Unter Segeln vor Kanonen - Alexander Kent - E-Book

Unter Segeln vor Kanonen E-Book

Alexander Kent

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Beschreibung

März 1817: Die Männer an Bord Seiner Britannischen Majestät Fregatte Unrivalled können kaum glauben, dass Frieden herrscht, während sie die französische Küste passieren, die noch gestern Feindesland war. Adam Bolitho, durch und durch wagemutiger Kapitän, fürchtet, bald seines Kommandos enthoben zu werden. Stattdessen steht er vor der größten Herausforderung, seit er als würdiger Nachfolger des berühmten Sir Richard Bolitho in der Royal Navy Dienst tut: Er erhält das Kommando über die berüchtigte Athena, um in der Karibik die Interessen Englands durchzusetzen.

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Seitenzahl: 479

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Der AutorAlexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben G.S. Forester.<br />Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte Foudroyant in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.

Das Buch

März 1817: Die Männer an Bord Seiner Britannischen Majestät Fregatte Unrivalled können kaum glauben, dass Frieden herrscht, während sie die französische Küste passieren, die noch gestern Feindesland war. Adam Bolitho, durch und durch wagemutiger Kapitän, fürchtet, bald seines Kommandos enthoben zu werden. Stattdessen steht er vor der größten Herausforderung, seit er als würdiger Nachfolger des berühmten Sir Richard Bolitho in der Royal Navy Dienst tut: Er erhält das Kommando über die berüchtigte Athena, um in der Karibik die Interessen Englands durchzusetzen.

Alexander Kent

Unter Segeln vor Kanonen

Adam Bolitho im Kielwasser von Sir Richard

Für Dich, Kim, mit all meiner Liebe. Die Revenge taucht auf aus dem Unwetter!

Alles hat seine Stunde, und es gibt eine Zeit für jegliche Sache unter der Sonne:

Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben, eine Zeit zu pflanzen und eine Zeit, das Gepflanzte auszureißen. Eine Zeit zu töten und eine Zeit zu heilen; eine Zeit einzureißen und eine Zeit aufzubauen.

Eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen, eine Zeit zu klagen und eine Zeit zu tanzen …

Eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu hassen, eine Zeit des Krieges und eine Zeit des Friedens.

Prediger (Ecclesiastes) 3:1-8

Inhalt

I Neue Horizonte

II Auf Befehl Ihrer Lordschaften

III Ferne Freunde

IV Je höher wir steigen …

V Eine letzte Zuflucht

VI Schicksal

VII Unter der Flagge

VIII Sturmwarnung

IX Ein Todesfall in der Familie

X Schattenjagd

XI Trick um Trick

XII Catherine

XIII Der einzige Verbündete

XIV Loyalität oder Dankbarkeit?

XV Sehnsucht

XVI Keine Trommeln – keine Warnung

XVII Die Abrechnung

I Neue Horizonte

Vom Vordeck hatte es achtmal geglast. Das untere Deck wurde aufgeklart, während das Schiff stetig – zielbewußt, hätten manche gesagt – auf die sich ständig weiter öffnenden Arme des Landes zuhielt, das sich zu beiden Seiten vor ihnen erstreckte. Dies waren die Augenblicke, mit denen sich jeder Seemann in Gedanken beschäftigt hatte: der Landfall. Dieser spezielle Landfall. In der Heimat.

Die Segel, von denen nur noch Bram- und Stagsegel standen, füllten sich kaum mit Wind. Aus der groben Leinwand sprühte so viel Nässe, als hätte es in der letzten Nacht geregnet. Im wäßrigen Sonnenlicht tauchte die hügelige Steilküste aus dem Schatten, der sie bisher verhüllt hatte. Landmarken wurden sichtbar, den älteren Matrosen wohlvertraut. Den jüngeren wurden ihre Namen von den Ausguckposten im Topp zugerufen, während das Land Gestalt und Farbe gewann: mancherorts dunkelgrün, anderswo noch winterlich braun. Denn man schrieb erst Anfang März 1817, und die kalte Luft schnitt messerscharf in die Lungen.

Acht Tage seit Gibraltar. Das war eine respektable Zeit für die Überquerung des Golfs von Biskaya bei dem Gegenwind, dem sie jede Meile hatten abtrotzen müssen, während sie Orte mit so altbekannten Namen wie Brest und Ushant passierten, die lange als Feindesland gegolten hatten. Es fiel immer noch schwer, zu glauben, daß der Krieg vorbei war. Zuviel hatte sich seither verändert, für jeden Mann an Bord dieser schnittigen, bedächtig segelnden Fregatte, Seiner Britannischen Majestät Schiff Unrivalled, mit 46 Kanonen und einer Besatzung von 250 Matrosen und Seesoldaten.

So viele waren es jedenfalls gewesen, als sie von Plymouth und ebendiesem Hafen aufgebrochen waren. Jetzt verspürten alle unterdrückte Erregung und Ungewißheit. Seit dem Auslaufen des Schiffs waren aus Jungen gestandene Männer geworden, auf die völlig andere Lebensumstände warteten. Die Älteren wie der Segelmeister Joshua Cristie oder der Stückmeister Stranace dachten wahrscheinlich an die vielen Schiffe, die ausgemustert worden waren, abgewrackt oder sogar verkauft an den früheren Feind.

Denn ein Schiff war alles, was sie hatten. Ein anderes Leben kannten sie nicht.

Der lange Wimpel im Topp hob sich plötzlich und versteifte sich in einer überraschenden Brise. Partridge, der beleibte Bootsmann, rief: »An die Brassen! Klar zum Manöver, Leute!« Doch selbst er, dessen Stimme die wütendsten Stürme und das Krachen der Breitseiten übertönt hatte, schien nicht gewillt, die gespannte Stille zu stören.

Nur die Schiffsgeräusche waren zu hören, das Knarren der Spieren und Blöcke, das gelegentliche Poltern des Ruderkopfes – ihre gewohnte Geräuschkulisse seit Jahren, seit Unrivalleds Kiel genau hier, in Plymouth, zum erstenmal Salzwasser geschmeckt hatte.

Doch niemand, der bis heute überlebt hatte, war sich so klar wie Kapitän Adam Bolitho der Herausforderung bewußt, die ihn erwartete.

Er stand an der Achterdecksreling und beobachtete, wie sich das Land vor ihm langsam zur endgültigen Umarmung öffnete. Einzelne Häuser und sogar eine Kirche nahmen Gestalt an, und ein Lugger näherte sich auf Konvergenzkurs; der Fischer kletterte ins Rigg, um der Fregatte zuzuwinken, während ihr Schatten über ihn hinweg glitt. Wie viele hundertmal hatte Adam schon hier gestanden? Wie oft war er an Deck auf und ab getigert oder bei dem einen oder anderen Zwischenfall aus seiner Koje gesprungen?

Wie zuletzt in der Biskaya, als ein Seemann über Bord gefallen war. Das war nicht ungewöhnlich: ein vertrautes Gesicht, ein Aufschrei in der Nacht – und dann Vergessen. Vielleicht hatte auch er schon an die Heimkehr gedacht. Oder an eine Abmusterung. Es brauchte nur eine Sekunde. Das Schiff übte keine Nachsicht, vergab keine noch so kurze Unachtsamkeit.

Sich straffend, tastete Adam unter dem Bootsmantel nach dem alten Säbel: auch eine dieser Gesten, die ihm nicht mehr bewußt waren. Dabei ließ er den Blick über sein Schiff gleiten: die ordentliche Batterie der Achtzehnpfünder, jede Mündung exakt in Linie mit der Gangway darüber ausgerichtet; die sauberen, aufgeklarten Decksflächen, jede unbenutzte Leine aufgeschossen auf ihrem Belegnagel, während die Buchten der Brassen und Schoten fürs Manöver bereits abgenommen wurden. Die Narben ihres letzten grausamen Gefechts vor Algiers, das schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, waren sorgfältig beseitigt worden, überstrichen oder geteert, unsichtbar außer für das erfahrene Auge.

Ein Block quietschte, und ohne den Kopf zu wenden, wußte Adam, daß die Signalgasten die Erkennungsnummer der Unrivalled gesetzt hatten. Nicht daß viele Beobachter sie zur Identifizierung brauchen würden.

Erst jetzt fiel es ihm wieder ein: Ihr bisheriger Signalfähnrich war Roger Cousons gewesen, eifrig, engagiert und beliebt. Noch ein Gesicht, das er vermißte. Er fühlte den Nordwestwind wie eine kalte Hand über seine Wange streichen.

Eine Stimme meldete gedämpft: »Das Wachboot, Sir.« Gelassen und unaufgeregt wie eine beiläufige Bemerkung bei zufälliger Begegnung auf der Landstraße.

Adam Bolitho nahm von einem anderen Fähnrich ein Teleskop entgegen, während sein Blick über vertraute Gesichter glitt, die ihm vorkamen wie ein Teil seiner selbst: die Rudergänger, zu dritt für den Fall, daß ihnen Wind oder Tide in letzter Minute einen Streich spielten; der Master, eine Hand auf der Karte, aber das Land nicht aus den Augen lassend; ein Trupp Seesoldaten, makellos wie bei der Parade und jederzeit bereit, die Achterdeckswache an den Besanbrassen zu unterstützen; der erste Offizier und ein Bootsmannsgehilfe; zwei Trommelbuben, die mächtig gewachsen waren, seit sie Plymouth zum letztenmal gesehen hatten.

Er richtete das Glas aufs Wachboot aus, das in der Ferne mit eingezogenen Riemen reglos im Wasser lag. Seine Wangenmuskeln arbeiteten. Dabei taten die Leute doch nur das, was sein Onkel die Karte für uns markieren genannt hatte.

Es wurde Zeit.

Nicht zu früh und niemals zu spät. »Aufschießen und ankern, Mr. Galbraith«, befahl er.

Fast konnte er den Blick des Ersten Offiziers im Nakken spüren. Überraschung? Einverständnis? Doch der Moment ging vorbei, die Formalitäten gewannen wieder die Oberhand.

»An die Leebrassen! Klar zum Anluven!«

»An die Bramsegelschoten!«

Schräg nach hinten gestemmt, hievten die Matrosen an den Leinen. Ein Bootsmannsgehilfe schob zwei zusätzliche Mann in ihre Reihe, zur Unterstützung, während die Unrivalled auf den Ankerplatz glitt.

»Leeruder!«

Ein kurzes Zögern, dann begann das große Doppelrad zu wirbeln, während die drei Rudergänger sich wie ein einziger Mann bewegten.

Adam Bolitho beschattete seine Augen vor den durch die Takelage stechenden Sonnenstrahlen, als das Schiff, sein Schiff, mit schlagenden Segeln langsam in den Wind drehte.

Er sah seinen Bootsführer das dicht bevölkerte Deck mustern, bereit für den Befehl, die Gig auszusetzen, aber auch für das Unerwartete.

»Laß fallen!« Der große Anker löste sich von seinem Kranbalken und fiel aufspritzend ins Wasser, die schöne Galionsfigur mit einem Schwall Gischt tränkend.

Nach all den vielen Meilen, nach all den Tragödien und Triumphen, zu Glück oder Unglück, war die Unrivalled endlich heimgekehrt.

Leutnant Leigh Galbraith spähte ins Rigg, um sich zu vergewissern, daß in der Aufregung über ihre Rückkehr keine Schlampereien eingerissen waren.

Doch jedes Segel war sauber aufgetucht, der Wimpel im Masttopp stand steif im ablandigen Wind, und die neue Nationale wehte hoch über der Heckreling knatternd aus; ihre Farben leuchteten frisch vor dem ländlichen Hintergrund, denn noch vor Tagesanbruch hatte man sie anstelle der alten ausgeblichenen und zerfetzten Flagge gesetzt. Seesoldaten standen Wache, um unerlaubten Besuch zu verscheuchen, etwa Händler oder Huren, die alle ahnten, daß die Besatzung in den letzten Monaten kaum Gelegenheit gehabt hatte, ihren Sold auszugeben. Außerdem kursierten Gerüchte über Prisengeld und Prämien für die Befreiung von Sklaven.

Galbraith sah das Wachboot mit dem hochaufgerichteten Offizier im Heck näherkommen: seit Gibraltar ihr erster Kontakt mit der Autorität. Wahrscheinlich wurde die Unrivalled jetzt bald von Zimmerleuten und Riggern überschwemmt; einige von ihnen mochten schon vor zwei Jahren bei ihrem Bau geholfen haben.

Wieder schauderte es ihn, aber das lag nicht am beißenden Märzwind.

Er hatte die Reihen aufgelegter Schiffe bemerkt, groß oder klein, als sie über die Reede gekreuzt waren. Stolze Schiffe waren darunter, mit berühmten Namen. Manche hatten schon hier gelegen, als sie vor acht Monaten Richtung Mittelmeer und Algiers aufgebrochen waren.

Wer kam wohl als nächster dran?

Der Erste stellte sich dieser Frage so kühl, wie ein Vorgesetzter vielleicht die Chancen eines Untergebenen geprüft hätte. Seine Akte allerdings mußte makellos sein. Er hatte in Algerien und davor an jedem Gefecht teilgenommen. Kapitän Bolitho hatte ihn schriftlich dem Flaggoffizier hier in Plymouth als Kommandant empfohlen, schon vor ihrem Aufbruch. Doch angenommen, diese Empfehlung war verlorengegangen? Dann mochte er zum nächsten Einsatz wieder nur als Erster Offizier abkommandiert werden und danach schließlich ganz übergangen werden.

Verärgert verbot er sich diese Überlegungen. Er hatte ein Schiff, ein stattliches dazu, und das war mehr, als viele andere von sich sagen konnten.

Forsch trat er zur Eingangspforte und tippte grüßend an seinen Hut, als der Hafenoffizier an Bord geklettert kam.

Neugierig blickte sich der Besucher um. »Habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte er. »Über Ihre Rolle im Gefecht von Algiers. Lord Exmouth war in der Gazette des Lobes voll.« Damit überreichte er Galbraith einen dicken, versiegelten Umschlag. »Für Kapitän Bolitho.« Mit dem Kopf zur Küste deutend, setzte er hinzu: »Vom Admiral.« Dann glitt sein Blick über die vielbeschäftigten Matrosen, vielleicht enttäuscht, daß er keine Verwundeten sah und keine Einschußlöcher in dem frisch schwarz-weiß gestrichenen Rumpf. »Gleich kommt ein anderes Boot, um Ihre Depeschen und Ihre Post abzuholen.« Nach den Manntauen greifend, schloß er mit einem Grinsen: »Ach, übrigens: Willkommen zu Hause!«

Galbraith verabschiedete ihn über die Seite und sah unten die Riemen schon das Wasser peitschen, kaum daß er sich hingesetzt hatte.

Der Erste machte sich auf den Weg nach achtern, ganz automatisch den Kopf unter dem Überhang der Poop einziehend. Dann durch die Offiziersmesse, in der nur ein einziger Kamerad saß. Alle anderen waren an Deck, um sich nichts entgehen zu lassen.

Der Seesoldat vor der Kapitänskajüte stampfte mit dem Fuß auf und bellte: »Erster Offizier, Sir!«

Das war etwas, an das er sich niemals gewöhnen würde, dachte Galbraith. Diese Seesoldaten führten sich alle so auf, als seien sie auf dem Paradeplatz und nicht auf einem engen Kriegsschiff.

Die Lamellentür öffnete sich, und vor ihm stand Napier, Diener des Kommandanten, in seinem besten blauen Rock.

Galbraith umfaßte alles mit einem Blick: die große Kajüte, die ihm so vertraut geworden war, wo sie beratschlagt und ihre Gedanken ausgetauscht hatten, so freimütig, wie das zwischen dem Kommandanten und seinem Ersten nur möglich und anderswo sehr selten war. Hier hatten sie Sorge und Zweifel geteilt, aber auch den Stolz.

Kleider lagen auf der Heckbank verstreut, die geflickte und ausgebleichte Alltagsuniform des Kommandanten. An einem Haken des Oberlichts schaukelte sein Paraderock.

Lächelnd sah Bolitho Galbraith an. »Ist meine Gig ausgesetzt?« Und dann mit einer halben Drehung: »Hier, David, hilf mir mit diesem Ärmel. Auf die paar Minuten kommt’s jetzt auch nicht mehr an. Der Admiral wird wissen, daß wir geankert haben.«

Nach kurzem Zögern hielt Galbraith ihm den Umschlag hin. »Das hier kommt schon von ihm.«

Bolitho drehte und wendete das Schreiben in seinen sonnengebräunten Händen.

»Die Tinte hatte kaum Zeit zum Trocknen, Leigh.«

Aber sein Lächeln war verschwunden, und als er den Umschlag mit dem Messer öffnete, hätte die Kajüte ebensogut leer sein können. Über ihren Köpfen polterten Schritte, und Blöcke knarrten, weil die Bootsmannsgang die Gig zum Aussetzen vorbereitete: die unverzichtbaren Formalitäten bei der Rückkehr nach einem Einsatz. Galbraith hörte nichts davon, er sah nur, wie sich die Hand des Kommandanten um das Couvert krampfte, auf dem das aufgebrochene Siegel blutrot leuchtete.

»Stimmt was nicht, Sir?« fragte er.

Das Gesicht im Schatten, fuhr Bolitho herum. »Ich habe Ihnen doch gesagt …« Dann riß er sich mit sichtlicher Anstrengung zusammen, wie Galbraith es im Laufe ihrer Bekanntschaft schon oft bei ihm gesehen hatte. »Tut mir leid … Lassen wir das mit dem Ärmel«, sagte er zu Napier. »Die sollen mich so akzeptieren, wie ich bin.« Er berührte des Jungen Schulter. »Und schone dein Bein. Vergiß nicht, was der Doktor gesagt hat.«

Schweigend schüttelte Napier den Kopf.

»Das Schiff wird aufgelegt. Zur Reparatur und einer allgemeinen Generalüberholung. Genau wie Sie’s erwartet haben.« Er streckte die Hand aus, als wolle er das weiß gestrichene Schott berühren, ließ dann aber den Arm sinken. »Das hat sie wirklich nötig nach den Prügeln, die sie in Algiers einstecken mußte.« Es klang, als spräche er mit dem Schiff und niemand anderem. Dann griff er nach seinem Paraderock. »Morgen erhalten Sie vom Flaggkapitän die nötigen Befehle. Nach meiner Rückkehr können wir alles besprechen.«

Er starrte auf den zerknüllten Umschlag nieder, den er noch in der Hand hielt, und bemühte sich, klar zu denken. Sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren wie stets, wenn alles vorbei zu sein schien. Verloren. Die beiden hatte er seit Übernahme der Unrivalled, erst vor zwei Jahren hier in Plymouth, gründlich kennengelernt, er war ihr erster Kommandant gewesen. Galbraith: stark, zuverlässig, engagiert. Und der junge David Napier, der fast ums Leben gekommen wäre, als der große gezackte Splitter, der wie eine obszöne Waffe aus seinem Schenkel ragte, herausgeschnitten werden mußte. Er war so tapfer gewesen, damals und später, als die Wunde zu eitern begann. Wie er selber in diesem Alter …

Er glaubte, seine Hände zittern zu fühlen, und das laute Dröhnen in seinem Kopf schien die ganze Kajüte zu füllen. Doch als er sprach, klang seine Stimme ruhig. »Ich verliere die Unrivalled. Man enthebt mich des Kommandos.« So ruhig, obwohl etwas in seinem Inneren schrie: Das kann doch nicht sein! Nicht dieses Schiff. Nicht schon so bald!

Galbraith machte einen Schritt auf ihn zu, die kräftigen Züge von Unglauben und Zorn verzerrt. Die Nachricht schien ihn genauso zu erschüttern wie seinen Vorgesetzten.

»Das muß ein Irrtum sein, Sir. Irgendein dummer Schreiber der Admiralität …« Er spreizte die erhobenen Hände. »Doch nicht nach allem, was Sie geleistet haben! Sogar der Hafenoffizier schwärmte davon, wie Lord Exeter die Unrivalled in der Gazette gelobt hat!«

Adam schlüpfte in seinen Rock, den Napier ihm bereits hinhielt; der Junge wirkte erschrocken, schien aber die Konsequenzen noch nicht zu begreifen.

»Du bleibst bei mir, David. Ich habe viel zu tun.« Unvermutet fielen ihm wieder Napiers Worte ein, als Konteradmiral Thomas Herrick ihn ermahnt hatte, gut für seinen Kommandanten zu sorgen: Hier sorgt jeder für den anderen, Sir. So leichthin gesagt, aber in seiner Verwirrung gaben sie ihm Halt. »Informieren Sie die anderen, Leigh. Ich spreche später zu ihnen, am besten hier in der Kajüte.« In seinen dunklen Augen stand zum erstenmal brennender Schmerz. »Solange ich noch kann.«

Galbraith sagte nur: »Die Gig wird inzwischen längsseits liegen, Sir.«

Nach kurzer Pause schüttelten sie einander wortlos die Hand. Der Wachsoldat vor der Tür stampfte mit den Stiefeln auf, als sie an ihm vorbei zum Niedergang schritten; in einer Stunde würde es bestimmt das ganze Schiff wissen. Jetzt aber sah der Seesoldat nur den Rücken seines Kommandanten und des Ersten Offiziers, gefolgt von dem Jungen im stolzen blauen Uniformrock.

Galbraith atmete tief ein, als das Licht des klaren blauen Himmels durch den Niedergang fiel, und fühlte sein Hemd an der Wunde scheuern, die eine Musketenkugel bei dem wahnsinnigen Gemetzel von Algiers in seine Schulter gerissen hatte. Einen Zoll weiter links, vielleicht sogar weniger, und er wäre jetzt nicht mehr am Leben gewesen.

Er sah den Kommandanten jemandem auf dem Achterdeck zunicken; dabei lächelte er sogar. Vielleicht erwartete ihn ein neues Kommando; hochrangiger und großartiger als dieses, als Belohnung seiner Verdienste unter Lord Exmouth. Doch in diesen Zeiten schien das unwahrscheinlich.

Sein Schiff war die Unrivalled. Damit war er verwachsen; wie sie alle.

Ach ja, übrigens: willkommen zu Hause!

Als er wieder aufblickte, stand Bolitho allein bei der Eingangspforte. Napier war bereits in die Gig hinab geklettert, die mit eingezogenen Riemen, so reglos wie weiße Walknochen, längsseits wartete.

Luke Jago, des Kommandanten Bootssteurer, würde darin sitzen, so wachsam wie immer, auch im Gefecht. Wahrscheinlich hatte er schon alles erraten, wie das so üblich war in der Navy, in der Familie, wie die alten Salzbuckel sagten.

Die Seesoldaten präsentierten das Gewehr, die Bootsmannspfeifen trillerten ihren Salut.

Als Galbraith den Hut wieder aufsetzte, war die Pforte leer.

Willkommen zu Hause.

Der Flaggleutnant des Admirals wirkte angespannt, sogar verlegen.

»Sir Robert bittet Sie, einige Augenblicke zu warten, Kapitän Bolitho.« Seine Hand ruhte auf der Türklinke. »Ein überraschender Besucher … Sie kennen das ja, Sir.«

Adam trat in das helle, geräumige Nebenzimmer, an das er sich von früher so gut erinnerte. Damals war ihm Unrivalled anvertraut worden, frisch aus der Werft, die erste dieses Namens auf der Navyliste. Später hatte er hier Vizeadmiral Valentine Keen angetroffen. Und schließlich, im Juli letzten Jahres, war er Lord Exmouths Flotte für den unvermeidlichen Angriff auf Algiers zugeteilt worden. Soviel war in den vergangenen acht Monaten geschehen. Und hier in Plymouth saß nun ein anderer Admiral, Sir Robert Burch, wahrscheinlich auf seiner letzten Stelle.

Der Leutnant sagte: »Wir alle haben Sie beim Einlaufen beobachtet, Sir. Solche Zuschauermassen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Manche Leute müssen sich noch vor Tagesanbruch hier eingefunden haben.«

Adam legte seinen Hut auf einem Stuhl ab und trat zum Fenster. Der Flaggleutnant war nicht schuld daran, wie meistens. Er wußte Bescheid, war selbst einer gewesen. Unter seinem Onkel. Er biß sich auf die Lippe. Wie in einem anderen Leben, so schien es ihm jetzt. Inzwischen war sein Onkel …

Fast zwei Jahre war es jetzt her, seit Sir Richard Bolitho gefallen war, niedergestreckt an Deck seines Flaggschiffs Frobishervon einem einzigen Schuß. Die Erinnerung daran schmerzte so stark, als sei es erst gestern geschehen.

Der andere Mann ließ Adams Gesicht nicht aus den Augen, damit ihm nichts entging. Das also war der junge Fregattenkapitän, dessen Name sooft in der Gazette genannt wurde, weil er es immer wieder Mann gegen Mann mit jedem Gegner aufnahm. Bis der Krieg zu Ende gegangen war und die langjährigen Feinde sich in einer instabilen Allianz verbündet hatten. Wie lange würde sie halten? Und wozu war sie gut? Vielleicht würde man sich später an die Schlacht von Algiers als letztes großes Kräftemessen unter Segeln erinnern. Lord Exmouth war Fregattenkapitän gewesen, wahrscheinlich der berühmteste und erfolgreichste, den dieser endlose Krieg hervorgebracht hatte. Er mußte viele Zweifel beiseite gewischt haben, um das ungeschriebene Gesetz zu brechen, das er bisher immer eingehalten hatte: niemals ein Gefecht zu erzwingen, wenn seine Schiffe dabei gegen eine befestigte Küstenbatterie kämpfen mußten – in seinem Fall gegen tausend feindliche Kanonen.

Doch Wagemut und Geschick hatten obsiegt und die Schlacht fast den ganzen Tag lang getobt. Schiffe waren explodiert und verbrannt, Männer hatten bis zum letzten Atemzug gekämpft. Er dachte an die geschickt geführte Fregatte, die er morgens im ersten Tageslicht beobachtet hatte. Und an Lord Exmouths Worte. Ich brauche Sie in der Vorhut. Ebendieses Schiff. Und den Mann am Fenster, schlank, schwarzhaarig, mit feinziselierten, sensiblen Zügen. Ebendiesen Kapitän.

Adam spürte den forschenden Blick, doch daran war er gewöhnt. Und er wußte, wen sie vor sich zu sehen glaubten: den schneidigen Fregattenkapitän, mutig, sorglos, nicht an den Schürzenbändern der Flotte hängend. Dachten sie.

Er öffnete das Fenster einen Spalt breit und blickte hinunter auf den Trupp Seesoldaten, der auf dem Platz exerzierte. Neue Rekruten aus der nahen Kaserne, recht steif und ihrer roten Uniformen noch sehr bewußt. Der Sergeant wippte vor ihnen auf den Hacken und belehrte sie: »Ihr befolgt jeden Befehl ohne zu fragen, kapiert? Wenn eure Zeit kommt, werdet ihr an Bord kommandiert, auf ein Linienschiff vielleicht oder auf eine Fregatte wie die, die heute morgen eingelaufen ist.« Er drehte sich leicht seitwärts, damit das Licht besser auf seine glänzenden Rangabzeichen fiel. »Aber denkt daran: Es ist nicht der Oberst, auch nicht der Adjutant, der darüber entscheidet. Das bin ich, kapiert?«

Adam schloß das Fenster vor dem kalten Wind.

Er dachte an Korporal Bloxham, jetzt zum Sergeanten befördert, den Scharfschützen mit seiner »Bess«, wie er die Muskete liebevoll nannte. Der mit einem einzigen Schuß seinem Kommandanten das Leben gerettet hatte. Und das des hilflosen Jungen, dem ein riesiger Splitter das Bein an die Decksplanken genagelt hatte. Noch ein vertrautes Gesicht, das er vermissen würde.

Hastig meldete sich der Flaggoffizier: »Ich glaube, der Besucher gehtjetzt, Sir.« Sie wandten sich einander zu. »Es war mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«.

Adam hörte Stimmen, Türen schlagen und jemanden rennen, vielleicht um nach einer Kutsche zu rufen. Er nahm seinen Hut auf. »Ich wollte nur, es wäre unter günstigeren Begleitumständen geschehen.« Er streckte die Hand aus. »Trotzdem vielen Dank. Sie haben keine leichte Aufgabe, das weiß ich aus Erfahrung.«

Als irgendwo eine Klingel läutete, schien der Flaggleutnant einen Entschluß zu fassen.

»Die Unrivalled geht ins Trockendock, Sir. Wie es heißt, wird es diesmal keine so schnelle Überholung wie die letzte.«

Fast hätte Adam gelächelt. »Wie die letzten beiden.« Er griff nach des anderen Arm, als sie zur Tür schritten, was ihn an die Kriegsgerichtsverhandlung nach dem Untergang der Anemone erinnerte: der Delinquent und sein Bewacher.

»Dann werde ich also nicht ersetzt?«

Der Leutnant mußte schlucken, denn er war schon zu weit gegangen. »Mein Vater«, sagte er, »hatte einen Spruch, wenn sich alles gegen ihn zu verschwören schien: Halte Ausschau nach neuen Horizonten.«

Als Adam zu ihm herumfuhr, errötete er. Den Ausdruck dieser Augen würde er nie vergessen.

Er öffnete die Tür und meldete: »Kapitän Adam Bolitho, Sir Robert!«

Adam packte den alten Säbel und drückte ihn gegen seinen Schenkel. Die Geste erinnerte ihn wieder daran: Er war nicht allein.

Luke Jago, der Bootssteurer des Kommandanten, trat an die Pierkante und kickte einen Kiesel ins Wasser. Er war unruhig, emotional im Zwiespalt und konnte keinen klaren Gedanken fassen, was bei ihm selten vorkam.

Als rechte Hand des Kommandanten hatte er eine Vertrauensstellung inne, die ihm mehr bedeutete als ursprünglich gedacht. Manchmal konnte er sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie es vor jenem Tag gewesen war, vor jenem Handschlag, der alles verändert hatte. Seine Wut und Verbitterung waren Teil eines anderen Lebens geworden. Damals war er auf Befehl eines Kommandanten von ganz anderem Charakter zu unrecht ausgepeitscht worden, obwohl ein Offizier für ihn gutgesagt und seine Unschuld bewiesen hatte: zu spät, um die Bestrafung noch zu verhindern. Trotz der Entschuldigungen danach blieb sein Rücken lebenslang von den Narben der »siebenschwänzigen Katze« gezeichnet. So war es Jago zur zweiten Natur geworden, allen Offizieren zu mißtrauen, und je jünger sie waren, desto schwerer fiel es ihm, dies zu verbergen. Ein Fähnrich oder Kadett, noch nicht trocken hinter den Ohren, der vielleicht eben noch auf seinen Rat gehört hatte, auf seine in vielen Fahrensjahren erlernten Tricks, mochte plötzlich herumwirbeln und ihn anblaffen wie ein verzogener Welpe, wenn er sich an seinen höheren Rang erinnerte.

Er beschattete die Augen und spähte hinüber zu der verankerten Fregatte, die seit über zwei Jahren sein Heim gewesen war. Eigentlich sollte er daran gewöhnt sein; Tage wie diesen hatte er schon öfter erlebt.

Die ganze Strecke von Gibraltar her hatte er sich das anhören müssen. Vom ausgebufften Jan Maaten ebenso wie von hoffnungsvollen Jungspunden, die voller Vorfreude auf die Heimkehr darüber schwadronierten, was sie mit dem ihnen zustehenden Prisengeld anfangen wollten. Dabei war es doch in der Navy immer gefährlich, sich zuviel zu erhoffen oder für selbstverständlich zu nehmen. Als sie Plymouth vor acht Monaten verlassen hatten, waren ihm all die aufgelegten Schiffe aufgefallen, die Hulken, die einst der Stolz einer ruhmreichen Flotte gewesen waren. Und als die Unrivalled tags zuvor hier vor Anker gegangen war, hatten sie noch genauso dagelegen.

Er hörte den jungen Napier nervös an dem Gepäck nesteln, das sie erst vor einer Stunde an Land geschafft hatten. Dabei leistete ihm der stämmige, rundschultrige Daniel Yovell Gesellschaft, der sich angeblich nach dem Tod des Schreibers freiwillig als sein Nachfolger gemeldet hatte. Jago wußte es inzwischen genauer: Yovell war erst Schreiber bei Sir Richard Bolitho gewesen und dann sein Sekretär auf dem Flaggschiff. Und er war mit ihm befreundet gewesen, was auf einem Kriegsschiff selten vorkam. Gebeugt, von sanftem und devotem Gehabe, hatte er neben dem alten großen Haus der Bolithos in Falmouth eine eigene Kate bewohnt und bei der Gutsverwaltung geholfen – wovon Jago keinen Schimmer besaß. Doch dann hatte es Yovell wieder auf See hinaus getrieben, und er hatte Freiwillige mitgebracht, als Kapitän Adam knapp an erfahrenen Leuten gewesen war. Manche davon kamen von Sir Richards letztem Schiff und hatten im letzten Krieg lange unter ihm gedient. Jago kickte noch einen Kieselstein ins Wasser. In dem verfluchten Krieg, in dem so viele ihre Todfeinde gewesen waren, die sie jetzt angeblich als Verbündete behandeln sollten.

Und der junge Napier, was der jetzt wohl dachte. Wie so viele vor ihm, war er von seiner Mutter in die Marine gesteckt worden. Sie hatte wieder geheiratet und lebte jetzt in Amerika mit ihrem neuen Ehemann, falls er das überhaupt war. Jago kannte viele solcher Fälle: Sobald der Nachwuchs erst sicher untergebracht war, schwand das Interesse. Napier war dem Kommandanten treu ergeben, der immer Zeit zu finden schien, um ihm etwas zu erklären. Egal was die Narren im Mannschaftslogis auch glaubten, niemand war auf einem Kriegsschiff einsamer als der Kommandant.

Napier meldete plötzlich: »Das Boot stößt ab!«

Das klang nervös, fast ängstlich. Der Junge war eben von der ernsthaften Sorte, sagte sich Jago, der als Bootssteurer des Kommandanten nach Belieben kommen und gehen konnte; er kannte das Leben in der großen Achterkajüte, jenseits der Lamellentür und des rotberockten Wachtpostens und fühlte sich als ein Teil davon.

Er hörte das ferne Aufklatschen der Riemen und das vertraute Knarren der Dollen und merkte, daß er die Fäuste ballte. Sein Mund wurde trocken.

Was wird aus mir? dachte er. Yovell konnte in seine Kate heimkehren, und der Junge würde beim Kommandanten bleiben. Wieder wanderten seine Blicke zu der verankerten Fregatte. Und die Unrivalled ging wie vorausgesehen ins Trockendock. All diese Treffer, die sie hatten erzittern lassen, die vielen feindlichen Kugeln, oft unterhalb der Wasserlinie eingeschlagen, hatten den Rumpf zu sehr mitgenommen.

Vor allem letztes Mal bei Algiers, wo die Luft unter dem Kanonenfeuer und dem Splitterhagel gebebt hatte und so viele gefallen waren – hatten die Narren auch das schon vergessen? Und daß auf ihrer letzten Überfahrt die Pumpen Tag und Nacht, während jeder Wache, gearbeitet hatten?

Die Unrivalled würde wahrscheinlich ausgemustert und verkauft werden … Das hatten jene zu entscheiden, die noch nie eine volle Breitseite gehört oder ihr Leben riskiert hatten, um die Hand eines Kameraden zu halten, während das Leben aus ihm verströmte.

Am besten, er steckte seinen Sold und seine Prämien ein und machte eine Weile Urlaub. Vielleicht in weiblicher Gesellschaft, falls sich das so ergab. Möglicherweise bekam Kapitän Bolitho kein neues Schiff, dann würde er auch keinen Bootsteurer mehr brauchen.

Schmerzlich fiel ihm wieder der Gesichtsausdruck des Kommandanten ein, als dieser vom Hafenadmiral zurückgekehrt war. Er runzelte die Stirn; war das wirklich erst gestern gewesen? Jago hatte ihn mit der Gig an ebendieser Pier erwartet, mit einer Bootscrew, die ihr bestes Zeug trug. Ein Schiff wird immer nach seinen Booten beurteilt, hatte ihm mal jemand gesagt. Wer das auch gewesen war, er hatte recht. Allerdings war dies nicht die reguläre Kommandantengig der Unrivalled, denn die hatten Schrotkugeln und Musketenfeuer irreparabel zerschossen. Wie manche aus ihrer ursprünglichen Crew.

Plötzlich sah Jago wieder das Bild vor sich, wie Kapitän Bolitho ebendiese Steintreppe zu ihm herab gestiegen war. Schon Millionen von Seeoffizieren mußten über diese Stufen gegangen sein, zur Beförderung, zu einem neuen Schiff, neuen Einsatzbefehlen oder dem Kriegsgericht. Und gestern hatte ihn der Kommandant beiseite genommen und ihm eröffnet, daß er seines Kommandos enthoben war und neue Befehle erwartete. Nicht dem Ersten Offizier oder einem anderen aus der Schiffsführung, nein, ihm hatte er es als erstem mitgeteilt.

Unvermittelt fragte er: »Was macht das Bein, David?«

Überrascht blickte der Junge auf, wohl weil er ihn mit Vornamen angeredet hatte. Wie der Kommandant.

»Ist schon besser.«

Vorsichtig trat er an die Pierkante und sah in die Gig hinab, mit der sie gekommen waren. Darin stand Yovell und beobachtete Jago. Ihm fiel ein, wie sie sich letztes Jahr kennengelernt hatten. Jago hatte gemeint, daß auch er eigentlich schon zu alt wäre für einen neuen Einsatz auf See. Danach waren sie Freunde geworden, obwohl keiner den anderen ganz verstand. Außer heute.

Yovell war auch zugegen gewesen, als Kapitän Adam Bolitho die letzten Formalitäten vor seinem Abschied erledigt hatte: Formulare unterzeichnet, mit Leutnant Galbraith als Zeugen, der nun den zeitweisen Befehl über die Unrivalled übernahm, wahrscheinlich das einzige Schiff, das er jemals befehligen würde. Dabei wußte Yovell aus den diktierten Briefen, daß der Kommandant nie aufgehört hatte, ein eigenes Kommando für Galbraith zu fordern.

Yovell hatte auch den privaten Teil der Übergabe erlebt, als die Kurierbrigg Post für sie gebracht hatte, Briefe, die sie im Mittelmeer mehrmals verfehlt hatten. Aber nichts war darunter für den Käpt’n, das er sich vielleicht erhofft hatte. Wie der kleine Zettel, den er stets bei sich trug, von dem Mädchen, dem er bei ihrem letzten Besuch in Plymouth begegnet war.

Ihren Namen hatte er niemals erwähnt. Doch Yovell hatte sie einmal gesehen, im alten Haus der Familie Bolitho in Falmouth, als ein Kurier mit Befehlen für die Unrivalled und ihren Kommandanten gekommen war. Bolitho hatte neben ihr gesessen in der kleinen, von einem Pony gezogenen Kutsche, bevor sie allein und ohne ihn davongefahren war. Da hatte der Käpt’n mit den Lippen sein eigenes Handgelenk berührt, auf das eine Träne von ihr getropft war. Wie ein Liebespaar, erinnerte sich Yovell. Vielleicht nur ein Traum?

Jago sah die Gig langsam dem Fuß der Treppe zustreben. Früher wäre sie vielleicht ausschließlich von den Kommandanten der Flotte oder des Geschwaders bemannt gewesen. Jetzt aber wurden nur die leeren Hulken Zeugen des Abschieds.

Verächtlich verzog Jago den Mund. »Was für ’ne Crew!« Fast hätte er aufs Pflaster gespuckt. »Offiziere!«

Bolithos Gig wurde gepullt von den Leutnants Galbraith, Varlo und dem jungen Bellairs, der bei Unrivalleds Indienststellung noch Fähnrich gewesen war. Außerdem von Luxmore, dem Hauptmann der Seesoldaten, Bootsmann Partridge und Old Blane, dem Zimmermann. Dazu einige Kadetten, darunter Deithon an der Pinne, dicht neben Bolitho.

Der Buggast, ein weiterer Kadett, stellte seinen Riemen senkrecht und kletterte mit dem Bootshaken ganz nach vorn, wo er fast das Gleichgewicht verlor.

»Riemen hoch!«

In der plötzlichen Stille war Jubel zu hören, lang andauernd, aber schwach bei dem kalten, ablandigen Wind. Jago spürte, daß des jungen Napiers Schulter unter seiner Hand erbebte. Er war ein phantasievolles Kerlchen: Vielleicht dachte er das gleiche wie er: daß das Hurrageschrei von den stillgelegten, leeren Hulken kam.

Kapitän Adam Bolitho sah und hörte nichts davon. Vorsichtig erhob er sich und wartete darauf, daß die Gig an der Treppe festmachte. Ihm kam alles vor wie ein wirrer Traum, auch wenn einige Bilder darin scharf hervortraten: Hände, die seine schüttelten, Gesichter, die aus dem Nebel auftauchten, um ihm etwas zuzurufen, eine Faust, die an der Pforte nach ihm griff. Sogar das Zwitschern der Bootsmannspfeifen hatte so fremd geklungen, als sei er nur ein Zuschauer.

Wenn er sich gehen gelassen hätte … Fest umklammerte er seinen Säbel. Er hatte gesehen, wie andere das gleiche erlebt hatten, und nun war eben er selbst an der Reihe.

Er warf einen letzten Blick auf das Schiff. Sein Schiff. Das ferne Hurrageschrei hörte nicht auf. All diese Gesichter … Doch er mußte sich abwenden, durfte nicht zurückschauen. Wenn man in der Navy überleben wollte, dann war Rührseligkeit der ärgste Feind.

Er setzte den Fuß auf die Pier. Niemand sprach. Das Boot stieß wieder ab.

Nur nicht zurückblicken. Und dann tat er es doch. Schwenkte den Hut – zu spät, um seine Augen vor dem Sonnenglast zu schützen. Sie brannten ohnehin. Nicht zurückblicken. Er hätte es wissen müssen.

Jago trat vor. »Du hast dich also entschieden, Luke?«

Ungerührt erwiderte Jago Bolithos Blick, dann streckte er die Hand aus. »Wie früher, Käpt’n, was?«

Adam nickte den anderen zu. Bald mußte die Kutsche aus Falmouth eintreffen. Das hatte der Admiral veranlaßt, der sichtlich erleichtert gewesen war, als ihr kurzes Treffen zu Ende ging.

Wieder blickte er seewärts, doch die Gig wurde jetzt von der Kaimauer verdeckt. Heute abend würde Galbraith in der großen Achterkajüte allein bei einem Glas Wein sitzen.

Oder auch nicht.

Adams Blick fiel auf Napier, dessen sichtlicher Jammer ihn rührte. Er packte ihn an der Schulter. »Besorg uns ein paar Träger fürs Gepäck, ja?« Er sah Yovell eine Hand heben wie immer, wenn er ihn an etwas erinnern wollte. »Nein, ich hab’s nicht vergessen.«

Aber hatte er denn wirklich erwartet, daß dieses wunderschöne Mädchen namens Lowenna irgendwie hier auftauchen würde, um sein Schiff vor Anker gehen zu sehen? So wie sie ihn beim Auslaufen beobachtet hatte? Glaubte er denn nach all den Monaten und den vielen Schlachten noch an Wunder?

Er merkte, daß Napier ihn ansah und etwas gefragt hatte. Er versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren, hörte im Geist aber nur die Worte des Flaggleutnants.

Leise sagte er: »Wir müssen gemeinsam nach neuen Horizonten ausschauen.«

Damit begann er die Treppe zu erklimmen. Jago wartete, bis einige Matrosen herab gelaufen kamen, um das Gepäck und die Seekiste des Kommandanten zu holen. Erst danach wandte er der See den Rücken zu. Und dem Schiff.

II Auf Befehl Ihrer Lordschaften

Nancy Lady Roxby stand reglos an der offenen Tür zur Bibliothek, obwohl sie sich danach sehnte, Adam entgegenzulaufen; doch andererseits scheute sie sich davor, ihn zu berühren, und fürchtete Gefühlsausbrüche.

Wie lange war es her, daß die Kutsche in die Auffahrt gerattert kam, mit Pferden, die nach dem Weg von Plymouth her dampften? Sie wußte es nicht mehr. Nun stand die Kutsche wie vergessen im Hof, während die Pferde sich im vertrauten Stall erholten. Es regnete, der Himmel über der Reihe kahler Bäume wirkte düster und drohend. Ihr Neffe war immer noch im Mantel, mit vor Nässe schwarzen Schultern und schlammigen Stiefeln. Den Hut noch in der Hand, wirkte er wie auf Stippvisite und unfähig, das Geschehen zu akzeptieren.

Sie wartete, während er vor sein Porträt trat, das jetzt an einem neuen Platz hing, neben dem Fenster und gegenüber der breiten Treppe. Hier fing es besser das Licht ein, war aber geschützt vor Sonnenglut und Feuchtigkeit. Ob ihm die Veränderung überhaupt auffiel? Sie bezweifelte es.

Unvermittelt bat er: »Erzähl’s mir noch einmal, Tante Nancy. Ich habe ja nichts Näheres gehört und keine Briefe bekommen außer deinen. Und du merkst dir immer alles so genau, ganz gleich, wie sehr es dich belastet.«

Er griff nach oben und berührte das Porträt, tastete über die einzelne gelbe Rose, die der Maler hinzugefügt hatte, nachdem sie ihm von Lowenna an den Uniformrock geheftet worden war. Nähertretend, musterte Nancy ihn genauer. Immer noch diese innere Unruhe, die ihren Bruder Richard an ein junges Fohlen erinnert hatte. Auch die Jugendlichkeit war noch zu spüren, der Abglanz des jungen Fähnrichs und Marineoffiziers, der sein erstes Schiff, eine Brigg, mit 21 Jahren bekommen hatte. Doch sie sah auch die Furchen, welche Verantwortung, Autorität, Gefahren, vielleicht sogar Furcht in sein Gesicht gegraben hatten. Nancy war die Tochter eines Seefahrers und die Schwester eines berühmten Seehelden. Beliebten Seehelden. Ohne sich umzuwenden, sah sie vor sich die vielen vertrauten Gesichter, die Porträts, die sie von der Treppe her und aus der dunklen Diele beobachteten. Als wollten sie das neue Konterfei dieses jüngsten Bolitho begutachten.

»Es geschah vor einem Monat, Adam«, begann sie. »Ich habe dir das wenige geschrieben, was ich erfahren konnte. Wir wußten ja alle, was du durchgemacht hattest, bei Algiers und vorher. Ich hätte dir so sehr eine glücklichere Heimkehr gewünscht.« Mit flehendem Blick wandte er sich ihr zu. »Dieser Brand im Old Glebe House … Wurde sie …?«

Nancy hob beruhigend die Hand. »Nein. Ich habe sie inzwischen gesehen. Hatte ihr versichert, daß sie sich jederzeit an mich wenden könne, wenn sie eine Freundin brauche.« Sachlicher fuhr sie fort: »Sir Gregory hatte an dem alten Gebäude einige Arbeiten ausführen lassen, am Dach seines Ateliers. Es war ein windiger Tag, die Böen von der Bucht … Die Arbeiter schmolzen Blei für die Dachrinnen, hat man mir erzählt. Dabei begann es zu brennen. Und bei dem starken Wind griffen die Flammen so schnell um sich wie bei einem Lauffeuer im Sommer.«

Er sah es wieder vor sich: Das alte Glebe-Haus hatte lange leer gestanden und war dann von einer kirchlichen Behörde in Truro zum Verkauf angeboten worden. Als Sir Gregory Montagu es erwarb, hatten viele der Einheimischen ihn für verrückt erklärt. Doch er hielt sich nur selten dort auf, da er sowohl in London wie in Winchester Immobilien besaß. Adam erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen: Der berühmte Maler hatte ihn eilends durch die kahlen, vollgerümpelten Zimmer geführt, um die Begegnung mit einem anderen Besucher, seinem Neffen, zu vermeiden. Damals hatte er das Mädchen zum erstenmal gesehen, wie erstarrt in ihrer Pose, nackt an einen aus grauen Tüchern improvisierten Felsen gekettet, als Opfer dem Meeresungeheuer preisgegeben. Wie ein Standbild schien sie nicht einmal zu atmen. Nur ihr Blick traf den seinen und glitt dann gleichgültig weiter.

Lowenna.

Er hatte ihr geschrieben in der Hoffnung, daß seine Briefe sie irgendwie erreichen würden. Daß sie etwas für ihn empfand, berührt durch Emotionen oder Erinnerung daran, wie das Pferd ihn abgeworfen hatte und seine Wunde erneut aufgeplatzt war. Sie war zu ihm gekommen, und irgend etwas hatte die Barriere zwischen ihnen eingerissen. Vielleicht hatte sie ihm inzwischen geschrieben; es geschah nur zu häufig, daß Briefe verloren gingen, daß Postschiffe einander verfehlten oder fehlgeleitet wurden.

Er hatte sich selbst dafür verspottet, daß er den Zettel als kostbar gehütet hatte, den sie ihm auf die Unrivalled gesandt hatte, als sie von Plymouth aufgebrochen waren, um sich Lord Exmouths Geschwader anzuschließen.

Ich war da. Ich habe Dich gesehen. Gott schütze Dich.

Nancy sagte: »Sir Gregory war ein Dickkopf, sturer als die meisten. Du hast ihn ja erlebt. Er bestand darauf, nach London gebracht zu werden.«

»Wurde er schwer verletzt?«

»Ja, bei dem Versuch, Lowenna zu helfen, durch die starke Rauchentwicklung. Sie blieb nicht lange bei uns, wollte ihn auf seiner Reise nach London begleiten.«

Adam legte den Arm um seine Tante, gerührt durch den vertraulichen Ton, in dem sie Lowennas Namen ausgesprochen hatte. So viele Jahre. So viele Jahre waren vergangen seit dem Tag, an dem er von Penzance zu Fuß hier aufgetaucht war, ausgerüstet nur mit Nancys Adresse und einem Brief seiner sterbenden Mutter. Nach all den Jahren war Nancy immer noch eine Zuflucht für ihn, ein sicherer Hafen.

Arm in Arm betraten sie die Bibliothek, in deren Kamin ein munteres Feuer brannte, das Schatten über die Ölgemälde und die deckenhohen Bücherregale tanzen ließ. Nancy registrierte zufrieden, daß alles sauber und frisch poliert glänzte, nicht sosehr wegen häufiger Benutzung, sondern dank der Pflege durch das Hauspersonal. Sie liebte dieses Zimmer, eines von vielen in diesem Haus, wo sie, ihre zwei Brüder und eine Schwester aufgewachsen waren. Sie dachte an die vielen Frauen, die schon hier am Fenster auf ein Schiff gewartet hatten, auf sein Schiff, von dem sie wußten, daß es eines Tages vielleicht nicht zurückkehren würde. Die ernsten, aufmerksamen Gesichter an der Wand erzählten die ganze Geschichte.

Adam nahm ihre Hand. »Du mußt wissen, Tante Nancy, daß ich mich in dieses Mädchen verliebt habe.«

Sie zögerte, flehte innerlich darum, daß er nicht wieder eine Enttäuschung erleben möge.

Draußen im Treppenhaus erklangen Schritte: Der junge David Napier, der Adam schon bei seinem letzten Besuch begleitet hatte, wirkte freudig erregt trotz des Verlusts der Unrivalled. Seine Heldenverehrung für Adam hatte sie tief gerührt. Besonders nach dem, was Daniel Yovell ihr im Flüsterton eines Verschwörers mitgeteilt hatte, als Adam fast wie ein Blinder suchend aus dem Haus gestürmt war, ohne ihren Bericht akzeptieren zu können.

Es war geschehen, noch bevor die Kutsche der Bolithos, mit dem jungen Matthew auf dem Bock, Plymouth überhaupt verlassen hatte.

Blinzelnd hatte ihr Yovell die Szene beschrieben, die goldgerahmte Brille wie sooft hoch auf die Stirn geschoben. »Es war bei einem Uniformschneider in der Fore Street. Dort hat Käpt’n Adam einen prächtigen Uniformrock für den Jungen bestellt … Schon Sir Richard hatte da ein Konto.« Seine plötzliche Trauer überwindend, fuhr Yovell fort: »Der Schneider erscheint also händereibend und fragt eifrig bemüht: ›Was soll’s denn diesmal sein, Kapitän Bolitho? ‹ Der Käpt’n legt dem Jungen eine Hand auf die Schulter und sagt gelassen: ›Ihre Dienste für den jungen Herrn hier. Messen Sie ihm eine Fähnrichsuniform an.‹ Mit Augen so groß wie Suppentassen starrt Napier ihn an, kann nicht glauben, was er da hört, was der Käpt’n sich ausgedacht, ja, schon seit Monaten geplant hat.«

Nancy hatte sofort verstanden, Napier gegenüber aber nichts davon erwähnt. Trotz der Außerdienststellung von Unrivalled hatte Adam auf diesem Schritt bestanden. Sir Richard hätte wahrscheinlich genauso gehandelt. Der Gedanke trieb ihr das Wasser in die Augen.

Leichthin fragte sie: »Und wann wirst du von deiner neuen Verwendung hören?«

Dankbar für die Ablenkung, lächelte Adam. »Man hat mir gesagt, daß mir der Bescheid der Admiralität hierher nach Hause zugestellt wird.« Wieder ließ er den Blick über die Familienporträts an der Wand gleiten: Alle Bolithos hingen da, alle außer Hugh, seinem eigenen Vater.

Er schob den Gedanken beiseite. »Das heißt, ich bekomme wohl ein Schiff.«

»Eine Fregatte?«

»Ich bin nun mal ein Fregattenkapitän.«

Sie wandte sich ab und ordnete einen Strauß Primeln in der Vase neu. Die gute Grace hatte es noch immer geschafft, bei der Heimkehr eines Bolitho frische Blumen aufzutreiben, selbst jetzt im März.

Adams Worte klangen in ihr nach. Genau dasselbe hatte damals auch Richard gesagt, als er aus der Südsee zurückgekehrt war, mit dem Fieber im Leib, das ihn fast umgebracht hätte. Und Ihre Lordschaften hatten ihm keine Fregatte gegeben, sondern die alte Hyperion.

Am Schreibtisch nahm Adam ein Skizzenblatt zur Hand, eine Meerjungfrau, die einem vorbeikommenden Schiff nachblickte. Ein kalter Schauder überlief ihn: Sie ähnelte Zenoria, die sich von den Klippen in den Tod gestürzt hatte … Die kleine Zeichnung hatte ihm seine Base Elizabeth geschickt, Richards Tochter. Es deprimierte ihn, auch nur daran zu denken. Die Liebe, dann der Haß – und ein Kind dazwischen, hin und her gerissen.

Abrupt fragte er: »Wie geht’s Elizabeth? Ich wette, sie gedeiht prächtig in deiner Obhut.«

Nancy antwortete nicht. Adam und die junge Tochter des Volkshelden – Englands Admiral hatte Catherine ihn genannt – hatten etwas gemeinsam.

Sie waren beide ganz allein.

An der anderen Seite des Hauses, mehr dem Hof zu gelegen, stand Bryan Ferguson am Fenster und sah zu, wie Daniel Yovell einen Teller Suppe leerte, die Grace zubereitet hatte.

»Das sollte dich warmhalten, mein Freund. Außerdem brennt in deiner Kate ein tüchtiges Feuer … Wir halten ein Auge auf alles, seit du dich freiwillig zur Marine gemeldet hast.« Yovell ließ den Löffel sinken. »Das war ein prima Empfang, Bryan.« Er deutete auf einen Stoß Aktenordner. »Vielleicht kann ich dir damit nachher ein bißchen zur Hand gehen?«

Ferguson seufzte. »Da würde ich nicht nein sagen.« Das Thema wechselnd, fuhr er fort: »Wir erfuhren schon vor einigen Tagen, daß ihr auf dem Heimweg wart. Die Kurierbrigg brachte Nachricht von euch, und Neuigkeiten verbreiten sich schnell hierzulande.«

Yovell knöpfte seine Jacke auf. »Als wir noch in Gibraltar waren, sahen wir sie auslaufen.« Er runzelte die Stirn. »Sie hat auch den Schadensbericht über die Unrivalled nach Plymouth gebracht. Ich glaube, der Käpt’n wußte schon damals Bescheid, insgeheim. Er hat’s nur verdrängt, weil die Unrivalled ihm so viel bedeutet. Ich hab’s zu verstehen versucht, aber für einen Kommandanten sieht die Sache natürlich anders aus.«

Ferguson warf einen Blick auf die Aktenordner. Als Gutsverwalter tat er sein Bestes, bemühte sich um Gewissenhaftigkeit, war aber kein junger Mann mehr. Dabei dachte er nicht einmal an seinen leeren, hochgesteckten Ärmel oder an die Schlacht bei den Saintes, wo er vor fünfunddreißig Jahren seinen Arm verloren hatte. Grace hatte ihn gepflegt, bis er wieder gesund war, und Kapitän Richard Bolitho hatte ihm die Stelle als Gutsverwalter angeboten. Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Yovell: »Siehst du John Allday noch oft?«

»Er kommt jede Woche auf einen Schluck von Fallowfield herüber. Manchmal wandern wir auch zusammen zum Hafen, er sieht sich gern die Schiffe an. Vermißt die See immer noch sehr.« Ferguson trat zum Kamin und stocherte im Feuer. Zischend fielen Regentropfen durch den gedrungenen Schornstein in die Flammen.

Er hielt inne, um die Katze zu streicheln, die wie üblich auf dem Sims döste, und schloß: »Käpt’n Adams Bootssteurer scheint ein harter Knochen zu sein.« Es klang wie eine Frage.

Yovell lächelte. »Wie Kalk und Käse, würden manche sagen, aber sie kamen sofort gut miteinander aus. Trotzdem – ein zweiter Allday ist er nicht.«

Verständnisinnig lachten beide.

Draußen stand David Napier im Schutz des Dachüberhangs und wandte den Kopf hin und her, um besser hören zu können. Es dunkelte bereits. Ihm war klar, daß er nach der Fahrt von Plymouth hierher eigentlich müde hätte sein sollen und ausgelaugt. Aber er konnte das Gefühl ungläubiger Verwirrung einfach nicht abschütteln. Er war mit ehrlicher, überwältigender Herzlichkeit empfangen worden. Grace Ferguson hatte ihn fast erdrückt, fragte ihn aus über sein verwundetes Bein und zeigte sich fast noch besorgter als bei seinem ersten Besuch. Auf Verlangen seines Kommandanten. Er hatte es sich immer wieder vergegenwärtigt. Wie seine zweite Beinoperation, die der irische Chirurg O’Beirne auf See vorgenommen hatte, kurz vor der blutigen Schlacht von Algiers. Die Wunde hatte sich entzündet und hätte ihm andernfalls den Tod gebracht. Daß er sich nicht gefürchtet hatte, wunderte ihn immer noch. Die plötzliche Agonie unter dem Messer, die vielen Hände, die ihn auf dem Tisch festhielten, der immer intensivere Schmerz, seine immer lauteren Schreie, bis er an dem Knebel zwischen seinen Zähnen fast erstickte und gnädige Dunkelheit sein Bewußtsein auslöschte.

Die ganze Zeit, so fiel ihm wieder ein, hatte des Käpt’ns Arm seine nackte, schweißnasse Schulter gepackt. Und seine Stimme irgend etwas von einem Pferd gemurmelt. Napier wandte sich um und spähte im Stall nach Jupiter, dem temperamentvollen Pferd, das seinen ungeschickten Reitversuchen mit solcher Verachtung begegnet war – damals bei seinem ersten Besuch in diesem großen Haus, an das er allmählich als an sein Heim zu denken wagte.

Jupiter stampfte schnaubend, und Napier zog seine Hand zurück. Der Kutscher, den sie alle den jungen Matthew nannten, obwohl er bestimmt viele Jahre älter war als der Käpt’n, hatte ihn gewarnt: Jupiter biß gern zu, wenn er Gelegenheit dazu bekam. Was würde seine Mutter denken, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? dachte Napier, verdrängte den Gedanken aber gleich wieder. Wahrscheinlich wäre es ihr egal.

Der Regen hörte auf. Er wollte die Küche suchen und die Köchin fragen, ob er irgendwie helfen könne.

Er leckte sich die Lippen. Dieses Bild wurde er einfach nicht los: Wie die Kutsche vor dem Laden schwankend zum Stehen gekommen war und der Käpt’n ihm befohlen hatte: »Komm mit. Es dauert nicht lange.«

Da hatte er noch geglaubt, daß der Kommandant sich um sein Schiff grämte, noch einmal die Minuten des Abschieds durchlitt, das letzte Händeschütteln, das Abstößen der Gig. Das hätte er nur zu gut verstanden.

Doch als der Käpt’n den grinsenden Schneider in bunter Weste, mit seinem baumelnden Zollstock, angewiesen hatte, für diesen jungen Herrn Maß zu nehmen, war es sein Ernst gewesen. Das schien auch der offensichtlich entzückte Yovell zu begreifen. Eine Fähnrichsuniform.

Eine Szene wie im Traum. So unwirklich. Vielleicht überlegte der Käpt’n es sich ja noch anders. Und woher nahm er das Selbstvertrauen zu glauben, er könne dieser phantastischen Chance gerecht werden?

»Du dort drüben – ist jemand zu Hause?«

Napier fuhr herum, seine Augen im wäßrigen Abendsonnenschein mit dem Unterarm beschattend. So tief war er in Gedanken gewesen, daß er das Pferd nicht kommen gehört hatte.

Es war eine junge Frau im Damensattel und ganz in Rot gekleidet. So dunkelrot wie der Wein, den er manchmal seinem Kommandanten eingeschenkt hatte. Ihr dunkles Haar war mit einem Tuch zusammengehalten und tropfnaß vom Regen.

Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung fragte sie: »Willst du mir nun endlich behilflich sein, oder werde ich nur angestarrt?«

Eine Tür schlug, und der alte Jeb Trinnick – der, wie Napier gehört hatte, seit Menschengedenken für die Pferde sorgte – kam über das Pflaster herbei gehinkt. Von sich aus schon ein Riese von Mann, wirkte er mit seinem einen Auge noch wilder, seit er das andere bei einem Kutschunfall verloren hatte – vor so langer Zeit, daß es schon als Legende galt.

Gereizt funkelte er die Reiterin an und sagte: »Lady Roxby wird das aber gar nicht gefallen, daß Sie hier ganz allein auftauchen, Missy. Was ist denn aus dem jungen Harry geworden?«

Wieder diese trotzige Kopfbewegung. »Der konnte nicht mithalten.« Sie deutete auf einen Tritt. »Helfen Sie mir runter, ja?«

Napier griff nach ihr, als sie aus dem Sattel glitt, und der alte Jeb, immer noch mißbilligend vor sich hin murmelnd, führte das Pferd davon.

Die junge Frau trat vor Napier hin. »Neu hier, wie?« fragte sie.

Eigentlich gar keine Frau. Eher nur ein Mädchen. Napier hatte nicht viel Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, aber er schätzte sie auf nicht mehr als 15, im gleichen Alter wie er selbst. Und sie war sehr hübsch. Dem dunklen Haar, das er zuerst für schwarz gehalten hatte, setzte der Abendschein kastanienrote Lichter auf, wo es zu trocknen begann.

»Ich gehöre zu Kapitän Bolitho, Miss.«

Er war sich sehr bewußt, wie sie dastand oder sich bewegte, selbstsicher und ungeduldig. Von der Erwähnung des Kommandanten schien sie nicht beeindruckt zu sein.

»Aha, der Diener.« Sie nickte. »Ja, ich glaube, ich habe von dir gehört. Ein Besuch im letzten Jahr? Du wurdest von einem Esel abgeworfen.«

»Ich kann Sie zu ihm bringen, wenn Sie wollen, Miss.«

»Ich finde schon allein hin.« Dabei starrte sie durch die offene Stalltür in die nächste Box, in der ein mächtiges Pferd stand und den näherkommenden Stalljungen mit heftigem Kopfschütteln empfing.

»Eine prachtvolle Stute«, sagte Napier. »Sie heißt Tamara.«

Das Mädchen hatte sich schon zum Gehen gewandt, drehte sich jetzt noch einmal um und blickte ihm direkt ins Gesicht. Zum erstenmal sah er ihre Augen: graublau wie die See.

»Ich weiß«, sagte sie. »Sie hat meine Mutter getötet.«

Der alte Jeb Trinnick kam vorbei und sah ihr nach, als sie zum Haus ging. »Von der bleibst du besser weg, mein Sohn. Hält sich für zu gut für unseresgleichen.«

Napier wandte den Blick nicht von der großen Stute, die jetzt den Stalljungen mit dem Eimer beobachtete.

»Stimmt das mit ihrer Mutter?«

»Selbst schuld.« Der Blick seines Auges fixierte einen zweiten Stallburschen, der Stroh aufgabelte. »Sie war Lady Bolitho, Sir Bolithos Witwe.« Ein Lächeln glitt über seine groben Züge. »Schön, daß der junge Käpt’n wieder mal daheim ist. Aber ich nehme an, ihr müßt bald wieder weg? Wie das bei Seeleuten so ist?« Er ging davon, als jemand seinen Namen rief.

In diesem Augenblick traf die Erkenntnis Napier wie ein Blitz. Als hätte er eine Tür geöffnet und stünde jetzt einem Albtraum gegenüber. An Bord der Unrivalled hatte er manch einen Fähnrich und Kadetten gesehen, die zum erstenmal angemustert hatten: jung, eifrig und hoffnungslos unerfahren. Er hatte gehört, wie sie dem Kommandanten vorgestellt wurden. Hilfesuchend griff er nach der Stalltür.

Falls er Fähnrich werden sollte, dann mußte er sich dem ganz allein stellen, ohne Adam Bolitho. Denn sie würden nicht zusammen segeln. Nicht diesmal. Und vielleicht niemals.

Seine eigenen Worte fielen ihm wieder ein. Hier sorgt einer für den anderen.

»Immer noch auf den Beinen? Ich dachte, du liegst längst irgendwo in einer warmen, weichen Koje und pennst, solange du die Chance dazu hast.«

Schuldbewußt fuhr Napier herum, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen. Aber es war nur Luke Jago mit einer schweren Seekiste auf der Schulter. Als sei das ein Leichtgewicht, rauchte er mit der anderen Hand seine Tonpfeife.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Jago fort: »Sie haben mir ein Zimmer in Bryan Fergusons Kate gegeben. Und Grace kocht heute abend was Besonderes, extra für mich.«

Napier war immer wieder überrascht, wie schnell Jago sich überall zurechtfand. Er sprach von dem Verwalter und seiner Frau, als kenne er sie seit Jahren. Er war ein harter Mann und gefährlich, wenn man ihm in die Quere kam, aber immer fair. Ein furchtloser Mann, den man aber nie ganz durchschaute.

»Ich sehe mir die Pferde an«, sagte Napier.

Jago zog an seiner Pfeife. »Bryan und ich machen einen Spaziergang zu einer kleinen Kneipe, von der er mir erzählt hat. Vielleicht kommt auch Mr. Yovell mit.« Die Idee schien ihn zu amüsieren. »Obwohl die Bibel wahrscheinlich eher nach seinem Geschmack ist.«

Sie wandten sich beide um, als ein neues Pferd aus dem Stall geführt wurde.

Jago bemerkte: »Scheußliches Wetter für’n Ausritt.«

Der Pferdeknecht richtete die Zügel und zog den Sattelgurt fest, während das Pferd ungeduldig das Pflaster stampfte. Selbst in dem schwachen Licht erkannte er die dunkelblaue Satteldecke mit dem goldgestickten Wappen in der Ecke.

»Das Pferd des Käpt’ns.« Das Mädchen im weinroten Reitkostüm fiel ihm wieder ein. Keine gute Zeit für einen Ausritt, wenn seine Tante und seine junge Kusine ihn daheim willkommen heißen wollten.

»Er macht sich eben große Sorgen«, murmelte Napier. »Der Verlust seines Schiffes …«

Jago musterte ihn mit seltsamem Blick. »Nicht nur darum sorgt er sich, mein Junge.« Er grinste, »’tschuldigung. Nicht mehr lange, und wir werden dich mit ›Mister‹ anreden müssen. Wie gefällt dir das, he?«

Napier reagierte nicht auf die Frotzelei. »Ich will nichts falsch machen, weißt du …«Jago wußte, daß es ihm ernst damit war. Die überstandenen Gefahren und seine Wunde, die ihn fast das Bein gekostet hätte, jedenfalls bei den meisten ihm bekannten Bordquacksalbern – das alles war nichts im Vergleich mit der nächsten Herausforderung.

Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Halt deine Nase sauber und behandle sie anständig, die Burschen, die bald zu dir aufschauen müssen, Gott steh ihnen bei.« Er schüttelte ihn leicht. »Bevor du dich’s versiehst, stehst du auf’m Achterdeck«, schloß er.

Stiefeltritte auf dem Pflaster, und dann stand Adam Bolitho, unterwegs zu seinem unruhigen Pferd, plötzlich bei ihnen.

Der Knecht rief herüber: »Sie halten besser die Augen offen, Käpt’n. Krieg oder kein Krieg, Wegelagerer sind auf der Landstraße immer zugange, Sir.« Adam lächelte, aber in seinen Augen stand Ärger. Zu Napier sagte er: »Hast du Lust, mal Jupiter auszuprobieren, David? Am besten schon morgen? Vielleicht reite ich hinüber nach Fallowfield, um John Allday und seine Familie zu besuchen.«

»Ich könnte Sie jetzt gleich auf Jupiter begleiten, Sir.« Doch er wußte, der Kommandant hörte ihn gar nicht, er war in Gedanken anderswo.

Dann saß er im Sattel, und sein alter Bootsmantel flatterte wie ein Banner im nassen Wind. Noch einmal drehte er sich um und blickte zu einem Fenster hinauf. »Ich bin rechtzeitig zurück«, rief er. »Sag der Küche Bescheid.« Dann galoppierte er davon, daß die Funken stoben.

Jeb Trinnick war herangetreten, ziemlich geräuschlos für einen so großen Mann mit Gehbehinderung. Als er Jagos Pfeife gewahrte, zog er einen Tabaksbeutel unter seiner Lederschürze hervor.

»Probier mal ’n bißchen hiervon. Hab’ ich letzte Woche von einem holländisches Händler gekriegt. Scheint ganz anständig zu sein.«

Jagos Gesicht hellte sich auf. Wieder einen Schritt näher gekommen. »Danke, das is’ nett von dir«, sagte er.

Napier fragte: »Hat der Käpt’n weit zu reiten?« Er wischte sich Regentropfen aus dem Gesicht.

»Wenn ich richtig liege«, antwortete Jeb Trinnick grantig, »dann will er zum alten Glebe-Haus.« Der Blick seines einzigen Auges folgte dem Rauchfaden aus Jagos Pfeife. »Is’n übler Platz. Mein jüngster Bruder, der in Truro lebte, bevor er nach Kampenduin über Bord fiel, sagte immer, dort spukt’s. Sogar die Kirche war froh, das Haus an den ersten besten verscherbeln zu können, der sich meldete. Das war der alte Montagu.«

Jago paffte Rauchwolken, »’n gutes Kraut, Jeb.«

Napier ahnte, daß die Frau im Ponywagen dahintersteckte. Er erinnerte sich noch genau an den Gesichtsausdruck des Kommandanten, als er den kleinen Zettel gelesen hatte, den sie ihm vor Unrivalleds Auslaufen an Bord geschickt hatte.

Jeb Trinnick fällte eine Entscheidung. »Wie dem auch sei, ich schicke ihm jedenfalls einen Knecht nach.« Er grinste. »Nur um ganz sicher zu gehen.«

Napier sah ihm nach, wie er hinkend im Schatten verschwand: ein Mann, der mit jeder Situation fertig wurde.

Wieder packte ihn Verzweiflung. Oh, so abgeklärt zu sein wie Trinnick oder Jago …

Plötzlich hörte er ein Knacken. Es kam von Jagos Tonpfeife, die er bisher so sorgsam gehütet hatte. Zerbrochen lag sie am Boden, und der Regen löschte die letzten Aschenreste.