Vamp City - Hinter den Zeiten - Pamela Palmer - E-Book

Vamp City - Hinter den Zeiten E-Book

Pamela Palmer

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Beschreibung

Auf der Suche nach ihrem Bruder gerät Quinn Lennox in eine dunkle Unterwelt, die nur sie sehen kann. Dort begegnet ihr der Vampir Arturo Mazza, der sie mit seinem gefährlichen Charme völlig in seinen Bann schlägt. Quinn glaubt, ihm nicht trauen zu können, doch wenn sie ihren Bruder retten will, ist sie auf seine Hilfe angewiesen.

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Inhalt

Über dieses Buch

Widmung

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Danksagung

Über die Autorin

Die Romane von Pamela Palmer bei LYX

Impressum

Pamela Palmer

Vamp City

Hinter den Zeiten

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Christian Bernhard

Über dieses Buch

EINE STADT DER EWIGEN DÄMMERUNG … WASHINGTON, V. C.

In Washington, D.C. häufen sich seit einiger Zeit die Vermisstenmeldungen. Keine dieser Personen ist bisher wieder aufgetaucht.

Als eine Freundin von Quinn Lennox ebenfalls spurlos verschwindet, begibt sie sich gemeinsam mit ihrem Bruder Zack auf die Suche. Dabei gelangen sie durch ein Portal n eine andere Welt – eine düstere Stadt namens Washington Vamp City, in der Vampire herrschen. Da diese die Stadt selbst nicht mehr verlassen können, halten sie sich Menschen als Sklaven und Nahrung. Quinn gerät schon bald in die Gewalt des ebenso gefährlichen wie attraktiven Vampirmeisters Arturo Mazza.

Obwohl dieser ihr Herz schneller schlagen lässt, kann sie nur an Flucht denken, denn nun muss sie nicht nur ihre Freundin, sondern auch ihren Bruder und sich selbst aus der albtraumhaften Parallelwelt retten. Noch ahnt niemand, dass Quinn der Schlüssel sein könnte, um die bedrohte Stadt vor dem Untergang zu retten. Denn die Magie, die Vamp City einst entstehen ließ, ist im Verfall begriffen, und schon bald drohen die Vampire in ihrer Stadt eingeschlossen zu werden, die eigentlich einmal ihre Zuflucht war.

Für Keith. Meinen Helden.

1

Im kühlen Labor des Clinical Center des National Institute of Health in Bethesda, Maryland, saß Quinn Lennox auf ihrem Hocker und studierte die Untersuchungsergebnisse, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Verdammt! Genau wie bei den anderen Tests zeigte auch dieser Befund nichts Ungewöhnliches. Nichts! Sie hatte wohl jeden wissenschaftlich bekannten Bluttest gemacht, doch bei allen kam heraus, dass der Patient ekelhaft gesund war. Vollkommen normal.

Die Untersuchungsergebnisse konnten also nicht richtig sein.

Der Patient war weder normal noch war er es jemals gewesen, und sie wollte unbedingt herausfinden, warum. Sie wünschte sich, auf eine wahnwitzige Zahl, auf einen der unzähligen Tests zeigen und sagen zu können: »Da. Das ist es. Das ist der Grund, warum mein Leben so verpfuscht ist.«

Denn es handelte sich dabei um ihre eigenen Untersuchungsergebnisse.

»Quinn.«

Als die Stimme ihrer Chefin von der Tür zum Labor zu ihr herüberdrang, zuckte sie schuldbewusst zusammen. Wenn jemand herausfinden sollte, dass sie die Laborgeräte benutzt hatte, um Bluttests von sich durchzuführen, würde sie sofort gefeuert werden. Sie widerstand dem Impuls, die Ergebnisse umzudrehen oder in ihrer Schreibtischschublade zu verstauen, legte das Blatt auf den Tisch und zwang sich, Jennifers Blick mit einer fragenden Miene zu begegnen.

»Hattest du Zeit, die McCluny-Tests durchzuführen?« Jennifer war eine rundliche Frau über vierzig mit einem großen Herzen und dem Drang, die Welt retten zu wollen.

»Natürlich«, antwortete Quinn lächelnd. »Die Ergebnisse liegen auf deinem Schreibtisch.« Sie mochte ja vielleicht unerlaubt Tests durchführen, tat das jedoch niemals zum Nachteil von jemand anderem.

»Hervorragend.« Jennifer grinste. »Ich wünschte, ich könnte dich klonen, Quinn.«

Bei der bloßen Vorstellung daran unterdrückte Quinn ein Stöhnen. »Eine von meiner Sorte ist mehr als genug.« Zumindest war es mit Sicherheit mehr, als sie vertragen konnte.

»Hey, ihr zwei.« Clarice blieb neben Jennifer im Türrahmen stehen. Sie trug ein T-Shirt, Shorts und hatte einen Kapuzenpullover aus Fleece um die Hüften geknotet. Es war nach sechs, und die meisten Labortechniker hatten schon Feierabend gemacht. Auch Clarice schien eindeutig auf dem Sprung zu sein, denn sie hatte bereits ihren weißen Laborkittel ausgezogen. Aber das sollte sie auch, schließlich würde sie in zwei Tagen heiraten. Die kurvige Rothaarige hatte in Quinns ersten beiden Jahren am NIH zu ihren besten Freundinnen gezählt. Bevor alles schiefgegangen war und Quinn sich von praktisch allen sozialen Aktivitäten hatte zurückziehen müssen.

Clarice klatschte in die Hände und strahlte dabei eine solche, fast schon greifbare Aufgeregtheit aus, dass Quinn es noch auf ihrem Platz in der Mitte des Labors spüren konnte. Die Worte zukünftige Braut tanzten der Frau quasi in sprudelnden Champagnerbläschen über dem Kopf. »Kommt ihr beiden morgen Abend zu meiner Wohnung oder treffen wir uns gleich in Georgetown? Larry und zwei seiner Trauzeugen fahren später jede nach Hause, die gebracht werden möchte.«

Der Junggesellinnenabschied … Bar-Hopping in Georgetown … Quinn biss sich leicht auf die Zunge, um es sich zu verkneifen, prompt abzulehnen. Nein, sie würde zu dieser Veranstaltung nicht hingehen. Auf gar keinen Fall! »Für mich ist es einfacher, wenn ich euch dort treffe«, entgegnete sie. Außer einer plötzlichen Erkrankung fiel ihr keine gute Ausrede ein. Doch dafür war es noch zu früh.

»Ich komme zu deiner Wohnung.« Jennifer tätschelte der jüngeren Frau die Schulter. »Du strahlst und siehst glücklich aus, Clarice. Kein bisschen wie eine dieser gestressten, verrückt gewordenen Personen, in die sich so viele Bräute heutzutage verwandeln.«

»Oh, ich bin verrückt, keine Sorge. Ich bin bloß verrückt vor Glück.«

»Dann bleib so. Bis morgen, Ladys«, verabschiedete sich Jennifer mit einem Winken und verschwand den Gang hinunter.

Clarice kam ins Labor, in dem sich nun nur noch Quinn befand, und setzte sich auf den Hocker neben sie. »Ich muss noch eine Million Dinge erledigen. Zwei Millionen.«

Quinn bedachte sie mit einem halb mitfühlenden, halb ungläubigen Blick. »Was machst du dann noch hier?«

»Aufschieben. Sobald ich hier zur Tür raus bin, werde ich, bis ich im Bett liege, mit hundert Sachen pro Stunde durch die Gegend rasen. Falls ich da heute Abend überhaupt noch reinkomme.«

Quinn nahm Clarices Hand. »Ich freue mich für dich.«

»Danke.« Clarice drückte nun leicht zu. »Ich bin so froh, dass du morgen Abend mit uns weggehst, Quinn.«

»Ich auch«, erwiderte sie schwach und hasste sich selbst dafür, dass sie nicht mitkommen würde, immerhin war ihre letzte Partynacht schon Ewigkeiten her und die kommende versprach richtig lustig zu werden. Und sie verabscheute es, Clarice zu enttäuschen. Doch sie wagte es nicht, mitzugehen. Nicht nach Georgetown. »Das will ich auf keinen Fall verpassen.«

Clarice löste ihre Hand aus Quinns Griff und sprang vom Hocker auf. »Genug aufgeschoben. Ich muss los.«

»Schlaf heute Nacht ein wenig.«

Clarice verdrehte die Augen. »Ich werde in den Flitterwochen schlafen.«

»Da hat Larry eventuell was anderes vor.«

Lachend verschwand ihre Kollegin um die Ecke.

Quinn ging zurück an ihren Tisch, faltete den Laborbericht zusammen und steckte ihn in ihre Handtasche. Dann zog sie ihren Kittel aus, blickte an sich hinunter auf ihre Kleidung und merkte, wie sich vor Anspannung ihr Magen verkrampfte. Oberflächlich betrachtet war sie für einen Arbeitstag im Labor ja ganz normal angezogen – trug Jeans (lilafarben), ein T-Shirt (rot) und Tennisschuhe (hellblau). Das Problem war nur, dass ihr Oberteil ursprünglich eine gelbe Farbe gehabt hatte, die Jeans blau gewesen waren und die Schuhe weiß, als sie sie am Morgen angezogen hatte. Das Schimmern war auf dem Weg zur Arbeit aufgetreten, so wie mittlerweile fast jeden Tag. Warum? Warum passierte das alles mit ihr und mit niemand anderem?

Sie verließ das Gebäude und machte sich auf den langen Weg quer über das NIH-Gelände zu ihrem Auto. Auf die lange anstrengende Fahrt durch den Washingtoner Verkehr freute sie sich nicht gerade. Mit der Metro zur Arbeit zu fahren war so viel einfacher gewesen. Aber auch öffentliche Verkehrsmittel kamen für sie nun nicht mehr infrage. Was, wenn sie einen Schimmer durchquerten? Wie zur Hölle sollte sie den anderen Fahrgästen den Farbwechsel erklären?

Aufgrund der Hitze an diesem späten Augusttag schwitzte sie bereits, bevor sie ihr Auto, einen zehn Jahre alten Ford Taurus, erreicht hatte. Als sie schließlich die Tür öffnete und auf das pinkfarbene Wageninnere starrte, das eigentlich schiefergrau hätte sein sollen, nahm das ungute Gefühl in ihrem Bauch sogar noch zu. Mit einem resignierten Schnaufen stieg sie ein, um wieder nach Washington D. C. hinein nach Hause zu fahren.

Ihr Leben war schon immer ein bisschen eigenartig verlaufen. Doch nun wurde es langsam ziemlich verrückt.

So lange sie sich erinnern konnte, geschahen merkwürdige Dinge, bisher allerdings eher selten. Lediglich zwei Mal waren sie auf beängstigende Weise seltsam und nicht bloß so dämlich wie diese Farbwechsel gewesen. Und nach dem zweiten schlimmen Vorfall in der Highschool hatte sich zunächst einmal gar nichts mehr ereignet. Erst vor ein paar Jahren war dann das Spiel mit diesen Schimmern losgegangen.

Vor ein paar Wochen hatten zudem noch die Visionen begonnen.

Ja, ihr Leben gestaltete sich so langsam wirklich verrückt.

Als sie sich dem Naval Observatory auf der Washington Avenue näherte, sah sie wie ein schwaches Glänzen im Sonnenlicht einen der Schimmer über sich, fast wie einen Regenbogen, den man manchmal im Dunst sehen konnte. Sie befanden sich immer an derselben Stelle, bewegten sich weder, noch ließen sie jemals nach – als wären es unsichtbare Wände in verschiedenen Teilen von Washington, die sie schon immer hatte sehen und auch ohne Zwischenfälle passieren können. Bis vor Kurzem zumindest … Nun mied sie sie nach Möglichkeit wie die Pest. Aber es gab nicht einen Weg zur Arbeit, auf dem man nicht mitten durch einen Schimmer hindurchfahren musste.

Und leider verlief einer mitten durch Georgetown, weshalb sie sich unmöglich am nächsten Tag mit Clarice, Jennifer und den anderen treffen durfte. Wie betrunken müssten die anderen Frauen wohl alle sein, um nicht zu bemerken, dass sich die Farbe von Quinns Kleidung direkt vor ihren Augen veränderte? Zu betrunken, deshalb war es ein viel zu großes Risiko.

Während sie durch den Schimmer fuhr, stellten sich ihr wie immer die Haare an den Unterarmen auf, das Innere ihres Wagens wurde wieder grau und auch ihre Klamotten sowie die Schuhe nahmen wieder ihre normalen Farben an.

Irgendwie hatte sie sich an diese Eigenartigkeit gewöhnt, doch im Großen und Ganzen machte es ihr Angst. Denn diese Wechsel traten mittlerweile immer häufiger auf, und sie wurde das ungute Gefühl nicht los, dass dies erst der Anfang war.

Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen …

Was würde als Nächstes passieren?

Quinn schloss die Tür zu ihrer Wohnung, die am Rand des Campus der George Washington University lag, auf und öffnete sie. Zur Begrüßung wehte ihr der Geruch nach warmer Peperoni-Pizza entgegen, und die heimeligen Geräusche einer Computerspielschlacht waren zu hören.

»Oh, schöner Schlag«, erklang Zacks tiefe, sonore Stimme aus dem Wohnzimmer. Seit wann hatte sie denn eine dermaßen dunkle Klangfarbe? Um Himmels willen, ihr Bruder war doch erst zweiundzwanzig, entwickelte sich aber wohl inzwischen zum Mann. Ein Computernerd, der schon vor langer Zeit seine Leidenschaft fürs Game Design entdeckt und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bereits die Liebe seines Lebens in Person seiner besten Freundin gefunden hatte – zumindest wenn er sich jemals eingestehen sollte, dass Lily und er mehr waren als nur Programmiererkumpel.

Quinn schloss die Wohnungstür hinter sich ab, legte ihre Handtasche sowie die Schlüssel auf dem Tischchen im Flur ab und ging dann zielstrebig ins Wohnzimmer, einen Raum, den sie nach und nach liebevoll eingerichtet hatte, um genau die richtige Mischung aus Brauntönen und Moosgrün mit ein paar Sprenkeln von Aubergine zu finden, die ihr gefiel. Doch die Menschen, die sich gerade in diesem Zimmer aufhielten, gefielen ihr noch viel mehr. Zack und Lily saßen nebeneinander an dem langen Tisch an der gegenüberliegenden Wand und hatten beide einen Rechner vor sich stehen. Auf dem Flachbildfernseher hinter ihnen liefen die Nachrichten, wobei die Lautstärke so eingestellt war, dass den Raum ein leises Murmeln erfüllte. Doch keiner der beiden schenkte dem Programm wirklich Beachtung. Sie klickten wie wild auf ihren Computermäusen herum und starrten auf die Monitore. Neben Lily stand ein Teller mit einem großen Stück fettiger Pizza. Neben Zack stapelten sich zwei große Pizzaschachteln. Der Kerl hörte einfach nie auf zu essen.

Lily warf einen Blick über die Schulter. »Hi, Quinn.« Ein süßes Lächeln erhellte ihr hübsches Gesicht, das von langem, glattem schwarzen Haar eingerahmt wurde.

»Hi, Lily.«

Ohne die Augen vom Computerbildschirm abzuwenden, schnappte sich Zack ein Stück Pizza aus der oberen Schachtel. Zu lange, lockige rote Strähnen hingen in sein attraktives Gesicht, als er mit nur einem Bissen die Hälfte der Pizza verschlang und diesen offensichtlich ebenso schnell hinunterschluckte.

»Hey, Schwesterchen«, begrüßte er Quinn sichtlich abgelenkt. Obwohl sie nur Halbgeschwister waren, sahen sie einander ausgesprochen ähnlich, mit Ausnahme der Haare. Von ihrem Dad hatten sie beide die schlaksige Größe, die grünen Augen, den großen Mund sowie die gerade Nase geerbt. Doch während Zack dichtes lockiges rotes Haar besaß, war Quinns so blond und glatt wie das ihrer verstorbenen Mutter. Auch charakterlich waren sie komplett unterschiedlich, deshalb kamen sie wahrscheinlich auch so gut miteinander aus. Bei Zack handelte es sich um die Gelassenheit in Person, während Quinn ums Verrecken nicht innehalten konnte. Etwas musste immer in Bewegung sein – ihr Körper oder ihr Geist –, am besten beides.

Lediglich zwei Dinge lagen ihr wirklich am Herzen: Zack und ihre Arbeit. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Sie mochte ihren Job und war auch verdammt gut darin. Doch wenn Zack auch nur die leiseste Andeutung machen sollte, dass es schön wäre, wenn sie mit ihm nach Kalifornien ginge, sobald er seinen Abschluss hätte, würde sie umziehen. Einfach so.

Doch das täte er nicht. Zack hatte schließlich Lily, jedenfalls solange er die Sache mit ihr nicht vergeigte. Er brauchte seine Schwester nicht. Das hatte er eigentlich noch nie. Nicht so, wie sie ihn zumindest.

»Whoa!«, rief er mit einem Bissen Pizza im Mund, als mitten im Spiel plötzlich irgendeine Art von Bombe hochging. »Hast du das gesehen, Lily? Super!«

Quinn nahm sich ein Stück Pizza, stellte den Fernseher lauter und schaltete zu den Lokalnachrichten um.

»In der Innenstadt von Washington D. C. ist erneut eine Person verschwunden. Das Ereignis steht in Zusammenhang mit einer Serie von Vermisstenfällen, denen die Polizei ratlos gegenübersteht. Die Zahl der in den letzten sechs Wochen als vermisst gemeldeten Menschen steigt damit auf zwölf. Der neueste Vorfall soll sich in der Nähe der George Washington University ereignet haben.«

»G. W.?«, entfuhr es Lily.

Doch als Quinn zu dem Mädchen herübersah, hatte es sich bereits wieder ihrem Spiel zugewandt. Die mangelnde Besorgnis wurzelte in der tiefen Überzeugung junger Menschen, dass so etwas Schlimmes immer nur anderen Leuten passierte. So hatte Quinn nie gedacht. Anders als andere Jugendliche war sie nicht davon ausgegangen, in einer ungefährlichen, sicheren Welt zu leben. Niemals!

Quinn aß ihre Pizza auf, trug dann ihren Laptop in ihr Schlafzimmer und ging ins Internet. Als sie irgendwann später die Wohnungstür zufallen hörte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie hatte fast zwei Stunden am Computer verbracht. War Zack gerade gegangen oder schon wieder zurückgekommen? Sie klappte ihren Rechner zu und verließ das Zimmer, um nachsehen zu gehen.

Ihr Bruder war in der Küche und steckte den Kopf in den Kühlschrank.

»Hast du Lily nach Hause gebracht, Zack?«

»Hmm.«

Sie nahm sich ein Glas und füllte es an der Spüle mit Leitungswasser. »Soll ich dir was machen?«

»Nein danke.«

Zack und Lily studierten beide als Hauptfach Informatik an der George Washington, hatten sich in ihrem ersten Jahr an der Uni kennengelernt und waren sofort dicke Freunde geworden. Diesen Sommer hatten sie sogar zusammen ein Praktikum in einer kleinen Spieleschmiede im Silicon Valley absolviert – einem Unternehmen, in dem sie beide nach dem Studium gleich anfangen konnten. Jedenfalls hatte Zack erwähnt, dass sie im Laufe des Semesters vielleicht ein paar Tests für die Firma machen würden.

»Habt ihr zwei heute Abend gespielt oder Tests gemacht?«

»Beides.«

Zack war nicht gerade der beste Gesprächspartner der Welt. In neun von zehn Fällen hatte sie Mühe, mehr als ein, zwei Worte aus ihm herauszubekommen, aber ab und zu gelang es ihr, die richtige Frage zu stellen, meistens wenn es um Computerspiele ging, und dann kaute er ihr ein Ohr ab.

Er richtete sich auf und hielt eine kleine Flasche Gatorade in der Hand. »Willst du auch eine?« Um die Augenwinkel ihres Bruders waren kleine Lachfältchen zu sehen, und die unausgesprochene gegenseitige Zuneigung spiegelte sich in seinem Blick wider.

Sie lächelte. »Nein danke.«

Daraufhin verließ er die Küche, in Gedanken ganz bei sonst was für Dingen, die ihm andauernd durch den Kopf schwirrten. So hatte er sich immer schon verhalten, er schien von seiner Umgebung nichts wahrzunehmen. Und dennoch war er immer für sie da gewesen. Immer. Zacks Zuneigung stellte die eine Konstante, das Absolute in ihrem Leben dar. Und war es schon immer gewesen.

Quinn stürzte ihr Wasser hinunter, goss sich dann ein Glas Wein ein und folgte ihrem Bruder ins Wohnzimmer, wo sie sich auf einem der Sofas zusammenrollte, vollkommen zufrieden damit, zuzuhören, wie Zack auf seiner Computertastatur herumtippte, während sie las. Wenn Lily zu Besuch kam, versuchte sie immer, Zack ein wenig Privatsphäre zu gönnen, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er das noch nie ausgenutzt hatte. Soweit sie es beurteilen konnte, sah Zack in Lily nur eine Freundin, nicht mehr. Doch eines Tages würde er morgens aufwachen und feststellen, dass es sich bei seiner besten Freundin um eine schöne junge Frau handelte, die zufälligerweise in ihn verliebt war. Und an dem Tag …

Quinn erschauerte, als sie eine nur allzu vertraute kühle Brise auf der Haut spürte. Ihr stockte der Atem. Die Haare auf ihren Armen richteten sich auf. Ach verflucht! Dieses Frösteln hatte sie in den vergangenen Wochen mehr als ein halbes Dutzend Mal empfunden. Doch neulich erst war ihr der Zusammenhang mit den Visionen bewusst geworden.

Sie stellte ihr Weinglas so schnell ab, dass etwas von dem guten Tropfen auf den Beistelltisch schwappte, sprang vom Sofa auf und ging mit schnellen großen Schritten hinüber zum Fenster. Doch je näher sie kam, desto langsamer wurde sie. Quinn zögerte, ihr Puls ging nun schnell und heftig. Sie wusste, was sie eigentlich sehen sollte, wenn sie nach draußen schaute – das Studentenwohnheim auf der anderen Straßenseite, zwei Dutzend hell erleuchtete Fenster, hinter denen sich Leben abspielte, und den Bürgersteig entlang parkende Autos. Ihr Herz klopfte wie wild vor Erwartung und aus Furcht vor dem, was sie stattdessen erblicken würde.

Verdammt, warum muss dieser Kram immer mir passieren?

Sie atmete kurz durch, trat einen Schritt vor und hob ihre zitternden Hände hoch an die Fensterscheibe, um ihre Augen gegen das Licht aus dem Zimmer abzuschirmen. Und wie befürchtet bot sich ihr ein unwirkliches Bild. Dort, wo sich eigentlich das Studentenwohnheim hätte befinden sollen, stand eine Zeile zweistöckiger Reihenhäuser, heruntergekommen und baufällig, die nur vom Mondlicht erhellt wurden. Anders als die reale Straße war diese hier unbeleuchtet, ungepflastert … Und unbewohnt?

In den vergangenen Wochen hatte sich ihr genau dieses Szenario schon drei Mal geboten, als sie aufgrund dieses merkwürdigen Fröstelns zum Fenster gegangen war. Aber warum? Hätte es in ihrem Leben nicht noch so viel andere merkwürdige Begebenheiten gegeben, wäre sie davon ausgegangen zu halluzinieren. Oder langsam verrückt zu werden.

Vielleicht bin ich es ja schon …

Das Wiehern eines Pferdes überlagerte den tatsächlichen Verkehrslärm, denn trotz der veränderten Szenerie vor dem Fenster waren die realen Geräusche noch immer zu hören. Sie riss die Augen auf. Vielleicht war diese Straße, die sie sich einbildete, doch gar nicht so unbewohnt. Sie schob das Fenster nach oben und beugte sich so weit vor, wie sie konnte, ohne sich die Nase am Fliegengitter platt zu drücken.

»Zack, mach das Licht aus und komm her.« Doch kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hatte, wollte sie sie am liebsten auch schon wieder zurücknehmen. Sie hatte geredet, ohne nachzudenken. Andererseits, wenn er es auch sähe …

Zack reagierte normalerweise nicht so schnell, doch ihr Tonfall musste zu ihm durchgedrungen sein, denn bis auf einen Computermonitor schaltete er alle Lichtquellen aus und kam dann wenige Sekunden später zu ihr.

»Was?« Er beugte sich herunter und spähte neben ihr durch das Fliegengitter.

Quinn schluckte. »Ich dachte, ich hätte ein Pferd gehört. Siehst du eins?«

Er streifte mit seiner Schulter ihre, als er sich drehte, um erst in die eine und dann in die andere Richtung zu schauen. »Nee. War bestimmt nur die berittene Polizei.« Er richtete sich wieder auf und ging zurück zu seinem Computer.

Quinn presste eine Faust auf ihre Brust, in der ihr Herz raste. Nur ein Mal wäre sie gern nicht der einzige Freak auf diesem Planeten gewesen.

Das markante Geräusch von Hufgetrappel wurde lauter und überlagerte den echten Verkehrslärm. Und dann sah sie das Tier, es zog einen Einspänner die verlassene, unbefestigte Straße entlang, eine dunkel verhüllte Gestalt hielt die Zügel. Unpassenderweise schoss nur einen Augenblick später ein gelber Jeep Wrangler durch die Szenerie und streifte die Kutsche, sodass das Pferd aufgeregt zur Seite auswich und der Fuhrmann wütend schrie. Dann plötzlich waren die seltsamen Geräusche und das Gesehene nicht mehr da, und Quinn starrte auf das Studentenwohnheim sowie die Autos, die sich wirklich vor ihren Augen befanden.

»Lily ist verschwunden.«

Als am nächsten Morgen Zacks panische Stimme durch das Handy drang, sprang Quinn sofort von der Bank im Labor auf und hielt sich mit der freien Hand den Kopf. »Bist du sicher?« Großer Gott! Diese Vermisstenfälle!

»Wir wollten uns vor der Uni treffen und wie immer zusammen zu unserem Kurs gehen. Aber sie ist nicht aufgetaucht. Und ich kann sie nirgendwo finden.«

»Geht sie nicht ans Telefon?«

»Nein. Sie hat mir gesimst, sie sei in fünf Minuten da, aber das ist jetzt auch schon wieder fünfzehn Minuten her, und sie ist immer noch nicht hier. Ich kann sie nicht finden, Quinn. Ich bin rumgelaufen und hab sie gesucht.«

»Zack.« So panisch hatte er noch nie geklungen – genau genommen war er es auch noch nie gewesen. Sie zermarterte sich das Hirn, um eine plausible, beruhigende Erklärung für Lilys Verschwinden zu finden, doch ihr fiel nichts ein, was zur ernsthaften, verantwortungsbewussten Art des Mädchens gepasst hätte. »Hast du ihre Mom angerufen?« Lily wohnte bei ihren Eltern drei Häuserblocks entfernt.

»Ich hab die Nummer nicht.«

Mist! »Kennst du die Namen ihrer Eltern?«

»Mr und Mrs Wang.«

»Zack. Es gibt bestimmt Hunderte Wangs in Washington.«

»Ich weiß.«

»Wo bist du?«

»Im Starbucks in der Pennsylvania Avenue.«

Er befand sich also nur ein paar Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt. »Bleib dort. Drinnen. Ich bin unterwegs.«

Dreißig Minuten später, nachdem sie ihre Arbeit einem Laborkollegen übergeben hatte, zu ihrem Wagen gerannt und über mehr rote Ampeln gerast war, als sie zugeben mochte, fand sie Zack genau dort vor, wo er gesagt hatte. Angespannt lief er auf und ab. Als er aufschaute und sie erblickte, wich die Verzweiflung in seinem Gesicht großer Erleichterung. So als wäre sie in der Lage, die ganze Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen. Oh Zack … Sein T-Shirt klebte an seinem Körper, sein Gesicht war gerötet und schweißüberströmt. Er liebte dieses Mädchen, das konnte sie ihm von den Augen ablesen, auch wenn er es selbst noch gar nicht wusste. Wenn Lily tatsächlich verschwunden war, dann würde dieser Verlust ihn umbringen.

Und seine Trauer würde wiederum Quinn umbringen.

Sie ergriff seine Hand und drückte seine schwitzige Faust. »Wo hast du überall gesucht?«

»In der ganzen Gegend.« Sein Blick trübte sich, und er presste gequält die Lippen aufeinander. »Sie ist nicht hier, Quinn.«

»Wir werden sie finden.«

Aber er kaufte ihr ihren Optimismus genauso wenig ab wie sie selbst. Die Polizei hatte bislang keine einzige der vermissten Personen gefunden. Nicht eine.

»Weißt du, wo sie sich aufgehalten hat, als du zuletzt von ihr gehört hast?«

»Sie war ganz in der Nähe. Einen oder zwei Häuserblocks von unserer Wohnung entfernt.«

Quinn legte den Kopf schief und sah ihn an. »Holt sie sich auf dem Weg zum Kurs nicht immer einen Kaffee?«

»Ja.«

»Wo?«

Er blinzelte. »Hier.«

»Hast du gefragt, ob jemand sie gesehen hat?«

Peinlich berührt verzog er das Gesicht. »Nein.« Er kramte sein Mobiltelefon hervor, während er zum Tresen ging, drängelte sich an die Spitze der Schlange und hielt dem Barista sein Handy hin, auf dem vermutlich ein Foto von Lily zu sehen war. »Ich suche nach meiner Freundin. Hat sie sich vor einer Weile hier einen Kaffee geholt?«

Der Mann blickte prüfend auf das Foto. »Ja. Lily, oder? Sie hat wie üblich einen Mocha Latte ohne Sahne bestellt.«

Als Zack sich schließlich wieder abwandte, schloss Quinn zu ihm auf, und sie schoben sich durch die Menge der morgendlichen Kaffeetrinker im Laden nach draußen. Aufgrund des grellen Lichts der Sommersonne musste sie blinzeln. »Lily ist also auf dem Weg von hier zu unserer Wohnung verschwunden. Das sind nur zwei Häuserblocks, Zack.« Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sie finden würden, obwohl Zack bereits nach ihr gesucht hatte, strebte damit gegen null.

Zusammen liefen sie den stark frequentierten Bürgersteig entlang und wichen Collegestudenten, Einheimischen sowie Touristen aus, während sie weiter nach Lily oder irgendeinem Hinweis Ausschau hielten, was ihr zugestoßen sein könnte. Quinn blutete das Herz, nicht nur wegen Lily, sondern vor allem auch wegen Zack. Sein großer Kummer hing förmlich greifbar in der schwülwarmen Luft.

Unvermittelt verspürte sie dieses wohlbekannte Schaudern und erschrak. Oh verdammt! Nicht hier. Nicht jetzt.

Sie waren fast am Häuserblock mit ihrer Wohnung angekommen, an jener Straße, in der sie erst in der vergangenen Nacht einen altmodischen Einspänner gesehen hatte. Im Dunkeln. Sicher würde so etwas nicht am helllichten Tag passieren.

Die Vorahnung und die Furcht brachten ihren Puls zum Rasen. Was, wenn sich ihr erneut dieses merkwürdige Bild bieten würde? Was, wenn sie plötzlich nicht mehr die reale Welt sehen könnte, so, wie es regelmäßig geschah, wenn sie aus dem Fenster schaute? Würde sie dann Leute anrempeln? Vielleicht sogar vor ein Auto laufen?

Sie fasste nach Zack und krallte sich an seinem Oberarm fest.

Der schaute sie hoffnungsvoll an. »Siehst du sie irgendwo?«

»Nein. Ich bin nur … Ich fühle mich nicht so gut.«

Er senkte seine hochgezogenen Augenbrauen und nahm ihre Hand von seinem Arm, um sie stattdessen zu umfassen und die Finger fest um ihre zu schließen.

Hand in Hand überquerten sie die Straße, schoben sich durch einen Pulk Rucksäcke tragender Collegestudenten und gingen um die Baustellenabsperrung herum, die den Blick auf ihr Wohnhaus versperrte. Als sie sie umrundet hatten, musste sich Quinn bei dem Anblick, der sich ihr bot, ein Keuchen verkneifen. Allem Anschein nach wurde ein kleiner Teil des Gebäudes links vom Eingang von einer Art Haus überlagert, einer Art Reihenhaus. Es stand etwas zurückgesetzt und war wie durch einen Spot erleuchtet, als fiele Scheinwerferlicht darauf, drumherum lag alles im Schatten. Ein baufälliges, wie ein Spukhaus aussehendes Gebäude, das nicht wirklich existierte.

Heilige Scheiße! Ruckartig blieb sie stehen.

»Du siehst etwas.«

Sie nahm Zacks Worte kaum wahr und antwortete, ohne vorher nachzudenken. »Ja.«

»Was?«

Seine Aufregung drang zu ihr durch. »Ich bin nicht sicher.« Dennoch begann sie, vorwärts zu gehen, den Blick weiterhin auf das unglaubliche Bild gerichtet, das sich ihr bot. Der Gehweg verlor sich in den Schatten, die sich fast bis zur Straße erstreckten, so als wäre die Vision dreidimensional, als wäre ein Stück, eine viereckige Säule, aus einer anderen Welt herausgeschnitten und mitten in ihre fallen gelassen worden. Auch wenn es so wirkte, dass das Haus eigentlich gar nicht innerhalb dieses Stücks stand. Tatsächlich schien die Säule noch nicht einmal bis zur Vorderseite ihres Wohnhauses zu reichen. Es war, als fungierten die Schatten wie ein Fenster zu einer Welt, in der das Gebäude einsam und verlassen stand.

Quinn runzelte die Stirn und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Warum konnte sie, wenn diese Szenerie nachts auftauchte, eine ganze Landschaft sehen von … was eigentlich? War es eine andere Welt? Eine andere Zeit? Nein, es konnte sich unmöglich um eine andere Zeit handeln. Nicht wenn darin ein Jeep Wrangler durch die Gegend raste.

Warum aber war sie in der Lage, es zu sehen, aber niemand sonst? Und ganz eindeutig nahm es sonst niemand wahr. Die Leute liefen genau durch die Schatten, als wären diese gar nicht da.

Doch sie hatte bestimmt nicht vor, es ihnen gleichzutun. Bei ihrem Glück würden ihr Gesicht und ihre Haare lila werden.

Zack drückte ihre Hand. »Was siehst du, Quinn? Hat es was mit Lily zu tun?«

»Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich nicht«, antwortete sie aus Gewohnheit, denn sie wollte ihre Eigenartigkeit nicht offenbaren. Falls Zack bereits davon wusste, dann hatte er zumindest nie ein Wort darüber verloren. Und wenn er es nicht tat, wenn er die ganzen Jahre über glücklicherweise ahnungslos geblieben war, also dann brauchte er es jetzt auch nicht zu erfahren. »Gib mir nur einen Augenblick, Zack.« Sie ließ seine Hand los. »Warte hier.«

Quinn ging vorwärts und wich ein paar Collegestudenten aus, während sie sich dieser seltsamen Säule aus Licht und Schatten näherte. Sie stellte fest, dass es kein Scheinwerfer war, vielmehr erhellte Sonnenlicht die vordere Veranda eines Hauses, das nur gut vier Meter entfernt von ihr stand. Schimmel- und Schlammflecken überzogen die alten Backsteine des Mauerwerks; schon vor langer Zeit geborstenes Glas ließ Löcher dort aufklaffen, wo einst einmal Fenster gewesen waren, und die schief hängende Haustür baumelte nur noch an einer Angel. An ihr befand sich ein schräg sitzender, stumpfer Türklopfer in Form eines Löwenkopfs, der unvorsichtigen Besuchern förmlich entgegenknurrte. Besuchern, die längst weg waren.

Es sah so echt aus.

Die Säule selbst schien nur etwa zwei Meter breit zu sein, doch das Haus stand ohnehin dahinter. Zu beiden Seiten der beleuchteten Veranda lauerten Schatten und Dunkelheit. Es wirkte wie in einer nächtlichen Landschaft, die von einem Leuchtfeuer aus Sonnenlicht durchschnitten wurde. Und dennoch strömten die Leute weiterhin ahnungslos durch diese schattenhafte Säule. Ungerührt.

»Lilys Stift.«

Erst jetzt, als Zack nach dem leuchtend grünen Kugelschreiber griff, der genau im Schatten auf dem Gehweg lag, merkte Quinn, dass ihr Bruder ihr gefolgt war.

»Zack, nicht.«

Instinktiv packte sie ihn am Unterarm, als sein Arm … und ihre Hand … in die Schatten eintauchten. Durch die Berührung sprang Energie auf sie über, und sie bekam einen elektrischen Schock, was sich so anfühlte, als krabbelten Ameisen über ihren Körper. Sofort standen ihr die Haare an den Armen und auf dem Kopf zu Berge.

Ihr stockte der Atem, sie riss die Augen auf. In ihrem Kopf schrie es: Lass ihn los! Doch ihre Finger gehorchten ihr nicht rechtzeitig und plötzlich flogen sie beide nach vorn …

… ins Nichts …

2

Quinn landete auf allen vieren und schürfte sich die Handflächen an … an … Die Pflastersteine unter ihren Händen waren nicht die, die auf dem Gehweg vor ihrer Wohnung lagen. Als sie aufschaute, wich ihr alles Blut aus dem Gesicht.

»Quinn?« Zacks ängstlicher, verwirrter Tonfall hallte in ihrem Kopf nach.

Sie antwortete nicht; konnte ihm nicht antworten, denn das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hockte neben einem hellen, großen Lichtkegel, um den herum Dunkelheit lag.

Genau wie bei der Säule.

Ihr dröhnte der Schädel, doch sie erhob sich. Zack stand ganz in der Nähe, sein erstaunter Gesichtsausdruck spiegelte ihren wider.

»Was zur Hölle ist los, Quinn?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Dunkelheit verschluckte alles außerhalb des Lichtstrahls, aber Quinn spürte, dass es an diesem Ort noch viel mehr gab. Als sie sich umdrehte, fiel ihr die Kinnlade herunter, denn sie blickte auf jene Tür, die sie durch die Schatten hindurch gesehen hatte. Noch immer baumelte sie nur an einer Angel und besaß diesen verkommenen schief hängenden, löwenkopfförmigen Türklopfer. Quinn trat vor, stieg die beiden Backsteinstufen zum Eingang hinauf und hob die Hand, um das kühle, erodierte Metall zu berühren.

Echt.

Wie zur Hölle konnte das sein?

Sie wandte sich um und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erspähen. Als sie nach oben blickte, musste sie blinzeln. Okay, kein Scheinwerfer, das war Sonnenlicht. Aber wie …? Die Strahlen fielen auf dieses Fleckchen Erde – aber nirgendwo sonst drauf.

»Wo sind alle hin?«, fragte Zack.

»Ich weiß es nicht.« Die Menschen, der Verkehr … Ihr Wohnhaus … Alles war verschwunden. Unwillkürlich fing sie an zu zittern. Komische Erlebnisse gehörten zu ihrem Leben, aber nie war es so wie jetzt gewesen. Gott, hatte sie das etwa ausgelöst? Hatte sie sich und Zack irgendwie hierhergebracht … wo auch immer hier sein mochte?

Habe ich ganz Washington D. C. verschwinden lassen? Oder sind Zack und ich diejenigen, die verschwunden sind? Genau wie die anderen Leute.

Genau wie Lily …

Ohne jede Vorwarnung ging der Scheinwerfer … das Sonnenlicht … aus, als hätte ein Engel einen Schalter umgelegt und sie damit der Dunkelheit ausgesetzt.

Quinn rutschte das Herz in die Hose. Sie tastete nach Zack, der gleichzeitig nach ihr griff, ihre Arme stießen gegeneinander, schließlich fanden sie die Hand des anderen und umklammerten sie.

»Ich glaube, wir sind nicht mehr in Washington«, flüsterte Zack, als wäre die sie umgebende Dunkelheit ein lebendiges Wesen.

»Aber wo sind wir dann?« Sie spürte merkwürdige Verwirbelungen in der Luft mit sowohl sonnenwarmen als auch feuchtkalten Strömungen, und es roch nach Schimmel, Moder und etwas Angenehmerem – einer exotischen Würze, die Quinn nicht einordnen konnte.

»Ich weiß nicht. Wie kann die Sonne einfach so verschwinden?«

»Wie konnte sie nur auf einen Flecken scheinen?«, erwiderte Quinn.

»Wir müssen irgendwo drinnen sein, mit einem Dach über uns. Sie haben es wohl geschlossen.« Seine Worte klangen logisch, doch seine Stimme begann zu beben. »Glaubst du, dass Lily auch hierhin gegangen ist?«

»Vielleicht.« Zumindest hatte sie ihren Kugelschreiber genau an dieser Stelle fallen gelassen beziehungsweise war es genau dieselbe Stelle vor Quinns Wohnung gewesen, an der auch sie beide gestanden hatten. »Aber wo sind wir?«

Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, die, wie sie mit großer Erleichterung feststellte, nicht vollkommen undurchdringlich war. Es herrschte nur Abenddämmerung, nicht aber tiefe Nacht. Doch als sie besser sehen und etwas erkennen konnte, verflog diese Erleichterung schnell wieder. Alles aus der Welt, die sie hinter sich gelassen hatten, war verschwunden – die Menschen, die Autos, der Lärm der Stadt. Einzig der Verlauf der Straßen, ihre Breite und die Art, wie sie sich kreuzten, kam Quinn vertraut vor, auch wenn diese nicht gepflastert, sondern unbefestigt waren. Entlang der Straßen standen Gebäude, die jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit den modernen Wohn- und Bürohäusern in Quinns Nachbarschaft aufwiesen, sondern altmodisch und baufällig wirkten, so als stünden sie seit Jahrzehnten leer.

Und ihr gegenüber … Was zur Hölle? Sie zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf dieselbe Zeile verlassener Reihenhäuser, die sie wieder und wieder von ihrem Wohnzimmerfenster aus angeschaut hatte. Das war er also. Das war der Ort, den sie gesehen hatte.

Irgendwie waren sie mitten in diese Welt spaziert. Was bedeutete, dass es hier Menschen gab. Pferde, Kutschen, gelbe Jeep Wrangler … Ein Schauer der Erregung durchfuhr sie, doch gleichzeitig kämpfte sie mit dem tiefen Drang zu fliehen. Liebend gern hätte sie diesen Ort erkundet, um herauszufinden, was das hier war. Wo das hier war. Aber das Bedürfnis, ihren Bruder keiner Gefahr auszusetzen, überwog ihre Neugierde. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass es in dieser Welt gefährlich werden konnte.

»Wir müssen hier weg.« Die Frage war nur, wie? Quinn glaubte, es zu wissen. Die Säule hatte sie hereingezogen. Wenn sie wieder erschien – wie es aussah in Form von Licht –, warum sollten sie dann nicht in der Lage sein, auch auf demselben Weg wieder zu fliehen?

»Wir können nicht ohne Lily gehen.« Zacks Hände verkrampften sich um ihre, dann ließ er sie los. »Lily!« Seine Stimme hallte durch die verfallene Szenerie.

»Zack, schhht! Hier sind Leute.«

Mit schnellen, ruckartigen Bewegungen schaute er sich um. »Wo?«

»Ich sehe sie noch nicht. Ich bin bloß … Ich glaube, dass sie da sind.«

Wie zum Beweis erklang in der Ferne ein Schrei, der Schrei eines Mannes. Zur Warnung? Aus Angst? Sie erschauderte. Ja, es bestand eindeutig Gefahr. Sie musste sie beide nach Hause bringen. Jetzt. Ihr zog sich der Magen zusammen und ihre Brust schmerzte, weil sie immer wieder vergaß zu atmen.

Der Schrei verhallte, und es blieb ruhig. Keine Pferde, keine Motoren, keine Stimmen waren zu hören. Es gab nicht einmal Vogelgezwitscher. Stille machte sich breit.

»Komm schon«, forderte Zack sie mit einem Nicken auf. »Wir müssen Lily finden.«

»Wir wissen doch noch nicht einmal, ob sie überhaupt hier ist.«

»Es ist aber logisch, oder? Die ganze Zeit über verschwinden Menschen. Auch Lily ist verschwunden. Und letzten Endes sind wir auch verschwunden. Und ich weiß, dass dieser Kugelschreiber ihr gehört. Sie hat also keine dreißig Minuten vor uns an genau derselben Stelle gestanden.«

Dass die Vision dieses Mal dreißig Minuten angehalten hatte, war ihrer Erfahrung nach eine lange Zeitspanne. Wenngleich sie von ihrem Fenster aus auch einmal fast zwanzig Minuten lang auf eine geschaut hatte. Doch so konnte sie nicht argumentieren.

Quinn schluckte. »Wir wissen nicht einmal, wo wir sind.«

»Das ist egal. Wir suchen Lily und finden es dann heraus.«

Sie wollte sich dafür starkmachen, dass sie an Ort und Stelle blieben, bis die Lichtsäule wieder erschien. Doch sie kannte Zack zu gut. Wenn er meinte, dass eine Chance bestand, Lily zu finden, würde sie ihn nicht dazu bewegen können, zu warten. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, brannte auch ein Teil von ihr darauf, auf Erkundungstour zu gehen.

»In Ordnung.«

Zack lief los und marschierte mit großen, einnehmenden Schritten den Gehweg entlang, während sie sich bemühte, mit ihm mitzuhalten. »Du verhältst dich, als wüsstest du, wo du hingehst.«

»Ich möchte die Penn runtergehen.«

Sie sah ihn schief von der Seite an. »Die Pennsylvania Avenue?« Die Penn kreuzte ihre Straße zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt. Und ja, wenn sie zu Hause wären, läge sie in dieser Richtung. Aber … »Wir sind nicht in Washington, Zack.«

»Die Straßen verlaufen genauso.«

»Das hier kann nicht Washington sein. Es ist altertümlich.« Ihr fiel die Kinnlade herunter. »Wir sind nicht durch die Zeit gereist.«

»’türlich nicht. Schau dir diesen Ort doch an. Es ist eine Geisterstadt. Selbst die Bäume sind alle tot.«

Er hatte recht. Obwohl nur wenige Bäume zwischen den Gebäudereihen standen, waren alle grau und krumm und besaßen fast gar keine Blätter. Zudem entdeckte sie weder Büsche noch Gras. Es gab nichts, was den Eindruck gemildert hätte, dass dies ein trostloser, verfallener … lebloser … Ort war. Mit Ausnahme des Schreis. Und der Tatsache, dass sie in einer ihrer Visionen eine Kutsche gesehen hatte. Und unpassenderweise auch diesen Jeep Wrangler. Hier musste es also auf jeden Fall irgendwo Menschen geben.

»Es lässt sich ganz leicht rausfinden, ob das hier irgendeine verrückte Version der Stadt ist«, sagte Zack.

Sie wusste genau, was er im Sinn hatte, und eigentlich sprach nichts dagegen, dass sie es in Erfahrung brachten. Sie überquerten zwei Straßenkreuzungen, erreichten die Pennsylvania Avenue und bogen ohne groß zu zögern in die Straße ein, auch wenn Quinn sich fragte, ob dies so eine gute Idee war oder ob es nicht klüger gewesen wäre, zu versuchen, ein Versteck zu finden. Aber ein Versteck wovor? Und für wie lange? Wenn Lily sich hier aufhielt, dann mussten sie sie finden, Gott weiß, wie. Und früher oder später würden sie etwas zu essen brauchen. Und Wasser.

Seite an Seite schritten sie die Pennsylvania Avenue entlang oder besser gesagt dieses verlassen daliegende Ebenbild davon. Zwei Häuserblocks, drei. Und dann sahen sie es.

»Heiliger Strohsack«, murmelte Zack neben ihr.

Quinn klappte die Kinnlade herunter, als sie das Weiße Haus erblickte … oder besser gesagt das, was an diesem Ort dafür durchging, denn der ehemals wunderschöne, herrschaftliche Wohnsitz des Präsidenten war ebenso heruntergekommen wie alles andere, was sie bisher in dieser Welt gesehen hatten. Der einst perfekt getrimmte Rasen bestand nur mehr aus Dreck und Pfützen, die fast die Größe von Teichen besaßen, und aus dem sumpfigen Grund trieben beliebig abgestorbene Bäume.

Sie runzelte die Stirn, während sie weiterhin das Gebäude anstarrte. Etwas fehlte. Das Haus war nicht ganz so groß wie die Version, die sie kannte. »Der Ost- und der Westflügel sind nicht da. Und es sieht nicht so aus, als hätte es sie jemals gegeben.« Selbst der östliche Säulengang fehlte, während dort, wo der westliche Säulengang hätte sein sollen, so etwas wie ein zusammengefallenes Gerippe von einem Bau zu stehen schien. Das Dach war auf einer Seite halb eingestürzt, und in der hereinbrechenden Dunkelheit sahen die Mauern aus weißem Sandstein grau aus, so als hätte das Material begonnen zu schmelzen und zu zerlaufen.

Zacks Schulter streifte ihre, als er sich dichter an sie stellte. »So sah das Weiße Haus zur Zeit des Bürgerkriegs aus. Zumindest war das die Gebäudestruktur. Der Ost- und der Westflügel wurden erst später hinzugefügt. Mein Geschichtsprofessor hatte einen Druck davon an der Wand hängen.«

»Also sind wir im Washington der Vergangenheit? Aber die Vergangenheit war lebendig, und dieser Ort hier ist tot und scheint es bereits seit langer, langer Zeit zu sein.«

»Vielleicht befinden wir uns in einem Paralleluniversum.«

»So was gibt es nicht.« Sie hatte die Worte ausgesprochen, bevor sie begriff, wie absurd sie angesichts ihrer momentanen Lage waren.

Zack brummte. »Hast du eine bessere Erklärung?«

»Nein.«

»Lily ist hier. Das weiß ich. Und wir werden sie finden. Danach werde ich mit ihr das krasseste Spiel aller Zeiten entwickeln, denn es wird auf einem Ort basieren, den es wirklich gibt.«

Das musste Quinn ihm lassen. Selbst im Angesicht des Wahnsinns blieb er cool.

»Vorausgesetzt natürlich wir finden hier wieder raus.« Was, wenn sie nicht auf die gleiche Art wieder zurückkehren konnten, wie sie hergekommen waren? Irgendwie setzte sie nicht viel Hoffnung darauf, die Hacken zusammenzuschlagen und zu sagen: »Es ist nirgendwo so schön wie daheim.«

»Damit befassen wir uns später.«

Warum sollte man sich auch Gedanken über Level siebzehn machen, wenn man gerade erst mit dem Spiel begonnen hatte? Nur dass das hier kein Spiel war.

In der Ferne durchschnitt erneut ein Schrei die unnatürliche Stille. Diesmal war es der einer Frau.

Zack zuckte zusammen. »Lily.«

Quinn packte ihn beim Arm. »Nein. Die Stimme klang zu tief.« Doch ganz offensichtlich lauerten Gefahren an diesem Ort, Gefahren, mit denen sie nicht konfrontiert werden wollten. »Ich denke, solange wir nicht wissen, was hier vor sich geht, sollten wir uns lieber ein Versteck suchen.«

Sie warf einen Blick auf das baufällige Weiße Haus. War es so stabil, dass sie hineingehen konnten, wenn sie die Pfützen umrundeten?

»Hörst du das?«, flüsterte Zack.

Quinn hielt inne und versteifte sich, als sie Pferdegetrappel und das Rattern einer Kutsche bemerkte. War es wohl die, die sie von ihrem Fenster aus gesehen hatte? Ihr brach der Schweiß aus. Wer auch immer in dem Fuhrwerk saß, würde ihnen vielleicht helfen. Verstecken, schrie ihr Bauchgefühl geradezu, doch dann lag die Entscheidung nicht mehr in ihrer Hand, denn die Kutsche kam in Sichtweite, als sie die Querstraße einen Häuserblock weiter entlangfuhr, sodass Quinn und Zack nicht zu übersehen waren. Sie schien etwas größer zu sein als die in ihrer Vision, und trotz des wenigen Lichts konnte Quinn erkennen, dass das Paar, das in ihr saß, gekleidet war, als hätte es gerade die Kulissen von Vom Winde verweht verlassen.

Hieß das etwa, dass sie sich tatsächlich in der Vergangenheit oder in einer Art postapokalyptischen Version davon befanden?

»Ho.« Die Kutsche hielt mitten auf der Straße.

»Sollten wir wegrennen?«, fragte Zack.

»Einer von beiden ist eine Frau. Vielleicht helfen sie uns.« Quinn konnten sehen, wie das Paar seltsam mühelos aus der Kutsche ausstieg. Selbst bei der Frau wirkte es, als würde all der voluminöse Stoff überhaupt nichts wiegen. Und dann, ganz plötzlich, waren beide verschwunden.

»Was zur …?!«, entfuhr es Zack.

Quinns Herz setzte einen Schlag lang aus, begann dann wie wild zu rasen und blieb ihr fast stehen, als das Pärchen nur Sekunden später keine drei Meter entfernt direkt vor ihnen wieder auftauchte. Nie im Leben war eine Frau mit einem Scarlett-O’Hara-Rock schneller eine unbefestigte Straße heruntergelaufen, als es das Auge mitverfolgen konnte.

In Quinns Kopf hämmerte es. Ihr Instinkt schrie immer noch: Lauf!, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass es unmöglich war, vor diesem Paar zu flüchten. Es würde kein Entkommen geben.

Also hob sie das Kinn und blickte ihnen geradewegs entgegen. Beide wirkten jung und attraktiv, die Frau hatte ebenso blondes Haar wie Quinn selbst, war jedoch viel schöner. Ihre Ringellöckchen türmten sich unter einem raffinierten Hut, und das Mieder ihres eleganten Kleids war gefährlich tief ausgeschnitten, sodass ein heftiger Atemzug wohl gereicht hätte, um ihre Nippel zu entblößen.

Ihr Begleiter passte gut zu ihr – jung, gut aussehend und wie Abraham Lincoln gekleidet. Doch er schenkte ihnen ein Lächeln, das so schmierig war wie die Arbeitsklamotten eines Mechanikers und bei Quinn alle Alarmglocken schrillen ließ.

Zack sog scharf die Luft ein. »Das ist nicht gut.«

»Meinst du?«

Die Stille wurde von einem aufheulenden Motor durchbrochen. Quinn blickte hinter sich und betete, ihre eigene Welt möge sich dazu entschlossen haben, wieder aufzutauchen, doch nein, nichts hatte sich verändert.

»Und wo seid ihr hergekommen?«, fragte die Frau und klang dabei eher hocherfreut als neugierig.

Quinn trat einen Schritt vor, sodass sie zwischen dem Paar und ihrem Bruder stand. Zack fasste sie von hinten an den Schultern, so als wollte er sie beim ersten Anzeichen von Ärger hinter sich ziehen. Als wäre er zu sehr Mann, um sich noch von seiner großen Schwester beschützen zu lassen.

»Was ist das hier für ein Ort?«, wollte diese wissen.

Das Grinsen des Mannes wurde noch breiter. »Weißt du das denn nicht?«

»Sie müssen durch den letzten Sonnenstrahl hergekommen sein.« Die Frau löste sich von ihrem Begleiter und beäugte Zack mit gierigem Blick.

Es lag Jahre zurück, dass Quinn Kampfsport betrieben hatte, aber an ein, zwei Dinge erinnerte sie sich noch. Was bei Gegnern, die nicht so verdammt schnell waren, wohl auch durchaus hilfreich sein mochte. »Bleibt weg«, warnte Quinn und zuckte mit den Schultern, um Zacks Hände abzuschütteln, während sie sich in Kampfposition begab, wobei sie ihr rechtes Bein nach hinten verlagerte und die Hände vor dem Körper zu Fäusten ballte.

»Warum sollte ich zurücktreten, Süße?« Als der Mann lächelte, sahen seine Schneide- mehr wie Fangzähne aus. »Ich habe gerade mein Abendessen gefunden.«

Quinn starrte ihn mit offenem Mund an. Seine Fangzähne wuchsen …

»Verdammt, ich glaub’s nicht!« Zacks Tonfall klang eher ehrfürchtig als entsetzt. »Vampire.«

Quinn zog die Augenbrauen zusammen. »Das ist lächerlich.«

Der Mann lachte in sich hinein, und seine Augen veränderten sich, die schwarzen Pupillen nahmen eine verblüffend milchig-weiße Farbe an, während die Fangzähne immer länger länger und dicker wurden. Schärfer. »Ist es das, ja?«

Die Frau stürzte zuerst vor. Wobei stürzen nicht das richtige Wort dafür war. Sie flog regelrecht auf Zack drauf. Und noch bevor Quinn überhaupt imstande war, sich zu rühren, befand sich die Vampirdame mit ihrem Bruder bereits zwei Meter entfernt auf dem Gehweg, wo sie rittlings über ihm hockte und ihre Fangzähne tief in seinen Hals stieß. Sie würde ihn töten!

Quinn brüllte. Doch ehe sie auch nur einen Schritt nach vorn machen konnte, stürzte sich der Mann auf sie und wirbelte sie herum, als wöge sie nichts, drückte ihren Rücken gegen sich und umfasste sie mit Armen wie Stahlbänder. Sie kämpfte gegen seine Umklammerung an, trat nach hinten aus und warf den Kopf zurück, doch er wich jedem Schlag geschickt aus.

Und plötzlich spürte sie ein Stechen an der Seite ihres Halses. Fangzähne. Schmerz. Das passierte doch nicht wirklich! Vampire und Paralleluniversen gab es schließlich nicht.

Gab …

Es …

Nicht …

Sie versuchte, sich zur Wehr zur setzen, konnte sich jedoch nicht rühren. Er saugte an ihr! Saugte! Sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern und in seinen Mund rauschte, und es fühlte sich … gut an. Oh Gott! Das darf nicht sein, das ist falsch!

Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie eine Bewegung wahr und beobachtete, wie Zacks Angreiferin den Kopf hob, ihr Opfer anstarrte und sich dann anmutig erhob.

Zack folgte ihr benommen und mit leerem Blick. Der Junge stand ganz klar unter Schock.

»Zack!«, schrie Quinn.

Doch eine seltsame Mattheit erfasste ihren Körper und nahm ihr den Kampfeswillen, machte sie schläfrig.

Trotz der zunehmenden Lethargie drang ein Motorengeräusch zu ihr durch und kurz fragte sie sich, ob der gelbe Jeep, der in ihrer Vision vorgekommen war, auch in dieser Welt existierte.

»Frederick? Wir müssen gehen.« Die Vampirfrau wischte sich ihren blutigen Mund an einem schwarzen Taschentuch ab. »Du wirst sie noch aussaugen, Schatz.«

Aber der junge Mann gab an Quinns Hals nur einen genüsslichen Laut von sich.

Quinn fielen die Augen zu.

»Lass von ihr ab«, sagte ein Mann. Es war nicht die Stimme des schmierigen Kerls. »Du willst sie doch nicht umbringen.«

Der Vampir saugte unbeeindruckt weiter.

»Du möchtest von ihr ablassen«, redete der Mann mit ruhigem, fast schon hypnotisierendem Tonfall weiter.

Und dann, ganz unvermittelt, war sie frei, sank zu Boden und kauerte sich auf dem harten Gehweg zusammen.

»Sie gehört mir«, entgegnete der schmierige Typ. »Ich habe sie entdeckt.«

Sie hörte die Geräusche eines Handgemenges, einen schmerzerfüllten Schrei, dann das Klimpern von Pferdegeschirr und das schnelle Hufgetrappel einer wegfahrenden Kutsche.

Kurz darauf herrschte Stille.

Sie wurde von jemandem mit starken Armen hochgehoben, als wöge sie nichts. Ihr Verstand schrie: Kämpfe!, doch ihr Körper reagierte nicht. Nur unter Anstrengung schaffte sie es, die Augenlider zu öffnen, und starrte zu dem Mann hoch, der sie trug. Es war nicht der, der sie angegriffen hatte. Vielleicht ein bisschen älter. Gar nicht schmierig. Ein nettes Gesicht.

»Zack?« Sie brachte den Namen kaum über die Lippen.

»Dein Begleiter ist nicht mehr da.«

»Tot?« Sie hielt den Atem an, ihr Blickfeld verengte sich gefährlich.

»Genommen.«

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie etwas Gelbes aufblitzen, dann wurde sie wie ein nasser Sack auf den Beifahrersitz eines Autos fallen gelassen. Der Jeep … Erfolglos bemühte sie sich, sich aufzusetzen. Doch sie besaß nicht einmal mehr die Kraft, nach der Türverriegelung zu greifen. »Muss … ihn finden. Muss … fliehen.«

»Aus V. C. kann man nicht entkommen, cara.«

Sie versuchte, den Mann anzusehen, konnte ihren Kopf jedoch nicht drehen. »V. … C.?«

»Washington, V. C.«, antwortete er. »Vamp City. Dein neues Zuhause.«

3

Quinn lief mit schwingenden Armen und klackernden flachen Absätzen den vollen, sonnigen Bürgersteig entlang und beeilte sich … wohin zu kommen? Desorientiert verlangsamte sie ihr Tempo. Wo musste sie unbedingt hin? Mitten auf dem Gehweg hielt sie inne, sah sich mit einem Mal verwirrt um. Nichts kam ihr bekannt vor.

Jemand stieß mit ihr zusammen und brachte sie ins Stolpern. »Beweg dich!«, schrie die Person.

Eine Frau schritt geradewegs auf sie zu, als würde sie Quinn nicht sehen, als würde sie direkt durch sie hindurchgehen.

Quinn hob die Hände, um die Frau davon abzuhalten, in sie hineinzurennen, doch die Frau flog gekrümmt und mit weggestreckten Armen und Beinen nach hinten, und verschwand außer Sichtweite.

Um sie herum wurde alles still. Alle Leute drehten sich zu ihr um und starrten sie mit schreckverzerrten Mienen an.

»Ausgeburt des Teufels!«, zischten sie, bekreuzigten sich und wichen zurück.

Und dann sah sie Zack, der ganz in der Nähe auf dem Gehsteig saß, mit dem Rücken gegen ein Gebäude aus Backstein lehnte und den Kopf gesenkt hielt, da er mit seinem Gameboy spielte. Er war jünger, als sie es in Erinnerung hatte. Zwölf, vielleicht dreizehn.

»Schau nicht hoch«,flüsterte sie ihm zu. »Schau nicht hoch.«

Langsam drehten sich die anderen um und flohen, sodass der Gehweg und die Straße sich leerten, und es bedrohlich still wurde. Das einzige noch verbliebene Geräusch war die fröhliche, blecherne Musik aus dem Gameboy.

»Es ist an der Zeit, nach Hause zu gehen, Zack.«

Ihr Bruder nickte, stand auf und lief neben ihr her, ohne auch nur ein Mal aufzuschauen.

Quinn versuchte, sich auf die andere Seite zu rollen, schaffte es jedoch nicht und war schlagartig wach. Benommen mühte sie sich, die Beine zusammenzubringen, die ungelenk gespreizt zu sein schienen, doch auch dies gelang ihr nicht, und sie spürte sowohl an den Knöcheln wie an ihren Handgelenken ein Ziehen.

Unvermittelt überkam sie heftige Angst und vertrieb schließlich auch die letzte Schläfrigkeit aus ihrem Körper.

Seile. Sie war gefesselt worden.

Sie riss die Augen auf und blinzelte hoch zu dem geblümten Baldachin über sich, der von schlichten Pfosten aus Ahornholz eingerahmt wurde. Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust, während sie im Geist durch ihre Erinnerungen raste, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen war.

Wo bin ich?

Als sie sich auf der viel zu weichen Matratze ein wenig bewegte, fühlte sie Stoff auf ihrer Haut. Zumindest war sie immer noch angezogen.

Wie bin ich hierhergekommen?

An diesem Ort roch es fremdartig – muffig, wie in einem alten Haus. Irgendwo weiter unten erklang das Glockenspiel einer Standuhr, das vom Gelächter in einer alten Fernsehsendung unterbrochen wurde. Als sie den Kopf nach links drehte, erspähte sie einen alten Waschtisch samt einem Wasserkrug aus Porzellan. In dem kleinen Spiegel darüber … spiegelte sich ein Mann.

Sie riss den Kopf zur anderen Seite herum … und erstarrte. Ganz in Schwarz gekleidet stand er im Türrahmen und lehnte mit einer seiner breiten Schultern an dem Holz. Er wirkte groß und schlank, gut gebaut, seine Haut besaß einen südländischen Touch, sein dunkelbraunes Haar war kurz geschnitten und rahmte ein eindrucksvolles, kantiges Gesicht mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen, einer markanten Kinnpartie und einer langen geraden Nase ein. Seinen faszinierenden Mund hatte er zu einem schiefen Grinsen verzogen, was zu dem teuflischen Funkeln in seinen dunklen Augen passte.

Der Typ kam ihr irgendwie bekannt vor. Er war derjenige, der sie hochgehoben und auf den Beifahrersitz des Jeep Wrangler gelegt hatte. Nachdem …

Auf einen Schlag kam die Erinnerung zurück. Das Vom-Winde-verweht-Pärchen, das sie beide angegriffen, sie gebissen hatte. Vampire … Sie erstarrte vor Schock. Nein, das war nicht passiert. Es konnte nicht passiert sein.

»Zack.« Ihre Stimme brach, da sie lange nicht gesprochen hatte, und sie starrte den Mann an. »Wo ist er?«

Er drückte sich vom Türrahmen ab und kam auf sie zu, wobei sein Blick ganz leer wurde – kalt. »Du machst dir besser Sorgen um dich selbst, cara.«

Wir wurden angegriffen. Stimmte dieser Teil? Oder war das alles nur ein Hirngespinst gewesen? Na ja, sie konnte sich nicht alles nur eingebildet haben, sonst wäre sie nun nicht an das Bett von einem der Akteure gefesselt. Es sei denn, sie halluzinierte noch immer. »Ich muss wissen, wo er ist. Haben sie ihn umgebracht?«

»Du sorgst dich um jemand anderen, während du an mein Bett gefesselt bist?« Er lächelte und entblößte dabei zwei scharfe Schneidezähne. »Meiner Gnade ausgesetzt.«

Oh Gott, das passiert nicht wirklich gerade. Er ist kein Vampir. Aber was auch immer … wer auch immer … er war, sie steckte in großen Schwierigkeiten. Ihr Herz hämmerte, als wollte es sich einen Weg aus ihrer Brust freischlagen. »Was wollen Sie?« Sag nicht Blut, sag nicht Blut! Vampire gibt es nicht. Es gibt sie nicht!

»Du weißt, was ich will.« Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als würde er gerade tiefe Lust empfinden.

Oh Zack … Was habe ich nur getan? Ich hätte dich nie in die Nähe dieser Säule kommen lassen dürfen.

Dann öffnete der Mann die Augen wieder, setzte sich neben sie auf das Bett und betrachtete sie mit durchdringendem Blick … mit einer Gier … bei der sie von Panik erfasst wurde und nicht mehr klar denken konnte. Sie war ihm vollkommen ausgeliefert. Gefesselt. Lag breit ausgestreckt vor ihm.

Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie zusammen. Dann legte er seine kalten Finger sacht um ihre Kehle. Das Blut rauschte Quinn in den Ohren, und sie atmete nun schnell und flach. Todesangst ergriff von ihr Besitz, während sie ihn ansah und darauf wartete, dass er … was tat? Sie würgte? Sie vergewaltigte? Oder, Gott stehe ihr bei, den Kopf senkte und sie biss, um ihr das Blut aus dem Körper zu saugen?

Er ist kein Vampir!

Sie bebte vor Furcht, doch er zog ihre Qual noch in die Länge, indem er mit den Fingern an ihrem Hals auf und ab strich, während er sie mit einem Ausdruck ansah, der hingerissen und gierig zugleich wirkte. Und sehr, sehr wollüstig.

»Werden Sie mich umbringen?«, flüsterte sie.

Er verzog den Mund zu einem schmalen, kalten Lächeln. »Natürlich.«

Natürlich. Ihr zog sich der Magen zusammen. Tränen brannten ihr in den Augen.

Sein lüsterner Blick wurde noch intensiver. »Schlussendlich.« Er ließ die Hand nach unten gleiten, presste sie auf ihr Dekolleté und fuhr dann tiefer, um eine ihrer Brüste zu umfassen. »Aber erst, wenn ich genug von dir habe.« Während ihr Puls raste wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug, schloss er die Finger um ihren Nippel, zupfte daran und schlug damit eine unpassend lustvolle Saite in ihr an, obwohl in ihrem Kopf förmlich alles vor Angst schrie.

Noch immer betrachtete er sie mit diesem gefährlich intensiven Blick. Er fasste nach ihrem an den Bettpfosten gefesselten Arm. Seine kühle Hand schloss sich um ihren Unterarm, mit dem Daumen zog er langsam die Ader nach, die von ihrer Armbeuge bis zum Handgelenk verlief, so als genösse er es, das Blut unter ihrer Haut pulsieren zu spüren. Er senkte den Kopf.

»Nein«, keuchte sie und bekam Herzrasen.

Doch er hielt nicht inne. Mit der Nase kitzelte er sie in der Armbeuge. Mit dem Mund kostete er ihre Haut, während sie angespannt wie ein Eisenstab dalag und den Einstich seiner Fangzähne fürchtete.

Doch stattdessen erhob er sich ganz langsam wieder. In seinen Augen lag ein gefährliches Leuchten, so als bereitete ihm ihre Angst die größte Freude. Dieser Sadist …

Er stand auf, ging zum Fußende des Betts und kniete sich zwischen ihre gespreizten Beine.

Was machst du da? Doch sie weigerte sich, die Frage, die ihr auf der Zunge lag, laut zu stellen. Er genoss ihre Angst, das konnte sie ihm von den Augen ablesen. Und sie würde ihm bestimmt nicht noch mehr Vergnügen bereiten, als sein musste.

Als er die Hände um ihre Taille schloss, reagierte sie mit einem Keuchen. Er schob ihr T-Shirt hoch, knöpfte ihre Jeans auf und zog mit geschickten Fingern den Reißverschluss auf.

»Nicht«, hauchte sie.

Doch er ignorierte ihren Einwand und zerrte ihr die Hose von den Hüften, soweit es ihre gespreizten Oberschenkel erlaubten. Allerdings reichte es, um ihr schwarzes Satinhöschen zu enthüllen.

Blitzschnell fasste er mit einer Hand zwischen ihre Beine, glitt mit den Fingern über ihre intimste Stelle und streichelte sie durch das Satin, nur um sich im nächsten Augenblick zu dem Pfosten umzudrehen, an den ihr rechter Fuß gebunden war, und die Fessel zu lösen.