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Britta Redweik

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Beschreibung

"Ich bin all das. Ich bin all meine Krankheiten. Die leichten und die schweren. Die, die nur in ganz bestimmten Situationen eine winzige Rolle spielen, und die, die mir jeden Tag die Luft zum Atmen nehmen - teilweise wortwörtlich.

Ich schreibe dies hier nun einmal in erster Linie nicht, um es euch recht zu machen oder euch zu unterhalten, sondern für mich. Um jemandem meine Geschichte zu erzählen. Einen Einblick in meine Welt zu liefern.
Ich möchte eine Stimme haben. Denn das ist nicht leicht für Menschen mit Beinderung. Aber es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, wie die Welt für Leute wie mich aussieht."

Biografisches aus dem Leben einer Schwerbehinderten in Deutschland. Anekdoten, Zahlen und Fakten.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Britta Redweik

Unter drei Augen

Für meine Eltern, die mich zwar nicht immer verstehen, aber mich trotzdem nicht fallen lassen. Und für all die Brüder und Schwestern da draußen, die jeden Tag wieder gegen ihren eigenen Körper, ihre eigene Psyche kämpfen müssen, und dann von der Welt noch Steine in den Weg gelegt bekommen.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort:

 

Dies ist kein Roman, kein fiktives Werk. Dies ist die Geschichte meines Lebens, zumindest bis hierher. Und sie wird nicht schön werden.

Vermutlich werdet ihr euch beim Lesen denken, dass das alles etwas viel ist. Dass ich mich auf einen Aspekt hätte konzentrieren sollen. Dass die vielen verschiedenen Themen, die ich anspreche, einfach viel besser zur Geltung kommen würden, hätte ich sie einzeln verarbeitet.

Und vielleicht habt ihr Recht.

Nur leider funktioniert das Leben so nicht. All diese Dinge prasseln tagtäglich auf mich ein. Denn ich lebe mit ihnen allen. Ich habe nicht nur eine Depression, und sonst nichts. Ich habe nicht nur ein Glasauge. Und mein Rücken ist nicht der Einzige, der an manchen Tagen versucht, mich mit Schmerzen in den Wahnsinn zu treiben. Ich bin all das. Ich bin all meine Krankheiten. Die leichten und die schweren. Die, die nur in ganz bestimmten Situationen eine winzige Rolle spielen, und die, die mir jeden Tag die Luft zum Atmen nehmen - teilweise wortwörtlich.

Ich werde nicht versuchen, mein Leben interessanter zu beschreiben, als es ist. Ich werde es nicht unterhaltsamer darstellen, nur um euch zu belustigen. Ich werde es auch nicht dramatisieren. Ich werde es nicht absurder darstellen, als es ist, aber auch nicht normaler. Manche Momente meines Lebens sind lustig. Manche sind dramatisch. Zumindest erlebe ich sie so.

Vielleicht ist mein Leben aus eurer Sicht auch langweilig oder sogar völlig belanglos. Das ist auch absolut in Ordnung, auch wenn ich das natürlich schade finde.

Aber ich schreibe dies hier nun einmal in erster Linie nicht, um es euch recht zu machen oder euch zu unterhalten, sondern für mich. Um jemandem meine Geschichte zu erzählen. Einen Einblick in meine Welt zu liefern. Ich möchte mich damit nicht aufspielen, ich möchte damit auch nicht unbedingt Geld verdienen. (Auch wenn ich natürlich froh wäre. würde das eines Tages geschehen. Wäre dieses kleine Schriftstück hier so interessant oder relevant, dass jemand mir tatsächlich Geld dafür anbieten würde.)

Ich möchte eine Stimme haben. Denn das ist - wie ich in späteren Kapiteln erklären werde - nicht leicht für Menschen wie mich. Aber es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, wie die Welt für Leute wie mich aussieht.

Ich nehme es niemandem übel, wenn ihr das Buch nicht lesen wollt, abbrecht, Kapitel überspringt, es hasst. Ich nehme es euch nicht übel, wenn ihr euch dem nicht aussetzen wollt. Es gibt Zeiten, in denen ich mich mit so etwas auch nicht befassen kann und will. Das ist in Ordnung.

Aber wenn ihr dies hier wirklich lesen mögt, danke ich euch von ganzem Herzen. Vielleicht verändert es nicht die Welt. Vielleicht verändert es nicht einmal die kleinste Kleinigkeit, nach außen hin. Aber es gibt mir das Gefühl, dass auch Leute wie ich zählen.

Triggerwarnung und Hinweise:

 

Triggerwarnung:

Bevor wir beginnen, muss ich eine klare Warnung aussprechen. Ich werde von Mobbing schreiben, Selbstmordgedanken, Depression und (leichtem) autoaggressivem Verhalten. Falls euch beim Lesen noch andere Dinge auffallen, die für euch als Trigger fungieren, die ich aber nicht auf dem Plan hatte, teilt mir das bitte mit. Ich möchte niemandem schaden.Hinweis zu den Krankheiten:

Ich werde die Krankheiten, die ich mit mir herumtrage, einzeln oder in Gruppen einführen, je nachdem, an welchem Abschnitt meines Lebens sie eine Rolle spielten. Ich werde in den Kapiteln jeweils nur soweit wie für die Anekdote nötig erklären, füge aber ein Glossar am Ende an, für alle Neugierigen.

Pling

- Krankheit der Stunde: Glasauge -

 

„Pling", ertönt es. Leise, aber hörbar. Und dann wieder, und wieder. Ich bin gerade etwa vier Jahre alt und stehe auf dem Dachboden des Mietshauses, in dem wir wohnen. Ich helfe meiner Mutter dabei, das Treppenhaus zu fegen, oder zumindest tu ich so, als könnte ich in dem Alter schon irgendeine Hilfe sein.

Ich schaue verwundert, was denn da so ein Geräusch macht, und sehe eine halbe Hohlkugel, die die Treppe herunterschlittert, Stufe für Stufe. Auf der Zwischenetage hat sie genau den richtigen Winkel, damit sie gegen die Bande - eine Plastikfußleiste - stößt und dann auch den nächsten steinernen Treppenteil in Angriff nehmen kann. In meiner Erinnerung heute kommt sie noch drei Stufen weit, bevor sie endlich liegen bleibt.

Erst jetzt begreife ich, was ich da wirklich gesehen habe. Mein Glasauge ist aus der Augenhöhle gefallen, ohne das ich es auch nur gemerkt hätte. Es ist nicht nur fast meine gesamte Körpergröße heruntergefallen - zu dem Zeitpunkt zugegebenermaßen noch nicht sehr viel -, sondern hat auch noch etwa 11 weitere kleine Stürze überlebt.

Es ist noch heile, zumindest auf den ersten Blick. Das Glasauge, eine Handarbeit, die für jeden Menschen jedes Mal wieder völlig persönlich angepasst wird, der im Grammpreis teuerste Glasgegenstand der Welt, der so unglaublich schnell kaputt gehen kann, hat mal eben fast ein ganzes Stockwerk ohne mich überwunden.

Ich bin noch heute, 24 Jahre später, davon beeindruckt. Der Anblick war einer der Erhebendsten in meinem Leben. Diese Präzision, wie es gegen die Leiste stößt und so eine 90-Grad-Kurve ohne Probleme überwindet.

Umso größer ist die Enttäuschung, dass ich das Auge dennoch hinterher nicht mehr nutzen durfte. Meine Mutter verbat es mir. Aus Angst, durch den Sturz hätten sich vielleicht doch Mikrorisse gebildet und das Auge könnte dann in meiner Augenhöhle kaputt gehen. Außerdem hatte es durch den Sturz ja schon bewiesen, dass es nicht mehr richtig saß - denn von alleine rausfallen sollen Glasaugen nun wirklich nicht.

Aber ich war traurig. Und bin es noch heute. Dieses kleine Auge war ein Kämpfer. Es hat sich mutig ins Unbekannte fallen lassen und es hat überlebt. Erst meine Mutter wurde ihm zum Verhängnis.

Und irgendwie hat mich dieser kleine Moment, in Wirklichkeit nur wenige Sekunden, geprägt. Einerseits habe ich heute extreme Angst, dass mein Glasauge wieder herausfällt. Das kostet Geld und Nerven. Andererseits sah es aber unbeschreiblich cool aus, wie dieses kleine Auge über den Treppenabsatz glitschte. Seit dem mag ich das Geräusch, wenn etwas auf Stein fällt und ‚Pling' macht.

Das stärkste Mädchen der Welt oder ‘Vergesst Pippi Langstrumpf, hier komme ich’

- Krankheit der Stunde: Klaustrophobie, allgemeine Angst?; Triggerwarnung: Klaustrophobie -

 

Jetzt springen wir ein oder zwei Jahre weiter. Ich bin noch nicht eingeschult, aber nicht mehr ganz so klein. Und nicht mehr ganz so unbedarft darin, meinen Kopf durchzusetzen.

Wir sind im Krankenhaus, denn ich soll in die Röhre. Ich weiß nicht mehr genau, welche, denke aber, es war ein simpler CT-Scan.

Simpel vielleicht, wäre da nicht die Tatsache, dass das eine große, finstere und offenbar auch laute Röhre ist. Und ich da ganz rein muss. Nicht nur mit dem Kopf, nicht nur mit den Füßen, komplett. Nein, stimmt nicht. Meine nackten Füße dürfen rausschauen, damit meine Mama mir statt der Hand den Fuß halten kann.

Der Arzt versucht, mich zu beruhigen. Das werde zwar ein wenig laut werden, aber mir könne nichts passieren. Hat der eine Ahnung. Das ist eng und dunkel und rund und alles, was ich nicht mag. Außerdem muss ich stillliegen. Etwas, was ich so gar nicht kann. Denn genau dann, zuckt der Körper doch extra. Man merkt Jucken schlimmer. Alles kribbelt, alles will bewegt werden.

Als ich nicht auf die Liege hoch will, versucht dieser Leibhaftige - also der Arzt - doch wirklich, mich da hoch zu heben?

Ich bin zu schnell und kann ihm in die andere Ecke des Raumes entwischen. Zu meinem Unglück ist da aber ein Krankenpfleger, der dem Arzt helfen will. Er packt mich. Nicht unsanft, glaube ich, aber ich wehre mich dennoch. Letzten Endes trete, kratze und beiße ich gegen gleich drei Leute an, denn meine Mutter will mich ja auch in der Röhre wissen. Nur deshalb sind wir hierher gekommen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der mich drei Erwachsene mit vereinten Kräften aber immer noch nicht in dieses Monstrum haben stecken können, geben sie auf. Wir sollen uns einen neuen Termin geben lassen.

Falls du das hier je liest, Mama, kann es sein, dass du mir beim zweiten Termin Beruhigungsmittel untergejubelt hast? An den kann ich mich nicht mehr erinnern. An absolut nichts. Und, dass ich mich da nicht wieder gewehrt habe, erscheint mir doch sehr unwahrscheinlich.

Aber auch das ist ein Moment meines Lebens, der mir immer wieder Mut gibt, wenn ich daran denke. Wie das kleine Mädchen drei Erwachsene überwinden konnte, um ihren Kopf durchzusetzen. In meinen schlimmsten Augenblicken erinnere ich mich daran, dass die Kleine da immer noch in mir drin sein muss. Und, dass sie aufwachen wird, wenn ich sie wirklich brauche.

Cool, ein Knochen

- Krankheit der Stunde: keine? Generelle Seltsamkeit?; Trigger: Verletzung, Blut -

 

Noch immer sind wir in meiner behüteten Kindheit. In einer Zeit, in der ich noch normal bin. Nicht auf dem Papier. Aber man behandelt mich noch normal, egal, wie anders ich bin.

Und wer hätte es gedacht, ich habe eine beste Freundin. Eine, mit der ich fast jeden Tag verbringe. Und ich renne mit ihr sogar über Felder und durch ... naja, gut, bis hinten zum Wald dürfen wir nicht ohne unsere Eltern, aber zumindest in die dichten Gebüsche am Feldrand gehen wir gern und bauen uns da richtige Höhlen. Mit dicken Müllsäcken als Schutz gegen den Regen, und kleinen Möbeln aus dem weggeworfenen Kram, den man so in der Nähe von Menschen eben findet.

Ich bin ein fröhliches Kind. Ich weiß schon, dass die Welt nicht toll ist, sehe keinen wirklichen Sinn im Leben, kann das aber gut verdrängen. Denn ich habe Freunde - wenn auch nicht viele -, Freiheit und Spaß.

Wir laufen wild umher, zum kleinen Bach in der Nähe, um Kaulquappen zu sehen. Nicht zu fangen, natürlich, denn das ist ja verboten. Und so wild und frei wir uns auch fühlen, Gesetze kennen und respektieren wir. Was uns ein noch besseres Gefühl gibt, oder zumindest mir. Als Kind ist es so leicht, ein guter Bürger zu sein. Und mich persönlich hat es immer stolz gemacht, keine Regeln zu brechen, rechtschaffen zu sein, so hypermoralisch das auch klingen mag.

Wir sehen ein paar Jungs, die auf dem Feld herumlungern. Es scheint, als würden sie zündeln wollten.

Also wollen wir einfach mal schauen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie stoppen würden, oder auch nur stoppen könnten, aber vor allem sind wir neugierig.

Wir springen über den kleinen Graben und schleichen uns an. Als sie uns sehen, laufen wir weg, springen wieder über den Graben. Er ist vielleicht einen Meter breit und einen halben Meter tief. Und ... es fühlt sich toll an. Wie fliegen. Als wären wir Superhelden und nichts könnte uns aufhalten. Also entwickelt sich daraus ein Spiel. Wer von uns kann am besten, schnellsten, weitesten drüber hinwegspringen?

Das geht eine ganze Weile so, an vielen verschiedenen Stellen des Grabens. Bis ich einmal zu früh abspringe.

Im ganzen Graben, auf über 50 Meter Länge, ist nur ein einziger Stein. Nicht mal kleine Steinchen, keine Stöcke, nur altes Laub, frisches Gras und nicht einmal Wasser.

Aber ein einziger Feuerstein, mit scharfen Kanten. Er sieht aus, als hätte ihn jemand extra so zugeschlagen, vielleicht Speerspitzen daraus gemacht. Habe ich als Kind auch oft gemacht. An dem Stein da bin ich aber nicht schuld. Ich treffe ihn nur. Mit meinem Gesicht.

Im ersten Moment merke ich gar nichts. Ich fühle mich nicht anders. Nur etwas in meinem Sichtfeld ist nicht ganz so wie sonst. Da ist so viel rot. Und weiß.

Dann sehe ich ihn, meinen eigenen Nasenknochen. Ich habe ordentlich die Schicht darüber mit dem Stein abgetragen und nun ragt mein Knochen heraus. Angebrochen, was ich allerding nicht sehen kann.

Jetzt erst merke ich auch die Wärme des Blutes, das mein Gesicht herabläuft. Nicht viel, aber es ist da. Und nun setzt der Schmerz ein.

Ich glaube, im ersten Moment weine ich nicht. Ich bin sieben oder acht Jahre alt, hätte also noch jeden Grund, von all dem geschockt zu sein, vor Schmerz zu heulen. Aber ich bin zu ... begeistert. Ich sehe meinen Knochen. Wie viele Menschen können das schon von sich behaupten?

Das werde ich noch öfter im Leben haben. Diesen Moment, wenn ich zwar wieder etwas anders bin, Erfahrungen mache, die nicht jeder hat, aber stolz darauf bin. Ich habe ein Zeckengebiss hinter dem Ohr, weil ein Arzt die Zecke nicht komplett rausgekriegt hat. Und ich finde es toll. Noch mehr jetzt, wo die Zeit, in der das noch Krankheiten hätte auslösen können, vorbei ist.

Ich mag Dinge, an denen Geschichten hängen. Ich mag Verletzungen, die man sich aus Mut zugezogen hat. Ja, Mut geht fast immer mit Dummheit einher, bei mir vermutlich noch öfter als bei anderen. Ich mag Narben, die das Aushalten von Leiden bekunden. Wenn sie nicht absichtlich sind, natürlich. Und noch immer bin ich stolz auf jede meiner kleinen Verletzungen. Dass ich sie so tapfer ertrage. Ich ahne nicht, dass die wirklichen Kämpfe, die wirklichen Schmerzen noch auf mich lauern.

 

Du sollst dich nicht wehren

- Krankheit der Stunde: Skoliose ; Triggerwarnung: Mobbing, körperliche Gewalt -

 

Mittlerweile sind wir nicht nur in der Schule angelangt, sondern schon in der Orientierungsstufe. Für alle, die dem Fluch der späten Geburt unterliegen, oder schlicht aus Bundesländern stammen, die so etwas nie hatten:

Orientierungsstufe nannte man die 5./6. Klasse. Das war eine eigenständige Schulform nach der Grundschule, in der es vor allem das Ziel war, herauszufinden, welche Stärken und Schwächen der Schüler hatte, und wie sein Bildungsweg weitergehen sollte. In der 5. Klasse hatten noch alle gemeinsam unterricht. In der 6. wurden dann Kurse für die gebildet, die in einem Fach talentierter waren, und natürlich Parallelkurse für die, deren Stärken anderweitig lagen. Allerdings gab es diese kleinen Leistungskurse nur in Mathe und Englisch, und noch nicht zu stark auszusieben und auch den noch schwächeren Schülern eine Chance zu geben, eine Gymnasialempfehlung zu erarbeiten.

Orientierungsstufe hieß für uns Schüler aber vor allem, dass alte Freundschaften aufgebrochen wurden, weil man in verschiedene Klassen verteilt wurde. Denn plötzlich waren es nicht nur Kinder aus dem selben Dorf, sondern gleich aus der ganzen Gemeinde, aus vier oder fünf Grundschulen. Und die sollten gleichmäßig verteilt werden, damit man keine Subkulturen bildet, sozusagen.

Nun sitze ich da. Ich hatte vorher schon keine wirklichen Freunde in meiner Klasse, weil ich anders war. Die Streberin. Ich hatte Leute, die es ausnutzten, dass ich hilfsbereit war. Und, die mir bei Langeweile sogar kleine Momente freundlichen Miteinanders gewährten. Aber wenn wieder über mich hergezogen wurde, wenn ich der Mittelpunkt der Witze war, verteidigten sie mich nicht. Sie lachten mit.

Und nun finde ich mich in einer völlig neuen Gruppe wieder. Bei der Einschulung in die Orientierungsstufe darf ich zwar angeben, von welchen zwei besten Freunden ich auf keinen Fall getrennt werden will, bei der Klassenzuteilung, aber ich habe keine Freunde, die ich angeben könnte. Meine einzigen zwei wirklichen Freundinnen sind im Jahr unter mir. Und jetzt hinter einem Zaun verschwunden. Noch in der Grundschule.

Jetzt wird alles schlimmer. Wer kein Rudel hat, zu dem er gehört, ist nun einmal das schwächste Klassenmitglied. Also hacken alle auf mir rum, denn dafür muss man sich ja mit niemandem anlegen. Aber das bin ich ja schon aus der Grundschule gewöhnt, also trifft mich das nicht so hart. Was mich aber doch trifft, sind die Schläge. Ich bin ein Mädchen, also verprügelt man mich zumindest nicht richtig. Aber ein Schlag hier oder da? Kann ja nicht schaden, denken sich die Jungs. Bald haben sie das Talent, genau auf meinen Fehlbildungswirbel in der Wirbelsäule zu hauen. Eine gezielte Faust, mit nicht mal allzu viel Kraftaufwand. Es ist offenbar lustig, dass sie damit wohl einen Nerv treffen. Dass ich damit für ein paar Sekunden gelähmt bin, nicht einmal atmen kann. Nicht vor Schmerz. Der körperliche Schmerz ist zwar auch nicht gering, aber gar nicht so schlimm. Ich kann es schlicht nicht. Mein Körper reagiert nicht, egal, wie verzweifelt ich es versuche. Wie sehr ich meinen Willen anstrenge, um diese Blockade zu überwinden.

Nach ein paar Sekunden ist es vorbei. Und niemand hat es gesehen, außer den Tätern selbst. Also ist es gleich wieder vergessen. Bis auf die psychischen Narben.

Dramatisch wird es, als sie wieder und wieder versuchen, mich die Treppe runterzuschubsen.

Mein Klassenraum liegt im ersten Stock. Damit sind es nur knapp drei Meter, die die Treppe hoch ist, und es gibt einen Absatz in der Mitte. Dennoch packt mich wieder und wieder die Angst. Auch vor Treppen habe ich von klein auf schon Panik, aber jetzt wird es schlimmer. Jetzt versuchen meine Klassenkameraden, mich im schlimmsten Fall sogar zu töten, wenn ich dumm falle. Das begreifen sie nicht, das ist mir klar. Nur macht das die Lage für mich nicht besser.

Ich fange an, mich zu wehren. Eher auf eine passive Art. Ich gehe die Treppen hoch und runter, wenn gerade keiner von ihnen da ist, und halte mich ansonsten von Abgründen fern. Ich gehe einfach zur Seite, wenn ich sie kommen sehe.

Doch dann passiert es. Eines Tages mache ich wieder einfach nur einen Schritt zur Seite, als ein Junge mich gerade schubsen will. Damit hat er nicht gerechnet, weil er sich ein gutes Stück an mich hatte anschleichen können. Er verliert das Gleichgewicht und fällt.

Ich erinnere mich an mein Auge. Aber das hier ist ein Mensch, so viel weicher. Er zerbricht nicht nur einfach, wenn etwas passiert. Er kann sich viele verschiedene Verletzungen zuziehen. Mir gerinnt das Blut in den Adern, als ich ihn fallen sehe. Nur bis zum Treppenabsatz, aber dennoch. Das da wollte er gerade mir antun.

Ich werde von meiner Klassenlehrerin weggezogen, bevor ich etwas tun kann. Ich will ihm helfen! Ich will mich vergewissern, dass er lebt, dass es ihm gut geht. Nicht nur, weil ich über ihnen stehen, die Moralischere sein will. Auch, weil es mir leid tut, irgendwie. Er sollte doch nicht fallen, das habe ich nie gewollt.

Ich werde ins Klassenzimmer gezogen und bekomme eine Strafpredigt, weil ich den Jungen angeblich geschubst hätte. Ich mag meine Klassenlehrerin eigentlich sehr gerne, und sie weiß, wie sehr mich die anderen schikanieren. Aber jetzt hasse ich sie. Ich werde dafür bestraft, dass ich mir nicht wehtun lasse? Dass ich einen einzigen Schritt zur Seite gehe, wenn andere mich schubsen wollen? Ein weiteres Mal ist meine Seele daran zerbrochen, wie Menschen mit mir umgehen. Dass nicht einmal die Klassenlehrerin, die ich so sehr schätze und verehre, auf meiner Seite ist, wenn ich doch schon sonst niemanden habe.

Ich komme mit einem Eintrag ins Klassenbuch davon und der Junge hat sich außer ein paar blauen Flecken nichts getan. Er lässt mich jetzt immerhin körperlich in Ruhe, attackiert mich nur noch verbal. Und selbst das weniger. In manchen Momenten ist er sogar nett. Aber den Schaden, den dieser Tag hinterlassen hat, trage ich fast 20 Jahre später noch mit mir.

Dann geh doch auf die Sonderschule, da gehören Behinderte doch hin

- Krankheit der Stunde: Asthma, Skoliose, Glasauge ; Triggerwarnung: Mobbing -

 

 

Aber nicht nur körperlich wurde ich damals attackiert. Auch anderweitig wurde mir schnell klar, dass ich ein Außenseiter bin. Beim Sport.

Als kleines Kind war ich noch gern draußen herumgerannt und hatte mich bewegt. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, ist die Schule, in ihrem Bestreben, die Kinder zu mehr Bewegung anzuhalten, eigentlich genau das, was den Bewegungsdrang abtötet. Man darf nicht mehr herumtollen, sondern muss ganz bestimmte Sportarten nach ganz bestimmten Regeln ausüben, um Noten zu erhalten. Spaß wird hier durch einen Wettbewerbsgedanken ausgetauscht, der eigentlich eines heißt: Ein Einziger ist der Beste, und allen anderen Kindern sagt man, sie seien nicht gut genug. Sie sind eben nicht der Beste. Und das soll gesund sein? Wenn man etwa 95% der Teilnehmer sagt, sie wären eben nicht gut genug? Immer und immer wieder? Das soll einen motivieren? Liebe Pädagogen: An dieser Stelle seid ihr Idioten. Natürlich kommt man im Erwachsenenleben nicht ohne etwas Wettbewerb über die Runden, aber Kindern bei dem, was sie gesund halten und die überschüssige Schokolade wieder verbrennen soll, mit so etwas zu kommen, ist ein Grund, warum Kinder wie Erwachsene in Deutschland noch immer keine Freude an Sport haben und so immer mehr Krankheiten auftreten.

Aber gut, ich schreibe ja hier, um meine eigene Geschichte zu erzählen und nicht, um im Alleingang einen Krieg gegen die ganze Welt zu beginnen.

Also, ich bin immer noch in der fünften oder sechsten Klasse, im Sportunterricht.

Beim Turnen darf ich vieles nicht. Sprünge könnten meine Wirbelsäule zu sehr belasten, Rad schlagen kann ich schlicht nicht, wobei ich nicht weiß, ob das an meinem Rücken liegt. Da ich aber auch mit Schleifen an Schuhen schon Probleme habe, wenn ich beide Arme gleichzeitig so nach vorn und unten halten muss, schließe ich es nicht aus. Und auf dem Schwebebalken habe ich nicht nur wegen meines gestörten Gleichgewichtssinns Probleme - wie soll man denn Gleichgewicht halten, wenn der Körper nicht halbwegs symmetrisch aufgebaut ist? -, sondern auch schlicht Höhenangst. Ja, auch schon bei diesen 20 Zentimetern, die man uns Zehnjährigen zutraut.

Und dann kommt Leichtathletik. Die Bundesjugendspiele. Ich vertrage die Bewegung im Sommer nicht, weil mein Asthma mit den hohen Ozonwerten nicht umgehen kann. Im schlimmsten Fall, kippe ich einfach um, breche ich einfach zusammen. Und ich muss trotzdem mitmachen. Das ist schon in Ordnung, das verstehe ich. Man wird nur fitter, wenn man überhaupt erstmal anfängt. Aber meine Leistung ist natürlich unterirdisch und seit die Teilnehmerurkunde in meiner zweiten Klasse abgeschafft wurde, kündigt nichts mehr davon, dass ich mich wenigstens bemüht habe. Keiner lobt mich dafür. Und es gibt leider auch keine Tabellen, mit der die Leistung von jemandem mit Asthma und nur einer halben Lunge in Relation zu der gesunder Kinder gesetzt wird.

Aber all diese Demütigung ist in Ordnung. Sie geht nur vom System aus. Niemand quält mich hier bewusst. Und Sport ist nun wirklich nicht wichtig. Ist jemals jemand nur wegen Sport sitzen geblieben? Ich denke nicht.

Also wäre es zu ertragen, wären da nicht die anderen Kinder.

Wir spielen einen Mannschaftssport. Handball, Fußball, Hockey, ich weiß es nicht mehr. Natürlich will mich keiner in der Mannschaft haben, sie lehnen sich sogar offen gegen den Lehrer auf.

“Die kann doch nichts. Wenn Sie uns die aufzwingen, verlieren wir doch gleich.”