Unter freiem Himmel - André Hoek - E-Book

Unter freiem Himmel E-Book

André Hoek

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Beschreibung

André Hoek hatte ein erfülltes Leben, war glücklich verheiratet und erfolgreich im Beruf. Als er plötzlich alles verliert, findet er sich nach Schicksalsschlägen und einer immer stärker werdenden Alkoholsucht obdach- und mittellos auf der Straße wieder. Sein Leben am Rand der Gesellschaft wird bestimmt von eisigen Temperaturen, permanenter Angst vor Übergriffen und der ständigen Frage, woher man die nächste Mahlzeit bekommt. Ein Schicksal, das er am Ende beinahe mit dem Leben bezahlen muss. Schonungslos ehrlich erzählt André Hoek von seiner Zeit auf den Straßen Berlins und wie er sich aus der Obdachlosigkeit zurück in die Gesellschaft gekämpft hat.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2022

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André Hoek

Unter freiem Himmel

André Hoek

Unter freiem Himmel

Wie ich obdachlos wurde und den Weg zurück ins Leben fand

riva

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Umschlaggestaltung: Amadeus Ewald Fronk

Umschlagabbildung: Cedric Soltani @ Studio Dropped.

Satz: Satzwerk Huber, Germering

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7423-2201-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1966-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1967-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Mama, der einzige Mensch auf der Welt, der immer bedingungslos zu mir gehalten hat

INHALT

Prolog

Wie alles begann

Es geht abwärts

Der Alkohol tritt in mein Leben

Plötzlich obdachlos

Die erste Nacht auf der Straße

Ausgrenzung von Obdachlosen

Die Polizei

Krankenhäuser und Ärzte

Wie ich wieder laufen lernte

Wenn man auf der Straße krank wird

Behörden

Unterwegs in Deutschland und Europa

Von Wolfsburg nach Paris

Die schlimme Zeit in Paris

Schlafen auf der Straße

Wie schnell man obdachlos werden kann

Tod und Sterben auf der Straße

Wie mir der Tod begegnete

Achtet auf hilflose Obdachlose

Räumungen und Vertreibungen

Der Kältebahnhof Lichtenberg

Wie spendet man richtig?

Die Armutsindustrie in Deutschland

Wovon leben Obdachlose?

Wie ich es schaffte, von der Straße wegzukommen

Der Entzug

Im Obdachlosenheim

Probleme über Probleme

Wie geht es mir heute?

Warum habe ich dieses Buch geschrieben?

Anmerkungen

Prolog

Vielleicht gehst du jetzt zum letzten Mal schlafen, war mein Gedanke, nachdem ich die Augen geschlossen hatte und ich bekam wirklich Angst. Für die kommende Nacht waren minus 20 Grad vorausgesagt, zumindest stand dies so auf den Anzeigetafeln im Inneren des Berliner Hauptbahnhofs. Als ich mit meinem Rollstuhl auf einer Aufwärmrunde durch den Hauptbahnhof fuhr, hatte ich dies gesehen. Der Anblick dieser einfachen Zahl jagte mir einen gehörigen Schrecken ein und ich brauchte ein paar Sekunden, um diese Nachricht zu verdauen.

Es war schon am Tag sehr kalt gewesen. Temperaturen so um die minus 10 bis 12 Grad. Doch durch den eisigen Wind, der durch Berlin wehte, lag die gefühlte Temperatur deutlich niedriger. Es war so kalt, dass ich auch als ziemlich hartgesottener Obdachloser nach maximal einer Stunde draußen ins Warme MUSSTE. Man hielt es nicht länger im Freien aus und dies obwohl ich sonst eigentlich den gesamten Tag im Freien war. Tag und Nacht. Mein Zuhause war ein Zelt unter einer Brücke an der Spree, gleich unterhalb des Bundestages.

Was machst du denn jetzt nur?, ging es mir durch den Kopf. Es war jetzt schon kaum auszuhalten und dann noch mal acht Grad tiefer?

Wenn auf der Straße die Temperatur von minus 5 auf minus 7 Grad fällt, ist dies sehr deutlich zu merken. Und dann stand da eben 20 Grad Minus ...

Ich war total erschüttert.

Im Geiste ging ich alle meine Möglichkeiten durch und mir blieb tatsächlich keine andere Wahl, als am Abend mit dem Rolli unter meine Brücke zu fahren und mich in meinem Zelt für die Nacht bereit zu machen.

Während ich meine Schlafsäcke sortierte und auch alles an Kleidung anzog, was ich besaß, kam mir plötzlich der Gedanke: Kann man das überhaupt schaffen? Minus 20 Grad in einem Zelt und in Schlafsäcken? Was ist, wenn du morgen früh nicht mehr aufwachst? Einfach im Schlaf erfroren?

Etwas ängstlich ging ich noch mal aus dem Zelt und befragte meine anderen obdachlosen Kollegen. Doch von denen konnte mir auch niemand helfen. Keiner von uns hatte jemals bei so grimmigen Temperaturen eine Nacht im Freien verbracht.

Also musste ich es eben einfach drauf ankommen lassen: unter akuter Lebensgefahr schlafen gehen. Das hatte ich in meinem Leben vorher noch nicht gehabt.

Wieder im Zelt kontrollierte ich abermals, ob nichts gegen die Zeltwand drückte, denn sonst wurde die Zelt-Innenwand plötzlich zur Außenwand und die Atemfeuchte kondensierte im Zeltinneren, was dazu führte, dass sich Wasser an der Oberseite des Zeltes bildete, welches einem in sehr kurzer Zeit alle Sachen durchnässen konnte. Und nasse Sachen, speziell die Schlafsäcke, können auf der Straße ganz schnell lebensgefährlich werden.

Also bedeckte ich mich mit allem, was ich besaß und dann kam der Moment, in dem ich mich fragte, ob dies vielleicht meine letzte Nacht auf Erden sei ... unter Lebensgefahr schlafen gehen ...

Meine obdachlosen Kollegen und ich hatten Glück. In dieser Nacht wurden es »nur« minus 15 Grad und wir standen alle am nächsten Morgen gesund, wenn auch total durchgefroren, wieder auf.

Diese Kälteperiode hielt etwa drei Wochen an. Jede Nacht deutlich unter minus 10 Grad kalt. Insgesamt war dies eine sehr anstrengende Zeit, denn Kälte kostet Kraft. Physisch, psychisch und auch emotional.

Der Körper muss den ganzen Tag heizen, um die Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Dieser Vorgang verbraucht große Mengen Energie, von der man als Obdachloser eh schon zu wenig hat. Hinzu kommt noch die psychische Komponente. Man ist dieser Kälte permanent ausgesetzt.

Menschen mit einer Wohnung sind nie lange im Kalten. Man steht mal eine halbe Stunde an einer Haltestelle, macht mal einen einstündigen Bummel durch die Fußgängerzone und wenn es richtig hart kommt, dann auch mal einen zweistündigen Winterspaziergang. Spätestens nach dem letzteren ist man total durchgefroren und will nun unbedingt wieder ins Warme.

Dieses absolute Bedürfnis nach Wärme und Schutz beachtet man als Obdachloser überhaupt nicht mehr. Es ist der Normalzustand. Manchmal sieht man Obdachlose bei eisiger Kälte scheinbar gemütlich ohne Handschuhe und nett plaudernd irgendwo sitzen.

Frieren die nicht?, habe ich mich immer gefragt, als ich noch keine eigenen Erfahrungen mit Obdachlosigkeit hatte.

Heute weiß ich es. Sie frieren. Sie lassen es sich bloß nicht anmerken. Was hätte es auch für einen Sinn, seinem Nachbarn die Ohren vollzujammern? Dem Kollegen ist genauso kalt wie einem selbst.

Und Kälte tut weh.

Mein Kollege Klaus, mit dem ich spezielle Obdachlosen-Stadtführungen mache, sagt immer »Kälte beißt«.

Kälte verursacht körperliche Schmerzen. Speziell die Hände, die Füße und das Gesicht sind bei großer Kälte in einem dauerhaften Schmerzzustand. Auch am Abend noch. Und morgen wieder. Und übermorgen ... nächste Woche ... nächsten Monat - und wenn es schlecht läuft, hat man diese Situation im nächsten Jahr noch mal ... Und man sieht keine Chance, dem zu entrinnen.

Und der Obdachlose friert noch immer, wenn Menschen mit einer Wohnung längst wieder irgendwo im Warmen sind und die eben noch unerträglich scheinende Kälte, nur noch ein flüchtiger Gedanke ist.

Und in jedem Winter sterben obdachlose Menschen an den Folgen der Kälte.

Einige erfrieren, andere wiederum sterben an den indirekten Folgen der Kälte. An allgemeiner Entkräftung oder an Krankheiten, die durch diese Dauerbelastung häufig ausgelöst werden können.

Das Schlimme daran ist, dass man sich scheinbar an den Anblick von Obdachlosen auf der Straße gewöhnt hat. Obdachlose sind wie die Stadttauben.

Jeder sieht sie, doch kaum jemand nimmt sie wirklich wahr. Und wenn mal eine fehlt ... was ist schon eine Taube ... Obdachlose sterben eben hin und wieder und erfrieren auch gelegentlich. So ist das eben.

Tatsächlich sterben jedoch Menschen. Menschen, die vorher in der Regel ein ganz normales Leben geführt haben und die in den allermeisten Fällen nur durch ungewöhnlich viel Pech und Unglück in diese Situation geraten sind.

Menschen mit Familien, Träumen und Hoffnungen. Menschen wie Du und ich. Und glaubt mir, jeder und wirklich jeder, kann in diese schreckliche Lebenssituation geraten.

Auch ich habe wirklich schlimme Dinge auf der Straße erlebt. Ich wurde in der Nacht überfallen und habe bleibende körperliche Schäden davongetragen.

Ich bin für drei Wochen ins Koma gefallen und konnte danach nicht mehr laufen und musste neun Monate im Rollstuhl sitzen und wurde von den Ärzten mehrfach ins Leben zurückgeholt.

Einmal habe ich den Sterbevorgang sogar ganz bewusst erlebt. Ich bin also einer der wenigen Menschen, die wissen, wie es ist zu sterben.

Wie ihr sehen werdet, hatte ich ein ganz normales, ja sogar sehr gutes Leben, doch als sich unglückliche Umstände im Leben an einem Punkt summiert hatten, wurde ich völlig aus der Bahn geworfen. Und glaubt mir. Es kann wirklich jeden treffen.

Wie alles begann

Vor der Obdachlosigkeit hatte ich ein sehr gutes Leben. Ich lebte zu dieser Zeit seit über sechs, fast sieben Jahren auf der Sonneninsel Gran Canaria, hatte ein großes Haus gemietet und verdiente mein Geld als Freelancer im Bereich Webdesign, Grafikdesign und zudem schrieb ich noch Texte für große Webseiten. Ich wurde nicht reich dabei, doch es reichte für ein gutes Leben. Ich war dort sehr glücklich und hatte vor, auf dieser Insel alt zu werden.

Die Canarios sind ruhige, sehr freundliche und entspannte Menschen. Auch das Leben dort war viel ruhiger, als ich es aus Deutschland kannte. Wenn man zum Beispiel sein Auto in eine Werkstatt brachte und fragte, wann man es wieder abholen kann, kam als Antwort fast immer ein »Mañana« also »Morgen«. In meiner ersten Zeit auf der Insel, als ich die dortigen Gepflogenheiten noch nicht kannte, ging ich tatsächlich am nächsten Tag los, um mein repariertes Auto abzuholen und blickte in völlig verständnislose Gesichter. Man hätte überhaupt noch nicht angefangen und der ganze Hof stehe voller Autos. Ob ich das denn nicht sehen könne. Auf meinen vorsichtigen Protest, dass man doch gesagt hätte, ich solle heute wiederkommen, erntete ich lautes Gelächter und man bedeutete mir, jetzt doch bitte wieder zu gehen.

Als ich dies später einem Bekannten erzählte, der schon sehr lange dort lebte, begann der auch zu lachen und klärte mich auf. Wenn Canarios »Mañana« sagen, dann sollte man dies auf keinen Fall wörtlich verstehen. »Mañana« bedeutet ungefähr so viel wie: »Komm nächste Woche mal fragen, ob wir schon angefangen haben.« Also bald, aber nicht all zu lange. Das muss man erstmal wissen.

Auch wenn man sich mit Canarios zum Beispiel um 12 Uhr verabredet, ist es klug, erst um 12.30 Uhr loszugehen und auch dann wartet man in der Regel eine weitere halbe Stunde, bis die Verabredung endlich kommt. Zu Beginn begehrte meine deutsche Seele, die an Pünktlichkeit gewohnt war, massiv auf, doch dann merkte ich, dass diese Art zu leben auch etwas Gutes hat. Alles ist viel entspannter, man hat viel weniger Stress, da einem selbst leichte Verspätungen ebenfalls nachgesehen werden.

Ich hatte meine Kunden in der DACH-Region, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz, jedoch überwiegend in Deutschland. Und wenn ich arbeitete, hatte ich den typisch deutschen Arbeitsstress. Aber wenn ich am Abend durch meine Haustür ging, war ich in einer anderen Welt. Zudem befand sich mein gesamtes, soziales Umfeld dort, und die Insel war meine neue Heimat geworden.

In meiner Freizeit trieb ich viel Sport. Auf meiner Dachterrasse hingen zwei Boxsäcke und ich hatte dort ein komplettes Set mit Hanteln liegen. Ich bin jedoch überwiegend Rad gefahren.

Gran Canaria ist eigentlich ein erloschener Vulkan. Genau in der Mitte der Insel befindet sich der ehemalige Vulkankegel in etwa 2000 Metern Höhe. Diesen Berg fuhr ich fast jeden Abend mit dem Fahrrad hoch. Wir wohnten etwa auf 300 Metern Höhe, somit hatte ich also immer etwa 1700 Höhenmeter auf 25 Kilometer Strecke in den Beinen. Und ich liebte dies über alles.

Bedingt durch die verschiedenen Höhenlagen durchquerte ich viele verschiedene Klimazonen. Unten am Start war alles wüstenartig und nur Kakteen und einige, kleine Drachenbäumchen fristeten dort ihr karges Leben. Dann folgte eine Zone mit Palmen und etwas später Eukalyptusbäumen, noch etwas höher mit Mandelbäumen und schließlich durchfuhr ich eine Zone, in der im Herbst an den Bäumen die Blätter bunt wurden und abfielen. Noch weiter oben gab es Nadelwald, der in eine Zone mit Krüppelkiefern überging. Ganz oben fand man nur noch wenige höhere Pflanzen, sondern fast nur noch Moos und Flechten.

Im Winter, wenn die Wolken tief hingen, durchbrach ich regelmäßig die Wolkendecke. Unten am Berg war der Himmel grau, dann kam ein Bereich, den ich als etwas neblig empfand und plötzlich war ich im strahlenden Sonnenschein über den Wolken. Ein Anblick, den man sonst nur aus dem Flugzeug bekommt. Wenn man dann noch zu verschiedenen Tageszeiten fährt, hat man, durch den unterschiedlichen Sonnenstand, anderes Licht und entdeckt permanent neue Dinge. Zum Beispiel Höhlen ganz oben im Berg, die man noch nie vorher gesehen hatte.

Auf Gran Canaria weht ganzjährig der Nord-Ost-Passat, ein ziemlich kräftiger Wind. Ich mochte es sehr, gegen den Berg, der mit jedem Kilometer steiler wurde und dem Wind zu kämpfen. Jeden Tag versuchte ich, eine neue Bestzeit zu fahren und freute mich, wenn es mir gelungen war, dem Berg wieder zehn Sekunden abzutrotzen. Für mich war das der perfekte Ausgleich zu meinem stressigen Job am Computer und ich sehne mich noch heute in die Berge der Sonneninsel zurück.

Am Abend gingen wir gern in verschiedene Bars, die, ganz anders als in Deutschland, als soziale Treffpunkte fungierten. Man bestellte sich irgendein Getränk und saß dann damit zwei oder drei Stunden und unterhielt sich mit den Nachbarn. Am Wochenende passierte es regelmäßig, dass man die Tische zusammenschob, und jeder bestellte etwas zu Essen, welches einfach in die Mitte gestellt wurde - und dann saß man zusammen, aß und trank gemeinsam, unterhielt sich miteinander und manchmal brachte auch jemand eine Gitarre mit und sang traditionelle kanarische Lieder.

Unser Lieblingsbar war »Der Park«. Gegenüber der Bibliothek und direkt vor dem Museum gab es einen kleinen Imbiss-Kiosk, der auch Stühle und Tische aufgestellt hatte. Man saß dort unter Palmen und riesigen Ficus-Bäumen im kühlen Schatten und es war einfach toll dort.

Mit meiner Frau führte ich eine, nach meinem Dafürhalten, gute Ehe. Wir waren inzwischen seit zehn Jahren verheiratet und ich liebte R. unendlich. Sie war richtig zu einem Teil meiner selbst geworden.

Wir verbrachten praktisch unser gesamtes Leben gemeinsam. Am Tag arbeiteten wir von zu Hause aus. Jeder hatte zwar sein eigenes Büro, doch ich brauchte nur mit meinem Stuhl ein wenig nach rechts zu rutschen und ich konnte meine Frau sehen. Wir gingen gemeinsam einkaufen und verbrachten auch unsere komplette Freizeit miteinander. Außer wenn ich beim Sport war, dafür konnte ich R. nie begeistern. Wir waren praktisch eine richtige Einheit.

Bis meine Frau sich an einem Sonntagvormittag zu mir auf das Sofa setzte und mir ohne große Vorankündigung folgenden Satz an den Kopf warf: »Ich verlasse dich.«

Ich konnte erst überhaupt nicht begreifen, was sie da eben gesagt hatte. Es fühlte sich so an, als würde mir blitzartig der Boden unter den Füßen weggezogen und mir dabei gleichzeitig ins Gesicht und in den Magen geschlagen. Mir war richtig schwindelig in diesem Moment.

Ich fragte völlig fassungslos »Was?« und musste erst mal aufstehen und ein paar Schritte gehen. Irgendwie landete ich im Badezimmer, wo ich mir erst mal kaltes Wasser ins Gesicht klatschte und ging dann ins Wohnzimmer zurück.

Es war der Tag, an dem meine Welt plötzlich still stand und es sollte eine sehr lange Zeit vergehen, bis sie sich wieder drehte.

Ich lief durch den Ort, ging einkaufen oder saß im Park und alles sah wie immer aus, doch für mich war einfach alles anders. Ich fühlte mich, als wenn ich das Leben wie einen Film anschaute, ich aber nicht mehr beteiligt war.

Auf meine Frage, warum sie gehen wollte, erhielt ich bis heute nur eine einzige Antwort: »Es fühlt sich nicht mehr richtig an.«

Das war alles. Ich konnte das nicht begreifen und sagte das auch, doch entweder wich sie aus oder antwortete überhaupt nicht.

Ich war völlig verzweifelt. Ich liebte sie von ganzem Herzen und nun wollte sie einfach weg von mir? Ich verstand das alles nicht. Doch was sollte ich tun? Sie wollte nicht mehr bei mir sein und ich konnte sie ja schließlich nicht zwingen.

Also machte ich gute Miene zu dem bösen Spiel und blieb ruhig. Auch in der Hoffnung, es noch irgendwie klären zu können. Doch am Ende half alles nichts.

Am Abend gingen wir wie immer gemeinsam schlafen und mir kam der Gedanke, dass dies die letzte Nacht mit meiner Frau sei. Mir brach wirklich das Herz.

Also versuchte ich, mich abzulenken und setzte mich an den Computer, um zu arbeiten, doch ich konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. Dann kam ich auf die Idee, mit dem Fahrrad den Berg hochzufahren, doch nach etwa 20 Minuten drehte ich um, weil mir die Kraft ausging.

Die nächsten Tage und Wochen waren wirklich die Hölle und irgendwie habe ich nur noch ganz rudimentäre Erinnerungen daran. Wenn ich an diese Zeit denke, tauchen immer nur einzelne Bilder und besondere Ereignisse auf. Der Rest ist weg.

Ich weiß noch, dass ich unter erheblichen Schlafproblemen litt. Ich bin ganze Nächte durch den menschenleeren Ort gelaufen, in der Hoffnung, davon müde zu werden und schlafen zu können. Doch auch das half nichts.

Trotz allem versuchte ich, mich meiner Frau weiterhin wieder anzunähern. Ich hoffte, das sie einsah, einen Fehler gemacht zu haben und wieder zurückkommen würde.

In den ersten Wochen kam sie noch gelegentlich auf einen Kaffee vorbei und ich versuchte weiter sie zurückzugewinnen. Doch erfolglos.

Es geht abwärts

Meine Schlafstörungen wurden immer schlimmer, bis ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht mehr oder immer nur wenige Minuten zu schlafen und es ging mir auch psychisch immer schlechter. Also ließ ich mir vom Arzt Schlaftabletten verschreiben, die aber auch nur sehr begrenzt halfen.

Ich begann, mich in den Sport zu flüchten. Ich wusste aus Erfahrung, dass meine abendlichen Fahrradtouren in die Berge mir halfen, den Arbeitsstress loszuwerden. Also vielleicht würde das ja auch jetzt helfen. Ich begann jeden Tag, richtig exzessiv Sport zu treiben. Mein Radtraining hatte ich ja nie aufgegeben, jetzt machte ich vor- oder nachher noch eine Stunde Sandsacktraining, stemmte meine Hanteln oder ging schwimmen. Zusätzlich begann ich auch noch mit Lauftraining. Was vorher eben Entspannung und Abbau von Stress gewesen war, wurde jetzt zur Obsession. Ich hörte wirklich erst dann auf zu trainieren, wenn ich in einem Zustand der totalen körperlichen Erschöpfung war. Und manchmal machte ich dann nur eine Stunde Pause und trainierte dann noch mal ein wenig.

Es half zwar, aber nur sehr wenig. Ich schlief immer noch schlecht, doch die paar Stunden Schlaf waren ein Segen, weil ich nichts fühlte.

Emotionale Schmerzen können körperlich werden. Mir ging es teilweise so schlecht, dass ich mich richtig zusammengekrümmt habe. Irgendwann konnte ich das einfach nicht mehr ertragen und beschloss, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich war verzweifelt und vom Schmerz zerfressen.

Aber dann stellten sich da ein paar ganz praktische Fragen: Zum einen, wie ich das machen soll und dann noch, was mit meiner Hündin Amber und unserer Katze Renfield geschehen soll, die meine Frau zwar angeschafft, mir aber dann überlassen hatte. Doch dafür war schnell eine Lösung gefunden.

Das Wie hatte ich schnell gelöst. Ich bekam ja sowieso schon Schlafmedikamente vom Arzt. Ich ging dort noch mal hin und bat um ein neues Rezept und hatte somit eine größere Menge Schlaftabletten im Haus.

Ich verbrachte einen furchtbaren Tag, schließlich sollte es ja der letzte in meinem Leben sein. Ich lief durch den Ort nahm Abschied auch von Menschen, die mir begegneten, allerdings ohne etwas Genaues zu erzählen.

Am Abend setzte ich mich an meinen Schreibtisch, drückte alle Schlaftabletten aus dem Blister und nahm dann ganz ruhig eine nach der anderen ein. Es fiel mir erstaunlich leicht. Als ich nach einer halben Stunde müde wurde, legte ich mich ins Bett und schlief auch gleich ein.

Das hätte es gewesen sein können ...

... doch wurde ich am nächsten Tag gegen Mittag wieder wach. Es hatte also nicht funktioniert.

Meinen Plan zu sterben hatte ich allerdings noch immer nicht abgehakt. Ich ging noch mal zum Arzt, erklärte, dass die Schlaftabletten nicht wirken und bat um etwas Stärkeres. Was auch ohne Probleme funktionierte.

Am Abend wieder das gleiche Prozedere. Ich nahm alle Tabletten - und wieder wurde ich am nächsten Tag wach. Ich dachte mir, das könne ja wohl nicht wahr sein! Und noch im Bett beschloss ich, es nochmals zu versuchen. Diesmal wollte ich es aber richtig machen.

Das schreibt sich jetzt so leicht, doch in mir tobte ein schlimmer Krieg. Einerseits bin ich Christ und Selbstmord ist mir total verboten, doch meine Hoffnung war, dass Gottes Gnade groß genug wäre, um mir auch diese Sünde zu vergeben. Doch ich wusste es eben nicht. Und es ist auch keine leichte Sache, sein Leben selbst zu beenden. Es stürmten Tausende Gedanken auf mich ein. Was, wenn es doch noch eine andere Lösung gibt, die ich nur nicht sehen konnte. Auch meine Angehörigen, im Besonderen meine Mutter, taten mir unendlich leid. Ich wusste, dies würde ein schwerer Schlag für sie sein. Aber es ging mir so schlecht, dass ich es im wahren Sinn des Wortes nicht mehr ertragen konnte. Dieser Aspekt überwog am Ende.

Ich ging nochmals zum Arzt, ließ mir noch mal stärkere Tabletten verschreiben, kaufte in der Apotheke Diazepam, was in Spanien frei verkäuflich ist und holte mir in unserem Dorf-Supermarkt eine Flasche Rum.

Am Abend setzte ich mich abermals an den Schreibtisch und holte die Tabletten aus ihren Verpackungen. Es war richtig ein kleines Häufchen. Dann machte ich auf Youtube eine Playlist mit meinen Lieblingsliedern an, begann die Tabletten zu schlucken und spülte diese mit dem Rum herunter. Als ich müde wurde, ging ich ins Bett.

Während ich bei den vorhergehenden Suizid-Versuchen einfach traumlos da lag, wurde es diesmal richtig unangenehm. Ich sah den Film, der am Ende des Lebens läuft. Und dachte noch erstaunt, dass es diesen ja augenscheinlich wirklich gibt. Vorher hatte ich an solchen Berichten immer gezweifelt. Allerdings war das überhaupt nicht angenehm. Man denkt im Allgemeinen, dass man hier die großen Momente des Lebens sieht. Also zum Beispiel die Einschulung oder die Hochzeit oder andere Augenblicke ähnlicher Natur. Ich sah fast nur völlig belanglose Dinge.

Ich erinnerte mich an mein Kinderfahrrad, die Hollywoodschaukel bei uns im Garten, mein erstes Plüschtier und andere Banalitäten. Und ich sah Gesichter von Menschen, die ich kannte. Sehr viele Gesichter.

Was das Ganze so unangenehm machte, war, dass die Bilder in rasender Abfolge kamen. Ich konnte zwar merkwürdigerweise alles sehr genau wahrnehmen und es waren auch bewegte Bilder, zum Beispiel ein pickendes Huhn auf dem Bauernhof meiner Kindheit, doch gefühlt sah ich jede Sekunde etwas Neues. Und es hörte nicht auf. Ich war total reizüberflutet, und es nahm einfach kein Ende.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich am nächsten Nachmittag wieder aufwachte. Ich war total benommen und stand völlig neben mir. Erst nach und nach fiel mir ein, was vorgefallen war. Und irgendwie konnte ich es nicht fassen. Was? Ich bin schon wieder wach? Das kann ja wohl nicht wahr sein.

Als ich Jahre später einer Ärztin von diesem Erlebnis berichtete und ihr erzählte, was ich alles genommen habe, sagte sie, dass die Medikamenten- und Alkoholdosis normalerweise reichen würde, um ein Pferd ins Jenseits zu befördern.

Ein Gutes hatten die Ereignisse allerdings.

Im Laufe des Abends durchdachte ich noch mal das Geschehene der vorhergehenden Tage und da wurde mir eines klar. Gott wollte nicht, dass ich sterbe. Eine andere Erklärung gab es für mich nicht. Ich meine, wie ist das sonst zu erklären? Also akzeptierte ich dies und nahm zur Kenntnis, dass ich auf irgendeinem anderen Weg aus dieser Situation heraus musste. Nur wie, das war mir nicht klar.

In den folgenden Wochen begann meine ehemalige Frau einen großangelegten Krieg gegen mich auf sehr vielen Fronten. Einfach so. Aus dem Nichts.

An einem Abend klingelte es bei mir und ich dachte zuerst, dass es irgendein Nachbar sei, der nach Milch oder Ähnlichem fragen wollte. Doch es war die Guardia Civil.

Ich solle mich anziehen und mitkommen. Warum, wollte man mir später erklären. Da ich mir keiner Schuld bewusst war, ging ich mit und dachte, dass dies sicher nur ein Missverständnis sein kann und sich alles sehr leicht aufklären ließe. Erst als ich, noch immer ohne Erklärung, auf der Polizeiwache in einer Zelle saß, wurde mir ein wenig mulmig.

Am nächsten Morgen wurde ich in ein Auto geladen, mit Handschellen gefesselt und zum Gericht nach Telde gefahren. Auch hier wusste ich noch immer nicht, was los war. Ich wurde in eine völlig verdreckte Zelle in den Keller gesperrt und blieb dort einige Stunden allein. Es war wie in schlechten amerikanischen Filmen. Ein karger Raum, mit einer Bank aus Beton und die vordere Wand bestand aus Gittern.

Plötzlich standen zwei Frauen vor der Tür. Die eine entpuppte sich als Dolmetscherin und die andere stellte sich als meine Pflichtverteidigerin vor. Endlich erfuhr ich, was hier vor sich ging.

Meine Anwältin hielt mir vor, ich hätte meine Ex-Frau bedroht und ihr nachgestellt. Dieser Vorwurf ist in Spanien sehr schwerwiegend. Vor vielen Jahren wurden sehr viele Frauen in einer kurzen Zeit von ihren Ex-Partnern getötet. Um die Frauen in Zukunft vor solch schlimmen Taten zu schützen, wurde ein neues, sehr strenges Gesetz erlassen. Dies sah bereits bei Bedrohungen Haftstrafen von bis zu zwei Jahren vor.

Was ursprünglich sehr gut ausgedacht war, lief in der Praxis sehr schnell aus dem Ruder. Wenn eine Frau sich an einem Mann rächen wollte, für was auch immer, zeigte sie diesen bei der Polizei wegen Bedrohung oder gar Tätlichkeiten an und die Männer gingen ins Gefängnis. Die Frau hatte einfach immer automatisch recht. In einigen Fällen selbst dann, wenn die Männer ein Alibi hatten. Später erfuhr ich im Dorf, dass viele jemanden kannten, der unschuldig für lange Zeit in Haft saß wegen genau solcher Falschbehauptungen.

Ich bestritt das natürlich gegenüber der Anwältin, doch diese sprach von Beweisen, die ich natürlich gern sehen wollte. Sie zeigte mir ein ausgedrucktes Textdokument, auf dem ein Text zu lesen war, den ich zwar geschrieben hatte, allerdings in mindestens 15 verschiedenen E-Mails. Meine Ex und ihr Neuer hatten einfach Sätze aus verschiedenen E-Mails zusammenkopiert und so wie sich das dort las, wirkte es tatsächlich bedrohlich. Ich versuchte, den Sachverhalt zu erklären und bat darum, dass man mich an einen Computer lässt und dass ich dort ganz einfach beweisen könnte, wie es in Wirklichkeit ist. Doch dies wurde mir verweigert.

Und als ich meine Anwältin fragte was ich denn nun machen könne, sagte sie mir, dass ich bei der gleich folgenden Verhandlung alles zugeben solle, sonst würde ich noch heute ins Gefängnis gehen. In mir begehrte alles auf. Ich gebe doch nichts zu, das ich nicht gemachte habe, war meine Antwort. Sie wiederholte daraufhin, dass ich dann heute für sehr lange eingesperrt werden würde und an ihrem Gesichtsausdruck sah ich, dass es ernst war. Äußerst widerwillig stimmte ich dem Ganzen zu, denn kanarischer Knast war keine leichte Sache. Ich kannte jemanden, der als völlig gebrochener Mensch von dort zurückgekehrt war. Auch war immer wieder von schlimmen Vergewaltigungen dort zu hören.

Die Verhandlung war eine Farce.

Meine Ex-Frau vertrat vehement ihren Standpunkt. Hätte ich nicht gewusst, dass alles nur gespielt war, hätte sie auch mir leid getan. Die Richterin stellte mir ein paar Fragen, die ich, wie von meiner Anwältin geraten, alle mit Ja beantwortete. Ich bekam dann als Strafe zwei Tage Hausarrest aufgebrummt. Und dann war alles vorbei.

Als wir später noch bei der Gerichtsschreiberin saßen, sagte mir die Dolmetscherin, dass ich großes Glück gehabt hätte. In der Verhandlung vor mir sei ein Mann wegen ähnlicher Vorwürfe zu zwei Jahren verurteilt worden. Ich war total fassungslos und ließ alles einfach nur geschehen.

Dann verließ ich das Gerichtsgebäude und hatte keine Idee, wie ich den Bus nach Hause bezahlen sollte. Als die Polizei mich mitnahm, hatte ich mir kein Geld eingesteckt. Ich bat dann den Busfahrer, mich mitzunehmen und das ich am nächsten Tag bezahlen kommen würde. Zum Glück ließ er sich darauf ein.

Als ich wieder daheim war, saß ich völlig verzweifelt in meinem Wohnzimmer und überlegte, ob ich das alles eventuell nur geträumt hatte. Es kam mir total unwirklich vor.

Das Ganze hat meine Ex-Frau dann insgesamt viermal abgezogen. Beim zweiten Mal wurde mir ein Annäherungsverbot ausgesprochen, das auch beinhaltete, dass ich Orte nicht aufsuchen durfte, an denen meine Frau gewöhnlich verkehrt. Selbst dann, wenn sie sich NICHT dort aufhielt.

Für mich war das der Ausschluss vom sozialen Leben, das sich auf Gran Canaria überwiegend in den Bars abspielt. Der Ort war nicht sehr groß und sie war Gast in allen Bars. Ich konnte also nirgendwo mehr hin.

Der kürzeste Weg zum Supermarkt führte an dem Haus des neuen Mannes vorbei und ich musste jetzt um den halben Ort herumlaufen, um nicht gegen das Annäherungsverbot zu verstoßen, wenn ich einkaufen wollte.

Auch den Müll musste ich zu einer anderen Müllstation bringen, die fast einen halben Kilometer entfernt war, da die übliche zu dicht an dem Haus stand, in dem meine Frau jetzt lebte.

Das nachfolgende halbe Jahr nutzte meine Frau außerdem, um diverse Unwahrheiten über mich zu verbreiten. Als Betroffener erfährt man natürlich als allerletzter davon. Ich merkte nur, dass mir die Nachbarn nach und nach aus dem Weg gingen.

Auf Gran Canaria ist es üblich und höflich, dass wenn man Bekannte auf der Straße trifft, man kurz stehen bleibt und ein bisschen Smalltalk macht. So kann es passieren, dass man für den Weg zum Supermarkt plötzlich 30 Minuten braucht.

Doch irgendwie hatte plötzlich niemand mehr Zeit. Die Menschen wechselten die Straßenseite und später kam es zu offenen Feindseligkeiten. Ich wurde angeschrien und als das Annäherungsverbot aufgehoben war in vielen Bars nicht mehr bedient und in einer sogar mal zusammengeschlagen. Völlig ohne Grund. Ich hatte nur ein Bier bestellt.

Auch meine deutschen Bekannten waren plötzlich nicht mehr für mich da.

Irgendwann war ich ganz allein.

Ich begriff das gar nicht und erst viel später erzählte mir ein Bekannter aus dem Dorf, was dort über mich erzählt wird. Ich konnte es nicht glauben.

Doch die Probleme steigerten sich und nahmen immer größere Ausmaße an.

Es begann damit, dass beim Geldabheben am Automaten plötzlich ein großes, rotes Banner aufleuchtete, welches mich aufforderte, sofort den Kontakt mit meinem Kundenberater zu suchen. Als ich dies tat, wurde mir gesagt, dass R. das Konto gekündigt hatte. Ja klar, wir hatten es zwar jahrelang gemeinsam benutzt, aber es lief auf ihren Namen.

Das hatte für mich zur Folge, dass die Gelder meiner Kunden plötzlich im Nirvana landeten. Das gab riesigen Ärger und ich musste alle betreffenden Kunden anschreiben und darum bitten, das Geld noch mal auf ein anderes Konto zu überweisen. Das ist bei kleineren Firmen relativ einfach möglich. Doch ich hatte große Kunden, die keinerlei Fehler zuließen. Einen dieser großen Kunden verlor ich bei dieser Aktion.

Dann ging ich eines Morgens an den Schreibtisch, und das Internet funktionierte nicht. Da ich ohne Internetzugang nicht arbeiten und somit auch kein Geld verdienen konnte, kam dies einer mittleren Katastrophe gleich. Ich versuchte dann, bei der Telefongesellschaft anzurufen und auch das Telefon ging nicht. Da begann ich schon etwas zu ahnen. Der nächste Anruf war mit dem Handy und dann sagte die erstaunte Mitarbeiterin, dass der Anschluss doch gekündigt worden sei und überhaupt nicht funktionieren kann.

Da R. den Anschluss bei unserem letzten Umzug angemeldet hatte, hatte sie einfach eine Kündigung geschrieben, wohl wissend, dass sie mir damit meine Arbeitsgrundlage nimmt. Und es geschahen noch viele Dinge mehr in dieser Art und Weise ...

Ich erzähle dies alles, um verständlich zu machen, unter welcher Belastung ich damals gestanden habe. Bei meinen Vorträgen führe ich dieses Thema nie aus, weil die Zeit zu knapp ist, um alles Wichtige zu erzählen und berichte immer nur davon, dass mich meine Frau verließ und ich damit nicht klarkam.

Doch neben den eben beschriebenen Sachverhalten ereignete sich tatsächlich noch viel mehr und ich wage zu behaupten, dass unter diesen Umständen jeder resigniert aufgegeben hätte. Sehr viele wahrscheinlich schon viel früher als ich.

Das Verhältnis zu meiner Ex-Frau hat sich nie wieder gebessert und wenn gelegentlich mal ein Kontakt per Mail zustande kam, sprühte sie Gift und Galle und schleuderte mir abgrundtiefen Hass entgegen. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie ein Mensch sich in wenigen Tagen so drastisch verändern kann. Zwei Wochen vor der Trennung hatten wir unseren zehnten Hochzeitstag. Da kam sie noch zu mir, nahm mich in den Arm und erklärte mir, wie sehr sie mich liebt. Und plötzlich war ich ihr Erzfeind. Im Jahr 2019 leitete sie die Scheidung ein und im Gericht konnte sie mir nicht ein einziges Mal in die Augen sehen.

Ich kann das absolut nicht verstehen und es mir erklären, doch ich muss es akzeptieren. Auch wenn dies heute noch manchmal schwer fällt.

Der Alkohol tritt in mein Leben

An einem Abend lud mich einer meiner wenigen noch übrig gebliebenen Bekannten in eine Bar ein, wo ich überhaupt noch bedient wurde. Wir saßen dort eine Weile und als mein Bekannter von der Toilette zurückkam, stellte er zwei Gläser Rum auf den Tisch. Der wird auf den Kanaren in Wassergläsern ausgeschenkt, die zu etwa einem Viertel gefüllt sind.

Erst lehnte ich ab, doch da er immer wieder bat und ich auch nicht unhöflich sein wollte, trank ich dieses Glas mit ihm und merkte nach etwa 15 Minuten, dass dieser entsetzliche emotionale Schmerz, der mich seit Monaten wirklich gequält hatte, weg war. Mit dem exzessiven Sport, den ich noch immer betrieb, konnte ich diesen Schmerz zwar leicht abmildern, doch er war immer da.

Und jetzt plötzlich war er weg.

Das fühlte sich sooo gut an. Endlich mal wieder ein wenig Leichtigkeit im Leben spüren, auch wenn diese sich sehr dumpf anfühlte. Doch verglichen mit dem, was in den letzten Monaten in meiner Seele getobt hatte, war dies ungemein erleichternd.

Dieser Moment war ein Schlüsselmoment in meinem Leben. Ab diesem Tag begann ich, mich mit Alkohol zu betäuben. Immer wenn es mir schlecht ging, trank ich. Und da es mir sehr schlecht ging, trank ich vergleichsweise schnell sehr viel.

Ab diesem Punkt ging es bergab mit mir. In den ersten Wochen gab es Alkohol immer erst nach getaner Arbeit. Dieser Zeitpunkt schob sich immer mehr nach vorn. Und schon nach etwa drei Monaten stand am Morgen statt einem Kaffee ein Glas mit Wodka oder Rum auf dem Schreibtisch. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits süchtig geworden und brauchte den Alkohol, sonst litt ich unter Entzugserscheinungen. Zwar bei Weitem noch nicht so schlimm wie später auf der Straße, doch trotzdem sehr unangenehm.

Und wenn man so viel Alkohol trinkt, verändert man sich. Ich selbst habe das kaum bemerkt, wunderte mich jedoch über die Reaktionen aus meinem Umfeld und brachte das erst sehr viel später mit dem Alkohol in Verbindung.

Meine Kunden saßen zu dieser Zeit überwiegend in Deutschland. Es waren sehr große Internet-Agenturen dabei, aber auch kleinere Webmaster. Über die Jahre hatte es sich etabliert, dass ich die meisten Kundenkontakte per Mail abwickelte, aber ich musste auch viel telefonieren. Und meine Kunden merkten natürlich am Telefon, dass etwas mit mir nicht stimmte, obwohl ich dachte, dass alles wie immer sei. Die Folge war, dass nach und nach immer weniger Aufträge bei mir eingingen und manche Kunden die Zusammenarbeit beendeten. Die Allermeisten taten dies einfach stillschweigend, indem einfach keine Aufträge mehr erteilt wurden.

Und auch meine Arbeit litt. Ich war dafür bekannt, immer nur Premium-Qualität zu liefern, etwas anderes verließ meinen Schreibtisch nicht. Viele Kunden reklamierten und ich musste nacharbeiten. Das war etwas, das vorher nur äußerst selten passiert war.

Und auch meine Arbeitsleistung ließ nach. Ich war es gewohnt, täglich etwa zwölf Stunden am PC zu sitzen und in dieser Zeit wurde wirklich konzentriert gearbeitet. Unter Alkohol funktionierte das natürlich auch nicht und ich hielt des Öfteren meine Deadlines nicht ein, was bei großen Kunden immer einer mittleren Katastrophe gleichkam.

Nach und nach verlor ich einen Kunden nach dem anderen - und dann kam irgendwann der Tag, an dem ich den Laptop am Morgen überhaupt nicht mehr aufklappte, sondern gleich in eine Bar ging oder es mir mit einer Flasche Rum auf der Dachterrasse bequem machte.

Ich versuchte, mir die Situation selbst schönzureden, indem ich mir die ganze Geschichte als »Urlaub« oder »kurze Auszeit« deklarierte, doch in meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass dem nicht so war. Aber das wollte ich mir nicht eingestehen.

Irgendwann fängst du schon wieder an und es geht weiter, versuchte ich, mir einzureden - doch dieser Tag kam nie.

Ja und dann kam der Tag, als mein Geld zu Ende war. Auf dem Konto waren noch knapp 1.000 Euro und ich hatte die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder alle meine Rechnungen wie Miete, Strom, Internet etc. zu bezahlen und dann bis auf eine kleine Summe pleite zu sein oder zurück zu gehen nach Deutschland und zu versuchen, mich dort mithilfe des dortigen Sozialsystems neu zu etablieren.

Ich versuchte zwar noch, das spanische Sozialsystem in Anspruch zu nehmen, doch dort wimmelte man mich ab. Ich bekam wegen meiner immensen Proteste einen Gutschein für die Caritas im Wert von 70 Euro, der für zwei Wochen reichen sollte. Ich holte mir dort auch einmal Lebensmittel, doch die Hälfte davon war bereits verdorben. Als ich mir deswegen eine schlimme Fischvergiftung mit Lähmungserscheinungen und akuter Atemnot geholt hatte, hatte ich auch keine große Lust mehr auf diese Option. Zudem hatte man mir beim Agente Social (Sozialamt) auch gesagt, dass ich nicht noch mal fragen kommen brauche. Man würde mir nicht mehr helfen.

Schweren Herzens entschloss ich mich für die Option Deutschland.

Die Entscheidung fiel mir unglaublich schwer. Gran Canaria war meine neue Heimat geworden und mit Deutschland verband mich nicht mehr viel. Und ich war ja auch mit den zwei Jahren in Schweden zehn Jahre nicht mehr dort gewesen.

Ich ließ praktisch alles zurück und packte mir nur einen Rucksack mit allem was man so mitnimmt, wenn man sein Leben verlässt. Also wichtige Papiere, Erinnerungsstücke und ähnliche Sachen. Als ich am Flughafen, praktisch vom letzten Geld, dass mir von den 1000 Euro noch übrig geblieben war, das Ticket kaufte, bat mich die Angestellte, ein paar Schritte zur Seite zu gehen und dort zu warten. Nach einigen Minuten erschien der Pilot und eine Flugbegleiterin meines Fluges und ermahnten mich sehr eindringlich, dass wenn ich unterwegs irgendetwas machen sollte, dass die Flugsicherheit beeinträchtigen könnte, man die Maschine auf meine Kosten sofort zwischenlanden würde. Erst begriff ich nicht, warum sie dies taten, doch dann wurde es mir klar. Ich war so aufgewühlt, dass man es mir ansehen konnte. Hinzu kam noch meine Alkoholfahne.

Das Flugzeug hob dann mit mir ab und natürlich benahm ich mich auf dem Flug. Als die Maschine abhob, hatte ich noch ein paar Augenblicke, um meine alte Heimat von oben zu betrachten. Ich wurde sehr traurig und versprach mir selbst, schnell wieder zurückzukehren.

Ich war nie wieder dort.

Plötzlich obdachlos

Als ich im Februar 2016 in Berlin Schönefeld gelandet war und auf die Gangway trat, erinnere ich mich noch sehr genau daran, dass ich das erste Mal nach vielen Jahren meinen eigenen Atem sah.

Und ich dachte: »Mann, ist das kalt hier.«

Mein Körper hatte sich nach acht Jahren total an die Wärme auf einer ja eigentlich afrikanischen Insel gewöhnt. Wenn dort mal am Abend oder in der Nacht nur 16 Grad waren, zog man sich dicke Sachen, Mütze und Handschuhe an.

Berlin begrüßte mich also mit Temperaturen um die Null Grad, Wind und Nieselregen. Solch ein Wetter hatte ich sehr lange nicht erlebt und auf dem kurzem Fußmarsch zum Terminal begann ich schon, ganz ordentlich zu frieren.

Das Nächste, an das ich mich heute noch sehr intensiv erinnere, ist, dass ich nach Abwicklung der ganzen Formalitäten durch das Terminal Richtung Ausgang lief und mich plötzlich fragte: »Wo gehst du denn jetzt hin?«