Verderben - Josef Wilfling - E-Book
SONDERANGEBOT

Verderben E-Book

Josef Wilfling

4,7
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 15,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Weil jeder Mord mehr als ein Opfer fordert

Einen der gefährlichsten Serienmörder Deutschlands hat Josef Wilfling überführt und andere spektakuläre Fälle gelöst. Dass aber die Macht der Täter über ihre Tat hinausreicht, zeigt der legendäre Mordkommissar in seinem neuen Buch. Denn jeder Mord zieht komplexe Folgen nach sich: das lebenslange Leid der Opferfamilie, die Stigmatisierung der Angehörigen des Täters – und oft bekommen auch die Ermittler die Folgen eines Mordes am eigenen Leib zu spüren.

Ganz offen schildert Wilfling Situationen, in denen auch er an seine Grenzen kam, wie im Falle eines sadistischen Vergewaltigers und Mörders: das Wissen um das Ausgeliefertsein der Opfer; die Wut, die über die professionelle Distanz die Oberhand gewinnt; den Frust, weil vor Gericht die Beweise nicht ausreichten . . .

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZUM BUCH

Josef Wilfling hat ihn überführt: einen sadistischen Vergewaltiger und Mörder, der seine Opfer wissentlich mit HIV infizierte. Doch konfrontiert mit dem Selbstmitleid des Täters platzt dem Kommissar der Kragen – was sich im folgenden Strafverfahren als sehr nachteilig erweist …

Wilfling macht deutlich, welcher Druck auf einem Mordermittler lastet. Denn er weiß, was das Opfer durchgemacht hat, wie sehr die Angehörigen auf Aufklärung hoffen, weil die Ungewissheit sie quält. Ihm ist bewusst, wie schwer es ist, das Gestrüpp aus Lügen und Vorurteilen zu durchdringen und dass er nie »die ganze Wahrheit«, sondern immer nur Puzzleteile der Wirklichkeit ans Licht befördert. Die reichen oft, aber nicht immer für eine Verurteilung des Mörders. Kein Wunder, wenn die professionelle Distanz des Polizisten manchmal ins Wanken gerät und Wut und Frust die Oberhand gewinnen.

In seinem neuen Buch schildert Wilfing, wie komplex die einzelnen Aspekte eines Mordes miteinander verflochten sind: die Motive der Täter, die Rolle der Opfer, der genaue Tathergang, die weitreichenden Konsequenzen auf das gesamte Umfeld – eine Lektüre, die fesselt und unter die Haut geht.

ZUM AUTOR

Josef Wilfling, Jahrgang 1947, war 42 Jahre lang im Polizeidienst tätig, 22 davon bei der Münchner Mordkommission. Der Vernehmungsspezialist klärte spektakuläre Fälle wie den Sedlmayr- und den Moshammer-Mord auf, schnappte Serientäter wie den Frauenmörder Horst David und verhörte Hunderte Kriminelle. Josef Wilfling ist verheiratet und lebt in München. Bei Heyne sind bereits seine beiden Bestseller Abgründe und Unheil erschienen.

JosefWilfling

VERDERBEN

Die Macht der Mörder

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung einer Fotografie von Frank Bauer

Redaktion: Johann Lankes

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-19935-7V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Der Sadist

Der Narzisst

Der Widerling

Opfer

Der Asket

Die Ehrenwerten

Lügen

Die Zeugen

Der Biedermann

Nachwort

Vorwort

Wenn ein Menschenleben durch die Hand eines Mörders ausgelöscht wird, reißt dieser mit seiner Tat immer das Leben anderer mit ins Verderben. In erster Linie das der Opferfamilie, aber auch das seiner eigenen Angehörigen. Denn kaum ein Täter denkt daran, welch Leid er auch den Seinen zufügt, wenn er als Mörder für lange Zeit ins Gefängnis muss und seine Familie von ihrem sozialen Umfeld stigmatisiert wird. Dieser unheimlichen Macht der Täter steht die Ohnmacht der Opfer gegenüber. In den meisten Fällen ahnen sie nicht, welches Unheil sich da hinter ihrem Rücken zusammenbraut. Hinterher wird für diese Menschen, egal ob direkt oder indirekt betroffen, nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Die Verzweiflung, die sich bei Hinterbliebenen und Angehörigen breitmacht, wird noch verstärkt, wenn die Hintergründe und Geschehnisse einer Tat nicht aufgeklärt worden sind. Denn nichts ist für Angehörige auf beiden Seiten schlimmer als quälende Ungewissheit. Falls überhaupt, kommen diese Menschen erst dann zur Ruhe, wenn sie erfahren haben, was wirklich geschehen ist …

Damit sind wir bei der Aufklärung. Morde geschehen aus Habgier, Befriedigung des Geschlechtstriebes, Mordlust und anderen, auf niedrigster sittlicher Stufe stehender Beweggründe wie Neid, Hass oder Rache und sind vergleichbar mit Explosionen, durch die Bestehendes in tausend Teile zerrissen wurde. Ermittlern fällt die gesetzliche Aufgabe zu, die Einzelteile zu suchen, zu sichern und gleich einem Puzzle wieder zusammenzusetzen. Dabei kann nie wieder jener Zustand hergestellt werden, wie er vorher war. Es bleiben immer Lücken und Risse. Also handelt es sich stets um Fragmente, die der Justiz zur Beurteilung und Entscheidung vorgelegt werden. Nur wenn die Staatsanwaltschaft ein vollständiges Bild erkennt, wird sie Anklage erheben, und nur wenn das Gericht ohne Zweifel der Argumentation der Anklagebehörde folgt, wird es verurteilen. Andernfalls greift der Grundsatz »in dubio pro reo« (»im Zweifel für den Angeklagten«).

Nach schweren Verbrechen ziehen zunächst die Opfer alle Aufmerksamkeit auf sich, und die Ermittlungen nehmen logischerweise bei ihnen ihren Anfang. Sobald jedoch der oder die Täter vor Gericht stehen, richtet sich der Fokus hauptsächlich auf sie. Auf den ersten Blick scheint das ungerecht zu sein, da das Opferleid scheinbar vernachlässigt wird. Dass bei der Urteilsfindung Persönlichkeitsbilder, Fragen der Mitschuld und die Folgen für die Opfer einbezogen werden, wird dabei gerne übersehen. Allerdings sind Opfer nicht per se die Guten und Täter nicht immer die Bösen. »Man muss kein böser Mensch sein, um böse Taten zu begehen«, sagte ein renommierter Gerichtspsychiater in einem Interview. Dem kann ich als Praktiker nur beipflichten, möchte aber vorsichtshalber gleich anfügen: »Auch gute Menschen dürfen nicht morden, und auch noch so böse Menschen darf man nicht ermorden.«

Es gibt keine wie auch immer geartete Berechtigung für die Ermordung von Menschen, auch wenn unsere Rechtsordnung bekanntlich Rechtfertigungsgründe für vorsätzliche Tötungen vorsieht: Man denke an Notwehr, Nothilfe oder rechtfertigenden Notstand, wie zum Beispiel den finalen Rettungsschuss. Kriegshandlungen, Terrorismus oder den sogenannten Tyrannenmord nehme ich ausdrücklich aus, weil ich als Mordermittler ausschließlich für die Bearbeitung von Tötungsdelikten im zivilen Alltag ausgebildet war. Dass ich auch meine Sicht der Dinge einfließen lasse, hat damit zu tun, dass man Ermittlungsarbeit besser nachvollziehen kann, wenn man die Gedanken und Einschätzungen kennt, die Grundlage von Entscheidungen waren. Die bereits erwähnte Vielschichtigkeit der Opferrollen beschreibe ich in einem ausführlichen Kapitel, das ich mit sicherlich sehr nachdenklich machenden, authentischen Beispielen unterlegt habe.

Für die Aufklärung von Verbrechen sind Informationen unverzichtbar. Und wie bekommt man diese? In erster Linie durch Gespräche. Im Kontext mit Straftaten nennt man solche Gespräche »Vernehmungen«. Trotz bestehender Aussage- und Wahrheitspflicht in offiziellen Vernehmungen sind wir Ermittler mit der schwierigsten Herausforderung konfrontiert, der wir uns immer wieder gegenübersehen: der Trennung von Wahrheit und Lüge und dem Erkennen von Irrtum und Vorurteilen. Wobei Letztere hartnäckiger sein können als die Lüge selbst. Denn wer sich irrt, glaubt, was er sagt, denn niemand irrt sich vorsätzlich, und was Vorurteile betrifft, so wusste schon Albert Einstein: »Es ist leichter, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil.« Vorurteile sind in der Regel im Gegensatz zu bewussten Lügen nicht rechtswidrig, sofern sie nicht ehrabschneidend und damit strafrechtlich relevant sind. Wie man die Lüge erkennt und Lügner entlarven kann und wie das in einem Rechtsstaat geschehen darf, darüber berichte ich im Kapitel »Lügen«.

Kriminalromane und -filme, bei denen am Ende nicht die Aufklärung steht, sind bei den Konsumenten nicht beliebt, wie mir einige Fernsehschaffende erklärt haben. Warum? Weil Leser, Zuhörer und Zuschauer nicht nur mit menschlicher Neugier ausgestattet sind, sondern weil sie auch möchten, dass am Ende das Gute siegt und die Täter ihre gerechte Strafe erhalten. Diese Einstellung finde ich natürlich positiv, entspricht sie doch auch meinem Gerechtigkeitsempfinden. Da es sich hier aber um ein Sachbuch handelt, in dem es nichts zu verklären, aber einiges zu erklären gibt, habe ich ganz bewusst auch solche Fälle ausgewählt, die aus polizeilicher Sicht zwar als aufgeklärt galten, aber dennoch ungesühnt blieben, weil entweder die Beweise gar nicht erst für eine Anklage ausreichten oder weil am Ende ein Freispruch stand. Das ist eben auch eine Wahrheit, die man nicht verschweigen muss.

Aus rechtlichen Gründen wurden Namen und sonstige personenbezogene Angaben sowie örtliche und zeitliche Gegebenheiten verändert. Es handelt sich also um reale Fälle, die aber entsprechend abgewandelt wurden, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen.

Josef Wilfling

Der Sadist

Barbara Meier war erst 42 Jahre alt, als sie grausam ermordet wurde. Kennengelernt hatte sie ihren Mörder in jener Kneipe im Münchner Süden, in der sie allabendlich zu Gast war und wo sie meist kräftig trank. Sie war groß, schlank und sah sehr gut aus. Die gepflegten langen schwarzen Haare, die nach wie vor wohlgeformte Figur und die langen Beine – sie trug meist auch noch ziemlich kurze Röcke, in denen sie aber keineswegs ordinär wirkte, sondern elegant und geschmackvoll – zogen die Blicke der Männer auf sich. Allerdings hatte der Alkohol, der auch ursächlich für ihren sozialen Abstieg war und welcher wiederum mit Scheidung und der Trennung von ihren Kindern begann, bereits Spuren in ihrem schönen Gesicht hinterlassen.

Alles, was ihr geblieben war, waren die Abende in ihrer Stammkneipe, in der sie ein gern gesehener Gast war. Alle Stammgäste mochten sie. Vielleicht auch deshalb, weil sie Männern gegenüber sehr großzügig war, was körperliche Gunst betraf. Viele Stammgäste hatten schon mit ihr geschlafen. Dennoch war sie geachtet bei den vorwiegend verheirateten Männern. Jedenfalls hätte es keiner gewagt, sie als leichtes Mädchen zu bezeichnen.

Barbara war gebildet, intelligent und eloquent, ohne aber vorlaut oder aufdringlich zu sein. Sie war belesen und stets bestens informiert über die Geschehnisse in der Welt. Immerhin war sie Chefsekretärin in einem großen Betrieb gewesen. Jetzt lebte sie von Sozialhilfe, wohnte in einem kleinen Apartment ein paar Häuser weiter und verdiente sich ein paar Euro zusätzlich, indem sie für Stammgäste deren Lohnsteuerjahresausgleiche und Ähnliches erledigte. Einige Zeugen würden später behaupten, sie habe auch Geld von jenen Männern verlangt, die sie mit in ihre Wohnung nahm. Was sich aber nicht bewahrheitete. Lediglich um die Bezahlung ihrer Zeche musste sie sich nie Gedanken machen.

Jetzt lag Barbara tot auf ihrem Bett, und von ihrer Schönheit war nichts mehr übrig, weil bereits die zweite oder dritte Generation von Maden dabei war, ihre sterbliche Hülle zu entsorgen. Dieser sich zersetzende, stinkende Haufen organischer Substanzen führte mir immer wieder drastisch vor Augen, wie vergänglich wir sind und wie sich der menschliche Körper nach Eintritt des Todes sukzessive in seine Bestandteile aufzulösen beginnt.

Die Leiche lag auf dem Rücken, die Beine waren weit gespreizt. Der Geschlechtsakt war vermutlich das Letzte, was Barbara Meier in dieser Welt miterlebt hatte. Zumindest sah es so aus. Fast ein bisschen zu auffällig deuteten nicht nur die Art und Weise, wie sie dalag, sondern auch die Strapse, die dazugehörigen Seidenstrümpfe sowie die hochhackigen Stöckelschuhe auf ein sexuelles Geschehen hin. Die Handgelenke waren mit einem Bademantelgürtel vor dem Körper zusammengebunden und ließen auf sadomasochistische Praktiken schließen, wobei die gefesselten Hände bereits in die von Maden zerfressene Bauchhöhle hineingefallen waren.

Die spätere genaue Untersuchung des Gürtelknotens ergab, dass Barbara die Fesselung nicht selbst angelegt haben konnte. Doch nicht geklärt werden konnte, ob sie damit einverstanden war oder ob ihr die Hände zwangsweise zusammengebunden worden waren. Das Ganze sah überhaupt sehr gestellt aus, fast wie drapiert. Wurde der Leichnam eventuell erst nachträglich in diese Position gebracht?

Ein weißer Damenschlüpfer lag neben der Toten auf dem breiten Bett. Vielleicht hatte sie ihn getragen, bevor sie die Reizwäsche anlegte. Routinemäßig sah ich mich um in der kleinen Wohnung. Eine große Porträtaufnahme, die auf der Anrichte stand, zeigte das Bild einer wunderschönen Frau. Ein schauerlicher Kontrast zum übel riechenden, in Verwesung und Fäulnis befindlichen Körper hier auf dem Bett.

Da Ermittler berufsbedingt sehr genau hinschauen müssen, auch wenn der Fäulniszustand noch so fortgeschritten ist, blieb uns ein grausiges Detail nicht verborgen. Es war ein Kollege des Erkennungsdienstes, der es als Erster entdeckt hatte. Dann starrten wir alle gemeinsam auf diese Stelle und sahen etwas, was man auch als langjähriger Mordermittler nicht sehr oft sieht, weil es eher selten vorkommt. Es war ein starkes Indiz für das Vorliegen sogenannten Fremdverschuldens: Beide Brustwarzen fehlten, und es sah laut erster Begutachtung eines Rechtsmediziners nicht so aus, als könnten diese durch Madenfraß abgenagt worden sein. Aber nachdem wir auch nach gründlichster Suche die Brustwarzen nicht gefunden hatten, gab es dafür nur zwei Erklärungen. Entweder wir hatten sie übersehen, oder der Täter hat sie beseitigt. Dabei fielen mir zwei Fälle ein, bei denen die Brustwarzen der Mordopfer ebenfalls abgetrennt worden waren. In einem Fall hatte sie der Täter wieder ausgespuckt; Jahre später konnte daran seine DNA festgestellt werden, was zu seiner Überführung und Verurteilung reichte. In einem anderen Fall wurden einem Opfer die Brustwarzen mit einer Schere abgeschnitten, sie wurden nie gefunden.

Das Apartment war mit billigen Möbeln ausgestattet, aber dennoch recht geschmackvoll eingerichtet. Die kleine Kochnische war sauber und aufgeräumt. Auffälligkeiten gab es ansonsten nicht, insbesondere waren keinerlei Kampfspuren zu sehen. Nur etliche leere und noch volle Flaschen verschiedenster Alkoholika – vorwiegend Wein, Sekt und Cognac – ließen erkennen, dass hier jemand lebte, der gerne trank. Lebensmittel waren dagegen kaum vorhanden.

Auf dem kleinen Tischchen, das im Wohnraum vor einer kleinen Couch stand, fanden wir zwei bereits ausgetrocknete Sektgläser und eine halb leere Flasche. Der Aschenbecher quoll über, es waren Zigarettenkippen ihrer bevorzugten Marke, aber auch andere. Und wir entdeckten die Reste eines Joints. Barbaras letzter Besucher war also Drogenkonsument. Sie selbst soll ausschließlich die Droge Alkohol konsumiert haben.

Die Erkennungsdienstbeamten fanden verschiedene frische Fingerspuren an den Gläsern, die von Barbara sowie einer weiteren Person stammten. Letztere hatte sich also keine Mühe gegeben, Fingerabdrücke zu vermeiden. Was jedoch nicht automatisch bedeuten musste, dass sie nicht schon von vornherein vorgehabt haben konnte, Barbara zu töten. Selbst hartgesottene Mörder sind nervös und machen jene Fehler, nach denen wir Ermittler suchen und von denen wir profitieren.

Der Rechtsmediziner vermutete eine Liegezeit des Leichnams von etwa drei bis vier Wochen, und er fand keine Verletzungen, wie sie hätten vorhanden sein müssen, wäre der Tod durch Erstechen, Erschlagen oder Erschießen verursacht worden. Um feststellen zu können, ob Barbara erwürgt oder erdrosselt worden sei, müsse die Obduktion abgewartet werden, die noch in der Nacht im Institut für Rechtsmedizin stattfand.

Der Verdacht bestätigte sich: Barbara Meier war durch Gewalteinwirkung gegen den Hals gestorben. Aufgrund der Fäulniserscheinungen ließ sich jedoch nicht mehr feststellen, welche Art von Gewalt das gewesen sein könnte. Das gebrochene Zungenbein und die beiden gebrochenen Kehlkopfhörner waren zwar klassische Anzeichen für eine Gewaltanwendung gegen den Hals, wie zum Beispiel Würgen oder Drosseln, aber auch ein Sturz hätte die Todesursache sein können. Das war ein Ergebnis, das uns Ermittler natürlich nicht zufriedenstellte. Von Erdrosseln spricht man übrigens, wenn als Tatwerkzeug ein Hilfsmittel wie beispielsweise ein Gürtel, ein Strick, ein Kleidungsstück oder anderes verwendet wurde, und von Erwürgen, wenn mit den Händen der Hals zugedrückt wurde. Drosselwerkzeuge können Spuren hinterlassen und unterscheiden sich häufig von dem Befundmuster, das bei einem Würgevorgang entstehen kann.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit« sei das Fehlen der Brustwarzen auf keinen Madenfraß zurückzuführen. Es sehe eher so aus, als deute die scharfrandige, etwas gezackte Abtrennung auf ein Abbeißen denn auf ein Abschneiden hin. Wieder dieses »mit hoher Wahrscheinlichkeit«, das wir Ermittler genauso lieben wie die Formulierung »nicht ausschließbar« oder »anatomisch nicht nachweisbar«. Da sind die »erheblichen Zweifel« der Verteidiger quasi schon vorprogrammiert. Es war zum Verzweifeln.

Wissenschaftler dürfen ausschließlich objektiv nachweisbare Erkenntnisse verwerten, wir Ermittler müssen auch den sogenannten Modus Operandi, also das Tatmuster, in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Dadurch ist gegebenenfalls ein Rückschluss auf die Psyche eines Täters möglich. So hatten wir keine Zweifel, dass das Abtrennen der Brustwarzen auf sadistische Neigungen hinweisen würde. Konnte es sein, dass wir es mit einem Täter zu tun hatten, der die Brustwarzen absichtlich verschluckt hatte?

Wir begannen unsere Ermittlungen wie immer von innen nach außen. Das heißt, die Nachforschungen fangen stets beim Opfer an. Die Erstellung eines sogenannten Opferbildes gehört also zu den ersten Maßnahmen. In diesem Fall hatten wir Glück, weil es eine gute Freundin gab, und zwar die Wirtin, bei der Barbara täglich zu Gast war. So gelang es uns relativ schnell, eine Art Lebenslauf zu erhalten. Zunächst aber klärte sich die Frage, warum Barbara in den vergangenen zwei Wochen in ihrer Stammkneipe nicht vermisst worden war.

Barbara Meier besuchte gelegentlich für etwa zehn bis 14 Tage ihre fast 70-jährige verwitwete Mutter, an der sie sehr hing und die in einer kleinen Gemeinde im Hunsrück lebte. Deshalb wurde die Wirtin erst unruhig, als Barbara sich nach 14 Tagen noch immer nicht zurückgemeldet hatte. Dass Barbara telefonisch nicht erreichbar war, bedeutete nichts. Sie ging zu Hause so gut wie nie ans Telefon, und ein Handy besaß sie nicht. Mehrfach sah die Wirtin daher an der Wohnung nach, aber die Vorhänge waren unverändert zugezogen, und auf Läuten wurde nicht geöffnet. Irgendetwas konnte da nicht stimmen. In Begleitung zweier Stammgäste und des dortigen Hausmeisters drang die Wirtin schließlich bis an die Wohnungstür vor. Einer der Stammgäste arbeitete bei einem Bestattungsinstitut und erkannte den Geruch, der aus dem Briefkastenschlitz strömte. Man rief die Polizei.

Ein Schlüsseldienst öffnete die Wohnungstür, die lediglich ins Schloss gezogen war, der Schlüssel selbst lag in der Wohnung. Es fanden sich keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Ein Schwall jenes unvergleichlichen Geruchs drang auf den Flur, als die Tür geöffnet war. Einer der Polizisten musste hineingehen. Nach 20 Sekunden kam er zurück, stürmte ans Flurfenster, riss es auf und schnappte nach Luft. Der andere Polizist rief die Kripo, ohne nachzufragen. Was sein Kollege vorgefunden haben dürfte, war klar.

Vor genau 14 Tagen, in der Nacht vom 20. zum 21. September, so die Wirtin, habe sie Barbara letztmals in der Kneipe gesehen. Sie sei wie immer gegen 20.00 Uhr gekommen und habe an der Theke gesessen. Das Lokal sei gut besucht gewesen. Kurz vor der Sperrstunde habe dieser Mann das Lokal betreten. Da sie erst um 2.00 Uhr schließe, kämen oft noch Gäste aus den umliegenden Gaststätten zu einem »Absacker« zu ihr.

Sportlich und gut gekleidet sei der Mann gewesen, auffallend groß, mindestens 1,90 Meter, schlank, fast schlaksig, schätzungsweise 40 bis 45 Jahre alt und attraktiv. Er hatte blondes, volles Haar und wirkte sympathisch. Kein Schönling, aber mit sehr markanten, männlichen Zügen und einer stattlichen Nase, die besonders auffallend war. Sie sei sofort auf ihn aufmerksam geworden. Und natürlich auch Barbara, die den Fremden förmlich anzog. Nach etwa einer halben Stunde verließen sie gemeinsam das Lokal. Die beiden schienen es jedenfalls eilig zu haben, als ob sie es gar nicht mehr erwarten könnten. Der Mann sei ihr übrigens völlig fremd gewesen, sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie habe auch keinen Namen gehört und wisse weder, woher er kam, noch, wo er wohne.

Diesmal hatten wir Glück mit der sofortigen Hausbefragung, denn wir fanden eine Nachbarin, die einen entscheidenden Hinweis geben konnte, der sich mit den Angaben der Wirtin deckte und diese ergänzte. Die junge Physiotherapeutin, deren Wohnung an die von Barbara grenzte, berichtete, sie habe ihre Nachbarin definitiv letztmals in der Nacht zum 21. September, also vom Freitag auf den Samstag, so gegen 2.00 Uhr im Treppenhaus gesehen, und zwar in Begleitung eines Mannes. Warum sie so sicher sei, dass es sich um die Nacht auf den 21. September gehandelt habe? Weil sie gerade aus dem Krankenhaus heimgekommen sei, nachdem sie Stunden vorher in einen Verkehrsunfall verwickelt und dabei leicht verletzt worden war.

Zufällig sei sie mit Barbara im Treppenhaus zusammengetroffen, man habe sich aber nur ganz kurz unterhalten. Barbara habe ihr gesagt, dass sie morgen oder vielleicht auch erst übermorgen zu ihrer Mutter fahren würde. Die Nachbarin hatte deshalb die Werbung und die Zeitungen, die vor Barbaras Tür lagen, ab Montag weggeräumt, so wie sie es gegenseitig vereinbart hatten, wenn eine von ihnen verreiste. Die Zeitungen wären noch in ihrer Wohnung. Den Mann in Barbaras Begleitung habe sie nicht weiter beachtet. Sein Gesicht hätte sie nicht sehen können, weil er sich abgewandt hatte. Sie könne nur sagen, dass er auffallend groß und schlank gewesen sei. Und dunkel gekleidet.

Etwa eineinhalb Stunden später, so gegen 3.30 Uhr, habe sie einen Schrei gehört. Es gebe keinen Zweifel, dass er aus Barbaras Wohnung gekommen sei und dass diese geschrien hatte. Die Nachbarin habe sich trotzdem nichts dabei gedacht, da sie angenommen habe, es sei ein Lustschrei gewesen. Andernfalls hätte sie reagiert. Als sie circa 20 Minuten später die Tür schlagen hörte und Schritte auf der Treppe nach unten vernahm, ging sie davon aus, dass der Liebhaber gegangen sei. Dass es zum Zeitpunkt des Schreies ziemlich genau 3.30 Uhr war, wisse sie deshalb noch, weil sie aufgrund der Schmerzen schlecht schlafen konnte und dauernd auf die beleuchteten Ziffern ihrer Uhr geschaut habe.

Nach Sachlage gab es keine begründeten Zweifel daran, dass der letzte Begleiter auch der letzte Besucher gewesen sein dürfte und der letzte Besucher auch der Täter. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Barbara in dieser Nacht gestorben bzw. umgebracht worden sein dürfte, war die Tatsache, dass ab diesem Zeitpunkt kein einziges Telefonat mehr aus ihrer Wohnung geführt wurde, obwohl sie gewöhnlich täglich mit ihrer Mutter telefonierte. Den endgültigen Hinweis lieferte aber die Sichtung der Zeitungen, welche die Nachbarin in Verwahrung genommen hatte. Die älteste Ausgabe war die vom Samstag, dem 21. September. Das konnte nur bedeuten, dass Barbara ihre Zeitung nach diesem Freitag nicht mehr in die Wohnung geholt hatte. Und dafür gab es nur eine logische Erklärung: Sie war bereits tot. Also rückte der letzte Begleiter, der unbekannte Fremde, in den Fokus der Ermittlungen.

Es sah so aus, als hätten wir einen leicht zu klärenden Fall vor uns. Alles war stimmig, und durch die Wirtin hatten wir eine sehr gute Beschreibung des mutmaßlichen Täters. Wir mussten ihn nur noch finden, was allerdings nicht besonders schwierig zu werden schien. Seine Anwesenheit am Tatort konnte er nicht leugnen und wohl auch kaum, dass er der letzte Besucher und damit derjenige gewesen sein muss, der dem Opfer möglicherweise die Brustwarzen abgebissen haben dürfte. Der Rest war Vernehmungsgeschick.

Einen ersten Dämpfer erhielten wir, als die Suche nach dem Täter in unserer Lichtbilddatei durch die Wirtin negativ verlief. Das bedeutete, dass der Gesuchte mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nie erkennungsdienstlich behandelt worden war. Eine der wichtigsten weiteren Optionen war die Öffentlichkeitsfahndung, die jedoch nicht immer so ohne Weiteres möglich ist. Denn der Persönlichkeitsschutz und die Unschuldsvermutung setzen uns bei der Veröffentlichung von Namen und Bildern enge Grenzen. Erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, erlaubt uns die Staatsanwaltschaft, Lichtbilder von Tatverdächtigen oder gesuchten Beschuldigten zu veröffentlichen. In unserem Fall kannten wir aber weder einen Namen noch hatten wir ein Lichtbild. Lediglich eine Beschreibung und ein Fahndungsporträt, ein Phantombild, konnten wir den Medien anbieten.

Es versteht sich von selbst, dass auch alle anderen möglichen Maßnahmen ergriffen wurden, um Licht ins Dunkel zu bringen. Neben der Spurenauswertung, die allerdings nicht sehr ergiebig war und nichts brachte, was wir nicht schon wussten, waren dies in erster Linie Dutzende ausführlichster Vernehmungen. Jeder, der dem Umfeld des Opfers zuzurechnen war, wurde befragt, egal, wo die betreffende Person wohnte. Auch in der Heimatgemeinde wurden intensive Vernehmungen durchgeführt als Teil der Erarbeitung eines sogenannten Opferbildes. Barbaras Mutter war traurig und weinte. Versorgt wurde sie von einem Pflegedienst und ihrer älteren Tochter, die die Mutter tatsächlich in dem Glauben gelassen hatte, ihrer Lieblingstochter Barbara gehe es in München gut, sie habe dort eine gute Stelle gefunden und lebe in einer schönen großen Wohnung. Immerhin hatte die Mutter noch bestätigt, dass Barbara an besagtem Samstag, dem 21. September, sie besuchen wollte. Sie sei aber nicht gekommen, und auf Anrufe habe sie nicht reagiert. Allzu große Sorgen habe sie sich dennoch nicht gemacht, denn mitunter hatte es sich Barbara schon mal anders überlegt und sei mit ihrer neuen Freundin in München in Urlaub gefahren und hätte sich eine Zeit lang nicht gemeldet.

Ich wollte nicht beurteilen, ob es richtig war von Barbara und deren Schwester, ihre Mutter so anzulügen. Jedenfalls sah ich es nicht als meine Aufgabe an, dieser Frau die Wahrheit zu sagen. Also habe ich auch gelogen. Und ich habe mich gut gefühlt dabei.

Konrad Tauber, 45 Jahre alt, saß auf einer Bank in der Nähe der Universität und war in die Boulevardzeitung vertieft, die er kurz vorher aus einem Zeitungskasten entnommen hatte. Er las von der Auffindung der Toten und erschrak. Die Beschreibung des letzten Begleiters traf ziemlich genau auf ihn zu, und das Phantombild glich ihm auffallend. Er jedenfalls sah sich gut getroffen. Es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man ihn ermittelt haben würde. Er musste verschwinden.

Das kleine Zimmer im Studentenheim im Münchner Universitätsviertel bewohnte er seit etwa drei Monaten, obwohl er kein Student mehr war. Aber die eigentliche Inhaberin hatte ihm das Zimmer überlassen und war woanders untergekommen. Warum, sollten wir erst später erfahren. Und die vielen anderen Bewohner interessierte es nicht im Geringsten, ob er legal oder illegal hier wohnte, wer er war oder woher er kam.

Konrad Tauber kannte sich mit Studentenleben gut aus, auch wenn er sein Studium schon vor Jahren abgebrochen hatte. Als er nämlich erfuhr, dass er sich mit dem HIV-Virus infiziert habe, sah er keinen Sinn mehr in der Fortsetzung eines Studiums. Inzwischen war er bereits in Kategorie C eingestuft, was man als Aids im Endstadium bezeichnete. Seine sexuelle Präferenz hatte sich aber nicht geändert. Er bevorzugte nach wie vor harten Sex, obwohl ihm klar war, dass er sich genau dabei irgendwann und irgendwo angesteckt haben dürfte. Er brauchte eben die damit einhergehenden körperlichen Schmerzen und Qualen, allerdings nicht an sich selbst, sondern ausschließlich bei seinen Sexualpartnerinnen. Er selbst war ein eher wehleidiger Typ und sehr schmerzempfindlich.

Als Partnerinnen bevorzugte er in der Mehrheit junge Frauen, je jünger, desto besser. Allerdings verschmähte er auch ältere Frauen nicht, ebenso wenig wie Prostituierte oder Transsexuelle. An Partnerinnen mangelte es ihm nachweislich zu keiner Zeit. Dass er hochansteckend war, verschwieg er natürlich. Dadurch hatte er sich eigentlich jedes Mal eines versuchten Tötungsdeliktes schuldig gemacht. Denn also solches wurde der ungeschützte Verkehr mit ahnungslosen Sexualpartnern eingestuft. Erst ab Mitte der 1990er-Jahre machte man sich nur noch wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar, wenn man als HIV-Infizierter bewusst und gewollt die Weiterverbreitung der Krankheit in Kauf nahm.

Wie sich herausstellen sollte, schien Konrad Tauber so etwas wie das »gewisse Etwas« besessen zu haben. Jedenfalls hatte er bei Frauen unglaublich viel Erfolg. Im Nachhinein diskutierten wir noch oft darüber, wie es möglich war, dass dieser doch immerhin schon reifere Mann mit dem zerfurchten Gesicht und der großen Nase so viele junge, hübsche Studentinnen in seinen Bann ziehen konnte.

Konrad Tauber setzte sich beispielsweise zu jungen Frauen auf eine Bank, begann ein Gespräch und schaffte es innerhalb kürzester Zeit, dass ihm die eine oder andere aufs Zimmer folgte und sich ihm dort hingab. Eigenartig war, dass seine Opfer im Nachhinein auch nicht so recht erklären konnten, was sie an ihm so Besonderes gefunden hatten. Aber alle sagten, er sei unglaublich charmant gewesen und habe hochintelligent gewirkt. Es schien auch nicht nur seine rhetorische Begabung gewesen zu sein, die ihn gerade bei jungen Frauen so erfolgreich machte, irgendwie war es wohl die lässige, coole Art, die er an den Tag legte. Natürlich dachten wir Ermittler auch an irgendwelche Drogen, mit denen man Personen gefügig machen kann, aber nichts davon traf zu. Erst ganz am Ende wussten wir, dass er es in ganz besonderem Maße verstand, eine Mischung von Souveränität und Mitleid zu erregen. War das vielleicht der Grund, warum er bei Frauen so erfolgreich war?

Luisa Naumann lag auf dem dreckigen Fußboden, die Arme waren mit Kabelbindern auf den Rücken gefesselt, die Beine waren mit Klebeband zusammengebunden. So wurde sie aufgefunden, nachdem sie sich befreien konnte und mit den Füßen so lange gegen die Tür getreten hatte, bis jemand aufmerksam wurde, den Hausmeister holte, der die Zimmertür mit einem Ersatzschlüssel aufsperrte. Mit Klebeband war auch ihr Kopf umwickelt, sodass der Mund gänzlich verschlossen war. Luft bekam sie nur durch die total verkrustete Nase. Sie war nur mit einem dünnen Herrenhemd bekleidet, ihr Unterleib war nackt und blutverkrustet, so weit man das bei flüchtigem Hinsehen überhaupt beurteilen konnte. Jedenfalls waren die Umstehenden schockiert, so erbärmlich, bemitleidenswert und schrecklich war dieser Anblick. Der Notarzt stellte eine Stich- oder Schnittwunde am Bauch fest, die jedoch nicht so weit in die Tiefe ging, dass innere Organe verletzt wurden. Der Hals wies Würgemale auf, das Gesicht war dick angeschwollen, ebenso die Augen. Die Rettungssanitäter legten sie vorsichtig auf die Bahre und transportierten sie ins Krankenhaus.

Auf dem Tischchen in der allenfalls zehn Quadratmeter großen Studentenbude lag die Boulevardzeitung mit seinem Phantombild, die Konrad Tauber mitgebracht hatte. Es waren nur wenige Stunden, die wir zu spät gekommen waren. Jetzt war Luisas Peiniger und Vergewaltiger weg. Nicht einen einzigen Gegenstand hatte er zurückgelassen. Auch nicht das Küchenmesser, mit dem er die junge Studentin gequält und verletzt hatte. Das Einzelbett war kot- und blutverschmiert, und die Nasszelle samt Toilette sah ekelerregend aus.

Sie, die 24-jährige Germanistikstudentin, würde später aussagen, sie sei überzeugt gewesen, er würde sie töten. Schließlich hätte er sie ja gar nicht überleben lassen können. Dass sie ihn anzeigen würde, davon konnte er doch ausgehen nach diesem Martyrium, dem er sie ausgesetzt hatte. Dann aber sei er heimgekommen, völlig gehetzt wirkend, habe seine Sachen in eine Sporttasche gepackt und sei innerhalb von Minuten verschwunden, ohne sie auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Er habe die Tür zugezogen und von außen versperrt.

Luisa Naumann war glücklicherweise nicht lebensbedrohlich verletzt worden. Der Bauchschnitt hatte die Bauchdecke nicht eröffnet, und der Darm war unversehrt. Der Schnitt war auch nicht so tief greifend, dass man ein versuchtes Tötungsdelikt hätte unterstellen können. Die junge Frau war zwar nach zwei Tagen vernehmungsfähig, psychisch allerdings würde sie ihr ganzes Leben gezeichnet bleiben. Das war uns klar und auch ihren Eltern, für die eine Welt zusammengebrochen war. Dass sich die Tochter, die in München ein eigenes Studentenzimmer zur Verfügung hatte, freiwillig in die Wohnung eines ihr fremden, wesentlich älteren Mannes begeben hatte, hatte insbesondere den Vater schwer geschockt. Ich musste mit Engelszungen auf ihn einreden, damit er sich gegenüber seiner Tochter die Enttäuschung nicht anmerken ließ. Das ist mir schließlich auch gelungen, denn Luisa hätte in dieser Situation keine Vorwürfe ertragen können. Zumal der wirkliche Schock noch kommen sollte.

Eine Kollegin fand Zugang zu Luisa Naumann und konnte mit viel Einfühlungsvermögen in Erfahrung bringen, was sie durchlitten hatte. Demnach hatte sie sich fast eine ganze Woche in Taubers Gewalt befunden. Kennengelernt habe sie ihn rein zufällig vor der Mensa, wo er auf einer Bank saß. Er habe ihr von sich erzählt, von Spanien und seinen Reisen und von seinen Plänen, die er noch habe. Er habe Jura studiert und sei viel in der Welt unterwegs, vorwiegend für gemeinnützige Organisationen und ausschließlich in Entwicklungsländern, um anderen Menschen zu helfen.

Irgendwie sei sie fasziniert gewesen von seiner männlichen, überlegenen, selbstsicheren Art. Er habe sie auf einen Kaffee eingeladen und in sein Zimmer, das er vorübergehend bewohne, solange er sich in München aufhalte. Eine Art Notlösung, da er Hotels hasse und meide. Der Altersunterschied habe sie nicht gestört, er hatte angegeben, 39 Jahre alt zu sein.

Sie hätten Rotwein getrunken und Sex gehabt. Ungeschützt, und sie habe bei ihm auch den Oralverkehr durchgeführt. Sie habe später, als der Rotwein schon seine Wirkung getan hatte, auch nichts dagegen gehabt, sich die Hände mit Kabelbindern fesseln zu lassen. Er sagte, es würde sie und ihn antörnen, und sie wollte es halt mal ausprobieren. Natürlich wäre sie nie damit einverstanden gewesen, hätte er ihr Schmerzen angekündigt oder gar Verletzungen.

Aber dann habe sich fast schlagartig alles geändert. Plötzlich sei er wie verwandelt gewesen. Damit begann die Hölle für Luisa Naumann. Er habe sich nicht nur geweigert, die Fesseln wieder abzunehmen, er habe auch angefangen, sie zu quälen. Immer wieder habe er sie gebissen, vor allem in die Brüste, und ihr damit gedroht, die Brustwarzen abzubeißen. Bei dieser Schilderung wurde ich plötzlich hellhörig, denn jetzt hatten wir eine Zeugenaussage zu dieser seltenen Perversion. Als sie schreien wollte, habe er ihr den Mund zuerst zugehalten und ihr dann Ohrfeigen gegeben. Er habe ihr ein Messer an den Hals gesetzt und ihr gedroht, sie abzustechen. Sie sei vor Angst wie gelähmt gewesen und habe fortan alles über sich ergehen lassen. Wenn er sie vergewaltigt habe, habe er ihr gleichzeitig den Hals zugedrückt und sie gewürgt; sie habe einige Male befürchtet, zu ersticken. Beim Verlassen des Zimmers – manchmal blieb er mehrere Stunden lang weg – habe er sie zusätzlich mit Klebeband an den Füßen gefesselt und auch an das Bettgestell, außerdem habe er ihr den Mund verklebt, sodass sie nicht um Hilfe schreien konnte.

Hin und wieder habe sie etwas zu trinken bekommen und ein paarmal auch ein Stückchen Pizza. In diesen Phasen sei er plötzlich wieder der verständnisvolle, sanftmütige Mann gewesen, als den sie ihn kennengelernt hatte. Aber immer nur kurz. Mehrmals täglich habe er sie vergewaltigt und auf andere Art und Weise sexuell missbraucht. In den letzten drei Tagen habe er nur noch Analverkehr praktiziert, und danach musste sie seinen Penis in den Mund nehmen und ablutschen. Er genoss diese Demütigungen offensichtlich, wobei seine Potenz erstaunlich gewesen sei. All ihr Bitten und Flehen hatten nicht geholfen, es war, als steckten zwei Personen in ihm.

Als sie sich einmal geweigert habe, den Oralverkehr auszuführen, weil sie einen starken Brechreiz bekam, verletzte er sie mit einem Messer am Bauch, indem er ganz langsam ins Fleisch hineinschnitt. Sie habe Todesangst gehabt.

Als Luisa Naumann und ihre Eltern erfuhren, dass ihr Peiniger an Aids erkrankt ist und sich nach einigen Wochen herausstellte, dass die junge Frau tatsächlich infiziert worden war, brach für sie eine Welt zusammen. Ob Luisa Naumann heute noch lebt, entzieht sich meiner Kenntnis.

Konrad Tauber war uns entwischt. Auf seine Spur waren wir nicht nur durch die Aussage Luisas gekommen, auch der Hinweis eines Studenten hatte uns in das Heim geführt, weil er in unserem Phantombild jenen merkwürdigen Typen zu erkennen glaubte, den er schon des Öfteren dort gesehen habe.

Der Kreis schloss sich langsam. Der Mann, der Luisa festgehalten, vergewaltigt und misshandelt hatte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Mörder von Barbara Meier. Die sexuellen Praktiken wie Fesselung und Würgevorgang stimmten in beiden Fällen auffallend überein. Es gab keine vernünftigen Zweifel, dass wir es hier mit einem Serientäter zu tun haben könnten, auch wenn man erst ab drei Opfern von einem solchen sprechen kann. Leider gab es noch keine DNA-Analysen, sodass wir auf die üblichen Fahndungs- und Identifizierungsmöglichkeiten beschränkt waren. Den Namen bzw. die Personalien des groß gewachsenen, gut aussehenden, blonden Mannes kannten wir deshalb noch immer nicht. Luisa gegenüber hatte er sich Mike genannt. Aber das war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Falschname.

Wir machten die tatsächliche Mieterin des Zimmers im Studentenheim ausfindig und trafen sie auch in ihrer anderen Bleibe, einer karitativen Einrichtung, an. Die Sozialpädagogikstudentin stammte aus derselben Gemeinde wie der Gesuchte, und sie kannten sich. Die junge Frau war sozial sehr engagiert und kümmerte sich ehrenamtlich unter anderem um Aidskranke. Ich konnte mir sofort vorstellen, dass Konrad Tauber ihr gegenüber wohl als das aufgetreten war, was er nur nach außen hin war: als armer, bedauernswerter Kranker, der Liebe und Zuneigung suchte. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, bis die Studentin uns endlich den Namen des Flüchtigen sagte. Nicht einmal der Hinweis, dass es um Mord und Vergewaltigung ginge, hatte die angehende Pädagogin beeindrucken können. Erst das Angebot, sie mit dem Opfer zu konfrontieren, bewirkte ihr Umdenken.

Konrad Tauber erhielt Sozialhilfe, und er wurde von einem Rechtsanwalt vertreten, der ihn wiederum gegenüber dem Sozialamt vertrat. Da er sich unterversorgt und schlecht untergebracht fühlte, weigerte er sich, in das Apartment einzuziehen, das ihm zugewiesen worden war. Er bestand wegen seiner Erkrankung auf einer Zweizimmerwohnung mit separater Toilette, denn er könne seinen Besuchern und Betreuern nicht zumuten, dieselbe Toilette zu benutzen wie er. Später sollten wir in Erfahrung bringen, dass er vorübergehend sogar bei einer Richterin untergekommen war, die ihn in seinen Belangen unterstützte. Ja, er war halt ein Frauentyp.

Die Staatsanwaltschaft beantragte und erhielt einen Haftbefehl gegen Konrad Tauber. Zum einen reichten dafür die Indizien in Bezug auf den Mord aus, zum anderen galten die schwere Freiheitsberaubung und die vielfachen Vergewaltigungen als bewiesen. Jetzt mussten wir ihn nur noch finden, was uns allein schon deshalb möglich erschien, weil er Sozialhilfe bezog. Also fragten wir beim Sozialamt nach und bekamen eine Abfuhr. Ein Haftbefehl rechtfertige nicht die Umgehung des Datenschutzes, teilte man uns mit, als wir wissen wollten, wann und wo der Gesuchte das Geld abholen könnte. Ein hoher Vertreter dieser zweifelsohne sehr wichtigen Behörde belehrte uns, dass die Unschuldsvermutung auch für Sozialhilfeempfänger gelte, und zwar bis zur Rechtskraft eines Urteils. Daran ändere auch ein Haftbefehl wegen Mordes nichts. Deshalb würde Herrn Tauber die ihm zustehende Sozialhilfe über seinen Anwalt nachgesandt. Mein Hinweis, wonach der Mann sehr gefährlich sei und eventuell wieder vergewaltigen oder töten könnte, überzeugte nicht. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Mein Gegenargument, dass man seiner aber möglichst schnell habhaft werden sollte, weil er eine permanente Gefahr darstelle und sich jeden Moment ein neues Opfer suchen könne, schien den Behördenvertreter sogar zu entsetzen. Ob ich mir einbilden würde, dass sie einen der ihnen anvertrauten Bürgerinnen oder Bürger an die Strafverfolgungsbehörden ausliefern würden? Der Vertrauensverlust, der damit verbunden wäre, hätte katastrophale Folgen. Auch ein Richter könne sie dazu nicht zwingen. Da hatte er recht. Es gilt nun einmal die Unschuldsvermutung bis zur Rechtskraft eines Urteils. Auch wenn meine Polizistenseele schier am Zerspringen war.

ENDE DER LESEPROBE