Vater nannte mich Meister Blitz. Ein Leben mit ADHS - Michael Kühl - E-Book

Vater nannte mich Meister Blitz. Ein Leben mit ADHS E-Book

Michael Kühl

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Beschreibung

Wie es sich anfühlt, als vermeintlicher Versager und Außenseiter aufzuwachsen, das weiß Michael Kühl genau. Häufige Unfälle, Zappeligkeit, Unruhe und permanente Grübeleien, Zwänge und Zwangsgedanken, drastische Wutausbrüche, wenn etwas nicht auf Anhieb gelang, Konzentrationsmangel, ein extrem negatives Weltbild, aber auch ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn prägten sein Leben von Kindheit an. Nach mehr als zwanzig Kündigungen, zerplatzten Träumen und gescheiterten Lebensentwürfen in gerade mal fünfzehn Jahren zog er die Reißleine, nichts ging mehr. Kurz vor dem völligen Absturz und erst im Alter von siebenunddreißig Jahren dann die klärende Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bis ins Erwachsenenalter hinein, diese merkwürdige Mischung aus Unruhe, Konzentrationsmangel, extremer Schwarzmalerei und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Endlich fühlte er sich nicht mehr lebensunwert. Das nun erworbene Wissen bewahrte ihn vor dem sicheren Untergang. Er fing an, sich teilweise selbst zu verzeihen und konnte die Kon­trolle über sein Leben gewährleisten. Eindrucksvoll und unterhaltsam beschrieben, und eine deutliche Warnung, ADHS nicht zu verleugnen oder zu bagatellisieren. Gleichzeitig ein Plädoyer gegen Rassismus und die weiße Vorherrschaft im südlichen Afrika, wo der Autor einen Teil seiner Kindheit verbrachte.

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Michael Kühl

Vater nannte mich Meister Blitz

Ein Leben mit ADHS

Dieses Buch ist eine autobiografische Erzählung. Es geht nicht um wissenschaftliche Aspekte der neurologischen Besonderheit ADHS und es ist auch keine Anleitung zur Selbsthilfe. Die geschilderten Ereignisse beruhen in erster Linie auf meinen eigenen Erinnerungen, denen meiner Eltern sowie weiterer Weggefährtinnen und Weggefährten. Alle vorkommenden Personen, Institutionen und Firmen in dieser Erzählung gibt es wirklich, und sie existieren zum größten Teil auch noch. Um ihre Identitäten zu schützen, habe ich die Namen einiger Personen geändert. Wohl nur sie allein dürften in der Lage sein, sich wiederzuerkennen.

Impressum

Text: © 2024 Copyright by Michael Kühl

Titelgestaltung: tigerworx.de

Titelbild  Simone Morell,

www.heilwerk.net, [email protected]

Umschlagfoto: Evelyn Adamaszek

Verantwortlich für den Inhalt:

Michael Kühl

Talstr. 87, 20359 Hamburg

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

Inhalt 5

Prolog 7

1 Auge um Auge 9

2 Aus dem Nest gesprungen 17

3 Ausreise mit Hindernissen 29

4 Boeing 747 in eine rassistische Diktatur 36

5 Der Ernst des Lebens 45

6 Hungrige Mäuler 53

7 Die weiße Schande 66

8 Black is beautiful 74

9 Ein garstiges Fundament 81

10 Zarte Bande und harte Realitäten 94

11  Seele aus Beton 104

12 Feuer und Flamme 118

13 Ein chaotischer Berufsstart 125

14 Glanz und Gloria derer von Lönneberga 135

15 Der ewige Jude 141

16 Mein letztes Blaulicht 149

17 Schweiz ohne Berge 154

18 Die Gedanken sind nicht frei 167

19 Ein neuer Beruf und die Sache mit der Moral 176

20 Chemische Keule 184

21 Die Wandergitarre von Station Sieben 191

22 Durchs Therapien-Labyrinth zur Endstation 202

23 Dem Morgenrot entgegen 215

Epilog 227

Dank 230

Prolog

Nach einer beeindruckenden Karriere häufiger und spektakulärer Unfälle und zehn Jahren nervenzehrender Schulzeit für alle Beteiligten stand ich da nun ein wenig verloren mit meinem Zeugnis und wusste nicht so recht, wohin. Mutter wünschte mir insgeheim eine Zukunft als Schauspieler im Stil eines Otto Waalkes oder als rasender Reporter, Vater dachte eher an Sportwagenverkäufer. Aber ich hatte wie immer meinen eigenen Kopf.

Über die Jahre glühte in mir immer noch ein typischer Kindheitstraum, und den würde ich jetzt endlich in die Tat umsetzen: Ich wollte unbedingt zur Feuerwehr, um jeden Preis. Aber damals von eher schmächtiger Statur, einäugig aufgrund eines Unfalls in der frühen Kindheit, nicht besonders sportlich, dafür zappelig, impulsiv und ewig abgelenkt, beherrscht von Zwangsgedanken, permanenten Grübeleien und einer fatalen Neigung zu drastischen Wutausbrüchen, wenn etwas nicht auf Anhieb gelang – und dann ausgerechnet zur Berufsfeuerwehr, das ging eben nicht.

Der erste Versuch einer Schlosserlehre endete erwartungsgemäß bereits in der Probezeit, und um den Anschluss nicht gänzlich zu verpassen, begab ich mich schließlich überstürzt in eine erneute Handwerkslehre bei einem Malermeister.

Mutter war entsetzt.

„Ach Junge, was soll das denn, du hast zwei linke Hände, das wird doch nie etwas.“ Hätte ich mal auf sie gehört; mein Ruf für Pleiten und Dramen sollte geradezu legendär werden. Bald schon traute sich kaum noch ein Kollege mit mir auf das Baugerüst.

Nach mehr als zwanzig Kündigungen, zerplatzten Träumen und gescheiterten Entwürfen in gerade mal fünfzehn Jahren zog ich schließlich die Reißleine, nichts ging mehr. Kurz vor dem völligen Absturz dann erst im Alter von siebenunddreißig Jahren die klärende Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bis ins Erwachsenenalter hinein, diese merkwürdige Mischung aus Unruhe, Konzentrationsmangel, extremer Schwarzmalerei und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn.

Endlich fühlte ich mich nicht mehr lebensunwert. Das nun erworbene Wissen bewahrte mich vor dem sicheren Untergang. Ich fing an, mir teilweise selbst zu verzeihen und konnte eigenständig die Kontrolle über mein Leben gewährleisten.

Obwohl es sicherlich manche Menschen mit ADHS gibt, die noch drastischere Lebenserfahrungen als ich machen mussten und später dennoch die aufregendsten Berufe ergriffen und eine glänzende Laufbahn hinlegten, so darf mein bisheriger Lebensweg doch zumindest als bemerkenswert bezeichnet werden.

1Auge um Auge

Aus naheliegenden Gründen mag ich keine Bobby-Cars. Auf Spielplätzen und Hinterhöfen siehst du sie heute gelegentlich noch, und im Laufe vieler Jahrzehnte haben sie die Herzen unzähliger Kinder höherschlagen lassen. Nicht selten wurde mit diesem Spielzeug so mancher Berufswunsch angelegt. Mein bester Freund Marc aus Kindheitstagen etwa, der mir später als LKW-Fahrer einmal sagte, dass es eben einer jener Spielzeugwagen war, an den er sich gerne zurückerinnere. Bis zu seinem frühzeitigen Ableben arbeitete er mit Leib und Seele als Fernfahrer.

Meiner Tochter habe ich seinerzeit ein Spielzeug dieser Art verwehrt. Und sollten sich irgendwann einmal Enkelkinder ein Bobby-Car zu Weihnachten oder zum Geburtstag von mir wünschen, so hoffen sie vergebens. Nein, mir hatten diese Plastikfahrzeuge gründlich die Lust am Spielen vergällt, erinnern sie mich doch an jenen Tag im Jahre 1968, der mit einem Unfall einen bedeutenden Einschnitt in meinem Leben kennzeichnen sollte. Dafür kann freilich das Bobby-Car nichts, auch nicht jener quietschgelbe Plastik-LKW, um den es hier eigentlich geht, einem Vorläufer des einst im Jahre 1972 in Fürth entwickelten Spielzeugmodells.

Meine angeborene, stark ausgeprägte Lebhaftigkeit in Verbindung mit mangelnder Ausdauer konnte nur durch immer neu begonnene Aktivitäten gezügelt werden; die Diagnose ADHS war damals noch weitgehend unbekannt. Die für diese Verhaltensauffälligkeit so typische notorische Unruhe entwickelte nach meinem ersten Unfall eine gefährliche Eigendynamik, die weitere Unglücke nach sich ziehen sollte.

Die Tür zum Wohnzimmer war halb geöffnet, so dass Mutter stets einen wachsamen Blick in das Kinderzimmer gegenüber werfen konnte, in dem ich mit dem gleichaltrigen Thomas spielte. Wir waren etwa zweieinhalb Jahre alt und entsprechend lebhaft ging es zu. Unsere Mütter waren miteinander befreundet und die Wohnungen befanden sich beide im selben Stockwerk eines Mehrfamilienhauses im Bremer Stadtbezirk Ost.

Wir schubsten einander den Spielzeugwagen, der uns damals als geradezu riesig erschien, gegenseitig zu, sehr zum Missfallen von Thomas zwei Jahre älteren Schwester Norma, die unweit in einer Ecke mit ihren Puppen und einem schönen, nostalgischen Kaufmannsladen spielte. Immer wieder raste der Wagen in die Puppen und Stofftiere, die sie dann, schimpfend wie ein Rohrspatz, ein ums andere Mal ordentlich in Reih und Glied erneut drapierte.

„Bitte nicht so laut Kinder, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!“ Die mahnende Stimme von Mutter verhallte natürlich ungehört. Wir waren viel zu sehr in unser Spiel vertieft, befanden uns in einer jener Welten aus Fantasie und Abenteuer, in die wohl nur Kinder einzutauchen imstande sind.

Irgendwann reichte es Norma und sie versuchte, den Wagen an sich zu reißen. Bei dem Gerangel löste sich die vordere Achse mit den beiden Reifen daran und der Wagen flog scheppernd in eine Ecke.

Plötzlich hatte Thomas nur noch die Achse mit den beiden lose befestigten Reifen an den Enden in der Hand und rollte sie mir zu. So ging es geraume Zeit hin und her, doch irgendwann löste sich einer der Reifen von dem Draht und verschwand unter einer Kommode. Da wir uns die Achse nun nicht mehr gegenseitig zurollen konnten, versuchte Thomas kurzerhand, mir den verbliebenen Reifen mit dem Draht voran zuzuwerfen.

Durch ohrenbetäubendes Gebrüll aufgeschreckt, stürmte Mutter ins Kinderzimmer. Entsetzt schaute sie in mein linkes Auge, aus dem Blut und eine andere, undefinierbare Flüssigkeit herausliefen.

„Thomas sagt, er will mir die Augen ausstechen“ schrie ich, rasend vor Schmerz und Wut.

Norma stand still und blass in der Ecke und hielt eine Puppe fest umklammert. Während Mutter mit mir wild um mich schlagend auf dem Arm zum Telefon eilte, um einen Rettungswagen zu rufen, betrachtete die Mutter der beiden Geschwister nachdenklich den Achsendraht mit dem Reifen daran.

Der Stich in meinen linken Augapfel, von den Ärzten als Perforation des Bulbus Oculi bezeichnet, ist mir bis heute präsent, und auch der besorgte Blick des Notfallsanitäters der Bremer Feuerwehr, der mir jetzt mit einer kleinen, aber starken Lampe ins Gesicht leuchtete, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.

Und in Mutters sowieso.

„Jetzt nehmen Sie doch endlich Vernunft an, Sie können da nicht rein, so sind nun mal die Regeln!“

Die Krankenschwester der Augenstation im Krankenhaus baute sich provokativ vor Mutter auf.

Durch eine Glasscheibe beobachteten meine Eltern mich besorgt, wie ich in einem schneeweißen Krankenbett aus hellgrau lackiertem Eisen lag, beide Augen mit einem dicken Verband abgedeckt.

„Wenn Sie jetzt zu Ihrem Kind gehen, wird der Abschied nur umso schwerer sein, wollen Sie das wirklich?“ Es war der resoluten Frau nicht begreiflich zu machen, dass eine Mutter niemals freiwillig ihr Kind in einer derartigen Situation allein lassen würde.

Mit der Diagnose einer lebenslangen Einäugigkeit wurde ich schließlich nach gerade einmal sieben Tagen aus der Klinik entlassen. Es sollte nicht der letzte Aufenthalt gewesen sein. Ich lief meinen Eltern entgegen, und Vater schenkte mir an diesem Tag meinen ersten Teddybär.

Den damaligen, geradezu obrigkeitshörigen Kadavergehorsam der Oberschwester nimmt Mutter ihr heute noch übel.

Andere Zeiten, andere Sitten.

*

Schon vor dem Unfall mit wenig Ausdauer ausgestattet, musste nun ständig etwas Neues das soeben begonnene ablösen; nur mit Abwechslung war ich auszugleichen. Diese bereits von Geburt an angelegte Zappeligkeit und Ungeduld entwickelte sich mit dem Verlust des Auges zu einem Horrortheater für meine Mitmenschen.

Getrieben von einer kaum zu bändigen Unruhe und Nervosität, Alpträumen, Aggressivität und der Unfähigkeit, angefangenes zu beenden, brachte ich mein Umfeld immer wieder an den Rand der Verzweiflung.

Wie von Sinnen raste und zappelte ich unermüdlich durch die Wohnung, und Mutter hatte Schwierigkeiten, mich zu fassen zu bekommen, bevor ich wieder irgend etwas umschmiss, auskippte oder gar noch Schlimmeres passierte. Ständig stieß ich mit dem Kopf gegen einen Türrahmen oder ein Regal, da ich die Kurven immer nur haarscharf nahm und mich noch nicht an das aufgrund der Einäugigkeit nun fehlende räumliche Sehvermögen gewöhnt hatte.

Die permanenten Kopfstöße machten mich schließlich rasend vor Wut, und noch heute kommt es nicht selten vor, dass ich zuhause ein ganzes Wandregal, geradezu toll vor Zorn, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen herunterreiße, wenn ich mich mal wieder daran stoße.

Trotz dieser bis zum heutigen Tag bestehenden cholerischen Impulsdurchbrüche ist es nie zu Übergriffen auf andere Personen gekommen. Glücklicherweise hielt mich die Angst vor einem erneuten, dann endgültigen Sehverlust davon ab, ein gefährlicher Gewalttäter zu werden; die Veranlagung dazu ist, begünstigt durch das ADHS, eindeutig vorhanden.

An dieser Stelle scheiden sich die Geister, ob sich meine auffällig gewordene Persönlichkeit auch ohne den Augenunfall so stark herausgebildet hätte oder ob die zunächst noch einigermaßen erträglichen ADHS-Eigenschaften erst durch dieses Ereignis noch zusätzlich verstärkt wurden. Auch nach der Wundheilung, und selbst in sehr viel späteren Jahren noch blieben meine notorische Unruhe, Ungeduld und Aggressivität, wenn auch nicht mehr so häufig, bestehen und dauern bis zum heutigen Tag an. In meinen späteren Beziehungen sollte mir das mehr als einmal vor Augen geführt werden. Erfreulicherweise sind die Symptome mittlerweile nicht mehr so stark ausgeprägt wie einst.

Zwei Wochen nach dem Unfall wachte ich nachts schreiend aus einem Alptraum auf und versuchte Mutter entgegenzurennen, die erschrocken in mein Zimmer geeilt kam. Sie hielt die Arme für mich auf und ich wollte ihr entgegenspringen. Durch die nun fehlende, normalerweise natürlich bestehende Veranlagung, Entfernungen richtig einschätzen zu können, rannte ich sehenden Auges in ihre offene Hand und bohrte mir einen ihrer Finger durch den Augenverband gegen den verletzten und noch nicht geheilten, aufgrund des Unfalles ausgelaufenen Augapfel. Brüllend und blutend fuhren mich meine besorgten Eltern umgehend wieder ins Krankenhaus, wo ich weitere Tage zur Beobachtung verbringen musste. Auf Mutters Drängen wurde der Augenverband schließlich um eine Metallplatte erweitert, die mich fortan vor solchen Folgeunfällen schützen sollte, bis ich schließlich eine Augenprothese bekam, ein sogenanntes Glasauge.

Mein Ruf für Unfälle sollte in den kommenden Jahren geradezu sprichwörtlich werden.

„Na, Sie waren ja bestimmt schon einen Monat nicht mehr hier, was ist nun wieder passiert?“

In dieser Art sprach mancher Unfall- und Kinderarzt, wenn wir mal wieder im Wartezimmer saßen, um einen meiner zahlreichen Unfälle behandeln zu lassen, die meine ADHS-typische Unruhe mit sich brachten. Mal fiel ich die Treppe hinunter und stürzte kopfüber durch eine Glasscheibe in ein Rosenbeet, ein anderes Mal rammte ich mir eine Harke, auf die ich gefallen war, in den Vorderkopf, dann wiederum fischte Mutter mich mit Unterkühlung aus einem Flussbett. Es schien, als hätte ich Blaulicht und Martinshorn für mich gepachtet.

Im Spielzimmer war es verdächtig ruhig, und das verheißt bekanntlich selten Gutes. Noch bevor Mutter nach mir sehen konnte, kam ich ihr auch schon schreiend entgegengelaufen, im rechten, gesunden Auge hing ein Kleiderbügel aus dünnem Draht. Beim sofort konsultierten Augenarzt wurde dann ein leichter Kratzer auf der Augapfeloberfläche festgestellt, der zum Glück glimpflich verlief und rasch wieder verheilte.

„Der Junge muss immer seine Brille tragen, immer“, rief der Augenarzt uns noch mahnend hinterher.

Unter der Androhung, mir künftig gehörig den Hosenboden zu versohlen, schwor Mutter mich darauf ein, meinen Lebtag niemals wieder die Brille abzusetzen. Die Standpauke wirkte, und bis zum heutigen Tag ist mein erster Griff beim morgendlichen Aufwachen nicht etwa zum Wecker, sondern zur Brille. Die Sehhilfe besteht nach wie vor selbstverständlich aus unzerbrechlichem Kunststoff, nicht aus Glas. Der Grund dafür ist leicht zu erraten.

Noch heute behaupten übrigens einige psychotherapeutischen Fachleute, dass Erinnerungen an die Zeit vor dem dritten Lebensjahr schlichtweg unmöglich seien.

Sie sollten sich gründlich geirrt haben.

Manche Dinge vergisst du nie.

Du kannst sie nur aus den Augen verlieren.

2Aus dem Nest gesprungen

Eine alte Redewendung lehrt uns: Wer nicht hören will, muss fühlen. In der Tat, ein wahres Wort.

Innerlich wüste Verwünschungen ausstoßend war Mutter damit beschäftigt, mir zahlreiche Dornen und Glassplitter aus Rücken und Hinterteil zu picken, während sie gleichzeitig ein weißes Leinentaschentuch auf eine große Schnittwunde an meinem rechten Oberschenkel presste. Gregor, der Vater von Olaf, einem befreundeten Spielkameraden von mir, bei dem Mutter und ich an diesem Nachmittag zu Besuch waren, kam triefnass in Badelatschen die Treppe heruntergeeilt, dabei mehrere Stufen gleichzeitig nehmend. Geschickt wich er zahlreichen Glasscherben aus. Mit der rechten Hand hielt er ein großes Saunahandtuch fest, das notdürftig um die Hüfte geschlungen war, unter dem linken Arm klemmte ein verbeulter Metallkoffer aus Vorkriegszeiten mit Pflastern und diversem Verbandsmaterial. In seinem dichten, schwarzen Haar und seinem markanten Vollbart waren deutlich Shampooreste zu sehen. Er hatte gerade unter der Dusche gestanden und zufällig durch das Fenster, welches sich direkt neben der Duschkabine befand, gesehen, wie ein Kinderkörper und zahlreiche Glasscherben am Fenster vorbeirauschten und im Rosenbeet landeten. Seine Frau Hilde war inzwischen am Telefon, um einen Rettungswagen zu rufen, der aufgrund einer chaotischen Baustelle in unmittelbarer Nähe außergewöhnlich lange unterwegs war.

Mittlerweile war Gregor am Rosenbeet angekommen und machte sich fluchend an den hoffnungslos verrosteten Scharnieren des Koffers zu schaffen.

„Sag mal, bist du sicher, dass du weißt, was du da tust?“, rief Mutter entgeistert und starrte ungläubig auf den staubigen Metallkoffer, aus dem ein muffiger Geruch strömte. An der Seite waren undefinierbare Zahlenkolonnen zu sehen, und ein verblichenes, rotes Kreuz ließ den Inhalt erahnen. Der Koffer erinnerte an unrühmliche Zeiten und endgültig verlorenen Weltkrieg.

Olaf hatte sich erschrocken in sein Zimmer zurückgezogen und beobachtete durch das Fenster entsetzt das Geschehen.

„Los, nach oben ins Badezimmer, der Junge braucht Kühlung. Diese Dornenstiche fühlen sich an wie Brandwunden.“ Die Anweisungen von Gregor waren knapp und präzise. Er arbeitete als Polizeibeamter und hatte langjährige Erfahrung in der Leitung von Einsätzen. Wir hatten Glück, dass er noch zuhause war und die Situation unter Kontrolle halten konnte; eigentlich hätte er schon vor einer Viertelstunde seinen Spätdienst antreten müssen. Mutter trug mich nach oben und wäre fast der Länge nach hingefallen, da sie die zahlreichen Glasscherben übersah, die auf der Treppe lagen.

Beim Hinuntertoben der glattpolierten Wendeltreppe aus Holz war ich ausgerutscht und mit dem Kopf voran durch eine Glasscheibe in ein Rosenbeet gestürzt. Wie durch ein Wunder trug ich keine Kopfverletzung davon, allerdings hatte ich mir eine lange Schnittwunde am Oberschenkel zugezogen und mein Unterkörper war mit zahlreichen Rosendornen, Glaspartikeln, Hautabschürfungen und Prellungen gespickt.

Kurz zuvor hatte Mutter mich noch ermahnt, auf keinen Fall mit Socken die Treppe zu betreten, sondern die Hausschuhe mit rutschfester Gummisohle zu tragen, die mir Hilde bereitgestellt hatte.

Während Mutter und Hilde mich nun, windend wie ein Aal, in die Badewanne hievten und mit lauwarmem Wasser benetzten, stand Gregor am Gartenzaun und winkte den herannahenden Rettungswagen herbei, dabei sorgfältig bedacht, das Badetuch an der dafür vorgesehenen Stelle festzuhalten. Inzwischen kamen heftige Windböen auf und Olaf jagte dem Inhalt des Koffers hinterher, um das Verbandsmaterial wieder einzusammeln, das der Wind aus dem Koffer gefegt hatte.

Die Badewanne sah inzwischen aus wie das Relikt eines schlecht inszenierten Horrorfilmes, und auch der Fußboden wies zahlreiche Blutstropfen auf.

„Hallo Michael, was machst Du denn schon wieder hier?“ Der Unfallchirurg der Notaufnahme sah mich überrascht an und versuchte, mich mit Faxen abzulenken. Erst vor kurzem war ich bei ihm in Behandlung gewesen, da Mutter mich mit Verdacht auf eine Unterkühlung in die Klinik gefahren hatte, nachdem sie mich aus einem Flussbett der Este herausziehen durfte. Ich hatte knietief im Schlick gesteckt und dort eine geraume Zeit verharren müssen, weil ich mich nicht mehr eigenständig befreien konnte. Da Mutter stets misstrauisch war, wenn ich alleine draußen spielte, war sie mir nach einer Weile der Ungewissheit heimlich gefolgt und hatte mich, verschmutzt wie eine Bisamratte, am Ufer vorgefunden. Mittlerweile verfügte Mutter über so etwas wie einen siebten Sinn.

Zufälligerweise hatte der Notarzt, der mich jetzt wieder behandelte, an jenem Tag die Vertretung für einen Kollegen übernehmen müssen, so dass er mich jetzt erkannte und wie einen alten Kumpel begrüßte. Diese Taktik erwies sich als genau richtig, denn durch seine Sprüche und Albereien war ich abgelenkt und bemerkte die Krankenschwester nicht, die gerade eine furchteinflößend große Spritze aufzog und sich mir unauffällig näherte.

Ich bekam an diesem Tag zwei Betäubungs- und eine Tetanusspritze, und ich schwor, niemals wieder jemandem zu gestatten, mir nochmal eine Spritze zu verabreichen.

In den folgenden Jahren wurde ich hart im Nehmen, und lieber würde ich mich auf kleiner Flamme rösten lassen, als jemals wieder eine solche Tortur zu erdulden. Mittlerweile hatte ich mehr Respekt vor Spritzen als vor einer Operation.

Der Schnitt im Oberschenkel wurde mit mehreren Stichen vernäht und die Dornenwunden mit rotem Jod bestrichen.

Zu Mutters großer Erleichterung brauchte ich nicht in der Klinik zu bleiben. Allerdings musste ich mehrere Tage hintereinander zur nachträglichen Wundversorgung bei unserem Hausarzt vorsprechen, der mich mittlerweile als seinen einträglichsten Patienten hegte und pflegte.

 *

„Nein, auf gar keinen Fall, das ist noch viel zu früh. Das können wir hier nicht leisten, dafür sind die Klassen einfach zu groß. Es ist besser, wenn wir noch ein Jahr warten, dann kann er vielleicht in die Vorschule, aber auch wirklich nur vielleicht.“

Der leitende Pädagoge der Rotkäppchenschule, einer Grundschule für die Jahrgangsklassen eins bis vier, sah Mutter mit entschlossenem Blick an.

„Glauben Sie mir, die Testergebnisse sind eindeutig, der Junge ist einfach noch zu verspielt. Und dann diese notorische Unruhe, das kann nur schiefgehen.“

Mutter und Vater hätten mich gerne mit sechs Jahren eingeschult, aber der pädagogische Entscheidungsträger und die Psychologin, die mit mir diverse Testversuche machten, waren sich einig. Eine Einschulung für ein derart auffälliges Kind war zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig ausgeschlossen.

„Außerdem haben wir keine gebührende Einsichtsfähigkeit feststellen können, die Sache mit den Kaninchen und Vögeln war ja schon ziemlich einmalig.“

Mutter rollte resigniert mit den Augen. Mittlerweile bereute sie zutiefst, die „revolutionäre Befreiungsaktion“, wie sie es gegenüber Freundinnen und Bekannten nannte, ausgerechnet auch diesem leitenden Lehrer erzählt zu haben, bevor an mir diverse, pädagogische Testspiele und Gespräche exerziert wurden.

Kurz nach meinem Eintritt in einen Montessouri-Kindergarten hatte ich im dortigen Keller sämtliche Käfige geöffnet, in denen Hamster, Kaninchen und Kanarienvögel eingesperrt waren. Obwohl die dortigen Erzieherinnen für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlich gesinnt und als Freigeister bekannt waren, hatten sie sich maßlos darüber geärgert und Mutter aufgetragen, mir diese Missetat keinesfalls ohne Konsequenzen durchgehen zu lassen. Dass Mutter mir keinen ernsthaften Vorwurf machen wollte, weil ich aus meiner kindlichen Sicht nur gutes im Schilde führte, da die Tiere nicht in solchen kleinen Käfigen ihr trauriges Dasein fristen sollten, nahm ihr die Leiterin des Kindergartens persönlich übel.

Die entsprechende Einsichtsfähigkeit habe ich bis heute nicht erhalten und insgeheim klopfe ich mir dafür immer noch auf die Schulter, auch wenn ich inzwischen natürlich verstehe, dass ich den freigelassenen Kleintieren in letzter Konsequenz keinen Gefallen erwiesen hatte. Nach wie vor stehe ich der Haltung von Tieren skeptisch gegenüber und ein Besuch im Zoo oder im Zirkus löst in mir immer noch tiefes Unbehagen aus.

„Was wir aber machen können“, fuhr der Lehrer mit gewichtiger Mine fort, „ist folgendes: Ich habe gute Kontakte zu einem befreundeten Pädagogen in einer Kureinrichtung in Niedersachsen. Dort können Kinder und Jugendliche für ein paar Wochen unter fachlicher Aufsicht an ihrer Entwicklung arbeiten. Ich denke, dass würde ihrem Jungen guttun.“

Nach einer längeren Bedenkzeit entschlossen Mutter und Vater sich dann, mich in ein Kinderkurheim zu verschicken, wo ich über sieben Wochen verbringen sollte.

Diese Kur hinterließ einen mächtigen Eindruck bei meinen Eltern, denn als ich nach fast zwei Monaten wieder nachhause kam, hatte ich mir einen Jargon angewöhnt, der selbst dem untersten Gesellschaftsstand – einst von Karl Marx als „Lumpenproletariat“ bezeichnet – die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Mit einer ansehnlichen Zahl schmutziger Witze, die ich selbst natürlich noch nicht verstand, aber jeden, insbesondere ältere Jungs und Männer, zu viehischen Lachsalven veranlassten, trieb ich insbesondere Mutter in den Wahnsinn. Da sie stets bemüht war, mir einen korrekten und höflichen Ungangston beizubringen und sie zudem penibel auf korrekten Satzbau und fehlerlose Grammatik achtete, war sie schockiert, als sie meine nun entartete Audrucksweise zur Kenntnis nehmen musste, die ich bald schon in zweifelhafte Reime und Zoten einbaute und damit mein Umfeld gleichermaßen belustigte und schockierte.

Zudem klaute ich nun wie ein Rabe, und weder Süßigkeit noch Spielzeug waren vor meiner fast schon kleptomanischen Stehlerei sicher.

Nachdem Mutter herausgefunden hatte, dass die vielen Süßigkeiten in meiner Hosentasche unmöglich Geschenke sein konnten, verdonnerte sie mich, persönlich bei den Geschädigten Abbitte zu leisten. Die Eltern waren zumeist beeindruckter als ihre Sprösslinge, die sich immer wieder nur darüber wunderten, wo ihre Sachen abgeblieben waren.

Um manche Kinderheime ranken sich ja die gruseligsten Schauererzählungen. Oftmals ist von Misshandlung, Gewalt oder gar noch schlimmeren zu lesen und zu hören.

Mir ist diese Kinderkurheimeinrichtung in lediglich nebulöser Erinnerung geblieben. An Gewalt oder Schikaniererei durch das pädagogische Personal kann ich mich nicht entsinnen, wohl aber an die beschämende Tatsache, dass einige Kinder, deren Eltern finanziell etwas besser gestellt waren, einen Nachtisch bekamen, während die anderen so taten, als ob es sie nicht interessiere. Heute wäre so etwas undenkbar.

Mittlerweile ist das Prinzip der Ungleichbehandlung aber wieder salonfähig geworden, wenn auch in subtilerer Form; mit dem fragwürdigen Aufkommen der privaten Krankenversicherungen dürfen wir uns erneut über eine ungerechte Zwei-Klassen-Medizin empören. Eine aus heutiger Sicht geradezu unerhörte Doktrin war auch, dass wir Kurheimkinder die gesamte Zeit des Aufenthaltes keinen Familienbesuch empfangen durften, worunter Mutter mehr litt als ich.

Viele meiner damaligen Kurheimkameradinnen und Kurheimkameraden kamen aus prekären Verhältnissen. Alkohol oder Gewalt, manchmal auch beides, war einigen von zuhause nur allzu vertraut. Entsprechend rau war der Umgangston und nicht selten wurden mangelnde Artikulationsfähigkeiten durch Füße und Fäuste ersetzt. Glücklicherweise herrschte damals noch so etwas wie eine Art Ehrenkodex unter uns Kindern; aufgrund meines allseits bekannten Augenverlustes wurde ich verschont.

Schon kurz nach meiner Ankunft galt ich als Exot, da mir vor dem Schlafengehen stets die Augenprothese herausgenommen werden musste. Solange sich ein Mensch im Wachstum befindet, muss das Glasauge zur Nachtruhe herausgenommen werden, damit es nicht zu einer Entzündung oder einer anderen Unannehmlichkeit kommt. Dieser Vorgang ist an sich nichts dramatisches, und bald sollte ich lernen, es eigenständig zu tun.

Mutter hatte beim Aufnahmegespräch darauf gedrängt, einer Mitarbeiterin zu zeigen, wie sie dabei vorzugehen hatte. Nun war es wieder soweit, und eine Erzieherin entfernte geschickt die Prothese und legte sie in eine eigens dafür vorgesehene, rundliche Aufbewahrungsbox.

Schon bald durften sich zahlreiche Kinder im Halbkreis versammeln, um diesem Vorgang beizuwohnen. Den Erzieherinnen und Erziehern erschien das als eine sinnvolle, pädagogische Maßnahme zur Abschreckung, und ich wiederum freute mich über die allgemeine Aufmerksamkeit sowie das Gefühl, im Mittelpunkt stehen zu können.

Ansonsten herrschte eine eiserne Disziplin, insbesondere im großen Speisesaal. Bevor wir mit dem Essen beginnen durften, wurden wir in herrischem Kasernenhofton aufgefordert, aufrecht zu sitzen, und zunächst die Hände unter die Gesäßbacken zu stecken. Dann erfolgten irgendwelche Anweisungen und Ermahnungen, erst danach durften wir endlich essen.

Morgens gab es grauen Haferschleim, und noch heute überkommt mich ein Gefühl der Übelkeit, wenn ich irgend welche breiartigen Speisen zu mir nehmen soll. Gerichte wie etwa Rahmspinat, Hamburger Labskaus oder auch Kartoffelpüree sind mir nach wie vor ein Graus.

Obwohl ich Prügeleien aus dem Weg ging, lernte ich von den älteren Jungs einige üble Tricks, da sie mit Straßenschlägereien bestens vertraut waren. Einige dieser Techniken erinnern an das israelische „Krav Maga“, ein ursprünglich militärisches Selbstverteidigungssystem, in dem alles trainiert wird, was in herkömmlichen Kampfsportarten vernünftigerweise verboten ist.

Da ich als hyperaktives Kind stets schnell gelangweilt war, mussten ständig neue Ideen und Streiche für Abwechslung sorgen. So nutzte ich die Erfahrungen aus der Kurheimzeit mit ihren übelsten und geschicktesten Schlägern als Ideengeber. Sie hatten sich darauf verstanden, in der damaligen Hack- und Pickordnung den ersten Rang einzunehmen.

Immer wieder machte ich mir später in der Schule einen bösen Spaß daraus, zwei Mitschüler zu bitten, sich vor und hinter mich zu stellen. Der Vorderjunge stand dann mit dem Rücken zu mir, der Hinterjunge mit der Vorderseite zu meinem Rücken. Ich holte mit dem rechten Vorderbein großzügig aus und verpasste dem Jungen vor mir einen kräftigen Tritt ins Hinterteil. Den Hinterjungen traf es zumeist noch unangenehmer. Beim Ausholen knallte ich mit meinem Fuß gegen sein Schienbein, und wenn ich jemanden besonders heftig malträtieren wollte, landete der ausholende Fuß in seinem Gemächt. Hinterher gab ich, so schnell ich konnte, Hackengas und war verschwunden, bevor sich einer der beiden von dem Schreck erholen konnte.

Mutters Hoffnung, dass ich nach dem Kuraufenthalt weniger zappelig und aggressiv sein würde, hatte sich also nicht erfüllt, und auch Vater blieb schleierhaft, was diese Maßnahme gebracht hatte.

Während meines gesamten Aufenthaltes in dieser Einrichtung wurde kein einziges Mal der Verdacht einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung geäußert. Damals war die Diagnose zwar in ausgewählten Fachkreisen schon bekannt, wurde aber äußerst selten gestellt. Auch über mein stets sehr schnelles, teilweise vernuscheltes Sprechen, in der Logopädie als „Tachyphemie“ bezeichnet, wunderte sich hier offenbar niemand. Im Abschlussgespräch hieß es lapidar, dass ich mit meiner Aggressivität lediglich auf mich aufmerksam machen wolle.

Erst einige Jahre später wurde von einer Psychologin, zu der meine ratlosen Eltern mich brachten, erstmalig der Begriff „ADS“ verwendet. Dieser Verdacht musste allerdings eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben, denn er wurde nicht weiter verfolgt.

Mutter brachte schließlich ihre gesamten Überredungskünste auf und redete mit Engelszungen auf den Schuldirektor ein, der schließlich klein beigab und mich nach einem dreiviertel Jahr endlich zur Einschulung in die Vorschulklasse zuließ.

*

„Na, Meister Blitz, raus aus den Federn, ab heute wirst du erwachsen!“ Vater zog mir die Bettdecke weg und kitzelte an meinen Füßen. „Reise, Reise!“, rief er herausfordernd und sah mich erwartungsvoll an. „Nach alter Seemannsweise“, antwortete ich verschlafen.