleitung des Oberstabsfeldwebels zurück nach Berlin. »Als ich gegen 22Uhr in die Ankunftshalle kam, stand die ganze Generalität herum, und die anderen Fluggäste haben bestimmt gedacht: ›Was ist denn das für ein Heini?‹ Egal. Ich hatte überhaupt keine Nerven mehr, rief nur noch meinen Bruder an, der gleich losfuhr und bei mir blieb, bis mich die Leute von der Bundeswehr am nächsten Morgen um neun Uhr wieder abgeholt und zu meiner Frau ins Krankenhaus gefahren haben, die ja noch von nichts wusste. Mein Bruder ist nicht mitgefahren, und den Herren von der Bundeswehr habe ich gesagt, ich würde Silvia die Nachricht vom Tod unseres Sohnes selbst und allein überbringen.«