Veränderungen gestalten - 35 Jahre in der Telekommunikationsbranche - Jürgen Kaack - E-Book

Veränderungen gestalten - 35 Jahre in der Telekommunikationsbranche E-Book

Jürgen Kaack

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Beschreibung

Noch eine Biographie? Mir ist bewusst, dass es davon schon viele gibt und in erster Linie solche von Prominenten Interesse finden. Damit will ich mit meiner Geschichte nicht konkurrieren. In 35 Jahren konnte ich an einigen wichtigen Entwicklungen mitwirken, so z.B. die Einführung der digitalen Übertragungstechnik, die Umsetzung des Service-Provider Modells und die Markteinführung des digitalen Mobilfunks (GSM) in Deutschland. Hinzu kommen die beratende Begleitung des Aufbaus von mehreren Netzbetreibern in der Mitte der 90er Jahre, der Aufbau eines eigenen Netzbetreibers mit innovativen Diensten für Geschäftskunden, die Projektleitung in einem der ersten großen Smart-City Projekt und in den letzten zehn Jahren die Begleitung des eigenwirtschaftlichen und geförderten Breitbandausbaus für Kommunen und Stadtwerke in über 100 Fällen. In dieser Zeit habe ich viele Entwicklungen in der Telekommunikationsindustrie miterlebt und einige davon auch mitgestalten können. Auch das Kommen und Gehen von Technologien fiel in diese Zeit, z.B. mit Bildschirmtext (Btx), ISDN, dem Faxdienst oder der Datenübertragung via Modem. Die Ausgestaltung der Veränderungsprozesse ist eine besondere Herausforderung. Unternehmen aufbauen, Geschäftsmodelle entwickeln, neue Produkte gestalten oder Kooperationsmodelle finden, fasziniert mich. Zur Neugierde gehört auch die Erforschung der Vergangenheit, insbesondere das Aufspüren der Familiengeschichte. Die Beschäftigung mit der Ahnenforschung hat unerwartete Ergebnisse gebracht und führt zurück bis zu der Zeit vor Christus Geburt. Mein Buch ist keine Anleitung zum erfolgreichen Unternehmertum oder gar zum besseren Leben. Die Darstellung ist aus meiner subjektiven Sicht geschrieben und aus dem Kontext meiner Vorgeschichte sowie der jeweiligen zeitlichen Einordnung zu verstehen. Dann kann sie als unterhaltsame Lektüre aufgenommen oder als Denkanstoss für eigene Entscheidungen dienen. Ein Aspekt ist mir allerdings trotzdem wichtig und soll als Ermunterung verstanden werden, aktiv Chancen zur Gründung eines eigenen Unternehmens zu suchen anstatt vornehmlich auf die Sicherheit des Vertrauten und des vermeintlich sicheren Lebens im Angestelltenverhältnis zu setzen. Mein persönlicher Antrieb war und ist es bis heute, an der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten, in der Vergangenheit zu forschen und im Jetzt zu leben.

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen: 35 Jahre in der Telekommunikationsbranche

Vorgeschichte

Kleinkindzeit in Westerland

Umzug nach Köln

Umzug in das eigene Haus und die Schulzeit

Studium und Promotion

Berufseinstieg bei SEL in Stuttgart

Diversifikation bei BMW in München

Inhouse-Beratung bei AEG in Frankfurt

Marktorientierte Unternehmensplanung

Erfolgreicher Aufbau des Mobilfunk-Service-Providers debitel

10.1. Das Projektteam

10.2. Schier endlose Planungsphase

10.3. Tod meiner Mutter und Wechsel zu debis

10.4. Die Unternehmensgründung

10.5. Werbung oder PR?

10.6. Die Marktführerschaft als Ziel

10.7. Erhöhung der Wertschöpfung und Internationalisierung

10.8. Waren Synergien erfolgsentscheidend?

Mit 40 Jahren Unternehmer in der Beratung

Gründung eines eigenen Netzbetreibers

12.1. Die Planung des Produktportfolios

12.2. Der Business Case

12.3. Finanzierung und Gesellschaftsform

12.4. Gründungsteam und Vorarbeiten

12.5. Die Gründung – “Point of no Return”

12.6. Die erste Kapitalerhöhung

12.7. Zeit der Bewährung

12.8. Markteinführung

12.9. Schwierige Kapitalsuche in 2001

Erfahrungen mit einer Insolvenz

Neuausrichtung: Familie vor Karriere

Innovations-Projekt T-City in Friedrichshafen

Breitband als neue Kernaufgabe

16.1 Neun-Punkte Plan für den Glasfaserausbau

16.2 Vorgehen für Infrastrukturaufbau

16.3 Entwicklung digitaler Anwendungen und Förderung von Unternehmensgründungen

Neue Aktivitäten

Über den Autor

Vorbemerkungen: 35 Jahre in der Telekommunikationsbranche

Noch eine Biographie? Mir ist bewusst, dass es schon viele Biographien gibt und in erster Linie solche von Prominenten Interesse finden. Damit will ich mit meiner Geschichte nicht konkurrieren. Die geschilderten Episoden sind mittlerweile fast alle „Geschichte“. Ich habe in meinem Leben eine Reihe von Erfolgen erzielt, aber es gibt auch die nicht so erfolgreichen Dinge. Ich habe das Glück, an einigen – zumindest aus meiner Perspektive – wichtigen Entwicklungen in der Telekommunikation mitwirken zu können, so z.B. die Einführung der digitalen Übertragungs-Technik, die Umsetzung des Service-Provider Modells und die Markteinführung des digitalen Mobilfunks (GSM) in Deutschland. Hinzu kommen die beratende Begleitung des Aufbaus von mehreren Netzbetreibern Mitte der 90er Jahre, der Aufbau eines eigenen Netzbetreibers mit innovativen Diensten für Geschäftskunden, die Projektleitung in einem der ersten großen Smart-City Projekt und in den letzten zehn Jahren die Begleitung des eigenwirtschaftlichen und geförderten Breitbandausbaus für Kommunen und Stadtwerke in über 100 Fällen.

In über 35 Jahren habe ich viele Entwicklungen in der Telekommunikationsindustrie miterlebt und einige davon mitgestalten können. Auch das Kommen und Gehen von Technologien fiel in diese Zeit, z.B. mit Bildschirmtext (Btx), ISDN, dem Faxdienst oder der Datenübertragung via Modem.

Mein Buch ist keine Anleitung zum erfolgreichen Unternehmertum oder gar zum besseren Leben, hierfür bin ich weder für kompetent noch fühle ich mich dazu berufen. Die Darstellung ist aus meiner subjektiven Sicht geschrieben und aus dem Kontext meiner Vorgeschichte und der zeitlichen Einordnung zu verstehen. Dann kann sie als unterhaltsame Lektüre aufgenommen oder als Anregung über das eigene Entscheidungsverhalten dienen. Ein Aspekt ist mir allerdings trotzdem wichtig und soll als Ermunterung verstanden werden, aktiv Chancen zur Gründung eines eigenen Unternehmens zu suchen anstatt vornehmlich auf die Sicherheit des Vertrauten und des vermeintlich sicheren Lebens im Angestelltenverhältnis zu setzen.

Ich bin nach wie vor neugierig und Routinen können mich schnell langweilen, die Gestaltung der Veränderungen und die Ausgestaltung der Veränderungsprozesse sind es, die mich antreiben. Unternehmen aufbauen, Geschäftsmodelle entwickeln, neue Produkte gestalten oder Kooperationsmodelle finden, fasziniert mich. Dabei muss es nicht unbedingt das eigene Unternehmen sein. Auch die Perspektive des kritischen Reviews von Geschäftsmodellen ist spannend und Sanierungsvorhaben sind vielleicht sogar die noch größere Herausforderung. Zur Neugierde gehört auch die Erforschung der Vergangenheit, insbesondere das Aufspüren der Familiengeschichte. Die Beschäftigung mit der Ahnenforschung hat unerwartete Ergebnisse gebracht und führt zurück bis zu der Zeit vor Christus Geburt.

Das Leben fordert im „Jetzt“ ständig Entscheidungen, große wie kleine, wichtige und unwichtige. Nicht aktiv getroffene Entscheidungen führen nicht selten dazu, dass andere die Entscheidungen treffen. Daher plädiere ich für einen aktiven Umgang mit anstehenden Entscheidungen. Lieber gestalte ich die immer wieder anfallenden Veränderungen aktiv, als dass ich sie geschehen lasse. Ob eine getroffene Entscheidung richtig oder falsch war, kann nur in Ausnahmefällen überprüft werden, da es keine Zeitmaschine gibt, die eine Rückkehr zum Zeitpunkt der Entscheidung ermöglicht. Trotzdem sollte man Entscheidungen und ihre Folgen bewerten und Lehren für zukünftige Entscheidungen ziehen. Eine bewusst getroffene Entscheidung halte ich für besser als eine, die sich zufällig ergibt oder von anderen aufoktroyiert wird. So sollte man mit den Chancen umgehen, die sich zeigen.

Betrachtet man rückblickend die eingetretenen Entwicklungen, so kann man sie als einen Weg in einem Entscheidungsbaum darstellen. An jeder Gabelung, jedem Entscheidungspunkt, gibt es alternative Wege, von denen man im Vorfeld oft nur abschätzen kann, welche Konsequenzen zu bringen, im Nachhinein kann man meist nur bewerten, ob sich der eingeschlagene Weg so entwickelt, wie man es zuvor vermutet und erwartet hat.

Meine Jugend war beeinträchtigt durch eine schwere Erkrankung im Kindesalter, die eine Weichenstellung bedeutet hat, die ich nicht beeinflussen konnte. Die Wahl des Studienfaches war dagegen eine sehr bewusste und nicht diejenigen des einfachsten Weges. Die Entscheidung für die Grundlagenforschung nach dem Diplom anstatt einer wirtschaftlichen Zusatzausbildung war wohlüberlegt und nicht die Wahl des einfachsten Weges. Trotzdem würde ich sie heute wieder genauso treffen, obwohl ich nicht weiter im Labor gearbeitet habe.

Der Berufseinstieg erfolgte aufgrund der schlechten Arbeitsmarkt-Lage nach den gegebenen Möglichkeiten. Die getroffene Wahl und das Tätigkeitsfeld bei SEL (heute Alcatel) war gut und hat mich vieles dazu lernen lassen. Anstatt die Veränderungen in Verbindung mit dem Verkauf durch ITT abzuwarten, bin ich zu BMW nach München gewechselt und habe das Feld der Diversifikation kennengelernt mit seinen Chancen und Risiken. Bei der Management-Aufgabe für ein mittelständisches, von BMW übernommenes Ingenieurbüro hat Erfahrungen zur Steuerung eines kleineren Unternehmens ermöglicht. Nach Abschluss der wichtigsten Aufgaben bot sich die Chance die Inhouse-Beratung der AEG zu übernehmen und an dem schwierigen Sanierungsfall AEG-Olympia zu arbeiten. Hier konnte ich die Auswirkungen erheblicher Management-Fehler vor Ort erleben und es ließ sich nicht in allen Fällen eine Lösung finden. Große Teile gingen in die Insolvenz.

In dieser Zeit habe ich neue Konzepte für den Mobilfunkmarkt mitgestalten können. Die Konzeption des Service-Providers debitel in allen wesentlichen Teilen sehe ich als einen großen Erfolg an und ich habe nicht gezögert, die operative Umsetzung als Geschäftsleitungs-Mitglied aktiv mitzugestalten. Im Vergleich zu viel besser aufgestellten Wettbewerbern die Marktführerschaft zu erringen und dann den im Markt zweiten Anbieter Bosch Telecom in die debitel zu integrieren, war eine fantastische Bestätigung des Konzeptes und der Mannschaft. Das erfolgreiche Wachstum und die sich entwickelnde Organisation war wieder die richtige Zeit für mich zu einem Wechsel. Wenige haben damals verstanden, warum ich im Alter von knapp unter 40 und als Bereichsleiter im Daimler-Konzern meine Vorstellung einer selbständigen Tätigkeit verwirklichen wollte. Damals war der Zeitpunkt ideal, um in eine kleine Beratung mit früheren Kollegen einzusteigen und in dem sich nach der Marktöffnung stürmisch entwickelnden Telekommunikationsmarkt mitzuwirken.

Im Nachhinein war es vermutlich nicht die beste Entscheidung, das erfolgreiche Sprungbrett der Beratung zu nutzen, um einen eigenen Netzbetreiber mcn-tele.com zu gründen. Obwohl ich heute noch zu der Entscheidung stehe und sie vermutlich wieder so treffen würde. Das zwei Jahre später eintretende Debakel am Finanzmarkt konnte man nicht ernsthaft erwarten. Der Ausstieg aus dem eigenen Unternehmen 2002 war zwar so nicht geplant, aber nach der eingetretenen Entwicklung im Gesellschafterkreis aus meiner Sicht unausweichlich. Das fast zeitgleiche Zerbrechen unserer Ehe war für mich nicht vorhersehbar und hat mich hart getroffen.

Die Entscheidung für mehr Zeit für meinen Sohn und meinen Vater war für mich ohne Alternative, denn die Fortführung der Karriere im vorherigen Stil hätte zu wenig Zeit für beide gelassen. Aber so hatte ich während der Schulzeit meines Sohns durch entsprechende Planung der Projektarbeiten in allen Schulferien ausreichend Zeit und mein Vater konnte bis zu seinem 90. Lebensjahr in seiner Wohnung bleiben. Es kamen nach einigen schwierigen Jahren zudem wieder interessante Projekte, u.a. die Leitung des Innovations-Projektes T-City für die Stadt Friedrichshafen in den ersten beiden Jahren der Projektlaufzeit. Dies war für mich der Einstieg in das Breitband-Geschäft mit Städten, Kreisen und Stadtwerken. Diese Projekte sind vielschichtig und erfordern Erfahrungen in vielen Bereichen von Technik über Grundlage in Beihilfe- und Vergaberecht, Geschäftsmodell-Gestaltung, wirtschaftliche Betrachtungen und Kommunikation gegenüber Politik und Entscheidungsträgern. In dieser Nische ist es bislang gut gelungen, eine Expertenrolle einzunehmen.

Im folgenden Text habe ich Unternehmens-Gründungen und Aufbauphasen am Beispiel von debitel und mcn-tele.com ausführlicher dargestellt, um die damals gewählten Vorgehensweisen und Arbeitsschritte zu erläutern. Vielleicht helfen meine Ausführungen anderen Gründungsinteressierten, selbst wenn die damalige Situation nicht mit der heutigen direkt vergleichbar ist. Meine Darstellungen sind als rein subjektive Betrachtung der jeweiligen Geschehnisse im Kontext der jeweiligen Zeitumstände zu verstehen. Sollte ich dabei Abläufe unvollständig dargestellt oder die Rolle der beteiligten Personen unzutreffend gewürdigt haben, so ist das nur unabsichtlich geschehen und ich würde es bedauern, denn dieser Text soll mein bisheriges Leben aus meiner subjektiven Sicht beschrieben.

Die Arbeitsschritte zur Durchführung der marktorientierten Produkt- und Unternehmensplanung sind ebenfalls ausführlich beschrieben, um Anregungen zu geben und die Komplexität der Prozesse zu verdeutlichen. Planungsarbeiten sind nicht nur in Verbindung mit Unternehmensgründungen von hoher Bedeutung, sondern ebenso im laufenden operativen Betrieb und zur Vorbereitung von Änderungen wie z.B. bei Vorhaben zum Unternehmens-Wachstum.

Mein persönlicher Antrieb war und ist es bis heute, an der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten, in der Vergangenheit zu forschen und im Jetzt zu leben.

1 Vorgeschichte

In meiner Kindheit und Jugend war meine Familie für mich immer klein: Mutter, Vater, ein Bruder, ein Großvater, den ich wenige Stunden Im Jahr während des Urlaubs in Westerland traf, sowie eine Tante und ein Onkel, die ich noch seltener erlebte, an meinen Onkel habe ich überhaupt keine bewusste Erinnerung. So gab es bei uns keine Familientreffen oder Familienfeiern, wie es von Freunden kannte. Schon früh hat mich interessiert, woher meine Familie kam und warum sie so klein ist. In der Jugend habe ich mit meiner Mutter alte Familiendokumente durchgesehen. Durch ihre erste Ehe während des zweiten Weltkrieges hatte sie für den damals benötigten Arier-Nachweis mehr Nachweise über ihre Vorfahren, als sie heute für eine Eheschließung benötigt werden. So hatte die völlig unsinnige und entwürdigende Prozedur des Arier-Nachweises für mich den Vorteil, etwas weiter in die Vergangenheit schauen zu können. Weiter als bis zu acht der sechzehn Ur-Ur-Großeltern und die erste Hälfte des 19. Jahrhundert reichte das allerdings nicht zurück.

Leider gab es keine Möglichkeit, in persönlichen Gesprächen und aus Erzählungen der Großeltern mehr zu erfahren. Mein Großvater erlitt einen Schlaganfall, als ich gerade sechs Jahre alt war. Danach wurde er noch introvertierter, als er vorher wohl schon war. Erschwerend für eine Kommunikation wirkte die Entfernung, da er in Westerland lebte, unsere Familie aber seit 1957 in Köln. Weder er noch wir hatten damals ein eigenes Telefon. Er starb zehn Jahre nach dem Schlaganfall, gegen dessen Folge einer einseitigen Lähmung er lange gekämpft hatte. Ich war zum Zeitpunkt seines Todes. gerade sechszehn. Meine Familie stammt aus Westerland, aber mein Vater hat schon früh nach Abschluss der Schule die Insel verlassen und ist immer nur für begrenzte Zeit zurückgekehrt. Meine Mutter hat dagegen einen großen Teil ihrer Jugend bis zum 34. Lebensjahr in Westerland verbracht und konnte einiges über das damalige Leben berichten

Erst viele Jahre später und etwa zwanzig Jahre nach dem Tod meiner Mutter habe ich das damalige Thema der Familienforschung wieder aufgegriffen und mit modernen Mitteln und erheblichem Zeiteinsatz weitergetrieben. Nach vier Jahren habe ich eine inzwischen recht gute Übersicht über meine Vorfahren, teilweise zurückreichend bis zu einer Zeit vor Christus Geburt. Insgesamt konnten über 13.000 Personen (Vorfahren und Nebenlinien) identifiziert werden. Aus dem anfänglichen Interesse an der Vorgeschichte wurde ein Hobby, das viele interessante Erkenntnisse hervorgebracht hat.

Die Analyse der Vorfahren erlaubt einen Rückblick auf eine 500-jährige Geschichte der Familie. Im Laufe der Forschung ergab sich in einem Fall eine bis 1.500 Jahre zurückzuverfolgende Linie direkter Vorfahren. Im Hinblick auf die Herkunft finden sich zu drei Vierteln nordelbische Holsaten, Jüten und Nordfriesen und zu einem Viertel Vorfahren aus dem Gebiet Braunschweig in Niedersachsen. Je einer der Vorfahren kam aus Göteborg in Schweden, Schoonhoven in den Niederlanden, Ulm und Nimptsch (Schlesien) im heutigen Polen. Die Vorfahren aus der Gegend nördlich der Elbe gliedern sich in drei Viertel:

Jüten

aus Süddänemark (u.a. aus Højer, Haderslev, Mögeltondern, Süderlügum, Humptrup)

Inselfriesen („Uthlands-Friesen“)

von Sylt, Föhr und den Halligen Gröde, Habel und Langeneß

Holsaten

aus den Bereichen Bordesholm, Vaale, Neuenkoogsdeich und Westerbüttel (Brunsbüttel), Steinburg zwischen Glückstadt und Elmshorn sowie Nübbel bei Rendsburg

Teile der Holsaten im Bereich nördlich der Elbe stammen aus Niedersachsen, den Niederlanden und dem Niederrhein. Nach der Besiedelung Englands durch Angeln, Sachsen, Friesen und Jüten im 5. Jahrhundert entstand in diesen Gebieten wohl wieder freier Siedlungsraum, der im Laufe der folgenden Jahrhunderte insbesondere von den Altsachsen genutzt wurde. Die „Ur-Sylter“ Familien, die eine Verbindung mit den Zugezogenen eingegangen sind, lebten überwiegend in dem kleinen regionalen Gebiet um Westerland, Tinnum und Keitum.

Unter den Vorfahren meiner Großmutter Mathilde Janssen, geborene Dose, findet sich eine Familie Kröger aus Brunsbüttelkoog, die u.a. auf den 1534 in Antwerpen geborenen „Ersten Landschreiber“ und Notar Antonius Steinhaus zurückgeführt werden kann. Er ist der letzte Nachfahre aus dem Rittergeschlecht von Steinhaus / Steenhuis / Steenhuys, das über mindestens 17 Generationen hinweg am Niederrhein gelebt hat und ursprünglich das Rittergut Obbenburg in Hambach besaß. 1246 heiratet Goeddert von Steinhaus Odilia Schellart von Obbendorf, eine Enkelin von Gerhard von Jülich (1147 bis 1198). Gerhard war der zweite Sohn des Grafen Wilhelm I. von Jülich, dessen Ahnenreihe von Gerhard VI. bis Gerhard I. von Jülich zurückreicht. Der Vater von Gerhard I. war Graf Gerhard II von Metz aus dem Haus Matfriede. Die Linie der Matfriede reicht bis zum Grafen Gerhard I. von Paris, der um 779 gestorben ist. Gerhards Großvater war König Karl III. und unter den weiteren Vorfahren finden sich die Könige Ludwig II, Karl II., Ludwig I sowie Kaiser Karl der Große, und seine Vorgänger König Pippin III., Karl Martell und die Hausmeier zu den direkten Vorfahren. Über die Gräfin Hildegard von Vinzgau und Ehefrau von Karl dem Großen ergibt sich eine Verbindung zum sächsischen Herrschergeschlecht, das in Überlieferungen bis in die Zeit um 111 vor Christus zurückreicht bis zu einem Harderich von Sachsen.

Ein Viertel meiner Vorfahren sind Altsachsen und stammt aus Niedersachsen. Erst durch Nachkommen, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Hamburg gezogen sind, hat sich dort Verbindung mit der Familie Carstensen ergeben. Mindestens seit dem 17. Jahrhundert, wahrscheinlich aber schon davor lebten die Mitglieder der Familien Niedhardt in Braunschweig und waren als Handwerker (z.B. Seifensieder und Bierbrauer) tätig. In Einbeck und Hilwartshausen waren einige Vorfahren als Leineweber, Tuchmacher und Lohgerber vermutlich überdurchschnittlich arm. In Teichhütte am Rand des Harzes wurde seit früher Zeit Bergbau betrieben und das gewonnene Erz verhüttet. So findet sich hier der Beruf des „Hüttemanns“ (Hüttenmann bzw. Schmelzer am Hochofen). In diesem Familienzweig waren einige männliche Vorfahren als Musketiere, Grenadiere und Unteroffizier tätig. Außer dem allgegenwärtig vertretenen Landmann finden sich hier somit einige andere Berufsbilder als bei den Vorfahren aus den nördlichen Regionen.

Mit der Familie de Moor ist eine Familie im 18. Jahrhundert aus Schoonhoven in den Niederlanden nach Wolfenbüttel gezogen und hat 1803 in die Familie Wittemann eingeheiratet. Aus Bad Gandersheim ergab sich die früheste bekannte Auswanderung einer neunköpfigen Familie in die USA mit einer Rückkehr kurze Zeit später (sofern die Auswanderung tatsächlich stattgefunden hat). Elias Funcke ist aus Ulm nach Braunschweig gekommen und dortgeblieben. Er ist der Nachfahre einer großen Familie von studierten Theologen und Pfarrern aus Baden-Württemberg und Hessen. Sein Vater, Großvater und Urgroßvater waren Prediger am Ulmer Münster („Münsterprediger“). Unter seinen Vorfahren findet sich der Pest-Arzt Dr. Dr. Johannes Henisius, der 1628 in Augsburg und 1630 in Verona das Pestlazarett übernommen hat. Später wurde er Stadtarzt in Augsburg und Hofarzt der bayerischen Herzöge.

Eine der frühesten überlieferten Erwähnungen der Familie Kaack datiert aus den Jahren 1501 und 1564 in den Aufstellungen des Klosters Bordesholm, dem vom Königshaus die Abgaben der Bauern aus der kleinen Gemeinde Mühbrook am östlichen Ende des Einfelder Sees zugesprochen worden waren. In diesen Texten werden 1501 ein Claus und ein Heneke Kack aufgeführt sowie 1564 ein Hans und ein Claus Kaeck. Die Schreibweise der Namen folgte damals vermutlich eher lautsprachlichen Adaptionen als schriftlich überlieferten Namensformen. Die Vornamen Hinrich, Hans und Claus finden sich häufig unter den Nachfahren des Familienzweiges Kaack. Aufgrund der zu der Zeit noch nicht vorhandenen Kirchenbuch-Einträge kann keine direkte Verbindung zu dem ersten dokumentierten Hufner Lorenz Kaack von 1606 hergestellt werden. Die Koinzidenz der Namen an einem sehr kleinen bäuerlichen Weiler legt aber zumindest nahe, dass es sich Mitglieder einer Familie handelt.

Neben den frühen Vorfahren der Familie Kaack sind Claus (ca. 1525) und Johann Schacht (1547) aus dem Kreis Steinburg sowie Johann Boye (1507), Johann Wilckens (1510), Johannes Pauls (1540) aus dem Umland von Brunsbüttel als früherste bekannte Vorfahren aus dem Familienzweig Dose dokumentiert, die später in die Familie Janssen eingeheiratet hat. Im Familienzweig Kröger, die als Vater von Margaretha Maria Dose (1838), geborene Kröger, in die Familie Dose kommt, finden sich die Landschreiber Johannes Wasmer (1556) und Antonius Steinhaus (1534). Der früheste Vorfahre aus der Wasmer-Linie ist der 1430 enthauptete Bremer Bürgermeister Johannes Wasmer (1365). In der Steinhaus-Linie findet sich in einem Zweig der Lüneburger Ratsherr Nikolaus von Schiltstein (1150) als frühester Vorfahre und die Linie der Ritter von Steinhaus (oder Steenhuis) führt zurück bis zu Theodor von Steinhaus (um 1080) und über die Grafen von Jülich zu Graf Gerhard II. von Metz (um 935). Über die karolingischen Herrscher mit u.a. Karl dem Großen (747) und Karl Martell (um 688) sowie die merowingischen Könige reicht die Linie zu sächsischen und norwegischen Häuptlingen. Der früheste erwähnte Sachsen-Häuptling ist der um 100 vor Christus geborene Harderich von Sachsen. Der früheste unter den fränkischen Vorfahren war Herzog Genebald I. der Ostfranken (um 260) Die Linie der Janssen lässt sich mit Friederich Jansen aus Eckernförde nur bis 1711 zurückverfolgen. Der früheste belegte Verwandte von Sylt ist der Landvogt Knut Taken von ca. 1550. Die frühesten direkten Vorfahren von Sylt sind Niß Schmitt und Tam Peters (beide ca. 1625), zu deren Nachfahren Inken Boysen Bleicken gehört. Der früheste direkte Vorfahre der Familie Carstensen war Kersten Clausen aus Gallehus bei Mögeltondern von 1672. In der Familie Wachsmuth beginnt meine Forschung um 1600 in Göttingen mit dem Hutmacher Hans Waßmoht. Der Beginn der Aufzeichnung in den Kirchenbüchern stellt oft das Ende der Ahnenforschung dar. Sowohl bei einer patronymischen Namensgebung als auch bei vielen ähnlichen Vornamen in einem regional eng begrenzten Raum wird eine eindeutige Zuordnung erschwert.

Mit Inken Boysen Bleicken lebte vor 1800 nur eine der Ur-Ur-Großeltern und mithin 3% der direkten Vorfahren auf Sylt. Zusammen mit den benachbarten Festlandsbereichen um Rodenäs, Mögeltondern und Højer kommen weitere 5 Vorfahren hinzu (15%). 2 Vorfahren stammen aus Jütland und 4 von der Insel Föhr und den Halligen Gröde, Langeneß und Habel. Zusammen ergibt sich ein Anteil von immerhin 38% der Vorfahren von den nordfriesischen Inseln und Halligen sowie dem benachbarten Jütland. Aus dem Gebiet Rendsburg, Brunsbüttel, und Steinburg stammen weitere 31% der Vorfahren. Ein Viertel kommt über die Familienzweigen Niedhardt, Müller und Blume aus dem Raum Braunschweig, Bad Gandersheim und Einbeck. Mit dem zeitweilig auf Sylt ansässigen Kapitän Johan Frederick Søeberg aus Göteborg stammt nachweislich einer der Vorfahren aus Schweden.

Die Herkunft der Familie Wachsmuth blieb lange unklar. Der bis vor Kurzem früheste bekannte Vorfahre aus dieser Familie, Johann Andreas Wachsmuth, lebte von 1735 bis ca. 1750 in Hadersleben und anschließend bis ca. 1760 in Sønder Sejerslev, seine Frau stammt aus der kleinen Stadt Nimptsch in Niederschlesien. Bei der Suche nach den Musterungsrollen fand sich im Göttinger Stadtarchiv ein Eintrag zum Verkauf eines Hauses durch den Kürassier Johann Andreas Wachsmuth im Jahr 1736. Dies passt gut zu der weiteren Entwicklung und belegt, dass die Familie Wachsmuth aus Göttingen kam. Der früheste bekannte Wachsmuth hieß Hans Waßmoht und wurde um 1585 geboren. Einschließlich Johann Andreas Wachsmuth, der am 27.03.1705 in Göttingen geboren wurde, waren die männlichen Vertreter als Hutmacher tätig.

Aus welchen Gegenden kamen die Vorfahren im Einzelnen auf die Insel, warum haben sie ihre angestammte Heimat verlassen, womit haben sie ihren Lebensunterhalt bestritten und wohin sind sie gegebenenfalls weitergezogen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Familienforschung zu den betrachteten Familienzweigen, die Ergebnisse stellt der vorliegende Text vor. Dabei hat die Eingliederung des damals dänischen Gebietes in das preußische Reich 1874 kaum einen Einfluss auf die Entwicklung der meisten Familienzweige gehabt, da zu diesem Zeitpunkt der Zuzug aus den heute dänischen Gebieten bereits erfolgt war. Wesentlich einschneidender als der schleswigsche und der folgende deutschdänische Krieg 1850 bzw. 1864 waren die Auswirkungen durch die beiden Weltkriege auf Mitglieder der Familien Carstensen, Janssen und Kaack, obwohl es im nördlichen Schleswig-Holstein selber kaum kriegerische Auseinandersetzungen gab. Mindestens sechs engere Familienmitglieder waren in Kampfhandlungen verwickelt, ein Kampfflieger starb im ersten Weltkrieg im Luftkampf über Flandern, ein anderes Familienmitglied in Ostpreußen. Aus dem Kreis der Wachsmuth und Carstensen sind insgesamt fünf Familien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Motivationen in die USA ausgewandert. Aus dem Wachsmuth-Zweig zog eine nach Portland in Oregon und eine nach Milwaukee in Wisconsin. Aus dem Kreis der Carstensen emigrierte eine Familie nach Hoboken in New Jersey und eine andere nach Salt Lake City in Utah, nachdem sie in Fredericia in Dänemark zum mormonischen Glauben missioniert wurden. Nachkommen dieser Familien leben heute noch in den genannten Regionen. Die Betrachtung der bekannten Lebensläufe zeichnet ein Bild von Schicksalsschlägen, menschlicher Größe und Versagen.

Das Spektrum der ausgeübten Berufe ist recht breit. Im Hinblick auf die überwiegend aus kleinen und ländlich geprägten Dörfern stammenden Familienzweige verwundert es nicht, dass es viele in der Landwirtschaft tätige Vorfahren gab, vom Bauern mit eigenem Boden bis zum Tagelöhner. Ebenso nachvollziehbar sind viele handwerkliche Tätigkeiten wie Zimmerleute und Schneider. Auf den Inseln und Halligen finden sich unter den männlichen Vorfahren unverhältnismäßig viele Seeleute vom Matrosen bis zum Kapitän und auch „Grönlandfahrer“ aus der Walfangära sind darunter. Im 19. Jahrhundert wandeln sich die Berufsbilder, da insbesondere die Nachkommen, die nicht als Hoferbe in Betracht kommen, andere Betätigungen suchen. So wenden sich zwei der Betroffenen dem Lehrerberuf zu und gehören zu den ersten festangestellten Dorflehrern. Die Nachkommen hieraus werden Kaufleute und Unternehmer, die in Husum, Flensburg und Hamburg ihren Geschäften nachgehen. In der Line der Janssen kommen nach Fuhrleuten in der frühesten Zeit ein Papparbeiter, ein höherer Finanzbeamter erst in dänischen und nach 1866 in preußischen Diensten. Unter seinen Nachkommen finden sich ein Zahn- und ein Tierarzt sowie der Gründer einer der ersten Privatbanken auf Sylt.

Viele meiner Vorfahren zogen im Laufe des 19. Jahrhunderts auf die Insel Sylt, nachdem Westerland 1855 zum Nordseebad ernannt wurde. Der langsame Aufschwung der Tourismus-Industrie und der Bedarf an Häusern, Hotels und Infrastruktur boten gute Arbeitsmöglichkeiten, die auf dem Festland nicht in gleichem Maße gegeben waren. Auf Sylt trafen sich einige der Familienzweige meiner Vorfahren und gingen Verbindungen mit alten Sylter Familien ein. Die Entwicklung unserer Familie hat sicher in der einen oder anderen Weise prägend auf mich eingewirkt.

Gebiete, die über einen längeren Zeitraum von Teilen der Vorfahren bewohnt wurden, sind auf Sylt Westerland, Tinnum und Keitum sowie auf dem Festland die benachbarten Orte Rodenäs, Humptrup, Mögeltondern (Carstensen) und Højer (Wachsmuth). Hadersleben (Lorenzen, Wachsmuth) in Dänemark, Mühbrook bei Neumünster sowie die Umgebung von Rendsburg mit den kleinen Orten Fockbeck und Nübbel (Kaack, Grimm) waren über mehrere Jahrhunderte Heimat von Zweigen der Familie. Auch Eckernförde, Wesselburen und Hedwigenkoog im Kreis Dithmarschen (Janssen), sowie der Kreis Steinburg zwischen Glückstadt und Elmshorn (Dose, Thormählen) und die Gegend um Brunsbüttel (Familie Kröger) gehören zu langjährigen Siedlungsregionen. Außerhalb von Schleswig-Holstein trifft dies für das Gebiet zwischen Braunschweig, Bad Gandersheim und Einbeck (Müller, Niedhardt) zu. Die nördlichsten Zuwanderungen in die Familie erfolgten aus Göteborg in Schweden und Skive gefolgt von Hadersleben. Johan Frederik Søeberg ist der einzige der bekannten Vorfahren, der außerhalb Dänemarks oder dem heutigen Deutschland geboren wurde! Ein Familienzweig kam aus Hessen nach Ulm und von dort nach Braunschweig. Für die frühen Vorfahren aus den Adelshäusern der Matfriede und Karolinger sowie die dänischen, schwedischen und sächsischen Anführer oder Häuptlinge ist eine Ortszuweisung aufgrund von lückenhaften Daten schwierig.

2 Kleinkindzeit in Westerland

Meine Mutter lebte nach ihrer gescheiterten ersten Ehe seit 1946 wieder in Westerland und hatte als Alleinerziehende eine Wohnung im Haus Schöneck neben der Wohnung ihrer Eltern. Mein Vater hatte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, das er als Panzerfahrer in Pilsen erlebte, die Meisterschule in Kleinwolstrup bei Flensburg besucht und anschließend verschiedene Beschäftigungen als Betriebsleiter von Meiereien in Ostfriesland und zuletzt bis zu meiner Geburt leitete er eine Meierei in Bjuv in Schweden. Er war immer nur zwischendurch oder zu kurzen Urlauben in Westerland. Für meine Geburt hat er seine Rückkehr gut geplant, denn er kam ein paar Stunden vorher zurück, als die Wehen bereits eingesetzt hatten. Wie es damals nicht unüblich war, hatte sich meine Mutter für eine Hausgeburt entschieden und zu diesem Zeitpunkt war ihre beste Freundin in Westerland bei ihr. Die Hebamme war rechtzeitig zur Stelle und meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als im Wohnzimmer ungeduldig zu warten. Zehn Minuten vor Mitternacht war es dann geschafft und der Vater konnte seinen Sohn begutachten, der das einzige Kind der beiden Eltern bleiben sollte. Früh im nächsten Jahr 1956 musste er wieder zu seiner Arbeit zurückkehren.

Die nächsten Monate blieb meine Mutter mit ihren beiden Söhnen in ihrer Wohnung in Haus Schöneck, während mein Vater weiterhin als Betriebsleiter bei verschiedenen Meiereien tätig war, vermutlich wieder in Schweden. Dort hatte er die Produktion so umgestellt und optimiert, dass man ihn gerne fest und auf Dauer eingestellt hätte. Diese Option wäre vielleicht nicht so unattraktiv, aber letztlich hat er sich für einen Verbleib in Deutschland entschieden. In Westerland ging es weiter seinen Gang, bis auf die Tatsache, dass meine Mutter keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen konnte. Im Sommer hat sie das Schlafzimmer geräumt und an Feriengäste vermietet, um das Einkommen etwas aufzubessern. Verständlicherweise habe ich keine Erinnerung an diese ersten Lebensmonate, aber Bilder zeigen, dass wir mit Kinderwagen häufig auf der Promenade unterwegs waren, dabei gab es Zwischenstopps am Strandübergang an der Strandstraße, wo mein Großvater Charles zeitweilig bei der Kurkartenkontrolle aushalf. Die ersten Schritte durfte ich dann später auf dem Verkaufstresen von Hans und Lisa Krull machen, die in der Strandstraße ein Lederwarengeschäft betrieben haben, das bis in die 1980er Jahre bestanden hat. Beide waren enge Freunde meiner Mutter aus Jugendzeiten und Lisa war folgerichtig eine meiner Patentanten.

Fotos aus Westerland 1956 und 57 mit Mutter Charlotte Kaack und Großvater Charles Carstensen

1957 beendete mein Vater die Untervermietung an Feriengäste, damit die Familie in ihren Betten anstatt auf einem Notbehelf schlafen konnte. Während der kurzen Zeit, in denen er zuhause war, half er in der Wohnung und bei notwendigen Renovierungsarbeiten. Auf längere Sicht war die regelmäßige Trennung kein guter Zustand und mein Vater suchte nach beruflichen Optionen, die einen Zusammenzug ermöglichen konnten. Auf Sylt bestand hierfür aber zur damaligen Zeit kaum eine Chance. Die damals noch bestehende Meierei in Westerland war zu klein und brauchte keinen neuen Betriebsleiter. Es zeichnete sich bereits ab, dass es für kleine Molkereien keine größeren Zukunftschancen gab.

Durch Zufall bekam mein Vater ein Angebot aus Köln, wo sich nach der Erholung von den Kriegsschäden die Wirtschaft neu entwickelte. So ging er zunächst alleine nach Köln und arbeitete für verschiedene Unternehmen, u.a. am Großmarkt. Als sich abzeichnete, dass die Beschäftigung länger Bestand haben könnte, suchte er nach einer Wohnung für die Familie, was damals ein schwieriges Unterfangen war, da auch zehn Jahr nach Kriegssende noch lange nicht alle Schäden an Gebäuden beseitigt waren. Wer eine Wohnung fand, musste eine Abgabe an die Stadt zahlen, die erst mal angespart werden musste. Da meine Mutter durch ihre beiden Kinder nicht mal eben nach Köln reisen konnte, musste mein Vater die Entscheidungen alleine treffen. Schließlich fand er eine Wohnung in einem Altbau in der Nähe der Universität. Die 3-Zimmer-Wohnung lag im dritten Stock, hatte nur Fenster zum Innenhof und war nur über ein hölzernes Treppenhaus zu erreichen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Wohnungen im Haus verfügte die Wohnung über eine eigene Toilette! Die Mieter der anderen Wohnungen mussten die Toiletten auf den Zwischenstockwerken benutzen.

Auf meine Mutter kam die Vorbereitung des Umzugs zu, wobei es nicht so viel einzupacken gab. Eine Spedition wurde beauftragt und nach dem Abschied von ihrem Vater und den Freunden in Westerland ging es im Frühjahr 1958 mit dem Zug in Richtung Köln. An den brandigen Geruch der Dampflok kann ich mich noch gut erinnern. Nicht mehr erinnern kann ich mich daran, dass ich begeistert die Gänge in den Wagons abgelaufen bin und alle möglichen anderen Reisenden angesprochen habe. Für mich war es wohl ein großes Abenteuer.

3 Umzug nach Köln

Die Umstellung des Lebens vom beschaulichen und kleinstädtischen Westerland zur umtriebigen Großstadt war insbesondere für meine Mutter schwierig. Der Wechsel aus einer hellen Wohnung mit Rasen rund ums Haus in eine meistens dunkle Wohnung zu einem Hinterhof ohne Grün machte die Sache nicht einfacher. Die Mentalität der Menschen kann kaum unterschiedlicher sein. In der Kleinstadt Westerland kannte meine Mutter aus ihrer Kindheit und von ihrer beruflichen Tätigkeit sehr viele Bewohner, in Köln kannte sie niemanden. Aber immerhin war die Familie jetzt zum ersten Mal vereint und blieb dies auch bis zum Tod meiner Mutter im Jahr 1990.

Mein Vater hatte eine Arbeit im Vertrieb bei einem Lebensmittelhersteller außerhalb von Köln gefunden und musste sich zunächst an die ungewohnte Büroarbeit gewöhnen. Er musste morgens früh los, um mit anderen Kollegen in einem Kleinbus zu seiner Arbeitsstelle zu fahren. Einen Kindergartenplatz zu finden war schon damals schwierig und nach einer Reihe von Absagen fand sich ein Platz bei einem von katholischen Nonnen betriebenen Kindergarten in der Nähe der Wohnung. Obwohl die ganze Familie evangelisch und eher nicht religiös eingestellt war, hat dies die Nonnen nicht davon abgehalten, mich aufzunehmen. Besonders arbeitsintensiv waren die Waschtage. Mein Vater stand früher auf und heizte den Waschkessel im Keller mit Kohlen vor, während meine Mutter mich angezogen und mit Frühstück versorgt hat. Danach hat mein Vater die Wäsche mit dem Waschbrett vorgewaschen, mich zum Kindergarten gebracht und von dort zu seinem Arbeitsplatz aufgebrochen ist. Während dessen hat meine Mutter die Wäsche fertig gewaschen und gespült. Nach dem Auswringen per Hand musste die Wäsche fünf Stockwerke hochgetragen und auf dem Dachboden aufgehängt werden. Ein heute kaum noch vorstellbarer Aufwand. Erst 1959 konnte mein Vater von einer kleinen Erbschaft nach dem Tod seiner Großmutter Mathilde Janssen 1958 eine erste elektrische Waschmaschine anschaffen. Es handelte sich um einen Top-Lader mit getrennter Waschtrommel und Schleuder. Danach wurde das Wäschewaschen deutlich einfacher! Das Erbe bestand aus einer noch vor dem Krieg gekauften VW-Aktie, ein schöner Beweis für die Werthaltigkeit von Aktien im Vergleich zu Geldvermögen, selbst über Währungsreformen hinweg. Um diese Zeit gab es den ersten Fernseher in der Familie. Es handelte sich um ein Schwarzweiß-Gerät mit stark gewölbter Röhre in einem Schrank mit Klapptüren.

In dieser Zeit hat mein Vater in der Nähe einen Schrebergarten angemietet, damit die Familie eine grüne Alternative zur dunklen Wohnung hatte. Für meinen Vater war es gleichzeitig eine Ausgleichsbeschäftigung zum Bürojob und Hobby. In dem Schrebergarten wuchsen Blumen, z.B. große Mengen an Gladiolen und große Dahlienbüsche in unterschiedlichen Farben. Daneben gab es in kleineren Mengen Gemüse und Salat für die Küche. Zwei Obstbäume haben im Herbst große Mengen an saftigen Pfirsichen und Kirschen ergeben, die damals noch in Einweckgläsern haltbar gemacht werden mussten. An warmen Sommer-Wochenenden haben wir eine Zinkbadewanne zur Erfrischung genutzt. An einem Tag war ich alleine mit meinem Vater im Schrebergarten, wo er einiges umgraben und pflanzen wollte. Entsprechend verdreckt machten wir uns auf den nicht allzu weiten Rückweg und unterwegs musste mein Vater, der seit seiner Jugend geraucht hat, Zigaretten beschaffen. Natürlich wollte ich sie aus dem Automaten ziehen. Beim Zuschieben der Lade sind ein paar Finger dazwischengeraten und eingeklemmt. Eine Sicherheitssperre hatte dieser Automat damals offensichtlich noch nicht. Passanten haben die Feuerwehr gerufen, da sich der Automat nicht bewegen ließ.

Irgendetwas ist bei der Übermittlung wohl falsch gelaufen, denn es kamen vier Züge der Feuerwehr! Mit dem richtigen Gerät war die Schublade schnell aufgebrochen und die Finger befreit. Da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass ein Gelenk Schaden genommen hat oder ein Fingerknochen angebrochen war, hat sich eine Fahrt im Krankenwagen angeschlossen. Mit unseren von der Gartenarbeit schmutzigen Klamotten und dreckigen Händen haben wir vermutlich einen ziemlich dubiosen Eindruck hinterlassen. Beim Röntgen zeigte sich, dass es außer Prellungen und Blutergüssen keinen Schadengabe, durften wir wieder nach Hause. Damals hatten wir noch keinen Telefonanschluss in der Wohnung hatten, informierte mein Vater Nachbarn, die schon ein eigenes Telefon besaßen. Bei dieser Übermittlung der Nachricht scheint einiges übertrieben worden zu sein, denn meine Mutter war ziemlich aufgelöst, als wir wieder zuhause ankamen. Für mich war es nach dem ersten Schock eher ein Abenteuer und bei meinem Vater hat es nicht dazu geführt, dass er mit dem Rauchen aufgehört hat. Das kam erst sehr viel später, als er mit 68 Jahren einen schweren Herzinfarkt überstanden hatte.

Fotos aus der Kölner Wohnung 1958 mit meiner Mutter, auf dem zweiten Foto mit dem ersten Schwarz-Weiß-Fernsehgerät und auf dem dritten Foto um 1960 mit Brille und mit dem Röhrenradio

Mit vier Jahren wurde festgestellt, dass ich aufgrund unterschiedlicher Sehstärke bei beiden Augen eine Brille tragen sollte. Die eigentliche Fehlsichtigkeit wäre für sich zu dem damaligen Zeitpunkt noch kein Problem gewesen. Die Unterschiedlichkeit der Sehkraft führt aber doch zu schnellerer Ermüdung und Kopfschmerzen. 1959 war es noch eher ungewöhnlich, dass Kinder mit vier Jahren eine Brille bekommen. Seit dieser Zeit ist die Brille zum ständigen und selbstverständlichen Begleiter geworden.

Bei einer anderen Gelegenheit durfte ich im Schrebergarten helfen und Beete harken. Obwohl mein Vater viele Male gemahnt hatte, dass die Forken beim Weglegen nicht nach oben zeigen dürfen, musste es bei mir wieder sehr schnell gehen. Also die Harke irgendwie hingelegt, natürlich mit den Forken nach oben, und schnell durch den Garten gerannt. Auf dem Rückweg bin ich selbstverständlich wieder gerannt, gestolpert und mit dem Bein unterhalb des Knies in die Forke gestürzt. Durch den Sturz konnte eine der dreckige Zinken tief eindringen und es blutete unwahrscheinlich. Wieder war ein Besuch im Krankenhaus unumgänglich, um die Wunde zu säubern und zu nähen. Die Stelle ist schnell wieder verheilt und nur eine kleine Narbe erinnert an diese Unaufmerksamkeit.

In den Grünanlagen rund um die Universität habe ich das Fahrradfahren gelernt, erst mit Stützrädern und später dann auch ohne – tatsächlich hat es etwas gedauert, bis es mit dem Gleichgewicht-Halten geklappt hat. Im Herbst war es besonders schön, in die zusammengekehrten Haufen trockener Blätter hineinzufahren und fast darin zu einzutauschen. Einmal führte es tatsächlich zum Abtauchen, denn unter den Blättern war ein stabiler hölzerner Papierkorb und wer mit Schwung dagegen fährt, macht die Erfahrung, dass der Papierkorb stabiler ist. Beim Flug über die Lenkstange bin ich buchstäblich in den Blätterhaufen eingetaucht. Dieser unfreiwillige Flug ging glimpflich mit ein paar blauen Flecken ab.

Nach dem Tod seines Vaters Dr. Hermann Kaack am 14.03.1960, von dem er erst drei Monate später erfahren hat, bot ihm seine Stiefmutter den VW-Käfer seines Vaters zum Kauf an. Da es für die Familie ohne Auto doch schwierig wurde und mein Vater bei seinem Job häufig länger im Büro bleiben musste als die Fahrgemeinschaft für die Rückfahrt nach Köln warten wollte, war ein eigenes Auto sinnvoll. So fuhr er mit der Bahn nach Westerland und kam mit dem mausgrauen Käfer zurück, der die Familie einige Jahre begleiten sollte. Für meine Mutter stellte sich allerdings die bange Frage, wie dies mit der Finanzplanung funktionieren könnte.

Im Herbst 1960 haben mich meine Eltern gegen verschiedene Krankheiten impfen lassen, u.a. gegen Poliomyelitis („Kinderlähmung“). Damals war es noch keine von der Krankenkasse übernommene Regelleistung und musste privat bezahlt werden. Generell war das Einkommen damals knapp und meine Mutter kalkulierte schon am Monatsbeginn, wann sie was kaufen konnte. Über diese konsequente Planung hat es denn immer irgendwie gereicht. Kleidung wurde häufig selber hergestellt. Viele Jahre lang habe ich selbstgestrickte Sachen getragen, die wieder aufgeribbelt wurden, wenn sie zu klein wurden. Aus der gleichen Wolle entstanden so immer wieder neue Sachen. Meine Mutter war recht geschickt in handwerklichen Dingen, aber das war in ihrer Jugend auf Sylt vermutlich keine Ausnahme. Ich erinnere mich an einen Pullover in einem blaugrauen Farbton und mit Reihen von gelben Figuren und Enten, den ich damals gerne getragen habe.

Das Weihnachtsfest begann in diesem Jahr wie schon andere vorher, mein Vater hatte eine schöne große Fichte gekaufte, die für Heiligabend geschmückt war. An die Bescherung in diesem Jahr kann ich mich nicht erinnern. Am ersten Weihnachtstag ging es mir immer schlechter mit Erbrechen und starken Kopfschmerzen. Ein Arzt hat eine Einweisung ins Krankenhaus vorgenommen und an die Trennung von meinen Eltern kann ich mich noch erinnern als nach den ersten Untersuchungen feststand, dass ich im Krankenhaus bleiben sollte. Schemenhafte Erinnerungen an diese Zeit sind geblieben, ein eintöniges beigeweiß gestrichenes Zimmer und nicht enden wollende Tage. Schon bald stellte sich eine vollständige Lähmung ein, die nur die Brustmuskeln nicht erfasste. Die, wie man mir später erzählt hat, vor meinem Krankenzimmer bereitgestellte „Eiserne Lunge“ ist mir erspart geblieben. Die Lähmung war ansonsten sehr weitgehend und betraf selbst die Augenmuskulatur. Über längere Zeit wurde ich mit einem Schlauch künstlich ernährt, da selbst das Schlucken nicht mehr funktioniert hat.

In letzter Klarheit wurde nicht diagnostiziert, woran ich eigentlich erkrankt war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es aber ein Poliomyelitis-Erreger. Dazu kamen eine Hirnhaut- und eine Rippenfellentzündung, vermutlich als Sekundärinfektionen. Meine Eltern besuchten mich in dieser Zeit täglich, aber sie konnten damals nicht bei mir im Krankenhaus bleiben. Mein Vater schaffte es wegen seiner beruflichen Belastung allerdings nicht immer. An einem Tag kam meine Mutter wie immer zu mir und ich fragte, wo denn der Vati wäre, er hatte doch versprochen, zu kommen. Dabei stand er direkt neben meinem Bett, während meine Mutter vor mein Bett getreten war. Ich konnte ihn nicht sehen, da mein Blickfeld eingeschränkt war. Alle brachen in Tränen aus und die ganze Situation war tatsächlich zum Verzweifeln. Mein älterer Bruder beschäftigte sich in dieser Zeit mit Flugzeugen und hat und anscheinend hat mich dies beeinflusst, denn in den endlosen Wochen in der Uniklinik habe ich wohl sehr viel phantasiert und meinen Geist mit Irgendetwas beschäftigt.

Die Lähmung hielt über etliche Wochen an und erst langsam, sehr langsam ging die Lähmung zurück. Als der Schlauch für die künstliche Ernährung entfernt werden konnte, war es das Höchste! Die Wochen im Krankenbett hatten die Zurückbildung aller Muskeln zur Folge, so selbst so einfache Dinge wie das Aufsetzen im Bett nicht funktionierten. An die Übungen hierzu kann ich mich erstaunlicherweise noch gut erinnern, zunächst musste ich mich auf die Seite drehen (anfangs war selbst das kompliziert), dann mit Schwung zurückdrehen und mit dem Schwung in eine Sitzposition kommen. Selbst das Gehen musste wieder gelernt werden musste. Therapien im Schwimmbad der Uniklinik waren ein Teil des Zurückarbeitens. Als der Tag der Entlassung kam, konnte ich es nicht erwarten, endlich wieder nach Hause zu kommen. Da ich nicht alleine und insbesondere keine längeren Strecken gehen konnte, hatten meine Eltern einen Rollstuhl besorgt. Zuhause erwartete mich eine große Überraschung. Obwohl es schon April war, hatte mein Vater eine neue Fichte besorgt und als Tannenbaum geschmückt. Die Zeit dazwischen sollte so schnell wie möglich vergessen werden.

In den nächsten Wochen haben wir viele Spaziergänge und Touren unternommen, bei denen ich langsam wieder längere Strecken selber gehen konnte. Für meine Eltern und insbesondere für meine Mutter war es eine körperlich belastende Zeit, denn in der ersten Zeit musste sie mich und den Rollstuhl für jeden Spaziergang drei Stockwerke herunter und später wieder herauftragen. Es ging wieder aufwärts und glücklicherweise ist von der Kinderlähmung nichts übrig geblieben außer einer Steifheit in den kleinen Zehen. Während der Zeit im Krankenhaus war diese Entwicklung keineswegs abzusehen und die Ärzte konnten meinen Eltern keine Hoffnung machen. Die Ursache der Erkrankung bleibt wohl immer ungeklärt, war es eine Kinderlähmung, vielleicht als Folge der Impfung oder hat die Impfung Spätfolgen verhindert. Ich tendiere zu letzterer Interpretation, aber egal was es letztlich war, die vollständige Genesung ist einer der großen Glücksfälle im Leben, die man schätzen sollte. Ganz ohne Folgen ist die Erkrankung allerdings nicht geblieben, denn mit fünf Jahren hat es eine wichtige Wachstumsphase unterbrochen und die körperliche Kraft blieb über die ganze Kindheit und Jugend im Vergleich zu Gleichaltrigen zurück. Immerhin hatte die Erkrankung zur Folge, dass ich bei der Musterung zum Wehrdienst eine Untersuchung beim Facharzt durchsetzen konnte, der mir eine Wehrunfähigkeit attestiert hat.

Foto aus dem Schrebergarten in Köln und mit dem Fahrrad auf dem Unigelände, Einschulung 1960 / 1961

Einige Wochen später konnte ich wieder den Kindergarten besuchen und im Herbst mit knapp 6 Jahren die Grundschule in Köln besuchen. Dort sollte ich allerdings nur anderthalb Jahre als Schüler bleiben, denn es stand ein Umzug an. Meine Eltern wollten schon seit längerem heraus aus der dunklen Altbauwohnung. Es war die Zeit des Aufbruchs und der Schaffung neuen Wohneigentums. Meine Eltern haben sich an verschiedenen Orten im Umland von Köln umgesehen. Ein Kauf in Lövenich stand kurz vor dem Abschluss, als das Vorhaben noch scheiterte. Schon damals gab es dubiose Immobilienangebote und noch dubiosere Finanzierungsansätze. Schließlich wurden sie fündig bei einer neu erschlossenen Siedlung in Liblar, an dessen Rand noch kurz vorher eine große Braunkohlengrube betrieben wurde. Zu dem Zeitpunkt war die Grube aber bereits geschlossen und in einem großen Wiederaufforstungs-Projekt entstand eine neue Wald- und Seen-Landschaft – Natur aus zweiter Hand! Für unsere Vermieterin der Kölner Wohnung war es aber einfach nur das „Dreckloch“.

Die neue Siedlung entstand auf früheren Wiesen- oder Ackerflächen und die Straßen waren noch nicht geteerte Baustraßen, die sich bei Regen in Schlammwege verwandelten. Der Bau erfolgt im Jahr 1961 und sollte Anfang 1962 fertig werden. Anstatt im Schrebergarten verbrachten wir jetzt viele Wochenenden auf der Baustelle, ein idealer Spielplatz für einen Siebenjährigen. Der VW-Käfer wurde jetzt zum Umzugsvehikel und hat voll bepackt viele Touren zwischen der alten Wohnung und dem neuen Haus gemacht. Im Keller wurde hierfür in der letzten Bauphase ein Raum vorzeitig fertiggestellt und diente als Lager, das nur mit einer Holztür und einfachem Bartschloss gesichert war. Kurz nach Weihnachten habe ich einige aufgesparte Schokoladenteile mit in den Keller des neuen Hauses mitgenommen. Beim nächsten Besuch stellten wir fest, dass jemand in den Keller eingebrochen war, was allerdings auch mit einem umgebogenen Nagel möglich gewesen wäre. Es wurde zum Glück nichts von größerem Wert entwendet, nur die Schokoladenteile waren weg!

4 Umzug in das eigene Haus und die Schulzeit

Mit dem Umzug war natürlich noch lange nicht alles fertig, sowohl im Haus als auch darum herum gab es noch viel Arbeit. Da es sich vorher wohl um Ackerland gehandelt hat, war alles um das Haus herum schlammig. Mein Vater hat eine Anzahl an Paletten beschafft, um zu ermöglichen, ums Haus zu gehen, ohne alles voller Erde und Dreck zu haben. Die Terrasse hatte zunächst Paletten als Unterlage. Ein Nachbar kommentierte dies mit Bezeichnung „das Bretterhaus“. Irgendwann wurde die Straße geteert, Bürgersteige angelegt und der Garten bekam eine Struktur mit einigen Rasenflächen. Am Anfang gab es zusätzlich einen kleinen Nutzgarten mit bescheidenen Gemüsebeeten. Ich durfte zwei eigene Beete anlegen und „bewirtschaften“. Neben der Lage und den hellen Räumen hatte das Haus für uns Kinder einen entscheidenden Vorteil, wir bekamen jeder ein eigenes Zimmer! Da eine Einliegerwohnung, die zur Erlangung eines Baukostenzuschusses notwendig war, einige Jahre lang vermietet war, musste das eigene Heim zunächst noch mit anderen Menschen geteilt werden.

Mit dem Umzug war ein Schulwechsel verbunden. Die neue Grundschule war moderner und heller als diejenige in Köln und auf recht kurzem Weg zu erreichen. Es fanden sich dort bald drei Freunde, mit denen einiges in der Umgebung unternommen werden konnte. In die Grundschulzeit fiel die Umstellung des Schuljahres-Beginns mit der Folge, dass zwei Kurzschuljahre innerhalb eines Kalenderjahres durchgeführt wurden. Mir hat diese Verdichtung des Lehrstoffes eher gefallen, da es davor schon manchmal langweilig zu werden drohte. Um dies zu vermeiden, durfte ich in der vierten Klasse am Unterricht für die fünfte Klasse teilnehmen. Ein Wechsel auf das Gymnasium stand eigentlich nie in Frage, offen war nur, in welches. Es wurde dann die damals noch als Pro-Gymnasium betriebene Einrichtung im sechs Kilometer entfernten Nachbarort.

Während es in der Grundschule alles zu leicht von der Hand ging, brachte der Anfang am Gymnasium eine größere Umstellung als erwartet und die Noten brachen erstmals ein. Ein Grund mögen die Fremdsprachen Latein und Englisch gewesen sein, die mir Probleme bereiteten. Meine drei Freunde aus Grundschulzeiten wechselten auf andere Schulen und meine Mitschüler kamen fast alle aus anderen Orten, aus meiner alten Grundschule war ich der einzige. Die Anfangsprobleme legten sich im Laufe der nächsten Schuljahre und der Unterricht machte mir (meistens) Spaß. Dazu beigetragen hat die Tatsache, dass die Schule in diesen Jahren kräftig wuchs und viele neue, junge Lehrer dazukamen, die mit Motivation und neuen Ideen den Unterricht gestalteten. Die 68er- Jahre kündigten sich an bzw. machten sich in den letzten Schuljahren mit frisch von der Universität kommenden Lehrern deutlich bemerkbar. Passend zu dieser Zeit bildete sich eine interessante politische Diskussionskultur aus, die durchaus herausfordernd sein konnte.

Eine andere Sache wurde dafür umso lästiger, je älter ich wurde. Schon in der Grundschule befiel mich im Frühjahr und Sommer häufig mehr oder weniger schlimme Erkältungsanfälle, die einen Aufenthalt im Freien unangenehm machten. Es fiel selbst dem Kinder- und Hausarzt damals nicht ein, dass es etwas Anderes sein könnte, als eine Verkettung von verschleppten Erkältungskrankheiten. Erst als im Jugendlichen-Alter schwere Asthma-Anfälle dazukamen, wurden weitergehende Untersuchungen angestellt. Wenig erstaunlich stellte sich eine erhebliche Allergie gegen alles mögliche Blühende heraus, die von Frühjahrsblühern, über die Baumblüte bis zur Blüte von Gräsern und Getreidepflanzen alles mitnahm. Kein Wunder, dass die „Erkältungen“ sich fast über das ganze Jahr hinzogen. Die neue Umgebung mit vielen Gärten rund um die Häuser, ein ausgedehntes Waldgebiet und Getreidefelder rund um die Orte sorgten für eine mehr oder minder ständige „Reiz-Überflutung“. Die häufigen Erkältungskrankheiten waren wohl die Ursache, dass die Tonsillen („Mandeln“) angegriffen waren. Nach mehreren Mandelentzündungen war eine Entfernung der Tonsillen nach Meinung der Ärzte unvermeidlich geworden. Der Eingriff ist an sich keine so große Angelegenheit. Die Sterilität und Unpersönlichkeit des alten Krankenhausgebäudes ist mir noch ebenso in Erinnerung wie die Betäubung mit einer Äthermaske und dem Zählen bis zur Wirkung der Betäubung. Ebenso deutlich habe ich das Erwachen aus der Narkose mit schrecklichen Kopfschmerzen und Übelkeit in Erinnerung. Ansonsten war der Eingriff unproblematisch und die Zeit im Krankenhaus kurz.

Nach mehreren Desensibilisierungs-Maßnahmen wurden die Symptome im Laufe der Jahre weniger und erträglicher. Damals wie heute ist ein Aufenthalt an der Nordsee für diese Beschwerden erholsam. Die Beeinträchtigungen durch den Heuschnupfen führten aber dazu, dass ich zunehmend Aktivitäten außerhalb des Hauses mied und mich mehr in Bücher aller Art, insbesondere aber in naturwissenschaftliche Werke vertiefte. Gleichzeitig war die Teilnahme am Sportunterricht und an Außen-Aktivitäten fast unmöglich. Für die Noten im Sportunterricht war dies nicht gerade förderlich und mehr als ein „ausreichend“ war nicht zu erreichen. Die fehlende Flexibilität im Sportunterricht führte bei mir zu einer Trotzhaltung und ich habe mich regelmäßig im Rahmen des Möglichen der Teilnahme verweigert.

Die Asthma-Anfälle während der Pubertät waren teilweise bedrohlich und bedurften einer Akutbehandlung. Die Erholung von diesen Anfällen war jeweils wie eine Befreiung und nahezu eine Neugeburt. Manchmal halfen in diesen Phasen Touren in die Hocheifel mit ihrem etwas herberen Klima. Für die schulische Entwicklung war die Bindung an das Haus wohl nicht schlecht, denn ich habe mich so vermutlich mehr mit schulischen Themen beschäftigt als andere Mitschüler. Der Notendurchschnitt stieg von Jahr zu Jahr. Von einem durchschnittlichen Wert zu Beginn der Gymnasialzeit steigerte es sich auf einen Numerus-Clausus relevanten Wert von 1,0, der durch den Länderausgleich sogar noch auf 0,9 sank. Nicht gerechnet waren dabei die Fächer Sport und Musik, die bei „ausreichend“ oder „befriedigend“ blieben. Religion zählte ebenfalls nicht dazu, da ich mich schon mit 14 aus Überzeugung zu einem Kirchenaustritt entschlossen hatte. Den zuvor begonnenen Konfirmationsunterricht habe ich abgebrochen, da es mir nicht sinnvoll erschien und zu erwartende Geschenke zur Konfirmation mir als Motivation nicht ausreichten. Meine Eltern haben mich bei dieser Entscheidung nicht beeinflusst oder die Entscheidung infrage gestellt. Sie waren beide nicht besonders religiös und haben jahrelang keinen Gottesdienst besucht. Trotzdem sind sie bis zu ihrem Tod Kirchenmitglieder geblieben. Meine damals gewonnene Überzeugung gegen eine Religion und die Zuwendung zum Agnostizismus hat sich bis heute erhalten.

Seit mein Vater den VW-Käfer seines Vaters gekauft hatte, wurden Urlaube leichter möglich. Naheliegend waren Reisen nach Westerland, wo insbesondere meine Mutter immer noch enge Kontakte hatte. Für meinen Heuschnupfen ist die Region auf jeden Fall optimal, aber auch ohne diese Sonderbedingung bietet die Nordsee beste Erholungsmöglichkeiten. In der Zeit vom Ende der 50er bis zum Anfang der 80er Jahre verbrachte wir jedes Jahr einige Wochen in Westerland bei Frau Martha Erichsen (11.1893 bis 12.11.1982), einer engen Freundin meiner Großeltern Anni und Charles Carstensen, die eines der 100 älteren Häuser in Westerland bewohnte. Das schöne alte reetgedeckte Friesenhaus wurde vermutlich 1782 von Lorenz Hinrichs errichtet. Nach seinem Tod war es über einen Zeitraum von drei Generationen hinweg im Besitz von Bleik Boy Claasen und seinen Nachkommen. Später kam es in den Besitz von Hans Erichsen, der es an seinen Sohn Martin vererbte. Martins Ehefrau starb früh und hinterließ ihn mit einem Sohn. In zweiter Ehe heiratete Martin Erichsen dann Martha Schlüter. Die Ehe blieb kinderlos und Martin starb früh. Nach Marthas Tod 1982 ging das Haus auf ihren Stiefsohn über. (Die