Unterwegs im blauen Universum - Hans Fricke - E-Book

Unterwegs im blauen Universum E-Book

Hans Fricke

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Beschreibung

Die packende Biografie eines Mannes, der über 10.000 Stunden unter Wasser verbracht, Tauchboote und ein Unterwasserhaus gebaut, verschüttete Schätze aus Brunnen und Meeren geborgen und den Quastenflosser und andere faszinierende Lebensformen erforscht hat: Hans Frickes Buch ist abenteuerliche Tauchgeschichte, lebendiger Forschungsbericht, Ökothriller – und eine poetische Liebeserklärung an die Unterwasserwelt. Als er 11 Jahre alt ist, bastelt er sich aus Feuerlöscher und Gasmaske eine Tauchausrüstung. Später flieht er aus der DDR, um im Roten Meer zu tauchen, die Strecke nach Ägypten legt er mit dem Fahrrad zurück: Hans Fricke ist sein Leben lang besessener Meeresforscher und Taucher gewesen, auch der Tauch Tod eines Freundes bringt ihn nicht davon ab.Und er ist ein Visionär, ein »Möglichmacher«, dessen Begeisterung extrem ansteckend ist – wer sonst schafft es, ohne eigene finanzielle Mittel ein Unterwasserhaus und zwei Tauchboote zu bauen. Als Schüler von Konrad Lorenz, dem Gründer der Verhaltensforschung, schlüpft er regelrecht in die Schuppenhaut der Fische, erforscht Riffe, Quastenflosser, die mysteriöse Aalwanderung oder die Organismen an Islands Unterwasservulkanen. Aber Fricke wird im Laufe seines Lebens auch Bergungshelfer, der abgestürzte Flugzeuge aus dem Wasser holt, Historiker, der der größten Geldfälschungsaktion der Nazis im Toplitzsee auf den Grund geht, er taucht als Schatzsucher im tiefsten Brunnen der Welt und ist der erste, der sich mit einem Tauchboot ins Dauerdunkel der Alpenseen wagt. Viele seiner Forschungsgebiete hat er über Jahrzehnte genau beobachtet und ist dadurch zu einem der wichtigsten Dokumentaristen der Meeresökologie geworden.

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Seitenzahl: 387

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Hans Fricke

Unterwegs im blauen Universum

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Hans Fricke

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung1 Frühe Jahre am Roten Meer2 Ein Sommer in Florida3 Graugans und Fisch4 Schuppentiere – weder stumm noch dumm5 Aldabra – im Reich der Elefantenschildkröten6 Ein Haus im Meer mit Blick ins Blaue7 Reise in die Dämmerung8 Miss Latimers Erbe9 Island – am Nördlichen Polarkreis10 Toplitzsee – Bakterien, Gold und Zeitgeschichten11 Katastrophenhelfer12 Das Fest der Schwefelmollys in Mexiko13 Aale – die Spuren eines Jahrhunderträtsels14 Verschollen 80 Grad Nord15 Sir Huberts Reise zum Nordpol16 Die Alpenseen – Welten im Dauerdunkel17 Flohkrebse – eine Obsession von mir18 Der Elefant im tiefsten Burgbrunnen der Welt19 Korallenriffe – Diaspora eines Lebensraumes20 Ein ganz privates NachwortDank an …BildnachweisRegister wichtiger Namen und Begriffe
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Für Jürgen Schauer, Horst Bust & meine Frau Simone Fricke

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1Frühe Jahre am Roten Meer

Der Kinofilm Abenteuer im Roten Meer des unvergessenen Hans Hass aus den 50er-Jahren war es, der meine Lebenslinie bestimmen sollte. Ich war 11 Jahre alt. Das, was ich dort sah, war ein Traum für mich: einzutauchen ins nasse Universum mit künstlichen Flossen an den Füßen und einem riesigen Zyklopenauge vor dem Gesicht.

Auf der Xarifa-Expedition von Hans Hass war ein junger Wiener Doktor dabei, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, den sie Renki nannten. Natürlich konnte ich nicht ahnen, dass Renki später ein geschätzter, warmherziger Kollege und Freund von mir werden würde. Damals lebte ich in der DDR und als jemand, der hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen war, wuchs in mir die Sehnsucht, auch einmal in einem Korallenriff zu tauchen und Fische zu beobachten wie dieser junge Doktor aus Wien. Mit 18 Jahren flüchtete ich deshalb in den Westen. Dafür verließ ich alles, das Elternhaus, meine Freunde und die Tauchgründe an der Alten Elbe in der Nähe von Magdeburg.

Aus diesem Neuanfang wurden in den letzten sechs Dekaden 10000 aufregende Stunden als beobachtender Biologe in Ozeanen, Meeren, Seen, Flüssen, gefluteten Bergwerken, Höhlen und tiefen Brunnen. Und immer war ich auf der Suche nach Leben, neugierig zu erfahren, wer dort unten wohnte – eine aufregende Entdeckungsreise, ein Abenteuer der ganz anderen Art.

Ich fand dort unten auch vieles, was uns als Homo sapiens betraf, Zeugnisse unserer eigenen Welt, unserer Vergangenheit: Historisches, aber auch Zeitgenössisches, und ich entdeckte dabei so manches, was ich mit meiner sozialistischen Schulausbildung nicht verstand. Dinge, die unsere eigene Geschichte betrafen, das, woran wir zu glauben hatten, wie Gesellschaften kommen und gehen, im weitesten Sinne: unsere Zeitgeschichte und Politik – da hatte ich viele Mängel.

Kein Wunder also, dass ich nach einem abgeschlossenen Biologiestudium in Berlin, an dessen Ende ein Doktortitel vor meinem Namen stand, aus Neugier noch einmal in München zur Universität zurückkehrte und für zwei Semester Politik studierte. Aber mich hielt es nicht lange in den Vorlesungssälen, denn das Biologenherz forderte sein Recht – ich wollte immer wieder ans Rote Meer.

Schon in früher Jugend war ich zur Tat geschritten, und zwar mit einem Doppelrohrschnorchel aus volkseigener Produktion der DDR, versehen mit einem Tischtennisball am oberen Ende, der das Überfluten der Schnorchelröhren verhindern sollte. Eine einfache Technik, eine Art evolutionäre Vorstufe moderner Atemregler. Leonardo da Vinci hätte seine Freude daran gehabt. Das Ganze erinnerte an ein Hirschgeweih und genau so ging es auch in die taucherische Umgangssprache ein.

Das »Hirschgeweih«, Schnorchel aus der DDR. Aus einer Feuerlöscher-Druckflasche strömt Luft in Schläuche und Schnorchel. Ein Tischtennisball oben am Hirschgeweih dient als Ventil. © Horst Bust

Zusammen mit meinem alten Jugendfreund Horst hatte ich einen Feuerlöscher zweckentfremdet und seine 7-Liter-Druckflasche mit einer Motorradpumpe und unter ziemlichem Muskelaufwand auf stolze 14 bar gefüllt – immerhin fast 100 Liter Luft. Vorm Abtauchen öffnete ich das Flaschenventil. Wenn es über mir am Tischtennisball blubberte, waren die Schnorchelröhren und der dicke Gasmaskenfaltenschlauch für einen oder zwei sparsame Atemzüge luftgefüllt. Vier bis fünf Minuten blieb ich so unter Wasser. Viele Tauchgänge konnten wir damit allerdings nicht machen, denn es kostete zu viel Zeit und Energie, die Schnorchel zu füllen.

Horst baute deshalb eine großvolumige Pumpe: Angeschlossen war ein Gartenschlauch, der einen Luftsack auf dem Rücken des Tauchers füllte. Damit ließ es sich bequem tauchen und einmal erreichte ich in einem kalten Steinbruchsee sogar 19 Meter Tiefe. Da der Luftsack ein erhebliches Volumen hatte und der Wasserdruck auf ihm lastete, benötigten wir ein Rückschlagventil. Wir benutzten dazu eine flache Gummischeibe aus dem Filtersystem einer Kriegsgasmaske. Unter dem zunehmenden Druck zerriss die Scheibe einmal, und ich war in Sekundenschnelle ohne Luft, sie entwich hörbar schnell durch den Gartenschlauch nach oben. Und da ich für den Luftsack auf meinem Rücken Bleigewichte hatte mitnehmen müssen, zogen mich diese in 19 Metern Tiefe weiter nach unten. Ich geriet in Panik und mein doch noch kurzes Leben zog innerlich an mir vorbei. Ich durfte nicht sterben und dachte an meine Familie und besonders an meine Mutter. An den Steinen der Wand zog ich mich aufwärts bis ich – fast bewusstlos – in drei Metern Tiefe von meinen Freunden in Empfang genommen wurde. Heute befindet sich diese selbst gebaute Pumpe im Deutschen Museum in München.

Das Rote Meer, vorgestellt durch Hans Hass, wurde mein Sehnsuchtsort. Geld hatte ich keines, und so radelte ich 1962 fast bis an die Grenze des Sudan und verlor dabei in der Sommerhitze Ägyptens fast 11 Kilo Gewicht. Wie die Kamele dort an der Küste hatte ich wenig zu essen und damit den gleichen Ernährungszustand.

Viele Jahre später traf ich mein Idol Hans Hass in einem kuscheligen Restaurant in der Nähe des Stephansdoms in Wien – wir unterhielten uns über die Bedeutung von Träumen. Und im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche Kontakte zu vielen Persönlichkeiten des Tauchsports und der Unterwasserforschungswelt: Hans Hass, Jacques Cousteau, Jacques Piccard, Sylvia Earle, Krov Menuhin, Henri Delauze und viele weitere. Auch Lotte Hass und Leni Riefenstahl lernte ich kennen. Leni, die begnadete wie umstrittene Filmemacherin Adolf Hitlers, die noch im Alter von 100 Jahren tauchte, wurde durch puren Zufall meine Nachbarin in Pöcking am Starnberger See. Und da wir schon bei der Zahl 100 sind: Da war auch Jacques Mayol, der erste Mensch, der die 100-Meter-Grenze per Luftanhalten unterschritt – ein historischer Apnoe-Tauchgang. Heute, in unserem rekordsüchtigen Zeitalter, wird weit über das Doppelte erreicht, aber auch die Zahl der tödlichen Unfälle ist gestiegen.

Im Auftrag des Bayrischen Rundfunks sollte ich Mayols historische Tat unter Wasser filmen. Damals wusste man nicht, ob der Brustkorb Mayols nicht kollabieren würde, denn er tauchte ja mit dem Druck der Oberfläche ab. Es war also ein physiologisches, aber auch ein physikalisches Experiment. Ich sollte mit ganz normaler Pressluft den Rekordversuch filmen, aber lehnte aus Sicherheitsgründen ab. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich noch am Leben bin. Dafür verbrachte ich in der Cafeteria des Bayrischen Rundfunks einige großartige Stunden mit einem ungewöhnlichen Menschen und erfuhr vieles über sein Credo als »Homo aquaticus«. Mayol meinte, dass unser stark entwickeltes Unterhautfettgewebe zeige, dass wir früher einmal im flachen Meer gelebt hätten. Ein Jammer, dass Mayol so früh freiwillig aus seinem Leben schied.

 

Doch zurück zum Roten Meer. Einige Wochen vor meiner ersten Reise dorthin war ich noch einmal zum Zahnarzt gegangen. Eine Röntgenaufnahme ergab, dass die Zahnwurzeln meines gesamten Unterkiefers verbogen waren und sich Entzündungsherde gebildet hatten. Ich sei Zahnkraftler, behauptete der Arzt. Ein Backenzahn musste unbedingt halbiert werden, damit die andere, noch nicht verbogene Hälfte gerettet werden konnte.

Als ich nach der Operation die Universitätsklinik verließ, glaubte ich, dass der schwerste Teil der gesamten Reise wohl schon überstanden war. Ich musste auch ein guter Patient gewesen sein, denn noch nie hatte sich ein Zahnarzt bei mir für meine Geduld bedankt. Wenn ich in der Wüste Zahnschmerzen bekäme, könne ich den Restzahn einfach selbst herausziehen, bekam ich als gut gemeinten Ratschlag mit auf den Weg.

Der Weg zum Roten Meer wurde ein langer. Das mit fast 80 Kilo beladene Zweirad zu bewegen, bedeutete einen erheblichen Kraftaufwand, und ich benutzte deshalb neben meiner eigenen Muskelkraft auch alle nur verfügbaren Transportmittel: LKWs, Busse und Bahnen, Schiffe und anderes, was gewillt war, das merkwürdig beladene Gefährt aufzunehmen.

Die Küste des ägyptischen Roten Meeres war damals militärisches Sperrgebiet – anfangs wusste ich gar nicht, ob ich überhaupt Zugang erhalten würde. Im Automobilclub in der Qasr El Nil-Straße in Kairo fiel mir ein Stein vom Herzen: Die Küste war seit einigen Wochen freigegeben worden und ohne Erlaubnis befahrbar. Ich erhielt eine Landkarte der Wüstenstraßen am Roten Meer: Bis Sochna 189 Kilometer, bis Ras Gharib 369, bis Hurghada 529, bis Kosseir 714 Kilometer und dann war die Straße in Richtung Mersa Alam zu Ende. Ich hatte 700 Kilometer Weg vor mir, das schien mir nicht viel zu sein, wenn man europäische Maßstäbe anlegte, aber es war Wüstengebiet. Am 6. August 1962 stand ich endlich der rauen Wirklichkeit gegenüber. Ich war am Golf von Suez, in der Wüste, am Rande eines Gebirges. Ich schleppte jetzt stets viel Gepäck mit mir herum: Zeltutensilien, Tauchausrüstungen, Unterwasserkamera, ein Karton Filme, Trinkwasserbehälter, Konserven, Medikamente und Werkzeuge, kurzum alles, was ich auch im Ernstfall für einen Wüstenaufenthalt und Taucherei benötigte.

Es hatte schon merkwürdig ausgesehen, als ich voll beladen durch die Straßen von Athen oder Kairo geradelt war. Die meisten Verkehrsteilnehmer waren sehr rücksichtsvoll mit mir, aber trotzdem schwitzte ich, wenn ich mich durch das regellose Gewühl dieser verkehrsmäßig berüchtigten Städte hindurch schwindelte. Aufatmen konnte ich erst, als die letzten Häuser Kairos am Wüstenhorizont verschwanden – ich war am Beginn einer Reise ins Ungewisse.

 

In Suez, auf einer glatten Asphaltstraße, hatte ich dann das Stadtleben verlassen und fuhr in Richtung Meer. Viele Schiffe lagen dort auf Außenreede und warteten darauf, mit einem Konvoi durch den Suezkanal geschleppt zu werden. Ein recht einträgliches Geschäft. Ein Schiff von 10000 Tonnen musste damals für eine Durchfahrt 46000 DM zahlen. Heute sind die Kosten für eine Durchfahrt auf exorbitante 600000 bis 700000 $ gestiegen.

Als ich Sochna endlich erreichte, versperrte ein Schlagbaum den Weg. Ich musste wohl oder übel absteigen und wurde von zwei Soldaten umringt. Meinen Reisepass wollten sie sehen, der tief in meinem Gepäck versteckt war. Ich hielt ihnen das nächste greifbare Schriftstück hin. Als sie den Text von rechts nach links lasen, betonte ich, dass ich ein »Almani«, ein Deutscher, sei. »Almani kullu quies«, Deutsche sind gut, antworteten sie und öffneten den Schlagbaum. Ohne weitere Schwierigkeiten entließen mich diese beiden freundlichen Soldaten.

 

Ich verließ Sochna, und die eigentliche Felsenwüste lag vor mir. Die geteerte Schotterstraße wurde steiniger und führte in schmalen Serpentinen an den Berghängen vorbei. Oft schlug das Rad durch sein Gewicht hart in Schlaglöchern auf, und ich fürchtete um seine Speichen.

Der Golf von Suez enthüllte in seiner wunderbaren azurblauen Farbe und Klarheit alles, was dort im flachen Wasser lag. Nah am Ufer, nur wenige Meter vor mir, war es gelb von den durchschimmernden hellen Kieselsteinen. Alsbald ging es langsam in ein sattes Grün über und schließlich da, wo das tiefe Wasser begann, war die Zone des Blaus in vielfältigen Abstufungen. Dort lag das Korallenriff, mein Ziel. In der Ferne, über der öligen, weichen Oberfläche des Meeres sprangen Delfine grazil in die Höhe und tauchten wieder ein. Ich hielt Ausschau nach einer Haifischflosse, doch vergebens.

Ein ziemlicher Hunger plagte mich. Es war nicht richtig gewesen, gleich am ersten Tag 70 Kilometer in dieser Hitze zu radeln. Als die Straße ein Stück in das Gebirge einbog, stieg ich ab. Meine Sandalen versanken in dem rötlich-braunen Staub, der vor mir in einer kleinen Ebene lag. Die Hitze reflektierte vom Boden und legte sich schwer auf meinen Atem. In diesem Moment glaubte ich, dass ich die Gegend nicht lange ertragen würde.

Ich ließ das Fahrrad stehen und lief zum Ufer zurück, fand eine geeignete Stelle für mein Zelt, geschützt hinter einem großen Stein. Drei Mal musste ich die 300 Meter zu meinem Rad zurücklegen, um das schwere Gepäck in Sicherheit zu bringen. Dann sprang ich mit Sandalen und Klamotten ins warme Wasser, blieb einige Minuten darin liegen und versuchte an nichts zu denken, was mir anfangs auch gelang. Obwohl das Wasser im Flachen bestimmt 32 bis 35 Grad Celsius hatte, war ich doch gut erfrischt und hüpfte sogar aus Übermut über die Steine und versuchte einen Handstand zu machen. Das Zelt stand nur knappe sechs Meter vom Wasser entfernt. Hätte ich nicht meine Kameras bei mir gehabt, hätte ich gerne auf das Zelt verzichtet. Drinnen war es brütend heiß und es diente mir eigentlich nur als Schutz vor dem unangenehmen Staub, der trotzdem im Nu in alle Ritzen kroch. Ich trottete den Spülsaum entlang und fand Strandgut aller Art, was meinem Eremitendasein nützlich sein konnte. Eine dänische Margarinekiste wurde zur Speisekammer, ein Hühnergatter nahm ich für einen noch nicht definierten Zweck mit. Aus Kistenbrettern einer unbekannten Nation entstand ein kleiner Tisch und meine Behausung wurde langsam wohnlich.

Dann fand ich auf einem glitschigen Stein eine noch nicht aufgeweichte Speisekarte eines englischen Passagierdampfers. Das Wasser lief mir beim Lesen im Mund zusammen. Brennender Hunger machte sich jetzt bemerkbar, ich hatte am Morgen nur eine glitschige Birne gegessen.

Mein Weg führte von der Küste weg und führte mich in ein schmales Wadi, ein ausgetrocknetes Flussbett, aufwärts. Hier wälzten sich mächtige Steinhalden das Tal hinab, dem Meer entgegen. Hoch oben lag das Galala-Plateau. Nach etwa einem Kilometer schaute ich zurück und hatte einen selten schönen Ausblick auf den Golf von Suez. In diesem Augenblick ahnte ich nicht, dass mich in den folgenden Jahrzehnten über 40 Forschungsreisen hierherführen und mich zu einem Meeresforscher machen würden.

Wie großartig dieser landschaftliche Gegensatz war: Die Wüste endete direkt am Wasser, es öffnete sich neben der Ödnis ein paradiesischer Lebensraum – das war das Rote Meer. Hier allerdings, in meiner jetzigen Umgebung, wuchs nichts, nur ab und zu ein niedriger, fast runder Strauch von Zilla spinosa. Jetzt im Hochsommer waren die einzelnen Äste vertrocknet. An der Außenseite saßen kleine spitze Dornen und verliehen der Pflanze etwas Igelhaftes.

Kamel und Drahtesel – zwei Lastentiere in der Wüste.

Die Felsen strahlten mit dem hereinbrechenden Abend eine ungemütliche Hitze aus. Die Haut auf meinem Rücken spannte sehr. Ich hatte vergessen, ein Hemd anzuziehen und war sowieso, da kein Mensch sichtbar war, meist splitternackt herumspaziert. Ein gewaltiger Sonnenbrand war wohl im Anmarsch. Wenn ich jetzt mit meinen Sandalen über den groben steinigen Boden schritt, hallte es weit und breit, als ob ich über tönenden Untergrund liefe.

Mein Blick ging zu den höchsten Stellen des Galala-Plateaus, dann schaute ich weiter über den Rand des Wadis hinaus. Einige Berghänge lagen bereits im Schatten und das Rot des Sandsteins in den Tälern wurde immer wärmer. Die unheimliche Stille inmitten der Felsen bedrückte mich etwas. Ich war es nicht mehr gewohnt, keine lauten Stimmen, keine Schreie, Rufe oder Autogehupe zu vernehmen. Nicht einmal das Rauschen des Meeres drang bei der jetzt einsetzenden Flut herauf. Einerseits beunruhigte mich das Schweigen etwas, andererseits war es eine Entspannung für meine strapazierten Ohren.

Ich sah lange auf die Berge ringsum. Erst mein Durst zwang mich zur Rückkehr. Als ich mein Camp wieder erreichte, entdeckte ich Tierspuren. Ein Fennek, der Wüstenfuchs, hatte mich besucht und ziemliche Unordnung im Zelt verursacht. Sicher hatte er nach etwas Fressbarem gesucht, was ich ebenfalls in diesem Moment tat. Auch merkte ich, dass mein Kopf heißer und heißer wurde, Schüttelfrost überkam mich. An Schlaf war nicht zu denken, unruhig wälzte ich mich auf der Luftmatratze.

Der Orion ging schon im Osten auf, als ich endlich doch gegen drei Uhr einschlief. In der Nacht fiel die Temperatur auf 35 Grad Celsius. Ich war noch ganz benommen, als auf der anderen Seite des Suez-Golfes wieder die Sonne erschien. Massen von Fliegen krochen über mein Gesicht, kitzelten mich und trieben mich ohne Pardon aus dem Schlafsack.

Mein zweiter Wüstentag begann mit einem erfrischenden Tauchgang. Angetrieben durch die rhythmischen Schläge meiner Schwimmflossen, glitt ich durch einen fabelhaften Garten, dem Garten Eden unter den Wellen. Eine seltsame farbige Geisterhand reckte ihre Finger in das Wasser, über und über von winzigen Polypen überwuchert, die gierig ihre kleinen Fangarme ins Wasser streckten. Das ist eine seltsame Welt, die schweigt und doch so voller Leben ist.

Überall schwirrte und krabbelte es in den Korallen. Ich sah Schulen von kleinen silbrigen Fischen, die in gleichmäßiger Formation durch das Riff eilten. Eine große Makrele war hinter ihnen her. Einige Doktorfische flitzten durch die Korallenblöcke vor mir, in wunderbarer Harmonie von Körperform und Bewegungen. Warum musste die Natur diese Tiere mit solchen extremen Farben ausstatten, wozu dienten sie? Das fragte ich mich und begriff gleichzeitig, wie wenig ich doch vom Leben in den Korallenriffen verstand.

Ich hielt mich an einer Koralle fest, doch die Lunge forderte ihr Recht. Langsam stieß ich mich vom Boden ab und trieb der Oberfläche entgegen. Ich sah gerade noch einen koboldigen Pfauenaugenbarsch, der neugierig aus seinem Korallenbau hervorlugte, möglicherweise den Kopf schüttelte und dabei wohl dachte: Ob der Angst vor mir hat? Ich genoss diese Augenblicke, dem Treiben einfach als naiver, unvoreingenommener Beobachter zu folgen.

Auf dem Rückweg zum Ufer überfiel mich ein grässlicher Kälteschauer, obwohl das Wasser 31 Grad warm war. Als ich schließlich an Land stieg, war ich total erschöpft. Kurz vor Sonnenuntergang brachte mich warme Nestlé-Kondensmilch wieder auf die Füße. Doch mein Kopf war glühend heiß und hämmerte wie ein aufgezogener Automat. Ich hatte Fieber und überlegte, ob es überhaupt Sinn machte, jetzt mein Thermometer zu bemühen und für fünf Minuten in der Achselhöhle zu halten. Die Hand am Kopf sagte genug. Schließlich griff ich doch zum Thermometer und maß stattliche 40 Grad. Im Stillen musste ich mir ein Kompliment machen, denn ich fühlte mich noch relativ munter. Ich bildete mir sogar ein, dass das Thermometer vielleicht nicht in Ordnung sei. Nur meine Gedanken gingen etwas durcheinander.

Im Westen verfärbte sich der Himmel, die Nacht brach bald an. Wieder ging ein Wüstentag zu Ende. Ich saß auf einem Stein und bemerkte am Ende einer schmalen Bucht zwei Männer. Zuerst glaubte ich, es sei eine Halluzination, denn in den letzten beiden Tagen hatte ich keine Menschenseele hier gesehen. Doch jetzt kamen beide auf mich zu. Mir war nicht wohl dabei, in der Nacht unbekannten Besuch zu bekommen. Vorsichtshalber versteckte ich meinen Pass, mein Geld und andere Wertsachen draußen unter Steinen.

Als sie auf Rufweite waren, grüßte ich sie freundlich mit »Salam aleikum«. Sie dankten ebenso freundlich und amüsierten sich wahrscheinlich über meinen fremdartigen Dialekt. Ein breites Grinsen ging über ihre schwarzen Gesichter. Sie trugen zerrissene Khaki-Hosen und braune Hemden, aber keine Waffen. Der eine hatte ein gutmütiges, breites Gesicht, der andere war pockennarbig. Er lächelte auch, aber sein Lächeln gefiel mir nicht. Zu den stationierten Wüstensoldaten gehörten sie nicht, denn die trugen andere Uniformen und waren bewaffnet. Sie fragten mich, woher ich käme und wo mein Lager sei. Kurze Zeit später verabschiedeten sie sich.

Trotz meines angeschlagenen Zustandes folgte ich ihnen heimlich. Der Mond war gerade hinter den Bergen aufgegangen, sodass ich ein wenig Licht hatte. Traumwandlerisch bewegten sich die beiden zwischen den Steinhalden. Sie kannten die Gegend anscheinend. Ich schlich ihnen in gebückter Haltung nach. Plötzlich bogen sie rechts ab und liefen in ein Wadi hinein. Mir war etwas unheimlich zumute bei dem Gedanken, dass sie nicht die Einzigen sein könnten, die hier irgendwo in der Felswildnis hausten. Etwa fünfzig Meter waren sie jetzt vor mir. Gestern bei der Untersuchung dieses Wadis hatte ich noch geglaubt, der Einzige zu sein, der hier kampierte. In Kairo hatte man mich davor gewarnt, in dem Gebirge zu übernachten, weil kein Militär die im Inneren gelegenen Gebirgstäler kontrollierte.

Es sah so aus, als wüssten sie gerade nicht, was sie tun sollten. Der eine zeigte mit der Hand geradeaus, während der andere anscheinend für eine Abkürzung war und einen steilen, im Fels eingeschnittenen Weg bestieg. Als sie in der Mitte des Felsabschnittes angelangt waren, begann ich von unten den Aufstieg. Doch da rutschte ich auf dem lockeren Hangboden aus und eine Steinlawine rollte unter lautem Getöse abwärts.

Die sonst von tiefem Schweigen eingehüllten Wände des Wadi wurden zu Lautverstärkern. Ich hielt Ausschau nach meinen beiden Besuchern, doch sie waren spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Wie gerne hätte ich jetzt gewusst, ob auch sie – wie ich – zitternd vor Schreck und Angst irgendwo dort oben in einer Felsnische kauerten. Vielleicht war es gut für mich, dass ich den beiden so beigebracht hatte, dass jemand sie verfolgte. Ich jedenfalls verzichtete auf weitere Abenteuer.

Fast einen Kilometer war ich ihnen gefolgt und fühlte mich elend und ausgelaugt. Als ich mein Camp erreichte, sah ich, dass eine Kiste an einem anderen Ort lag. Als ich ein Streichholz anzündete und das Zelt untersuchte, bemerkte ich Chaos in meinen Sachen. Ein Überfall hatte stattgefunden. Gott sei Dank hatte ich Geld und wichtige Papiere vorher draußen versteckt. Eine Schachtel mit Filmen war aufgebrochen und meine Vorräte an Konserven und Medikamenten durchwühlt. Offenbar hatten die Diebe etwas ganz Bestimmtes gesucht.

Nicht zu wissen, wer es gewesen war und was sie gesucht hatten, ängstigte mich sehr. Schüttelfrost überfiel mich und ziemlich kraftlos legte ich mich draußen in einiger Entfernung in den Sand. Ich war in meinen Schlafsack gekrochen und drehte mich von einer Seite auf die andere, weil mein ganzer Körper vom Sonnenbrand schmerzte. Das Liegen wurde zur Qual. Meine Gedanken kreisten wirr umher, und ich wünschte, ich wäre in diesem Augenblick nicht so hilflos und allein dieser wilden Gegend überlassen.

Die großen, abgebrochenen Felsbrocken um mich herum nahmen plötzlich menschliche Gestalt an. Überall sah ich verzerrte schwarze Gesichter, die mich pausenlos anbrüllten. Sie schauten vom Himmel auf mich herab, saßen überall auf den Felsen und tanzten über dem Zeltdach, immer das gleiche Gesicht nur tausendfach vervielfältigt. Ich hielt es nicht mehr aus und schälte mich ruckartig aus dem Schlafsack, als ob ich sie dadurch vertreiben könnte. So tappte ich dann zum Zelt und kramte aus der Medikamentenschachtel Chinin gegen das Fieber und nahm eine Beruhigungstablette. Draußen vor dem Zelt fiel ich dann endlich in einen tiefen erholsamen Schlaf.

Die Fliegen weckten mich erst wieder, als der glutrote Sonnenball hinter den Bergen des Sinai auf der anderen Seite des Golfes aufstieg und seine heiße Tagesarbeit begann. Gott sei Dank, es war wieder hell! Wie erfrischend und köstlich war das Wasser, als ich für einige Minuten hineinstieg. Schnell rollte ich das Zelt zusammen, suchte alle Sachen aus den Verstecken heraus und wunderte mich nur, dass ich nach dieser Nacht alles wiederfand. Als ich auf das Rad stieg, war ich zwar immer noch matt, aber doch glücklich, diese Nächte überstanden zu haben. Die Sonne stand erst eine Handbreit über dem Horizont. Nur mühsam kam ich voran, genoss aber den kühlen Atem des jungfräulichen Morgens.

Eine berauschend bizarre rote Landschaft lag rechts von mir. Nur aus Stein und Sand geformt und überwölbt von einem unendlichen, blauen Himmel. Das war das Rotland, das bereits die Pharaonen gekannt hatten, das die Römer gelockt hatte und das nun im 21. Jahrhundert, fast 2000 Jahre später, wohl bald zu einer gewöhnlichen, ausgebeuteten Touristenlandschaft mutieren würde.

Linkerhand lag der Golf. In Tausenden kleinen, metallisch glänzenden Lichtpunkten spiegelte sich die Sonne. Breite, mit Steinen vollgepfropfte Wadis quollen aus dem Gebirge heraus und verliefen sich unten an der Küste, manchmal reichte das Gebirge bis ans Ufer. Dann wurde die Straße vom Fels eingezwängt und schlängelte sich an der äußersten Kante um den Berg herum. Eine neue Bucht tat sich dahinter auf, schöner als die vorhergehende.

Nach zwanzig oder dreißig Kilometern sollte laut meiner Karte ein Leuchtturm zu sehen sein: der Leuchtturm von Abu Darag. Durst zwang mich, den letzten Rest fauligen Wassers aus meinem Wassersack zu trinken. Mir wurde übel. Ich hatte danach nur noch den Wunsch, abzusteigen, auszuruhen und zu trinken. Zwei Stunden fuhr ich so dahin und nur der Gedanke an frisches, kaltes Wasser hielt mich aufrecht. War ich an dem Leuchtturm vielleicht schon vorbeigefahren? Manchmal bog die Straße nach rechts in Richtung des Gebirges ab. Doch plötzlich stand der Leuchtturm greifbar nah auf einem Sandsteinfelsen vor mir. Neue Kraft beseelte mich bei diesem Anblick.

Vor mir unter einem Portal stand ein Mann in sauberen Shorts, der Chef des Leuchtturms und Kapitän der Marine-Sendestation. Wir gingen in einen blitzsauberen Raum, und er reichte mir eisgekühltes Wasser. Mit jedem Schluck wachte ich mehr auf. Mein Gegenüber lächelte etwas und lud mich zu einem warmen Tee ein, um meinen geplagten Magen zu beruhigen.

Draußen, im Schatten des Leuchtturms, legte ich mich nieder und schlief sofort ein. Der Schlaf tat mir gut nach der letzten anstrengenden Nacht. Am Spätnachmittag weckte mich lautes Gelächter. Um mich herum standen neben dem Chef zwei andere fremde Personen vom benachbarten Leuchtturm Zafarana, 42 Kilometer weiter im Süden. Mit einem Eimer Wasser wollten sie mich wecken. Am Spätnachmittag verließ ich Abu Darag und wollte so lange fahren, bis es dunkel wurde, um dann irgendwo in der Wüste zu schlafen.

Hinter dem Sandsteinfelsen, dem Sockel des Leuchtturms, lag eine große Ebene. Das Fahren am Abend machte Spaß, obwohl es immer noch sehr warm war. Irgendwann bog die Straße vom Meer ab. Je mehr ich vom Wasser wegkam, umso wärmer wurde es wieder. Die Ferne war jetzt aschgrau und der Vordergrund, besonders die höher gelegenen Hügel, dunkelrot.

Über mir tauchten die ersten Sterne auf. Noch sehr schwach, aber doch schon erkennbar. Im Westen erkannte ich den Stern Arktur im Bootes. Sein starkes Licht durchdrang selbst den besonders hellen Westhimmel, der noch unter dem Einfluss der gerade verschwundenen Sonnenscheibe stand. Vor mir lag ein weites Tal. Mit ziemlicher Geschwindigkeit raste ich in die Dunkelheit. Es war gefährlich, denn die schweren Öl-Laster hinterließen tagsüber im aufgeweichten Teer tiefe Rillen, in die ich nicht hineingeraten durfte.

Eine halbe Stunde verging. Es war beängstigend, mit 40 Stundenkilometer die Täler fast unkontrolliert hinabzurollen. Das Gewicht des Gepäcks schob so stark, dass ich kaum bremsen konnte. Außerdem bedrückten mich die Einsamkeit und Stille. Weit hinten am Horizont entdeckte ich einen flackernden Lichtpunkt, den Leuchtturm von Zafarana – mein neues Ziel.

Gerade fuhr ich einen Hang aufwärts, als ich plötzlich in meiner Nähe Stimmen vernahm. Ein Schuss zerriss die Nacht. Das Geschoss schlug zwei Meter neben mir in den Sand ein. Ich war entsetzt und vergaß selbst das Treten. Nach der Schrecksekunde drehte ich mich um und sah – kaum hundert Meter entfernt – zwei Gestalten, die auf mich zuliefen. Mir wurde die Situation gar nicht richtig klar, ich wusste nur: jetzt ganz schnell weg. Ich trat so kräftig es nur ging in die Pedale. Ich hatte Angst vor einem zweiten Schuss, der vielleicht sein Ziel nicht verfehlte.

Glücklicherweise erreichte ich nach einigen Metern die Anhöhe des Hügels und raste außer Sichtweite das Tal hinab. Meine Beine zitterten und auch auf den Magen war mir der Schreck geschlagen. Nach einigen Kilometern hielt ich schließlich an und setzte mich auf einen Stein, um den Albtraum zu verarbeiten. Nun saß ich hier, allein, des Nachts in der Wüste, zitterte, weil vor wenigen Minuten auf mich geschossen worden war. Ich musste fast ein wenig lachen und dachte an meine Freunde in Berlin, die sich jetzt vielleicht gerade darüber amüsierten, wie der umtriebige Hans auf die stupide Idee gekommen war, das Rote Meer per Fahrrad zu bereisen.

Als ich wieder auf dem Rad saß, hatte ich mich gut erholt. Es gab nur zwei Arten von Menschen, die auf mich geschossen haben könnten: Haschisch-Schmuggler oder eine Wüstenpatrouille. Da ich ohne Licht fuhr, hatten sie vermutlich angenommen, dass das seltsame Fahrzeug etwas zu verbergen hatte. Ich glaubte nicht, dass sie das Rad in der Dunkelheit erkannt hatten.

Nach zwanzig Minuten erreichte ich einen Schlagbaum. Der wachhabende Soldat fiel fast aus allen Wolken, als er mich und das Rad aus der Finsternis auftauchen sah. Ich ließ mich gleich beim nächsten Offizier melden und berichtete den Vorfall. Er schaute mich von oben herab an und glaubte mir natürlich nicht. Um diese Zeit sei keine Streife in der dortigen Gegend eingesetzt.

Die Soldaten waren eigentlich alle sehr freundlich und hilfsbereit. Nur kam ihnen mein plötzliches Auftauchen aus der Wüste, noch dazu ohne Licht, nicht ganz geheuer vor. Zwei Funker des Leuchtturms brachten mich schließlich auf die Station – es war schon Mitternacht. Großes Palaver und verschmitzte Gesichter, als ich mein Rad in den dunklen Vorhof des Leuchtturms schob.

Beim Abschied am nächsten Morgen wurde ich mit dem Kapitän des Leuchtturms, der mir kaum bis zu den Schultern reichte, draußen fotografiert. Er erzählte mir dann auch, dass bei ihm schon mehrmals ein Diplomat mit seiner Frau übernachtet habe. Er verbringe immer seine Ferien hier und sei jedes Jahr neu verheiratet, sagte der Kapitän zwinkernd und dachte wohl das Gleiche wie ich, nämlich dass dieser Diplomat wohl durch und durch Junggeselle war.

Auf meinem Weg in den Süden traf ich auf Gemsa, einer Halbinsel, auf eine alte noch aktive Schwefelmine. Nur wenige Menschen lebten hier, einige Fischer und die Minenarbeiter. In der Nähe fand ich eine verlassene Siedlung, die erste Shell-Niederlassung auf ägyptischem Boden aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, heute ein totes Stück Land. Überall Ruinen und verfallene Mauern. Leere Fensteröffnungen starrten mich an und gaben den Blick frei in die Räume dahinter. Der Putz hing stellenweise noch an den Wänden. Haufen von alten Konservendosen und Flaschen lagen am Boden, ein Tummelplatz für Käfer und Skorpione.

Über eine verfallene Treppe gelangte ich auf die Terrasse einer alten Villa. Auch hier Totenstille in den Räumen. In einer Ecke lagen die ausgedörrten Knochen eines Vogels. Als ich einen aufhob, hielt ich Staub in den Händen. Keine Bomben hatten diese Häuser zerstört, sondern nur Hitze, Wind und Sonne. Etwas weiter entfernt entdeckte ich einen alten Mineneingang – ein mannshohes schwarzes Loch, das in den Berg führte. Fischer nannten den Ort Dschebel Um Sed, den Berg des Öles.

Nichtsahnend und neugierig trat ich, geblendet durch die Sonne, in die gähnende Finsternis. Die Luft hatte einen penetranten Erdölgeruch. Es sickerte aus den schwarzen Wänden. Plötzlich glitt ich aus und fiel der Länge nach hin. Zu meinem Entsetzen merkte ich, dass ich langsam einen Abhang hinabrutschte und dabei immer schneller wurde. Ich wollte schreien vor Angst, aber brachte keinen Ton heraus. Blind ruderte ich mit den Armen und erwischte dabei einen großen Stein, an dem ich mich festklammerte. Auf dem Bauch kroch ich dem hellen Eingang entgegen und warf dann, wieder in Sicherheit, einen Stein in die Finsternis. Nach Sekunden hörte ich, wie er in eine zähe Flüssigkeit fiel. Ich wagte kaum daran zu denken, dass ich beinahe ins ewig Schwarze abgestürzt wäre – für immer spurlos vom Erdboden verschwunden. Ich war nach diesem Erlebnis glücklich und wie neu geboren, es war wie ein gewonnenes zweites Leben.

Später klärte mich der Direktor der Mine auf, dass hier die Römer senkrechte Schächte gegraben hatten, um so das Erdöl zu sammeln. Mir lief bei seinen Worten ein eisiger Schauer über den Rücken, und noch Jahre später litt ich unter Albträumen, wenn nachts von draußen ein einsamer Lichtstrahl in mein Zimmer fiel.

Auf meinem weiteren Weg in den Süden wurden mir die Wüstenkilometer langsam zur Qual. Ich fuhr jetzt nur noch wenige Stunden nach Sonnenaufgang, da die Hitze tagsüber unerträglich wurde. Immer dieser wahnsinnige Durst und das kilometerlange, schnurgerade Band der klebrigen, steinigen Schotterstraße. Die Beine wurden zu Maschinen. Das Denken hatte ich sowieso schon eingestellt. Einmal verlor ich beim Trinken in voller Fahrt die Kontrolle über das Rad und stürzte. Einige Meter weiter landete ich mit einem aufgeschlagenen Bein im Sand. Doch das merkte ich gar nicht, lachte nur hysterisch, blieb liegen und trank weiter. Nur trinken, trinken, trinken.

Die Korallenriffe des Roten Meeres gehören zu den nördlichsten Riffen der Welt – ein Lebensraum der ökologischen Superlative.

Aber trotzdem hatte ich täglich wunderbare Abwechslung, wenn ich aus der Einsamkeit der Wüste innerhalb weniger Minuten in eine quirlige bunte Welt versetzt wurde, die das völlige Gegenteil war und zudem auch etwas Abkühlung versprach – beim Abtauchen ins Riff. Ich konnte mich nicht sattsehen, wenn ich das geschäftige Treiben der unzähligen Fische beobachtete, die in Scharen nervös über die Riffplatten eilten. Aus meiner »Vogelperspektive« glaubte ich kleine Häuser, Dome mit faszinierenden Kuppeln und filigranen Ornamenten zu erblicken. Von einer leichten Strömung erfasst, war ich einmal plötzlich am Ende des Riffs. Eine stärkere Strömung setzte ein und zog mich nach draußen ins offene Meer. Unter mir wurde es konturlos dunkelblau. Ich versuchte unter Wasser der Strömung entgegenzuschwimmen: auftauchen, Luft holen und wieder runter. Nach geraumer Zeit sah ich die Konturen des Riffs wieder und schwamm in das ruhige Wasser einer stillen Bucht.

Meine Fahrradexpedition am Roten Meer war ein jugendliches Abenteuer, bei dem viele Schutzengel Wache standen. So etwas gelingt nur mit jugendlicher Neugier, Elan und einer Menge Leichtsinn. Ich unterschätzte völlig die Dehydrierung meines Körpers und die Vernachlässigung der Nahrungsaufnahme, Unterzuckerung ereilte mich fast täglich. Aber vielleicht war es eben diese Haltung, die mich antrieb und auch immer wieder aus brenzligen Situationen rettete.

Danach fuhr ich jedes Jahr ans Rote Meer, beim nächsten Mal jedoch motorisiert mit einem Quickly NSU-Moped, das damals mit dem Motto »Nicht mehr laufen, Quickly kaufen« beworben wurde. 2386 Kilometer legte ich damit zurück. Danach ging es mit meiner Motorisierung aufwärts – Freunde des Unterwasserclubs Berlin luden mich ein, mit ihnen im Auto ans Rote Meer zu fahren. Später wurde es ein eigener VW Käfer, dann ein Landrover und schließlich wurde ich sogar Testfahrer eines gesponserten Mercedes-Geländewagens.

Ich besuchte regelmäßig meine alten Camps und Tauchgebiete und lernte viele Riffbewohner persönlich kennen – etwa ein Paar kleiner Schwarzspitzenhaie, die beide über fünf Jahre in der gleichen Bucht anzutreffen waren, oder einen dicken grünen Papageifisch, der sich stets über der gleichen Hirnkoralle von einem Putzerfisch bedienen ließ. Später kam ich in der Bucht von Disched El Daba den nachtaktiven Gorgonenhäuptern mit ihren 200000 Armverzweigungen auf die Spur. Sie sahen wie gewaltige Farne aus und filterten mit ihren Armen Plankton aus der Strömung. Sie wurden letztlich zu meinen Doktoratstieren, aber eher aus Verlegenheit, weil ich meine Universitätszeit endlich beenden wollte.

Ich hatte vom Tanz der Putzerfische gelesen, die anderen Fischen Parasiten absammeln und verpilzte Hautreste entfernen. Sie führen heftige Tänze vor ihren Kunden auf und signalisieren so ihre guten Absichten. Mit den Putzerfischen machte ich mein erstes Verhaltensexperiment, und ich ahnte damals nicht, dass ich dabei meiner Bestimmung begegnete. Ich bastelte einen Zitronenfisch und malte ihn mit Ölfarbe an. Würde der Putzer vor meiner Holzattrappe tanzen? Fiel er auf den Betrug rein? Es gelang, den Putzer hinters Licht zu führen, und ich war sehr stolz auf meinen Versuch. Er führte seinen Tanz auf, schwamm dann aber beleidigt von dannen, denn auf der wasserdichten Ölfarben-Oberfläche der Attrappe war keine Ernte zu machen. Heute weiß ich, dass die Interpretation dieser Versuche nicht leicht ist – mittlerweile würde ich sie anders machen.

Im Sommer 1963 traf ich in Hurghada eine archäologische Expedition der Karls-Universität Prag, die nach Hinterlassenschaften der Römer Ausschau hielt. Professor Zaba und sein Kollege Milan Hlinomaz luden mich ein, einen antiken Tempel in den Bergen zu suchen. Milan war eigentlich Doktor der Ökonomie und hatte eines Tages gemerkt, dass es ihn in die Wildnis zog. Das war ganz nach meinem Geschmack und zwischen uns stimmte die Chemie, wir wurden sehr schnell enge Freunde.

Durch Milan wurde ich ohne großes geschichtliches Hintergrundwissen zu einem »Viertelarchäologen« und begann nach der Rückkehr aus der Wüste, den Spuren der Römer auf der versandeten Via Hadriana zu folgen. Ich fand in der Tat den vergessenen Hafen Myos Hormos und weiter im Süden Qusseir al-Quadim. Mit dem Moped wagte ich mich gar in die Berge zum Mons Claudianus, einer römischen Siedlung, wo früher gewaltige Porphyrsäulen von über 20 Metern Länge aus dem Fels gemeißelt worden waren, und ich fragte mich, wie diese Säulen damals abtransportiert wurden.

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass ich einen Verehrer hatte, der mir unsichtbar mit seinem Motorrad folgte – Friedrich Wünnenberg. Friedrich hatte einen Vortrag von mir in Berlin besucht, wo ich über meine geplante Reise im Sommer 1965 berichtete. So lernte ich ihn kennen. Er war groß, sprach wenig und hatte einen würzigen trockenen Humor, den er mit ihm typischen Kopfbewegungen unterstrich. Beim Trinken hielt er das Glas mit der ganzen Hand umspannt, den Arm dabei immer etwas vom Körper abgespreizt.

Friedrich hatte eine umfangreiche Literatursammlung zu allen antiken Stätten in der östlichen Wüste Ägyptens, Archäologie war sein Hobby. Er wusste, dass ich mit der Quickly den antiken Mons Claudianus gefunden hatte, gemeinsame Interessen verbanden uns. Im Frühjahr 1965 planten wir dann eine gemeinsame Reise ans Rote Meer.

Wie jedes Jahr war ich im Wintersemester 1964/65 von Geldsorgen geplagt und wusste nicht, wie ich die nächste Reise finanzieren sollte. Ich war zwar inzwischen ein routinierter Zeitungsverkäufer geworden und verdiente an den Wochenenden in Restaurants, Kneipen, Bordellen und Spielhöllen zwischen Stuttgarter Platz, Savignyplatz und Kurfürstendamm mehr Geld als mein monatliches Universitätsstipendium einbrachte, doch die Reisekosten waren auch ziemlich gestiegen.

Da erreichten mich ein mysteriöser Brief und ein Scheck von einer »Gesellschaft zur Förderung meeresbiologischer Forschungsfahrten«, unterzeichnet von einem Dr. Ahlers, Bremen-Walle, Inschaallahstraße 10. Ich hatte noch nie von einer derartigen Gesellschaft gehört, aber war froh um das Geld und bedankte mich in einem Brief – jedoch kam er zurück, Gesellschaft und Straße unbekannt. Mir blieb das anonym zugesandte Geld lange ein Rätsel.

Am 8. September 1965 brachen Friedrich und ich nach Sharm El Luli auf, eine zauberhafte kleine Bucht weit im Süden von Ägypten, wo wir tauchen wollten. Friedrich kannte den Ort. Von hier aus wollten wir die Smaragdmine und einen Tempel von Kleopatra am Dschebel Sikat im Wadi Gemal suchen. Am Abend lagen wir entspannt im warmen Sand. Friedrich stopfte seine Pfeife, blinzelte und schaute in den Mond. Wir schwiegen beide. Die Plejaden gingen im Osten auf, als wir in unsere Schlafsäcke krochen. Am nächsten Morgen beluden wir das Motorrad, ich hatte Karte, Kompass, Wassersack und Konserven auf meinem Rücken und für die nächsten Stunden wurde ein festgeschnallter Reserve-Benzinkanister hinter Friedrich meine harte Sitzgelegenheit. Die Morgenfrische lag noch über dem Boden, als wir in das Wadi Gemal einbogen.

Die Sonne erschien am Horizont, und geheimnisvoll leuchteten die Berge, unsere Berge. Wir kamen ihnen näher und näher, sie waren schwarz und rot, mattrot im aufsteigenden Licht. Einige Antilopen kreuzten unseren Weg, ihre weißen Schwänze leuchteten. Dann standen wir am Bab des Wadis, seinem Eingang. Ich musste oft absteigen, weil der weiche Boden unter uns nachgab. Nach einer Stunde machten wir Rast.

Friedrich war abgespannt und müde. Beim Kontrollieren seines Motorrads stellte er fest, dass sich die Batterie langsam entlud – die Lichtmaschine war nicht in Ordnung. Wir mussten auf der Stelle umkehren, so kurz vor dem Ziel. Bei der Ausfahrt in die Küstenebene entledigten wir uns der vollen Wassersäcke, ließen das kostbare Nass über unsere Köpfe laufen. Ein königliches Gefühl. Aber doch schämten wir uns ein wenig, denn Wasser war in dieser Gegend ein rares Gut.

Bald würden wir wieder nach Berlin zurückkehren, und wir dachten an unsere Zukunft, überlegten, wann wir wieder einmal hierherkommen könnten. Ich wollte im nächsten Jahr nach Florida gehen, um am Cape Haze Marine Laboratory in Sarasota zu lernen, wie man ein Meeresforscher wird. Friedrich dagegen wollte sein Vordiplom in Maschinenbau machen. Da sagte er mehrmals Inschaallah, »so Allah will«, auf Arabisch. Mich durchfuhr es wie ein Blitz – die »Inschaallahstraße« in Bremen. Ich wollte Friedrich am Ende dieser Reise in Berlin fragen, ob seine Eltern mir das Geld hatten zukommen lassen. Doch im Wadi Gemal machte ich abends das letzte Foto von ihm. Einen Tag später lebte er nicht mehr.

Wie schön war dieser Abend. Die schmale Mondsichel am Himmel, die Wüste, das Meer und die Sterne über uns, wie schön war unser Leben, dieses Leben hier, diese Wildnis. Ich kämpfte gegen meine innere Erregung an, es kochte in mir wie in einem Vulkan. Wieder stopfte Friedrich seine Pfeife. Er war ein guter Gefährte und wäre er ein Mädchen gewesen, hätte ich ihm in diesem Moment ein Liebesgeständnis gemacht.

Er sprach an diesem Abend das erste Mal über sich und seine Eltern, die er hoch verehrte. Ich merkte immer mehr, dass ich es mit einem ganz besonderen Menschen zu tun hatte. Ich freute mich auf Berlin, denn ich hatte einen guten Freund gefunden. Wir sprachen über Dinge, die weit entfernt von unseren sonstigen Gesprächen waren. Friedrich liebte Plato, Philosophie, in ihm steckte ein guter Humanist. Auf der Rückfahrt zu unserem Camp entdeckten wir in der Bucht von Um Rush den VW Bus unserer Freunde aus Berlin. Sie hatten einen Dugong gesehen, eine Seekuh, die vermeintliche Seesirene. Friedrich war begeistert und baute sofort seine kleine Kamera ins Unterwassergehäuse ein. Ich war schon ins Wasser gesprungen, als aus dem blauen Hintergrund ein massiger Körper mit grazilen Bewegungen durchs Wasser auf mich zu sauste, vor seiner Schnauze ein Schwarm Pilotfische.

Jeder Muskel in meinem Körper vibrierte, denn mir war bewusst, wie selten dieser Augenblick war. Nur wenige Menschen haben dieses urtümliche Tier je unter Wasser gesehen. Kaum zwei Meter neben mir schwamm der Dugong im Kreis. Sein Körper wippte im Takt der mächtigen horizontalen Schwanzflosse. Ich versuchte, ihn zu berühren. Elegant wich er aus und verschwand im blauen Dunst. Mir fiel Friedrich wieder ein. Warum war er noch nicht im Wasser? Da kam er schon angeschwommen, und ich sprudelte heraus. Der Dugong war hier, und ich hoffte nur, dass er bald wiederkommen möge, damit ihn auch Friedrich sah. Er reichte mir seine Kamera: »Komm, nimm sie, du hast mehr Freude am Fotografieren als ich.« Das sagte er und tauchte dann ab, 25 bis 28 Meter tief. Verweilte am Grund, schwamm über den Grund – er war ein guter Taucher. Woher hatte er nur die Luft? Ich verspürte so etwas wie Ehrfurcht vor ihm.

Da tauchte er auf. Aber kaum hatte er die Oberfläche erreicht, ließ er sich in lebloser Haltung wieder hinuntertreiben. Ein Teufelskerl. Wo nahm er nur die Luft her? Zwei Meter tief, drei, fünf, sieben. Immer noch hatte er die gleiche Haltung. Fast aufrecht stand er im Wasser, die Arme etwas nach vorne gespreizt. Ich begann misstrauisch zu werden. Da war etwas nicht in Ordnung. Friedrich trieb in gleicher Haltung immer weiter abwärts. Nein! Mein Gehirn kämpfte gegen diesen bösen Gedanken. Das gab es nicht, so etwas war unmöglich – es durfte nicht sein. Leblos, gelähmt, keiner Bewegung fähig, trieb ich an der Oberfläche. Das Böse lag hier, war unter mir, direkt vor mir. Ich ließ die Kamera fallen, holte tief Luft und tauchte ab. Mein Herz raste. Fünf Meter, zehn Meter, dann konnte ich nicht mehr. Meine Brust schien zu bersten. Helfen wollte ich, doch das Wasser war zu tief. Friedrich sank zum Grund, 30 Meter unter mir, fiel zur Seite und bewegte sich noch einmal. Dann war Ruhe.

 

Meine Berliner Freunde tauchten mit Atemgerät und bargen Friedrich. Ich nahm ihn dicht unter der Oberfläche in Empfang. Sein Blick ging starr an mir vorbei ins Leere, die Seele war weg – das war ein Toter, den ich in den Armen hielt. Ich dachte an diesen letzten Morgen, an die letzten schönen Wüstentage, an seine Eltern.

Die Flut setzte gerade ein, und wir schleppten Friedrich über das breite Riffdach. Zwei Stunden kämpften wir mit Wiederbelebungsversuchen um sein Leben, aber es war umsonst. Wir fuhren schließlich nach Kosseir ins Krankenhaus. Ein etwas arroganter junger Arzt sagte nur: »He is dead, it was the will of God.« Aufgebahrt lag Friedrich in einer kleinen Kapelle, eine fremde Frau heulte laut.

Er wurde in Kairo beerdigt und da keiner wusste, welcher Religion er angehörte, hielten Moslems und Christen gemeinsam die Totenmesse ab. Eine evangelische Schwester des Deutschen Hauses, in dem ich in Kairo gewohnt hatte, war anwesend. Sie hatte gehört, dass ein deutscher Student am Roten Meer verunglückt war und glaubte daher, mich im Sarg zu wissen.

 

Am 16. Oktober flog ich nach Hamburg zu Friedrichs Eltern. Sein Vater, Doktor Wünnenberg, holte mich ab. Ich sagte: »Herr Doktor, ich danke Ihnen für das, was Sie mir im letzten Jahr zukommen ließen.« »Was meinen Sie Herr Fricke?«, fragte er. Ich erwähnte die »Gesellschaft zur Förderung meeresbiologischer Forschungsfahrten«. »Ach so, nein, nein, das Geld bekamen Sie nicht von mir, es war von Friedrich. Er hatte eine abgöttische Freude daran, anderen eine Freude zu bereiten. Deshalb der etwas seltsame Weg. Er wusste, dass Sie es sonst nicht angenommen hätten. Er hat Sie sehr verehrt.«

Nach Friedrichs Tod besuchte ich nie wieder die Küste des Roten Meeres im Osten Ägyptens. 53 Jahre sind seitdem vergangen. Dort hat sich alles verändert; so touristisch und zugebaut wie es heute ist, würde ich vermutlich nichts mehr wiedererkennen – die schöne Wildnis ist sicher verschwunden.

Bei unserem Camp in Disched El Daba entdeckte ich damals in 42 Metern Tiefe etwas, das mich zum Roten Meer zurückführte und später gar eine neue Lebensphase einleiten sollte. Es waren schlanke Aale, nur fingerdick, die wie in einem Garten in großen Scharen und in selbst gebauten Röhren auf sandigen Böden siedelten. Hans Hass nannte sie Röhrenaale, Konrad Lorenz sagte Spargelaale zu ihnen und im Englischen hießen sie »garden eels«.

Es war das einzige stationäre Wirbeltier im gesamten Tierreich, und ich wollte wissen, was diese Tiere zu dieser außergewöhnlichen Lebensweise bewog. Ich wusste, dass der deutsche Unterwasserfotograf Ludwig Sillner sie im flachen Wasser von nur 4 Metern entdeckt hatte – eine neue Art, die seinen Namen trug: Gorgasia sillneri.

Eine Schwierigkeit gab es bei ihrer Untersuchung: Sie lebten in Israel vor dem Aqua Sport Diving Center, ich musste also in dieses Land, dem Todfeind meiner ägyptischen Freunde. Ich hatte ein ägyptisches Kinderbuch gefunden, darin das Bild eines ertrinkenden israelischen Kindes. Es trug eine Uhr mit einem Zifferblatt, das den Magen David, den Judenstern, zeigte. Ein abscheuliches Bild, ich verstand die Welt nicht mehr und wie man ethische und moralische Grenzen so weit überschreiten konnte. Auch blieb mir unverständlich, dass viele Ägypter in Gesprächen stolz verkündeten, Hitler sei ein guter Mann gewesen, er habe die verhassten Engländer angegriffen und viele Juden getötet. Immer habe ich dagegen protestiert, doch nie Gehör gefunden. Ein schlechtes Gewissen plagte mich dort während der ganzen Zeit.

Dann sperrte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser die Straße von Tiran für die israelische Schifffahrt. Das wurde zum Auslöser für den Sechstagekrieg, ein Blitzkrieg, der vom 5. bis zum 10. Juni 1967 dauerte und mit einem Sieg Israels und der Annexion der Sinai-Halbinsel endete. Ich konnte nicht ahnen, dass dieser Krieg meine Eintrittskarte für jahrelange Forschungen werden sollte, die 1969 in Eilat am Ende des Golfes von Akaba und entlang der Sinaiküsten begannen. Aber erst musste ich das Handwerk der Meeresbiologie erlernen, weswegen es mich drei Jahre zuvor nach Amerika verschlug.

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2Ein Sommer in Florida

Bevor ich in die USA