Krieger des Lichts - Ungezähmte Versuchung - Pamela Palmer - E-Book

Krieger des Lichts - Ungezähmte Versuchung E-Book

Pamela Palmer

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Beschreibung

Der Krieger Wulfe kämpft mit seinem dämonischen Erbe. Versehentlich hat er auch die junge Sterbliche Natalie Cash damit infiziert - die einzige Frau, die jemals sein Herz berührt hat. Als Natalie in Gefahr gerät, verspricht Wulfe, sie zu beschützen. Doch kann es ihm gelingen, sich gleichzeitig von ihr fernzuhalten?

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Pamela Palmer bei LYX

Impressum

PAMELA PALMER

Krieger des Lichts

Ungezähmte Versuchung

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Firouzeh Akhavan-Zandjani

Zu diesem Buch

Die Krieger des Lichts sind eine Bruderschaft von Gestaltwandlern, die dazu auserkoren sind, die Welt vor bösen Magiern und ihren Dämonen zu schützen. Doch einem der Magier, Inir, ist es gelungen, die Krieger mit einem Fluch zu belegen, der ihnen die Unsterblichkeit und die Fähigkeit zum Gestaltwandeln nimmt. Wenn die Krieger des Lichts erst einmal ausgeschaltet sind, sollte es Inir ein Leichtes sein, den Erzfeind Satanan zu befreien und das Böse über die Welt hereinbrechen zu lassen. Die Gestaltwandler versuchen nun alles, um dieses Schicksal abzuwenden. Inmitten der Wirren des Kampfs von Gut gegen Böse gerät die Sterbliche Natalie zwischen die Fronten. Auch wenn sie keine Erinnerungen mehr daran hat, befand sie sich schon einmal in den Klauen der Dämonen und wurde von Wulfe, dem Wolf-Gestaltwandler, in Sicherheit gebracht. Jetzt, da sie abermals im Fokus der Magier steht, ist es wieder Wulfe, der Natalies Leben rettet. Trotz der Gefahr, in der sie schwebt, fühlt sich die junge Frau magisch von dem Krieger angezogen. Doch Wulfe trägt tiefe Wunden in der Seele und im Gesicht – er glaubt nicht mehr an die Liebe, fühlt sich zu entstellt und leer, um noch tief empfinden zu können. Kann Natalie sein Herz erwecken, wenn um sie herum die Welt in Scherben fällt?

Für Laurin Wittig und Anne Shaw Moran – meinen Schwestern im Geiste und im Herzen.

1

Die Erde tat sich mit einem markerschütternden Schrei vor ihr auf. Der Tag wurde zur Nacht.

Es gab kein Entrinnen.

Nur ein paar Schritte von ihr entfernt brach ein schauerliches rotorangefarbenes Licht aus dem großen klaffenden Loch hervor. Und die Erde schrie weiter. Sie war am Rande des Schlundes an einen Pfahl gebunden und konnte nichts weiter tun, als zuschauen – und zittern.

Sie war nicht allein. Ach, wäre sie es doch gewesen. Denn einer von den fünf anderen, die auch an Pfähle gefesselt am Rande des gähnenden Abgrunds standen, war ihr Bruder Xavier. Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf ihn aufgepasst. Doch jetzt konnte sie keinem Einzigen von ihnen helfen. Sie würden alle sterben.

Ein halbes Dutzend große, muskulöse Männer lief um sie herum, von denen eine Hälfte bekleidet war, die andere nackt. Brüllend zogen sie ihre Schwerter, als auf einmal eine zweite Gruppe von Männern erschien und anfing mit ihnen zu kämpfen.

Während Stahl klirrend auf Stahl traf, verschwand plötzlich einer der Männer in einem Funkenregen, und an seiner Stelle erschien ein großer afrikanischer Löwe mit voller Mähne. Ein anderer Mann stürzte sich auf einen seiner Gegner und verwandelte sich in einem ähnlichen Funkenregen in einen riesigen Wolf.

Unmöglich.

Lautes Donnergrollen erschütterte die Erde.

Auf einmal nahm sie einen widerlichen Gestank wahr. Ein stechender Schmerz zuckte über ihre Wange, als hätte einer der Krieger sie mit seinem Schwert verletzt, aber es war keiner in ihrer Nähe.

Und plötzlich stand doch einer direkt vor ihr.

Sie schrie auf vor Schmerz und Schreck und starrte das Monster an, das vor ihr aufragte … nein, vielmehr schwebte. Er war abscheulicher als alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Er war etwa so groß wie ein Mann, das schwarze Haar wehte um seinen Kopf, als wäre jede Strähne lebendig, und es wurde in dieses ruchlose rotorangefarbene Licht getaucht. Ein schwarzer Umhang verhüllte seine Gestalt. Und sein Gesicht … dieses Gesicht. Grausig verzerrte Züge, Haut, die wie geschmolzenes Wachs aussah. Bösartige Reißzähne ragten unregelmäßig aus einem fratzenhaft verzogenen Mund.

Sie erstarrte vor Entsetzen, und ihr Herz drohte ihre Brust zu sprengen, als er seine Hand … seine Klaue … besudelt mit ihrem Blut hob …

Mit einem Ruck wurde Natalie Cash wach. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihr ganzer Körper war schweißgebadet. Die frühe Morgendämmerung drang durch die Rouleaus ihres Schlafzimmers, und sie öffnete und schloss die Augen mehrmals schnell hintereinander, um wieder zu Atem zu kommen. Auch jetzt noch verfolgte sie der Albtraum, hinterließ schemenhafte Eindrücke von Gräueln und Hirngespinsten. Ein Mann, der sich in einen Wolf verwandelte. Entsetzen, das zu schrecklich war, um die Erinnerung daran ertragen zu können.

Mit zitternden Händen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht.

Wie furchtbar, den Tag so zu beginnen.

Xavier war in ihrem Traum gewesen … da war sie sich fast sicher. Doch welche Rolle er darin gespielt hatte, erinnerte sie sich nicht mehr. Jede Nacht war es dasselbe … diese Albträume, die ihr entglitten, sobald sie erwachte. Sie quälten sie seit dem »Vorfall« … Sechs Wochen zuvor war einfach eine Woche aus ihrem Leben verschwunden, und sie wusste nur noch, dass nun drei ihrer Freunde tot waren und ihr Bruder vermisst wurde.

Die Polizei hatte nach wie vor keinen einzigen Anhaltspunkt.

Leise schlüpfte sie aus dem Bett, um Rick nicht zu wecken, und tappte ins Badezimmer am anderen Ende des Flurs. Dann ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee mit Haselnusssirup. Mit dem Becher in der Hand trat sie durch die Glasschiebetür auf die Veranda. Eine angenehme Brise strich über ihre Wangen, als sie es sich in ihrem Lieblingssessel gemütlich machte und den Anblick des Waldes hinter ihrem Haus im ersten Licht des Tages genoss.

Während der Himmel allmählich heller wurde und die Vögel erwachten und zu singen anfingen, nippte sie an dem aromatischen Getränk und fand langsam zu ihrem ruhigen inneren Gleichgewicht zurück, das normalerweise ihr Wesen ausmachte. Vor sechs Wochen war noch alles in Ordnung gewesen … Ihr Leben verlief in geregelten Bahnen, und sie war zufrieden mit sich und der Welt. Ihre Optometriepraxis, die sie vor einem Jahr eröffnet hatte, lief gut, sie hatte viele Patienten, und besonders die Arbeit mit Kindern liebte sie sehr. Ihre Mutter war begeistert, dass sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und wieder in der Stadt war. Und sie war nun verlobt mit Rick, ihrem langjährigen Partner, der zugleich ihr bester Freund war.

Doch an einem einzigen Tag hatte sich alles verändert … An jenem Tag hatten zwei ihrer besten Freundinnen aus der Highschool vorgeschlagen, einen Ausflug nach Harpers Ferry zu machen. Rick hatte an dem Tag seinem Vater Hilfe zugesagt, und da eine ihrer Freundinnen ihren jüngeren Bruder und dessen Freundin Christy dazu eingeladen hatte, hatte Natalie ebenfalls ihren Bruder Xavier auf den Ausflug mitgenommen.

Der allgegenwärtige sehnsüchtige Wunsch, die Uhr noch einmal zurückzudrehen und eine andere Entscheidung zu treffen, verursachte ihr wie immer Magenkrämpfe. Wenn sie ihn doch bloß nicht eingeladen hätte, auf den Ausflug mitzukommen. Wären sie doch lieber stattdessen an jenem Tag ins Outlet nach Leesburg gefahren.

Sie hatten einen angenehmen Vormittag mit einem Bummel durch die idyllische Altstadt verbracht. Doch alles, was sich danach ereignet hatte, war aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Eine Woche später waren sie und Christy auf einem Feld in der Nähe wieder zu sich gekommen und konnten sich nicht daran erinnern, was in der Zwischenzeit passiert war. Die Leichen von ihren drei Freunden hatte man am Nachmittag des gleichen Tages gefunden. Doch von Xavier fehlte jede Spur. Er wurde immer noch vermisst.

Ihr Leben war danach völlig aus der Bahn geraten.

Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem heißen Getränk, atmete den warmen Haselnuss- und Kaffeeduft ein und ließ dann den Kopf nach hinten sinken, um die rosafarbenen Wolken zu betrachten, die träge über den Morgenhimmel zogen.

Xavier war irgendwo, und er war am Leben. Dessen war sie sich ganz sicher. Als sie auf dem Feld erwacht war, hatte sie einen kleinen, mit einem Stift gezeichneten Kreis in ihrer Handfläche entdeckt. Einen Kreis mit einer kurzen gebogenen Linie darin … ein Smiley ohne Augen … einer der Lieblings-Smileys ihres blinden Bruders. Sie war sich sicher, dass der Smiley von ihm stammte und er ihr damit sagen wollte, dass es ihm gut ging. Aber wo war er? Wo war sie gewesen? Und warum war er nicht auch zurückgekommen?

Als die Wochen vergingen, wurde ihre Furcht immer größer, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Ihr blieb keine andere Wahl, als ihr altes Leben fortzusetzen. Aber diese fehlende Woche verfolgte sie. Die Trauer über die Menschen, die sie verloren hatte, hatte sich wie eine kalte Faust um ihr Herz gelegt und war zu einem ständig pochenden Schmerz geworden, der nicht nachlassen wollte.

Natalie nahm noch einen Schluck Kaffee, während sie die Wolken beneidete, die frei von den Kümmernissen der Welt über sie hinwegzogen.

Ein leises Geräusch drang an ihr Ohr, und sie richtete sich auf. Sie erhaschte eine Bewegung zwischen den Bäumen, und warme Freude durchströmte sie, als sie den riesigen Wolf entdeckte, der sie vor ein paar Wochen zum ersten Mal besucht hatte. Ein herrliches Tier mit dichtem Fell, das fast die Größe eines Bären hatte. Kopf und Rücken waren grauschwarz, Beine und Bauch hellbraun. Natürlich war es kein richtiger Wolf – obwohl er vielleicht ein bisschen Wolfsblut in sich hatte –, denn dafür war er zu freundlich. Zumindest war er das gewesen, als er sie das letzte Mal besucht hatte.

Sie beobachtete ihn vorsichtig, und ihr Unterbewusstsein drängte sie, ins Haus zurückzukehren, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Doch als er ihren Garten durchquerte und sie in sein schönes, intelligentes Gesicht sah, spürte sie keine Furcht. Freudige Erregung, ja, und Ehrfurcht. Aber keine Angst, wo doch diese goldenen Augen so warm und voller Freude strahlten.

Sie lächelte, denn sein Kommen schenkte ihr ein bisschen innere Ruhe, nahm ihr etwas von der Last, die auf ihre Schultern drückte, sodass sie sich ein paar kostbare Augenblicke lang leichter fühlte. Sie stellte den Becher auf dem Tisch ab und wandte sich ihm zu, als er mit einer Anmut, die angesichts seiner Größe unerwartet war, die paar Stufen zu ihrer Veranda heraufsprang.

Oben auf der Veranda hielt er inne, statt wie ein Hund voranzustürmen, und er sah sie an, wie es wohl ein Mensch getan hätte. Seine Augen funkelten immer noch vor Freude … eine Freude, die auch bei ihr ein Glücksgefühl auslöste. Lächelnd streckte Natalie die Hand aus.

»Ich freue mich so sehr, dich zu sehen«, sagte sie leise, um weder Rick noch die Nachbarn aufzuwecken.

Das Zögern des Hundes währte gerade mal zwei Sekunden, ehe er näher kam und seinen riesigen Kopf zwischen ihre wartenden Hände schob. Wie war es möglich, dass sie ihn so sehr vermisst hatte, obwohl es bisher nur eine einzige Begegnung gegeben hatte? Trotzdem empfand sie so.

Während sie das dichte, weiche Fell an seinem Hals streichelte, stiegen Emotionen in ihr auf … eine seltsame Mischung aus Kummer, Schmerz und innerer Ruhe. Als könnte er allein mit der Kraft seiner Seele den Schutzwall einreißen, den sie um ihren Kummer errichtet hatte, um ihr dann beim Tragen ihres Leids zu helfen.

Eine völlig abstruse Vorstellung. Und doch hatte sie das Gefühl, den Anker zu ergreifen, nach dem sie selber so erfolglos gesucht hatte, während sie sein Fell streichelte und in diese intelligenten Augen blickte. Sie hatte immer wieder gehört, dass Tiere die erstaunliche Gabe besäßen, Menschen zu beruhigen, aber mit einer solch instinktiven Reaktion auf ein Tier, welches sie kaum kannte, hatte sie niemals gerechnet.

»Ich habe deinen Besuch heute gebraucht«, sagte sie leise. »Ich fühle mich schon besser. Leichter. Stärker.«

Wenn das überhaupt möglich war, schien der Ausdruck in den goldenen Augen noch wärmer zu werden.

»Wer bist du? Du trägst keine Hundemarke und auch kein Halsband, aber wild kannst du doch nicht sein, oder? Dafür fühlst du dich bei Menschen viel zu wohl.« Sie schob die Finger zwischen seine Vorderbeine und kraulte seine Brust. »Dir geht es auf jeden Fall gut. Schau dich doch an. Du bist wohlgenährt und wirklich wunderschön.«

Während sie ihm mit der einen Hand den Kopf streichelte, griff sie mit der anderen nach dem Becher und nippte daran. Sie staunte darüber, dass es tatsächlich stimmte, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie fühlte sich jetzt hundert Prozent besser in der Lage, den Tag zu bewältigen, als es kurz nach dem Aufwachen der Fall gewesen war. Sie war wieder fast völlig ruhig.

Oder zumindest war sie es, bis der Hund erstarrte und aufsprang. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er sich zur Hintertür umdrehte und ein leises, gefährliches Knurren ausstieß.

Wulfe witterte den Mann, ehe er ihn durch die Fliegengittertür sah. Der Verlobte.

Instinktiv knurrte er, aber vielleicht war es auch nur die Eifersucht.

»Um Himmels willen, Natalie«, rief der Mann. »Das ist ein Wolf!«

Natalies weiche Hand glitt über das Fell an Wulfes Hals. Wäre er eine Katze gewesen, hätte er angefangen zu schnurren. Tief in seinem Innern heulte der Geist des Wolfes, der ihn gezeichnet hatte, vor Freude.

»Er ist ein Hund und ein Freund. Er wird mir nichts tun, Rick.«

Himmel, nein, natürlich würde er ihr nichts tun. Er würde jeden umbringen, der versuchte, ihr ein Leid zuzufügen. Er war nur hergekommen, um zu sehen, wie es ihr ging nach dem, was sie in Harpers Ferry durchgemacht hatte. Xavier sorgte sich ihretwegen. Das taten sie beide.

Sein Blick wanderte wieder zu dem Mann hinter der Fliegengittertür. Der Mistkerl stand einfach nur da und machte überhaupt keine Anstalten, seine Frau zu beschützen. Aber na ja, das war wohl nicht ganz fair, da es ja offensichtlich war, dass Wulfe ihr nichts tun würde – und mehr als offensichtlich, dass er das Männchen nicht ausstehen konnte. Es lag nicht an ihm persönlich. Wulfe mochte es einfach nicht, dass er nur in Boxershorts dastand und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerade aus Natalies Bett kam.

»Natalie, bitte, komm herein, ja? Gestern Abend hast du gesagt, dass du nicht darüber reden willst, aber das müssen wir. Ich habe das Gefühl, dich zu verlieren.«

Wulfe spürte Natalies Anspannung über ihre Hände, und es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen und den Verlobten nicht wieder anzuknurren. Denn eigentlich wollte er nichts anderes, als dass der Mann wegging und ihn diese paar Minuten mit Natalie genießen ließ. Auch in seiner jetzigen Gestalt liebte er es, wenn sie ihn berührte. Nur in seinen Träumen besaß er die Freiheit, die Berührungen zu erwidern.

Sie war schließlich mit diesem Mistkerl verlobt, ganz abgesehen davon, dass Wulfe sie zu Tode erschrecken würde, wenn er ihr sein menschliches Gesicht enthüllte. Deshalb musste er sich mit dem begnügen, was er bekommen konnte.

Es tat so gut, sie wiederzusehen, ihren süßen Duft einzuatmen und tief in diese ruhigen grauen Augen zu schauen – und sei es auch nur für ein paar Momente. Sie war so schön. Die Morgensonne verwandelte ihr Haar in strahlendes Gold und hüllte ihren ganzen Körper in einen hellen Schein. Auch wenn die Augen nicht mit dem besten Sinn des Wolfes ausgestattet waren, konnte er sehen, wie das Licht der Sonne eine Aura aus Gold, Blau und Grün schuf.

»Nat, ich verstehe ja, dass du Schreckliches durchgemacht hast. Ich weiß, dass du um deinen Bruder trauerst und um deine Freunde. Ich versuche, für dich da zu sein, aber du schließt mich aus.«

Sie gab immer noch keine Antwort, aber Wulfe konnte ihre Miene aus nächster Nähe betrachten und sah den Kummer in ihren Augen. Die Traurigkeit. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Schließlich kam Natalie seufzend hoch. »Geh nach Hause, mein Junge.«

Aber er blieb einfach sitzen und vertrat seinen Anspruch … auf was oder wen, wusste er nicht so recht. Natalie gehörte ihm nicht.

Mit einem gequälten Lächeln streichelte Natalie noch einmal seinen Kopf, dann trat sie an ihm vorbei, ging hinein und schloss die Fliegengittertür hinter sich. Wulfe beobachtete, wie sie das Gesicht des Mannes mit beiden Händen umfasste, und er verspürte einen heftigen Stich der Eifersucht.

»Ich liebe dich, Rick. Ich brauche einfach nur Zeit.«

»Du bist anders, Nat.«

Innerlich runzelte Wulfe verwirrt die Stirn. Sie war tatsächlich anders. Aber nicht so, wie ihr Verlobter meinte. Dieses Strahlen der Morgensonne – diese Aura aus Gold, Grün und Blau – war ihr nach drinnen gefolgt. Selbst jetzt, da sie sich nicht mehr in der Sonne aufhielt, hing sie an ihr und strahlte im Dunkel ihres Wohnzimmers.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Natalie senkte den Blick auf die nackte Brust des Mannes. »Rick …« Sie schüttelte den Kopf. »Du wärst auch anders, wenn du deine Freunde und mehrere Tage deines Lebens verloren hättest … wenn dein Bruder vermisst werden würde.« Sie schaute auf und sah dem Mann ins Gesicht. »Ich habe Träume … schreckliche Albträume. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich mich bruchstückhaft wieder an Dinge erinnern, aber das, woran ich mich erinnere … ist völlig unmöglich.«

Wulfe stöhnte innerlich laut auf. Das war wirklich das Allerletzte, was sie brauchen konnten … dass Natalie Cash sich wieder an die Gestaltwandler, die Dämonen und das Innere des Hauses des Lichts erinnerte. Sie wäre zwar gar nicht in der Lage, es zu finden – wahrscheinlich nicht –, und natürlich würde ihr auch keiner glauben, aber …

»Nat, wenn du dich an irgendetwas erinnerst, musst du es der Polizei erzählen.«

»Es sind doch nur Träume, Rick.«

Frustriert fuhr sich der Mann mit einer Hand durchs Haar und zerzauste es dadurch nur noch mehr. Dann reichte er ihr die Hand. »Komm wieder ins Bett, Natalie.«

Einen kurzen Moment lang dachte Wulfe, sie würde Nein sagen. Aber dann drehte sie sich wieder zur Fliegengittertür – zu ihm – um, und immer noch umgab sie diese seltsame Aura. »Geh nach Hause, mein Junge.«

Sah er da wirklich etwas, oder beeinträchtigten die Veränderungen, die er vor Kurzem durchgemacht hatte, jetzt auch seinen Sehsinn? Vielleicht war ja auch nur die visuelle Wahrnehmung seines Wolfes betroffen. Aber er konnte jetzt wohl kaum menschliche Gestalt annehmen, um das zu überprüfen. Schließlich hatte er seine Kleidung im Truck auf der anderen Seite des Waldes gelassen.

Mit einem wütenden, frustrierten Knurren sprang er von der Veranda und lief wieder in den Wald. Das seltsame Strahlen, das von Natalie ausging, hatte wahrscheinlich etwas mit seiner eigenen Wahrnehmung zu tun. Entweder war der Auslöser dafür, dass die Unsterblichkeit der Krieger des Lichts bedroht wurde oder dass sich das Dämonenblut seiner Ahnen wieder in ihm regte.

Aber die Möglichkeit, dass sie vielleicht tatsächlich strahlte, ließ ihm keine Ruhe. Unter Umständen war sie durch den Dämon, der sie vor sechs Wochen angegriffen hatte, irgendwie verändert worden. Er musste jemanden holen, der einen Blick auf sie warf, ohne dass gleich alle auf sie aufmerksam wurden. Denn wenn Natalie Cash sich tatsächlich verändert hatte und die Menschen es ebenfalls bemerkten, könnte sie die Rasse der Unsterblichen gefährden, von denen bisher niemand wusste. Und damit wäre auch ihr Leben in Gefahr.

Verdammt! Das hatte sie nicht verdient.

Er sprang über einen morschen Baumstamm und lief auf flinken, sicheren Pfoten durch den Wald. Die Gerüche des Waldes beschäftigten die Sinne seines Tieres … der Geruch von Moos und Blättern, von Kaninchen und Frühlingserwachen. Doch sein Geist verharrte bei Natalie.

Er hatte sie das erste Mal auf jenem Schlachtfeld gesehen, wo sie und ihre Freunde von den bösen Zauberern als Köder für Dämonen benutzt worden waren. Sie war ihm wegen ihrer Schönheit aufgefallen, aber auch weil ihr Gleichmut im Angesicht des Grauens ihm Respekt abgenötigt hatte. Am Ende hatten nur drei der sechs Menschen überlebt, und die Krieger hatten sie mitgenommen ins Haus des Lichts. Sie hatten sie eingesperrt, bis es ihnen gelungen war, ihnen die Erinnerung an alles, was sie gesehen hatten, zu nehmen. Allerdings war es ihnen nur bei den beiden Frauen gelungen, die sie gleich darauf wieder nach Hause gebracht hatten. Xavier jedoch war blind, und Erinnerungen wurden über die Augen gelöscht. Er würde nie wieder nach Hause gehen können. Und Natalie würde nie erfahren, dass ihr Bruder überlebt hatte. Niemand würde das je erfahren.

Ihr Kummer bereitete Wulfe fast schon körperliche Schmerzen.

Er kam auf der anderen Seite des Waldes heraus und sprang den Hügel hinunter, um zu dem verlassenen Lagerhaus außerhalb von Frederick in Maryland zu gelangen, wo er seinen Truck abgestellt hatte. Mit den schärferen Sinnen seines Wolfes überprüfte er, ob kein Mensch in der Nähe war, ehe er sich verwandelte. Er beschwor die Kraft des Tiergeistes herauf, der in ihm wohnte, und verwandelte sich in einem berauschenden Funkenregen wieder in einen Mann. Es war ein warmer Junimorgen, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen, während die Sonne langsam aufging.

Als er vorne um den Wagen herumging, erhaschte er in der Scheibe einen Blick auf sich selber und seine gekrümmte Nase zwischen unzähligen Narben. Eine davon verlief über seinen Mund, sodass die Lippe leicht nach unten verzogen war, was ihm einen immerwährenden grimmigen Ausdruck verlieh. Ein Gesicht, das Frauen zum Schreien brachte und Kinder Reißaus nehmen ließ.

Seufzend zog er seine Jeans an. Er hatte natürlich nicht immer so ausgesehen. Vor Hunderten von Jahren, in seiner Jugend, hatten Frauen beim Anblick seiner Schönheit geseufzt und ihn für den schönsten Mann überhaupt gehalten. Und mit über zwei Metern Körpergröße hatte er seine Konkurrenten auch in dieser Hinsicht überragt. Trotzdem hatte er sich nie für eitel oder eingebildet gehalten, was im Rückblick wohl der Gipfel an Arroganz gewesen war. Das Schicksal hatte ihn für diese Anmaßung bestraft. An einem einzigen Tag hatte er alles verloren: sein Aussehen, die Bewunderung von seinesgleichen und seine Selbstachtung. Die Göttin hatte es in ihrer schrecklichen Weisheit für richtig befunden, seine Seele für befleckt zu erklären und ihn dann zu zeichnen, sodass dieser Makel auch jedem offenbar wurde. Er trug diese Zeichen jetzt schon seit Jahrhunderten und würde sie für den Rest seines unsterblichen Lebens nicht mehr ablegen.

Er streifte sein T-Shirt über und zog dann die Stiefel an. Zumindest war der Geist des Wolfes nicht der Ansicht gewesen, ihm hafte ein Makel an. Drei Jahre nachdem man ihn mit den Narben gestraft hatte, war der einzige Wolfwandler gestorben, und Wulfe war zum nächsten gezeichnet worden. Es hieß, der Geist des Tieres wähle immer jenen, den er für den Stärksten und Ehrenhaftesten unter den Therianern hielt, welche die jeweilige Tiergeist-DNA in sich trugen. So hatte Wulfe gelernt, der Göttin für ihre schmerzhafte Lektion dankbar zu sein. Man hatte ihn Demut gelehrt und dafür entlohnt, dass er nicht dagegen aufbegehrt hatte.

Ihm war ein stolzer Preis abverlangt worden, doch er hätte noch hundertmal mehr bezahlt, wenn er dadurch ein Krieger des Lichts blieb … einer von jenen wenigen Gestaltwandlern, die es jetzt noch gab. Im Moment waren die Gestaltwandler die Einzigen, die die Erdenbewohner – sowohl die Unsterblichen wie auch die Menschen – vor der endgültigen Vernichtung durch die seelenlosen Magier bewahren konnten. Jenen war es nämlich gelungen, das Böse in Gestalt der Dämonen zu befreien, wie sie es schon seit Langem vorgehabt hatten.

Wulfe fischte den Autoschlüssel aus der Tasche seiner Jeans und schloss den Wagen auf.

Wenn er Natalie doch nur aus diesem Krieg heraushalten könnte, damit sie in Sicherheit war. Aber so, wie sie strahlte …

Er schüttelte den Kopf, und sein Herz wurde schwer, als er den Motor anließ und zurück zum Haus des Lichts fuhr.

Natalie Cash war keineswegs in Sicherheit.

2

Wulfe fuhr mit seinem Truck die große bogenförmige Auffahrt des Hauses des Lichts in Great Falls, Virginia, hoch. Der dreistöckige Ziegelsteinbau lag zwischen Bäumen in einer exklusiven Gegend nahe des Potomac mehrere Meilen außerhalb von Washington, D.C. Viele Autos säumten die Auffahrt, und das Haus selber war gerade voller Leute. Lyon hatte einen ganzen Trupp von Unsterblichen rekrutiert, die zwar nicht die Gestalt wandeln konnten, aber der Therianischen Garde angehörten, damit sie die Krieger des Lichts bei dem rasch eskalierenden Kampf gegen die Magier unterstützten. Sie mussten mit vereinten Kräften verhindern, dass die Dämonen befreit wurden.

Die meisten Angehörigen der Therianischen Garde kamen von den Britischen Inseln, und die zwanzig stärksten hatten im Haus des Lichts Quartier bezogen, um die Strahlende zu beschützen. Schnell waren alle verfügbaren Schlafzimmer belegt gewesen, sodass der Rest mit provisorischen Schlaflagern im Wohnzimmer, im Fernsehraum und im Keller vorliebnehmen musste. Weitere einhundertsiebenunddreißig Gardisten waren in den verfügbaren Betten in der therianischen Enklave vor Ort und in verstreut liegenden geheimen Unterschlüpfen der Umgebung untergekommen.

Zwar machte es allen gewaltig zu schaffen, dass die Krieger des Lichts überhaupt Unterstützung brauchten, aber der Abberufung hatte niemand widersprochen. Nicht nachdem der Feind jetzt auch über Krieger verfügte, die von Tiergeistern gezeichnet worden waren und genau wie die Krieger des Lichts die Gestalt wandeln konnten, und die Unsterblichkeit der wahren Krieger des Lichts in großem Maße gefährdet war.

Während Wulfe hinter Kougars Lamborghini parkte, spiegelte sich die frühe Morgensonne im Tau auf dem Dach und brachte es zum Funkeln. Wenn doch bloß auch im Innern des Hauses eine solch heitere Stimmung herrschen würde. Hoffentlich hatten sie endlich einen Durchbruch erzielt und einen Weg gefunden, sich die Unsterblichkeit zurückzuholen, während er fort gewesen war. Doch als er durch die Haustür trat, sah er die verhärmten Gesichter von Tighe und Paenther, die gerade auf der einen Seite der geschwungenen Doppeltreppe, die die Eingangshalle beherrschte, herunterkamen. Wulfes Hoffnung schwand.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Paenther mit leichter Neugier in der Stimme.

Mehrere Männer und zwei Frauen, die er nur erkannte, weil Lyon ihnen aufgetragen hatte, sich die Gesichter aller Gardisten einzuprägen, nickten grüßend, als sie vorbeigingen. Überall im Haus war leises Stimmengewirr zu hören, doch die Gardisten waren sehr diszipliniert und behandelten die Krieger des Lichts voller Respekt, sodass entgegen aller Befürchtungen kein Chaos im Haus ausgebrochen war. Bisher bestand das einzige Problem darin, alle ausreichend zu verköstigen.

»Du warst in Frederick, stimmt’s?« Tighes kurz geschnittenes blondes Haar leuchtete hell auf unter dem Kronleuchter, als er den unteren Treppenabsatz erreichte und den Arm ausstreckte. Die beiden umfassten den Ellbogen des jeweils anderen und schlugen die Unterarme gegeneinander, wie es zur Begrüßung unter den Kriegern des Lichts üblich war.

Wulfe leugnete es nicht. »Ich konnte nicht schlafen.«

Paenther begrüßte Wulfe auf dieselbe Weise. Sein tiefschwarzes Haar umrahmte ein Gesicht, das zu hundert Prozent wie das eines amerikanischen Ureinwohners aussah, obwohl der Krieger nur zu drei Vierteln Indianer war. Über dem Auge trug er drei lange Narben, die wie Klauenspuren aussahen, aber in Wirklichkeit die Male waren, die ihn zum Krieger des Lichts gezeichnet hatten. Alle Krieger trugen irgendwo an ihrem Körper diese Male, mit denen die Tiergeister, die in ihnen lebten, sie markiert hatten. Wulfes Male befanden sich auf seiner Stirn über dem linken Auge. Aber er bezweifelte, dass seine Brüder das überhaupt wussten. Was waren schon drei Narben unter so vielen anderen?

»Hast du Natalie gesehen?«, fragte Tighe. Alle Brüder von Wulfe wussten, warum er nach Frederick fuhr.

Er öffnete schon den Mund, um zu erzählen, was er gesehen hatte, doch dann schloss er ihn wieder. Der Schamane würde besser als jeder andere wissen, ob mit Natalie irgendetwas nicht stimmte … oder auch mit ihm. Er würde es so lange für sich behalten, bis der uralte Mann die Gelegenheit gehabt hatte, einen Blick auf sie zu werfen. Er wollte es Natalie ersparen, wieder in seine Welt und in dieses ganze Chaos gezerrt zu werden, auch wenn ihn der Gedanke, sie wieder in seiner Nähe und in seinem Leben zu haben, mit Freude erfüllte. Xavier schien zwar nichts dagegen zu haben, Pink in der Küche zu helfen und praktisch ein Gefangener im Haus des Lichts zu sein, aber Xavier war auch ein Sonderfall. Die meisten Menschen würden eine lebenslange Gefangenschaft nie hinnehmen. Und dieses Leben wollte Wulfe Natalie nicht zumuten. Wenn es ihnen aus irgendeinem Grund nicht gelingen würde, ihr die Erinnerung zu nehmen – denn nur dann konnten sie sie wieder gehen lassen –, würden sie Natalie am Ende vor die gleiche Wahl wie Xavier stellen müssen: Entweder diente sie den Kriegern des Lichts für den Rest ihres Lebens, oder sie musste sterben.

Sie hatte ein Leben, ein Haus, einen Verlobten, und Wulfe würde ihr all das nicht nehmen – außer er hatte keine andere Wahl. Er hoffte inständig, dass dieses Strahlen, das er bei ihr gesehen hatte, nur eine Wahrnehmungsstörung von ihm war.

»Ich habe sie gesehen«, erwiderte Wulfe. »Sie hat eine Schwäche für den Wolf entwickelt.« Die Erinnerung an das zärtliche Lächeln, mit dem sie ihn begrüßt hatte, und die sanfte Berührung ihrer Hände ließ seine Mundwinkel nach oben zucken. Bis er sich wieder erinnerte … Ein harter Zug legte sich um seinen Mund. »Sie war nicht allein.«

»Ihr Verlobter?«

»Die beiden wirkten nicht sonderlich glücklich. Er hat ihr vorgeworfen, sich verändert zu haben.«

Paenther schnaubte empört. »Die Frau ist durch die Hölle gegangen. Natürlich hat es sie verändert.«

Tighe warf Wulfe einen durchdringenden Blick zu. »Fängt sie an, sich an irgendetwas zu erinnern?«

»Ich glaube nicht, aber sie scheint einiges davon in ihren Träumen noch einmal zu erleben. Aber auch wenn sie sich nicht erinnert, weiß sie, dass ihre Freunde tot sind … und ihr Bruder vermisst wird.«

»Und sie weiß, dass etwas Schreckliches passiert ist in den Tagen, an die sie sich nicht mehr erinnern kann.« Paenther presste die Lippen aufeinander. »Manchmal ist das das Schlimmste … wenn man nichts weiß.« Er klopfte Wulfe auf die Schulter. »Sie wird irgendwann darüber hinwegkommen.«

»Es ist nett von dir, ein Auge auf sie zu haben.« Tighe klopfte ihm auf die andere Schulter.

»Habt ihr den Schamanen gesehen?«, fragte Wulfe, als Paenther schon Richtung Speisezimmer gehen wollte.

Tighes Augen wurden schmal. Der Tigerwandler sah immer alles.

»Ich nehme an, er schläft noch«, sagte Kougar, der gerade aus einem anderen Flur kam und hinter ihnen in die Eingangshalle trat. »Er und Ariana waren bis zum Morgengrauen auf.«

Kougars Gefährtin Ariana und der Schamane arbeiteten unermüdlich daran, ein Gegenmittel gegen den dunklen Zauber zu finden, den der böse Magier Inir im Verlaufe der letzten Monate irgendwie ins Haus des Lichts geschleust hatte. Es war ein Fluch, der sie sterblich machte. Den Kristall, von dem der Zauber ausging, hatten sie entdeckt … und sofort vernichtet. Doch die schädliche Wirkung hatten sie damit nicht rückgängig machen können.

»Irgendwas gefunden?«, fragte Tighe.

Kougar schüttelte den Kopf und machte sich nicht die Mühe, ausführlichere Erklärungen abzugeben, als er an ihnen vorbeiging und Paenther durch den Flur zum Speisezimmer folgte. Ausführliche Erklärungen waren aber auch nicht notwendig. Wie viele Möglichkeiten gab es schon zu sagen: Wir sind erledigt?

Als Wulfe Kougar schon folgen wollte, hielt Tighe ihn zurück, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte und ihn durchdringend ansah. »Was ist los, Wulfe? Was ist nun wirklich mit Natalie?«

»Könntest du bitte aufhören, so scharfsinnig zu sein?«, knurrte Wulfe.

Tighes Züge spiegelten sein Mitgefühl wider, aber er ließ ihn nicht gehen.

Wulfe seufzte. »Sie hat eine Aura, die blau, grün und golden strahlt. Ich habe so etwas noch nie gesehen … weder bei ihr noch bei sonst jemandem.«

»Hast du überhaupt jemals eine Aura gesehen?«

»Nein. Vielleicht ist es aber auch nur ein weiteres meiner erwachenden seltsamen Dämonentalente.«

»Aber du machst dir Sorgen, dass irgendetwas mit ihr vielleicht nicht stimmt?«

»Ja.« Verdammt, vor lauter Sorge bekam er schon Magengeschwüre.

Tighe nickte verständnisvoll, ohne etwas zu sagen, und klopfte ihm wieder auf die Schulter. »Vielleicht können wir den Schamanen dazu überreden, nachher mit uns zu ihr zu fahren und sie sich anzusehen.«

Wulfe versteifte sich. »Ich würde sie zu Tode erschrecken.«

»Das weißt du doch gar nicht. Beim letzten Mal, als sie dich gesehen hat, hatte sie auch keine Angst vor dir.«

»Damals war sie gerade von einem Dämon angegriffen worden. Und daran erinnert sie sich jetzt nicht mehr – ebenso wenig wie an mich.«

Tighes Miene bekam einen nachdenklichen Ausdruck. »Vielleicht wäre es am besten, wenn der Schamane allein bei ihr anklopft. Er könnte vorgeben, ein Jugendlicher zu sein, der Popcorn oder Kekse oder sonst was verkauft. Hier kommen ja auch ständig welche vorbei, die alles Mögliche verkaufen wollen.«

Der Schamane mochte zwar Tausende von Jahren alt sein, doch aufgrund eines Angriffs durch einen Magier in seiner Jugend sah er immer noch so aus wie fünfzehn.

»Okay, danke, Tighe.«

Gemeinsam begaben sie sich in Richtung Speisezimmer und traten schließlich durch den kleinen Torbogen in den großen Raum, der auch ihren Versammlungen diente. Fast alle Krieger des Lichts saßen mit ihren Frauen an dem riesigen Tisch. Nur Lyon war nicht da. Und seine Gefährtin – Kara, die Strahlende.

Zeeland saß als Einziger von den Gardisten mit am Tisch der Krieger des Lichts. Er bekleidete einen der höchsten Ränge innerhalb der Garde und war ein enger Freund von mehreren Kriegern des Lichts. Soweit Wulfe wusste, hatte keiner den Angehörigen der Therianischen Garde je gesagt, dass sie am großen Tisch nicht willkommen wären, aber die meisten schienen sich trotzdem draußen auf der Veranda, wo die Sommersonne durchs Laub der Bäume fiel, oder an einem der kleineren Tische, die auf der freien Fläche zwischen dem Haupttisch und dem Gang aufgestellt worden waren, wohler zu fühlen.

Während Wulfe und Tighe das Esszimmer durchquerten, kam Delaney, Tighes Gefährtin, gerade durch die Schwingtür aus der Küche. Sie hielt eine Platte mit Gebäck in der Hand, die sie auf einem der kleineren Tische abstellte. Als sie Tighe erblickte, lächelte sie und trat zu ihm.

Tighe legte seinen Arm um ihre Schultern. »Wie läuft’s da drinnen?«

Delaneys Lächeln wurde ein bisschen kläglich. »So gut, wie es eben läuft, wenn sich fünf Frauen und ein blinder Mann in der Küche zu schaffen machen. Pink ist nicht sonderlich glücklich über die Situation, aber angesichts so vieler zusätzlicher hungriger Mäuler braucht sie die Hilfe, und das weiß sie auch. Ein paar von der Garde haben angeboten, beim Kochen zu helfen, aber der Vorschlag fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Pink wird sie auf keinen Fall in die Küche lassen.« Sie zuckte die Achseln. »Wir schaffen das schon.«

Tighe gab ihr einen schnellen Kuss. »Überanstreng dich nicht.«

Sie grinste ihn an. »Ich mag zwar schwanger sein, aber außerdem bin ich jetzt unsterblich. Schon vergessen?«

Tighe erwiderte das Grinsen. »Und dafür danke ich der Göttin jeden Tag.«

Leise lachend kehrte Delaney in die Küche zurück. Als Wulfe und Tighe sich dem Haupttisch näherten, erhoben sich die anderen Krieger und begrüßten sie, als wären Wochen und nicht nur ein paar Stunden vergangen, seit man sich das letzte Mal gesehen hatte. Für Menschen war das Bedürfnis der Tiere – der meisten Tiere – nach Berührungen in der Regel schwer zu verstehen. Hawke und Falkyn konnten zwar auch ohne leben – genau wie Vhyper –, aber bei den Katzen- und Hundeartigen war das etwas anderes.

Trotz der herzlichen Begrüßung und dem Sonnenschein, der durch das Fenster hereinströmte, herrschte eine bedrückte Stimmung im Raum. Keiner am Haupttisch sprach, als Wulfe einen Teller vom Stapel in der Mitte des Tisches nahm und sich dann von einer Platte dicke Scheiben geräucherten Schinken auftat. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Xavier aus der Küche trat und mit einem Krug Saft in der einen und einem Blindenstock in der anderen auf den Tisch zukam. Beim Anblick von Natalies Bruder zog sich Wulfes Magen zusammen.

»Noch drei Schritte bis zur Kollision, X-Man«, sagte Jag.

Xavier, der als Einziger im Raum nicht betrübt schaute, grinste und tat noch drei weitere Schritte. Jag nahm ihm den Krug ab. »Danke, Kumpel.«

»X …«, rief Wulfe und stand von seinem Stuhl auf, um Xavier zurück in die Küche zu begleiten. »Ich hab heute bei Natalie vorbeigeschaut.«

Xaviers Miene wurde sofort ernst und verbarg nichts. »Geht es ihr gut?«

»Sie sah gut aus. Ihr Verlobter war bei ihr.« Das war zumindest nicht richtig gelogen. Natalie hatte wunderschön ausgesehen, und die Beziehung zu ihrem Verlobten würde bestimmt auch wieder in Ordnung kommen.

»Das ist schön. Ich bin froh, dass sie jemanden hat, der ihr im Moment beisteht.«

»Ich auch. Ich dachte mir, dass du gern Bescheid wüsstest.«

Der Junge grinste. »Danke, Kumpel.« Kumpel, immer sagte er Kumpel.

»Bitte schön, Kumpel.« Und jetzt hatte er sie dazu gebracht, dass sie es ebenfalls sagten.

Er sah keinen Grund, seine Sorgen mit Xavier zu teilen, da der Junge das Haus des Lichts ohnehin nie würde verlassen können, um seine Schwester wiederzusehen. Und zugleich durfte sie nie erfahren, dass er noch am Leben war. Sie lebten jetzt in unterschiedlichen Welten. Xavier und Wulfe in der einen und Natalie in der anderen. Wulfe würde gut daran tun, wenn er sich diesen Umstand selber auch immer wieder vergegenwärtigte.

Er kehrte an den Tisch zurück und setzte sich gegenüber von Fox und dessen neuer Gefährtin Melisande hin. Dann machte er sich über sein Essen her.

»Sind alle noch in der Lage, sich zu verwandeln?«, fragte Paenther. Sein Tonfall war zwar gleichmütig, doch seinen Worten war eine gewisse Anspannung anzumerken.

Das war nicht nur so dahin gefragt. Die Krieger des Lichts lagen eigentlich seit Anbeginn der Zeit mit den Magiern im Krieg. Es hatte nur eine kurze Periode von fünf Jahrtausenden gegeben, in der die beiden unsterblichen Rassen ihre Kräfte und Magie vereint hatten, um den Erzdämon Satanan zu schlagen und ihn mit seinem gesamten Dämonengefolge in ein magisches Gefängnis zu sperren – die Dämonenklinge. Doch vor ein paar Jahren war der mächtige Zauberer Inir von einem Hauch von Satanans Bewusstsein infiziert worden, das all die Jahrtausende überdauert hatte. Dieses Bewusstsein war in Inir herangereift, und nun mussten die Krieger davon ausgehen, dass Satanan den Magier vollends beherrschte und in die Schlacht führte, um sich und seine Horden aus der Klinge zu befreien.

Um die Gefangenschaft zu beenden, mussten jedoch alle Krieger des Lichts ausnahmslos ihre Zustimmung erteilen, wozu sich diese natürlich niemals bereit erklären würden. Doch Inir hatte eine Möglichkeit gefunden, das zu umgehen, indem er eine kleine Gruppe aus bösen Kriegern erschaffen hatte und jetzt allmählich die guten Krieger vernichtete. Mithilfe eines Fluches raubte er ihnen die Unsterblichkeit, und sie mussten befürchten, dass er ihnen damit auch die Fähigkeit zum Gestaltwandeln nahm – wenn er sie nicht sofort umbrachte. Sie hatten den Verdacht, dass es sich bei diesem bösen Zauber um Dämonenmagie handelte, die mächtigste Kraft auf Erden. Leider war keine einzige der herkömmlichen Methoden, sich von einem Fluch zu befreien, erfolgreich gewesen. Sie hatten jetzt nur noch die Möglichkeit, nach einem Heilmittel zu suchen … und inständig zu hoffen, dass sie es rechtzeitig fanden.

Wulfe schob sich gerade den letzten Bissen in den Mund, als Lyon mit Kara auf dem Arm ins Esszimmer kam. Sie war zwar durchschnittlich groß, doch in den Armen ihres mächtigen Gefährten wirkte sie winzig – und sehr krank. Schuld daran war ein weiterer teuflischer Angriff von Inir. Sie hatte einen Arm um Lyons Hals gelegt, und ihre müden Augen leuchteten vor Freude, als sie die anderen Krieger des Lichts erblickte. Alle erhoben sich von ihren Stühlen und kamen zu ihr, um sie zu begrüßen.

Wulfe küsste sie auf die Stirn und drückte ihre Hand, während Kougar ihr Knie tätschelte. Einer nach dem anderen zeigte der geliebten Strahlenden, wie viel sie ihnen bedeutete, bis ihre Augen vor ungeweinten Tränen schimmerten.

Die Strahlende war diejenige, die die Mächte der Erde heraufbeschwören konnte, durch die die Krieger Zugang zur Kraft ihrer Tiere erlangten. Erst durch diesen Akt wurden sie in die Lage versetzt, sich zu verwandeln. Ohne ihre Strahlung würden die Krieger schließlich alle Kraft verlieren und sterben – dafür brauchte es noch nicht einmal den bösen Zauberer, der alles nur noch schlimmer gemacht hatte –, allerdings würde es sich über eine gewisse Zeit hinziehen und vielleicht Jahre dauern.

Aber Kara war mittlerweile viel mehr für sie als nur diejenige, die ihnen Strahlung gab. Obwohl sie erst vor ein paar Monaten zu ihnen gekommen war und damals noch gedacht hatte, sie wäre ein Mensch, hatte sie mittlerweile bewiesen, wie unvergleichlich tapfer und loyal sie war. Damit hatte sie die Herzen aller erobert, nicht nur das ihres Anführers, dessen Gefährtin sie jetzt war. Wenn ihr irgendetwas zustieß, würden sie alle leiden … und Lyon würde daran zugrunde gehen.

Lyon drückte seiner Gefährtin einen Kuss auf den Scheitel und trat dann mit ihr an den Tisch, um sie auf den Stuhl neben sich zu setzen.

Kara lächelte erschöpft. »Ich bräuchte einen Tapetenwechsel.«

»Zwanzig Minuten … mehr nicht.« Lyon griff nach einem Teller. »Eier? Du musst etwas essen.«

Ihr Lächeln wurde ganz sanft, als sie ihrem Gefährten in die Augen sah. »Du bist ein sehr strenger Krankenpfleger, aber ja, Eier wären schön.«

In Lyons Augen trat ein so liebevoller Ausdruck, als Kara ihre zarten Finger auf seine viel größere Hand legte, dass Wulfe fast das Gefühl hatte, den Blick abwenden zu müssen.

Die anderen Krieger wandten sich alle ihren Gefährtinnen zu, um sie zu berühren oder zu küssen, denn alle waren tief bewegt von der Liebe zwischen ihrem Anführer und seiner Gefährtin. Und sie alle hatten Angst, dass die Tage der Krieger des Lichts gezählt sein könnten. Nur Wulfe und Vhyper hatten keine Frau, was eine erstaunliche Veränderung war, wenn man nur ein Jahr zurückschaute, als Wulfe der Einzige mit einer Gefährtin gewesen war.

Vor neun Monaten war seine Gefährtin Beatrice, die vorherige Strahlende, bei einem Angriff der Magier getötet worden. Natürlich hatte er um sie getrauert. Die Paarbindung, die Unsterbliche eingingen, war physischer Natur, und wenn sie zerstört wurde, fügte sie auch denjenigen, die zurückblieben, körperlichen Schaden zu. Und er hatte tatsächlich einen Schaden genommen, dessen ganze Tragweite ihm erst jetzt allmählich klar zu werden begann.

Denn während er seine Brüder und ihre Gefährtinnen beobachtete, erkannte er, dass die Verbindung zwischen ihm und Beatrice dünn und blass gewesen war. Ihr Bund war von der Göttin verfügt worden, wie es bei der Strahlenden immer der Fall war. Er hatte gehofft, dass daraus eine gute Bindung entstehen würde, so wie jetzt bei Lyon und Kara, doch Beatrice war nie in der Lage gewesen, über seine Narben hinwegzusehen. Sie hatte ihm erlaubt, sie zu lieben, aber nur gelegentlich und dann auch nur in voller Dunkelheit. Er hatte häufig den Verdacht gehabt, dass sie sich selber als die Königin der Krieger des Lichts sah und er dazu bestimmt war, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber eigentlich hatte sie ihn nie wirklich gewollt, und er war sich sicher, dass sie ihn nie geliebt hatte.

Nein, es war für sie beide keine befriedigende Beziehung gewesen, und obwohl er durch den Bruch der Paarbindung Schaden genommen hatte, war er durch ihren Verlust nicht so am Boden zerstört gewesen, wie man es eigentlich erwartet hätte.

Während sein Blick durch die Runde amTisch wanderte, und er beobachtete, wie Hawke Falkyns Wange streichelte, wie Paenther Skye ansah, wie Melisande den Kopf an Fox’ Schulter legte und dieser ihr einen sanften Kuss auf den Scheitel drückte, spürte er tief in seinem Innern eine schmerzhafte Sehnsucht. Eine Leere. Eine Einsamkeit, die er selten so deutlich wahrgenommen hatte. Denn jetzt gab es eine Frau, nach der sich sein Herz sehnte. Eine Menschenfrau, die mit einem anderen verlobt war. Eine Frau, die niemals sein werden könnte.

Natalie.

Jag ließ plötzlich seine Gabel laut klirrend auf den Teller fallen, und sein Gesicht verzerrte sich vor tief empfundener Angst.

Olivia griff nach seiner Hand. »Was ist los?«

»Mein Tier …« Er sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und zu Boden fiel. Mit schnellen, langen Schritten entfernte er sich vom Tisch, dann blieb er stocksteif mit dem Rücken zu den anderen stehen, die Fäuste seitlich am Körper geballt. Plötzlich wirbelte er herum, und seine entsetzte Miene wandelte sich in einen Ausdruck der Wut.

»Verdammt, ich kann mich nicht verwandeln!«

Schweigen senkte sich über den Raum, und sogar die Angehörigen der Garde sagten nichts. Die Krieger des Lichts sahen einander an, während allen auf einmal klar wurde, was Jags Worte zu bedeuten hatten.

Tief in Wulfes Innern knurrte sein Tier, als würde es verstehen. Und das tat es wahrscheinlich auch.

»Es hat angefangen«, sagte Kougar leise.

Sie verloren ihre Unsterblichkeit … und jetzt auch ihre Tiere.

Olivia stand auf und ging zu ihrem Gefährten. Als sie ihren Arm um seine Taille schlang, zog er sie fest an sich.

Bedeutete dies, dass Jag als Erster sterben würde? Die Göttin möge ihnen allen beistehen! Wenn die Krieger vernichtet waren, würde nichts mehr Inir und seine Meute aufhalten, die Dämonen zu befreien.

Paenther sprach den Gedanken aus, der allen durch den Kopf ging. »Vielleicht müssen wir Inirs Festung angreifen, solange sich die meisten von uns noch verwandeln können, Boss.«

Lyon musterte seinen Stellvertreter mit durchdringendem Blick. »Denke nicht, dass ich das nicht auch schon überlegt hätte. Wenn ich wirklich der Meinung wäre, dass wir uns nie wieder erholen, müssten wir jetzt handeln. Aber ich weigere mich, das zu glauben. Und die bösen Krieger des Lichts anzugreifen, die sich verwandeln können, während wir selber sterblich geworden sind, grenzt an Selbstmord. Und ich werde euch nicht in den sicheren Tod führen. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.«

Kougar lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Ariana die Antworten in ihren Erinnerungen hat. Sie muss sie nur finden.« Im Geiste der Königin der Ilinas ruhte das Wissen der Königinnen, die vor ihr gewesen waren. »Denn sie erklärt mir immer wieder, dass ihre persönliche Enzyklopädie keinen Index hat und recht unübersichtlich ist. Doch wenn die Antworten da sind, wird sie sie finden.«

»Wenn …«, brummte Tighe. »Und auch wenn es ihr gelingt … wird es noch rechtzeitig sein?«

Fox stand auf und ging zu Jag. Die Sorge war ihm deutlich anzusehen, als er seine Hand auf Jags Schulter legte.

Es gab keine Worte des Trostes. Das wussten alle. Jag mochte vielleicht der Erste sein, doch die anderen würden ihm folgen. Wenn sie keine Möglichkeit fanden, den bösen Zauber zu brechen, würden sie alle sterben … und Satanan und seine schrecklichen Horden würden sich erheben.

3

Nach dem Frühstück verwandelte Wulfe sich in sein Tier und legte sich vor dem Schlafzimmer des Schamanen auf den Boden, um sofort mitzubekommen, wenn dieser erwachte. Es war bereits halb eins, als Wulfe endlich hörte, dass der Schamane sich regte. Er sprang auf. Während er in sein eigenes Zimmer lief, wandte er sich auf telepathischem Wege an Tighe. Das war eine Form der Kommunikation, die nur möglich war, wenn der eine oder andere in seiner tierischen Gestalt und die Entfernung zwischen beiden nicht zu groß war.

Der Schamane ist jetzt wach. Wenn er bereit dazu ist, willst du dann immer noch mit nach Frederick?

Ich treffe dich in fünf Minuten unten, erwiderte Tighe.

Kaum in seinem Schlafzimmer verwandelte Wulfe sich und legte seine Kleidung an. Er kam gerade in dem Moment wieder den oberen Flur entlang, als die Tür, vor der er gelegen hatte, aufging und derjenige, auf den er gewartet hatte, heraustrat.

Der Schamane war in vielerlei Hinsicht einzigartig. Er war älter als die Pyramiden und hatte die Gabe, Magie zu spüren, wozu die meisten Therianer nicht in der Lage waren. Er sah wie ein Jüngling aus einem früheren Jahrhundert aus. Das lange Haar war im Nacken zusammengebunden, das langärmelige weiße Hemd hatte Rüschen. Doch während sein Antlitz jung geblieben war und nie auch nur den Ansatz von Bartwuchs hatte entwickeln können, lagen in seinem Blick Weisheit und Barmherzigkeit.

»Schamane, dürfte ich kurz mit dir reden?«

»Guten Morgen, Wulfe. Ja, natürlich.«

Wulfe erzählte ihm kurz von dem seltsamen Schimmer, der Natalie umgab. Als der Schamane die Stirn runzelte, schnürte es Wulfe die Kehle zu.

»Ich muss sie mir ansehen«, erklärte er.

»Ich kann sie nicht herbringen. Hast du vielleicht ein bisschen Zeit?«

»Ja, natürlich, lass uns losfahren. Ich kann häufig klarer denken, wenn ich unterwegs bin.«

»Sehr schön. Großartig. Willst du erst noch etwas essen, Schamane?« Er hatte es eilig aufzubrechen … schließlich wartete er schon seit Stunden, aber der Schamane sollte natürlich etwas essen, wenn er hungrig war.

»Wenn wir unterwegs irgendwo anhalten, können wir gern sofort los.«

»In Ordnung. Dann starten wir.«

Tighe wartete bereits unten in der Halle auf sie. Er hatte eine ungeöffnete Packung Kekse in der Hand. »Ich habe Delaney erzählt, wohin wir fahren und warum«, sagte er, während sie alle drei zu Wulfes Truck gingen. »Sie können uns Ilinas hinterherschicken, wenn man uns schnell wieder hier braucht.«

Mit einer Ilina zu reisen war höchst unangenehm. Man mochte zwar blitzschnell von einem Ort an den anderen gelangen, da der natürliche Zustand der Ilinas gasförmig war, aber die Aktion war mit einem so starken Schwindelgefühl und heftiger Übelkeit verbunden, dass sie es alle nach Möglichkeit vermieden.

Wulfe und Tighe setzten sich vorne in den Wagen. Als der Schamane auf die Rückbank kletterte, reichte Tighe ihm die Kekse. »Wenn wir da sind, klopfst du an Natalies Tür und sagst ihr, dass du Kekse verkaufst. Das tun Menschenkinder die ganze Zeit.« Tighe warf Wulfe einen kläglichen Blick zu. »Delaney hat bloß die Augen verdreht, als ich ihr von unserem Plan erzählt habe. Sie sagte, Krümel verkaufen Kekse. Was zum Teufel soll das heißen? Als ich sie fragte, ob wir Krümel haben, hat sie nur gelacht und mich aus der Küche gescheucht.«

»Muss so ein Menschending sein.«

»Offensichtlich.« Tighe sah ihn vorsichtig an. »Könnte es sein, dass das, was du bei Natalie gesehen hast, irgendetwas mit deinem Dämonenblut zu tun hat?«

Wulfe erstarrte, und die Frage hing wie ein widerlicher Gestank in der Luft. »Vielleicht. Wenn ich das doch wüsste …« Es wurde immer offensichtlicher, dass Dämonenblut in seinen Adern floss, aber er würde den Teufel tun, das anstandslos zu akzeptieren. Dämonen waren die bösesten, widerwärtigsten Geschöpfe auf Erden – und er sollte einer von ihnen sein? Okay, vielleicht nicht vollständig. Dieser dämonische Vorfahre von ihm musste vor mehr als fünftausend Jahren gelebt haben, aber trotzdem … wie sollte er jemals mit dem Gedanken klarkommen, dass er teilweise ein Dämon war?

Er hatte immer gedacht, dass es nur ein Gerücht wäre, sein Wolfsclan stamme von diesen Monstern ab. Er hatte es nie geglaubt – nicht eine Sekunde lang –, bis er vor einer Woche der Einzige gewesen war, der den gewundenen Schutzwall erkennen konnte, den Inir errichtet hatte, um seine Festung in den Bergen von West Virginia zu schützen. Der Schutzwall war durch einen Dämonenzauber errichtet worden, und nur er war in der Lage gewesen, seine Brüder hindurchzuführen. Und schlimmer noch … er hatte als Einziger mithören können, wie Inir und Satanan miteinander redeten … in Inirs Kopf. Satanan hatte sich noch nicht einmal erhoben. Er existierte bisher nur in Inirs Körper und war kaum mehr als der Hauch eines Bewusstseins. Trotzdem konnte Wulfe sie weiterhin gelegentlich sprechen hören.

Irgendwann hatte er aufgehört, das Offensichtliche zu leugnen, und akzeptiert, dass Dämonenblut in seinen Adern floss. Letztendlich – ob nun gut oder schlecht – verschaffte ihnen das Vorteile, die die Krieger des Lichts bei ihrem Kampf gegen Inir und Satanan dringend brauchten. Aber was das nun darüber hinaus für ihn bedeutete, war ihm noch nicht klar. Und das machte ihn halb wahnsinnig.

Wulfe schaltete das Radio an und stellte seinen Lieblingssender mit Countrymusic ein. Keiner sagte mehr etwas, alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Zweimal rief der Schamane Ariana an und schlug ihr vor, bei bestimmten Ereignissen nachzuforschen, von denen Wulfe nie gehört hatte: die Kerkerhaft des Königs der Marck im Bergwerk von Buldane und die Seuche von Opplomere. Wie angekündigt schien die Fahrt dem Schamanen beim Denken zu helfen.

Wulfe dagegen wurde nur noch ungeduldiger, wieder zu Natalie zu gelangen.

Sie waren nur noch ein paar Meilen von Frederick entfernt, als Wulfe wieder anfing, Stimmen zu hören. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.

Wenn du die Strahlende umgebracht hättest, als sie in deiner Gewalt war, hätten wir jetzt nicht diesen Ärger. Dann hättest du dir einfach die Neue holen können.

Das würde aber voraussetzen, dass ich die neue Strahlende erkenne und sie in meine Gewalt bringe, ehe sie zu den Kriegern des Lichts gelangt, Herr. Und das ist unwahrscheinlich. Davon abgesehen brauchte ich die jetzige Strahlende, um meine neuen Krieger in ihre Tiere zu bringen. Es wird funktionieren, Herr. Wir haben das Blut der Strahlenden. Zwar nicht das einer Novizin, aber das Blut einer Strahlenden. Meine Zauberer werden eine Möglichkeit finden, das daraus zu machen, was wir brauchen. Das Licht des ersten Kriegers ist erloschen. Ich habe es gespürt. Einer von ihnen ist kein Gestaltwandler mehr. Sobald wir das Blut vervollkommnet haben und die Lichter der anderen Krieger auch erloschen sind, werden du und dein Gefolge freikommen.

Wulfes Hände umklammerten das Lenkrad, als ihm Inirs großer Plan enthüllt wurde. Für das Ritual zur Befreiung der Dämonen brauchte man das Blut einer noch nicht eingeführten Strahlenden – einer Novizin –, und das war Kara schon seit Monaten nicht mehr. Sie waren davon ausgegangen, dass Inir das Ritual nicht durchführen konnte, solange sie für Karas Sicherheit sorgten. Offensichtlich hatten sie sich geirrt.

»Wulfe?«

Der scharfe Unterton in Tighes Stimme lenkte Wulfes Aufmerksamkeit auf seinen Freund.

»Du brichst gleich das Lenkrad durch. Was ist los?«

»Ich habe wieder gehört, wie Inir und Satanan miteinander reden.«

»Und?«

Wulfe erzählte Tighe und dem Schamanen, was die beiden gesagt hatten.

Knurrend holte Tighe sein Handy heraus und rief Lyon an, um die Information an ihn weiterzugeben.

Wulfe sah Tighe an, nachdem dieser den Anruf beendet hatte. »Was hat Lyon gesagt?«

»Nicht viel. Er hofft immer noch, dass wir herausfinden, welches Ritual vonnöten ist, um uns wieder unsterblich zu machen.«

Wulfe wünschte sich inständig, dass ihnen das rechtzeitig gelingen würde.

Minuten später, als sie langsam an Natalies Haus vorbeifuhren, musste er einen leisen Seufzer unterdrücken. Sein Wolf winselte aufgeregt bei der Aussicht, Natalie wiederzusehen. Doch sowohl der Mann als auch der Tiergeist würden dieses Mal enttäuscht werden. Nur der Schamane würde zur Tür gehen.

Wulfe parkte den Truck auf der anderen Straßenseite und stellte den Motor aus. Er zwang sich dazu, sich nicht von der Stelle zu rühren, während der Schamane aus dem Truck stieg und mit den Keksen in der Hand die Straße überquerte.

»Meinst du, sie ist zu Hause?«, fragte Tighe.

»Wir haben Zeit verschwendet, falls sie es nicht sein sollte. Es ist Sonntag. Xavier sagte, sie habe eine Praxis für Optometrie in der Stadt und Sonntag und Montag seien ihre freien Tage.«

»Das muss nicht heißen, dass sie zu Hause ist.«

»Muss aber auch nicht heißen, dass sie’s nicht ist.«

»Sie könnte gerade Besorgungen machen.«

»Sie könnte alles Mögliche machen.«

Sie beobachteten beide, wie der Schamane auf die Türklingel drückte, und die Unterhaltung war vergessen.

Sei zu Hause, Natalie. Er wollte unbedingt, dass der Schamane ihm sagte, dass mit ihr alles in Ordnung war. Bitte, lass nichts mit ihr sein. Das hatte sie verdient. Sie hatte ein Leben verdient, in dem sie nicht von Dämonen bedroht wurde. Allerdings würden bald alle Menschen diesem Grauen anheimfallen, wenn die Krieger des Lichts keine Möglichkeit fanden, Inir aufzuhalten.

Die Tür ging auf. Plötzlich schlug Wulfe das Herz bis zum Hals. Natalie. Sie stand auf der Schwelle und hatte weiße Shorts an, die ihre langen, schlanken Beine hervorhoben. Das hellblaue T-Shirt, das sie trug, betonte das Blau und Grün ihrer schockierend hellen Aura. Zumindest wusste er jetzt, dass die Wahrnehmung seines Wolfes nicht gestört war. Verdammt!

Tighe stieß einen leisen Pfiff aus. »Na, das nenne ich mal ein Strahlen.«

»Du kannst es also auch sehen?«

»Es ist so deutlich wie der helle Tag.«

Mist! Er hatte wirklich gehofft, dass es an seiner eigenen Wahrnehmung lag.

Während Wulfe die Szene weiter beobachtete, streckte der Schamane die Hand aus, als wollte er ihre schütteln. Natalie wirkte leicht amüsiert, schüttelte aber die angebotene Hand mit einem freundlichen Lächeln. Wahrscheinlich schüttelten Menschenkinder, die Kekse verkauften, ihren Kunden nicht die Hand. Kurz darauf drehte sie sich um, ohne jedoch die Tür zu schließen, und der Schamane stand weiter da. Als sie zurückkam, gab sie dem Schamanen offensichtlich ein paar Dollar, und er reichte ihr dafür die Kekse, schüttelte ihr noch einmal die Hand und wandte sich dann ab.

»Nun?«, fragte Wulfe, als der Alte eine Minute später wieder in den Truck kletterte.

»Ich habe Dämonenenergie gespürt, doch was das zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen. Es könnten die Nachwirkungen der Energie sein, der ihr alle auf dem Schlachtfeld von Harpers Ferry ausgesetzt wart.«

»Dann müssten ja alle drei, die überlebt haben, davon betroffen sein. Aber bei Xavier habe ich bisher noch keine Hinweise gesehen«, meinte Wulfe.

»Wir müssen wohl jemanden zu der Frau schicken, die die ganze Zeit geschrien hat«, brummte Tighe. Christy, das junge Mädchen, hatte eigentlich während der ganzen Zeit, die sie bei ihnen in einer Zelle verbracht hatte, nichts anderes getan, als zu schreien. »Kann Natalie mit diesem Aussehen in der Welt der Menschen bleiben?«

»Ich denke schon«, erwiderte der Schamane. »Nur wenige Menschen können eine Aura wahrnehmen. Aber trotzdem sollte sie jemand im Auge behalten.«

Wulfe warf ihm einen durchdringenden Blick zu.

Der Schamane hob eine Hand. »Es reicht, wenn du nach ihr schaust.«

Tighe musterte Wulfe. »Es könnte sicherer sein, wenn wir sie wieder ins Haus des Lichts bringen.«

»Nein«, stieß Wulfe wie aus der Pistole geschossen hervor. Lyon würde sofort befehlen, sie wieder in eine der Zellen zu sperren. Zwar nahmen die Krieger des Lichts einem Menschen nie ohne Grund das Leben, doch Dämonenenergie könnte das sehr wohl rechtfertigen. Das Risiko würde er nicht eingehen. »Sie bleibt hier.«

Tighe nickte und warf ihm einen verständnisvollen Blick zu, als hätte er mitbekommen, was Wulfe durch den Kopf gegangen war.

Wulfe wandte sich an den Schamanen. »Wie können wir sie heilen?«

»Ich habe keine Ahnung.« Der Schamane stieß einen Seufzer aus. »Es tut mir leid, Wulfe. Ich kenne mich nur mit der Magie von Zauberern aus, aber nicht mit der von Dämonen.«

Tighe streckte die Hand aus und klopfte Wulfe auf die Schulter. »Du hattest schon schlimmere Aufträge, als eine schöne Frau im Auge zu behalten.«

Die Wahrheit war, dass er es überaus genießen würde, diese Frau zu beobachten, auch wenn er dafür in der Gestalt seines Tieres bleiben musste. »Ich frage mich, ob sie einen Wolf in ihr Haus lassen würde«, überlegte er. Es war einen Versuch wert. Heute Abend würde er es herausfinden.

Als sie wieder im Haus des Lichts waren, nahm Tighe ihn beiseite. »Sei vorsichtig, Kumpel.«

Wulfe zog eine Augenbraue hoch.

»Sie ist ein Mensch.«

»Ja und?«

»Ich will damit nur sagen, dass du dir das Ganze offensichtlich sehr zu Herzen nimmst. Ich wusste, dass du eine Schwäche für sie hast, aber ich glaube, es ist mehr als das. Viel mehr.«

Wulfes Miene verhärtete sich. »Das spielt keine Rolle. Sie gehört einem anderen Mann, und selbst wenn nicht, bin ich noch total durch den Wind wegen meiner zerrissenen Paarbindung.« Ganz abgesehen davon tappte er völlig im Dunkeln, was zum Teufel es mit seinem Dämonenblut auf sich hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ich würde niemals etwas bei ihr versuchen.«

Tief in seinem Innern winselte sein Wolf betrübt.

Tighe nickte. »Es wäre besser, wenn du auf Abstand bleibst. Dann könntest du sie vielleicht vergessen, wenn alles vorbei ist.«

Aber das war es ja gerade. Er konnte sie nicht vergessen. Nicht eine verdammte Minute lang.

Tighe zuckte die Achseln. »Ich will damit ja nur sagen, dass Menschen nicht lange leben, Kumpel.«

»So wie es im Moment aussieht, wir wohl auch nicht«, schnaubte Wulfe.

Aber er verstand Tighes Sorge und teilte sie mit ihm. Das Letzte, was er wollte oder brauchte, war ein gebrochenes Herz nach fünfzig oder sechzig Jahren – ein kurzer Augenblick, wenn es ihm denn gelingen würde, seine Unsterblichkeit wiederzuerlangen. Denn mehr als fünfzig oder sechzig Jahre hatte Natalie nicht – vielleicht sogar viel, viel weniger.

Gerade als Wulfe hinter dem verlassenen Lagerhaus zum Stehen kam, fing es an zu regnen. Es war früher Abend, und die Sonne würde bald untergehen, auch wenn diese sich hinter dichten Regenwolken versteckte. Er stellte den Motor ab, stieg aus und warf die Schlüssel unter den Wagen, damit die Elektronik durch den Regen keinen Schaden nahm. Er zog sich aus und verstaute Stiefel und Kleidung auf der Rückbank, ehe er die Türen abschloss und sich in seinen Wolf verwandelte.