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Am 8. Mai 1977, dem Tag ihrer Erstkommunion, war Murielle 11 Jahre alt. Nur wenige Tage später verläßt ihr Vater sie, ihre Mutter und ihre drei Geschwister. Schon seitdem sie 6 Jahre ist, war sie unfreiwillig Zeugin der Untreue und der Betrügereien des Vaters. 20 Jah-re lang wird sie ihn, hin und hergerissen, verabscheu-en, lieben und ignorieren um dann doch nach ihm zu suchen mehr als nur eine Autobiographie handelt dieses Buch von Versöhnung, Verlassensein, Scheidung, Fehlen einer echten Verbindung zwischen Tochter und Vater und auch der Mutter. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für Mut und dafür, dass wir uns unseren Weg selbst wählen können. Sie feiert das Leben, Murielles Leben.Es ist so, wie Murielle nicht müde wird zu betonen: Ich bin wie der Schilfhalm, ich beuge mich, aber ich breche nicht!
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Widmung
Für meinen wunderbaren Ehemann Holger: meine Stütze und meine Kraft und meine beiden wunderbaren Kinder Cédric und Mathis, die in einer Familie mit festem Zusammenhalt aufwachsen.
Für meine Schwester und meine Brüder, für meine Eltern.
Für meine Freunde, nah und fern, und alle, die mir geholfen haben voranzukommen... und für Catherine.
Für die Kollegen, denen ich mein Projekt anvertraut habe und die an mich geglaubt haben. Für diejenigen von ihnen, die meine Geschichte lesen und kennenlernen.
Für alle, die mir in meinem Leben begegnet sind.
Und meinen Dank an Dani, die mir dabei geholfen hat, meine Geschichte aufzuarbeiten.
Einige Worte zur Autorin:
Murielle, 51, stammt aus Valenciennes und lebt seit über 20 Jahren in der Nähe von Frankfurt. Sie ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und arbeitet als Marketing Managerin für ein großes Unternehmen in Frankfurt.
Sie spricht 8 Sprachen, davon 5 fließend und interessiert sich für Informatik. Alles um sie herum saugt sie « wie ein Schwamm » auf, immer bereit zu lernen, Neues zu entdecken und zu staunen.
Es handelt sich um ihr erstes Buch. Aber Murielle schreibt schon, seit sie 15 ist, vor allem Gedichte und Romane, die sie bald veröffentlichen möchte.
Vorstellung
Offener Brief
Vorwort
KAP 1 – Das Jahr meiner Geburt en 1965
KAP 2 – « Sie » ist da 1972
KAP 3 – Der Umzug en 1973
KAP 4 – Die Geburt meiner Schwester
KAP 5 – Das Geld im 1975
KAP 6 – Der Unfall im 1976
KAP 7 – Meine Kommunion Mai 1977
KAP 8 – Der Monat der Enthüllung
KAP 9 – Meine Jahre in der 6. und 7. Klasse 1978
KAP 10 – Das Jahr der Veränderungen 1979
KAP 11 – Mein Leben bei Papa 1980
KAP 12 – Meine zehnte Klasse 1981
KAP 13 – Meine Flucht 1982
KAP 14 – Meine beste Jahre 1982-1983
KAP 15 – Das Abitur 1983
KAP 16 – Die Jahre an der Uni 1984 – 1988
KAP 17 – Umzug und Wiedersehen 1984
KAP 18 – Meine Prüfungen und Tod von Sandrine 1985
KAP 19 – Mein Vordiplom und mein Führerschein 1986
KAP 20 – Catherine und Estelle 1987
KAP 21 – Jahr der Trennungen 1988
KAP 22 – Meine Auslandserfahrungen 1989 - 1990
KAP 23 – Die Suche nach dem Vater
KAP 24 – Emotionale Enttäuschungen
KAP 25 – Die Begegnung meines Lebens
KAP 26 – Und heute?
KAP 27 – Interview
Das ist das Jahr, in dem ich folgendes hörte...
Das ist das Jahr, in dem ich folgendes sah...
REFERENZEN
Am 8. Mai 1977, dem Tag ihrer Erstkommunion, war Murielle 11 Jahre alt. Nur wenige Tage später verlässt ihr Vater sie, ihre Mutter und ihre drei Geschwister. Schon seitdem sie 6 Jahre ist, war sie unfreiwillig Zeugin der Untreue und der Betrügereien des Vaters. 20 Jahre lang wird sie ihn, hin und hergerissen, verabscheuen, lieben und ignorieren – um dann doch nach ihm zu suchen.
... mehr als nur eine Autobiographie handelt dieses Buch von Versöhnung, Verlassensein, Scheidung, Fehlen einer echten Verbindung zwischen Tochter und Vater und auch der Mutter. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für Mut und dafür, dass wir uns unseren Weg selbst wählen können. Sie feiert das Leben, Murielles Leben.
Es ist so, wie Murielle nicht müde wird zu betonen: „ Ich bin wie der Schilfhalm, ich beuge mich, aber ich breche nicht!“
Warum? Dieses magische Wort, so reich an Konsequenzen, Fragen, Geheimnissen, an Wissen und Verständnis, beantwortet leider nicht alles.
Auch ich habe keine Antworten, zumindest nicht in diesem Augenblick. Warum habe ich so gehandelt? Ich weiß es nicht.
Ein Jugendfehler? Sicherlich. Unfähigkeit Verantwortung zu übernehmen? Wohl auch. Wie dem auch sei, ich bin nicht stolz auf das, was ich vor 30 Jahren getan habe und zahle jetzt dafür den Preis.
Die, die ich verraten habe, begegnen mir mit Liebe und Verständnis. Ich selbst war dazu nicht fähig.
Das hat mich im Angesicht meines fortgeschrittenen Alters aufgebaut. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, seinen Nächsten zu lieben.
Ich habe es schon deiner Mutter, deiner Schwester und deinem großen Bruder gesagt – und deinem kleinen Bruder hoffentlich auch bald:
Ich bitte dich aus tiefstem Herzen um Verzeihung und hoffe, dass ich es noch wert bin.
Am Abend meines Lebens und an der Schwelle zum Tod, ist es mir wichtig, dir zu sagen, wie sehr ich alles bedaure. Ich wäre so gerne mit meinem Gewissen im Reinen. Vielleicht gelingt mir das in der Zeit, die mir noch bleibt. Damit ich mich endlich wieder im Spiegel ansehen kann.
Genug philosophiert.
Du sollst wissen, dass ich sehr stolz bin auf meine Kinder, ihren vergangenen und noch kommenden Erfolge. Besonders auf dich, meine große Murielle. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du eine Kämpferin bist und dass du es beruflich und privat schaffen wirst.
Das ist wie Balsam auf meiner Seele. Danke dafür und für die wundervollen Enkelkinder. Sie sind bestimmt sehr intelligent. « Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. » Ich freue mich, dass du einen liebevollen Ehemann gefunden hast.
Du hast es verdient. Sei ausgeglichen und glücklich.
Nimm mich nicht als Beispiel – das tut am Ende zu weh.
Ich liebe dich, meine Tochter, und bitte dich noch einmal um Verzeihung.
Dein Vater, 15.9.2008
Wo soll ich anfangen? Wie und wem mit 50 Jahren mein Leben erklären?
Meinem geliebten Mann? Nein. Und zwar genau weil ich ihn liebe und er all meine Marotten in den letzten 20 Jahren ertragen hat.
Meinen Kindern? Auf keinen Fall. Ich liebe sie zu sehr, um sie da mit hineinzuziehen.
Meiner Mutter? Auch nicht. Sie war noch nie sehr einfühlsam - ganz im Gegenteil – und mein ganzes Leben lang abwesend.
Meinem Vater? Ich habe ihn letztendendes nur wenig gekannt. Er verstarb am 3. Januar 2009. Es hat mich etwas Überwindung gekostet, ihn wiederzusehen und nur wegen seiner Krankheit entschied ich mich, ihn wenige Tage vor seinem Tod zu besuchen - 20 Jahre nachdem ich die Brücken zu ihm abgebrochen hatte. Aber eigentlich war er es, der uns verlassen hatte, seine vier Kinder und seine Frau, meine Mutter.
Wie kann ein Vater nur so etwas tun und vier kleinen unschuldigen Kindern solches Leid aufbürden? Sie hatten um all das nicht gebeten.
Vier Kinder gezeichnet fürs Leben, vier Kinder, die gelitten haben.
Mein Vater. Eine lebenslange Wunde.
Diese Wunde, die aus mir gemacht hat, was ich heute bin, mit meiner Mühsal aber auch meiner Kraft.
Wem sollte ich meine Erfahrungen und meine Verletzungen mit meinen 50 Jahren anvertrauen?
Meiner Schwester? Ja. Sie ist meine Vertraute, meine geliebte Freundin. Wir sagen uns das nicht oft, aber wir wissen es beide. Meine Schwester, ich bin stolz auf Dich!
Auch sie ist eine Kämpferin. Sie musste ganz ohne Vater aufwachsen, denn sie war erst 2, als er uns verließ. 2 Jahre alt!
Meinem großen Bruder? Nein. Er wohnt weit entfernt und ist sehr mit sich und seinem Leben beschäftigt. Er lebt in seiner Welt. Aber er ist und bleibt mein Bruder.
Meinem kleinen Bruder? Er ist der am wenigsten Einfühlsame von uns vier. Natürlich hat auch er unter der Abwesenheit gelitten. Darum spielt er nun den Starken und hat sein Herz mit einem Schutzpanzer umgeben. Im Grunde ist er ein Familienmensch, der sich sehr mit Werten und Traditionen verbunden fühlt.
An Personen außerhalb der Familie? Ich habe Freundinnen und Freunde, Bekannte, Kollegen und ehemalige Kollegen. Aber kann man sich in die Lage eines anderen versetzen, wenn man all das nicht selbst durchgemacht hat?
Kann man jemanden mit nur einem Bein verstehen, wenn man selbst noch beide hat? Natürlich kann diese Person laufen, aber die Ausgangsbedingungen sind nicht dieselben.
Freunde? Ja. Ich habe etliche. Aber wer von ihnen wäre in der Lage, mich zu verstehen?
Meine Freundin Petra in Frankfurt? Sie kennt meine Geschichte und sieht mich als eine starke Persönlichkeit...
Meine Freundin Barbara aus Frankfurt... Sie ist sehr verständnisvoll, aber ich will sie mit meiner schweren Vergangenheit nicht belasten. Dazu schätze ich sie viel zu sehr.
Meine Freundin Sophie aus Italien? Ihr Leben ist so ähnlich wie meines verlaufen.
Dani, die Mutter eines Freundes meines Sohns? Ja, ganz bestimmt. Auch ihr Leben gleicht meinem in vielen Punkten. Und sie hat es sich zu ihrem Beruf gemacht, anderen zu helfen und sie wieder aufzurichten. Sie weiß schon lange, dass ich an meinem Buch arbeite. Ein Traum, der nun Wirklichkeit geworden ist. Sie hat mich unglaublich unterstützt und aufgebaut.
Meine Freundin Estelle aus Frankreich? Ja, mit ihr könnte ich über alles reden. Sie kennt mein Leben. Aber sie ist ziemlich behütet in einer intakten Familie aufgewachsen. Darum möchte ich mich ihr nicht anvertrauen.
Meine Brieffreundin, Montserrat aus Spanien? Sie kennt vieles aus meinem Leben, aber nicht die Details. In einer anderen Sprache findet man oft nicht die passenden Worte, um seine Gefühle auszudrücken. Auch Montse ist in einem heilen Familienumfeld groß geworden. Sie hat niemals geheiratet, hat keine Kinder und lebt immer noch in ihrem Geburtsort. Sie ist mit sich selbst zufrieden und hängt sehr an ihrer Familie.
Mein spanischer Freund Pere, den ich 20 Jahre lang aus den Augen verloren hatte und den ich schließlich wiedergefunden habe? Er ist für mich ein ganz besonderer Mensch! Er war mein Brieffreund während der Schulzeit und ich erinnere mich sehr gerne daran. Er war der Grund für meine erste Reise nach Spanien, ein Land, in das ich mich verlieben sollte. Und er war der erste Junge, dem ich meine Liebe schenkte. Jetzt, dreißig Jahre später, liegt eine lange schmerzliche Scheidung hinter ihm. Er wuchs als Einzelkind auf, eng verbundenen mit seiner Familie. Aber auch ihn hat das Leben nicht nur verwöhnt. Seine Scheidung kurz nach der Geburt seiner Tochter hat ihm viel abverlangt und er musste danach wieder auf die Beine kommen.
Ich werde später auf ihn zurückkommen, denn er spielte für mich eine entscheidende Rolle dabei, Gefühle wieder zuzulassen und zu lieben.
Meine Kollegen? Sicherlich. Einigen habe ich mich hier und da anvertraut. Mein ganzes Leben wollte ich dennoch nicht vor ihnen ausbreiten. Sie wissen aber, dass ich dieses Buch schreibe.
Eine Therapie? Hätte ich machen sollen. Doch zu mehr als drei Sitzungen in meiner Kindheit hat es nie gereicht.
Ein Intelligenztest hat damals ergeben, dass ich sehr intelligent sei und « viel Potenzial » besäße. Potenzial. Was bedeutet das schon, wenn niemand da ist, um einen zu stützen und zu begleiten? Wie sieht ein elfjähriges Mädchen ihr Leben, nachdem der Vater weggegangen ist und die depressive Mutter abends nur noch weint?
Wie sieht ein Kind auf ein Leben, das voller Probleme und psychischer Gewalt steckt?
Wie soll es sich der Zukunft stellen, wenn seine Vergangenheit voller Hindernisse ist?
Ein Psychologe kümmerte sich damals um mich, weil meine Hände im Handarbeitskurs zu zitterten begannen. Die Lehrerin beklagte sich bei meiner Mutter, ich sei zu aufgekratzt und einfach unerträglich – ohne zu wissen, was mir zu schaffen machte. Ende der siebziger Jahre war es nicht üblich, über Scheidung offen zu sprechen. Trennungen im gegenseitigen Einvernehmen gab es nicht. Es galt die Schuldfrage.
In der Schule wurden meine Leistungen schlechter. Die meiste Klassen-kameraden wollten mit mir nichts zu tun haben. Das galt sogar für einige Lehrer.
Meine Geschichte ist schmerzhaft, sehr sogar. Aber sie ist auch lehrreich und hat mein Leben ausgesprochen bereichert.
In meinem früheren Leben habe ich oft geweint und hatte das Vertrauen in mich verloren. Ich war auf der Suche nach meiner eigenen Geschichte.
Ich bin wie der Schilfhalm: « Ich beuge mich, aber ich breche nicht ». Ich bin stark.
Die meisten, die ich in meinem Leben getroffen habe, werden in diesem Buch nicht namentlich erwähnt. Davon ausgenommen sind meine Freunde, weil sie mir lieb und teuer sind. Aus ihnen habe ich meine Kraft gezogen zu kämpfen.
Dennoch sind diese namenlosen Personen, die uns in diesem Buch begegnen, ein wichtiger Teil meiner Geschichte. Dafür bin ich ihnen dankbar.
Aus Respekt gebe ich auch meinen Familienmitgliedern keine Namen. Diejenigen, die sich im Zentrum meiner Erzählung befinden, bezeichne ich als Er oder sie
Er hat viele Bedeutungen: mein Vater, Papa, mein Elternteil oder einfach nur mein Erzeuger. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Es hat aus mir die starke Person gemacht, die ich heute bin. Es hat mich geformt und mich gelehrt, nie aufzugeben. Ich bin dankbar für meine Vergangenheit. Die Zeit meiner Kindheit hat mich vieles gelehrt. Und weil sie oft so hart war, schätze ich mein gegenwärtiges Leben umso mehr.
Danke für ein ereignisreiches Leben und vielen Dank, dass ich mich mit Danis Hilfe wieder mit meiner Vergangenheit versöhnen konnte.
Ich kam am 18. September 1965 in Nordfrankreich zur Welt, bin die Zweitälteste von vier Kindern. Mein großer Bruder wurde 1963 geboren, mein kleiner Bruder 1968 und die Jüngste 1974.
Mama stammt aus einer polnischen Einwandererfamilie. Mein Großvater väterlicherseits bezeichnete sich selbst als « gescheiterter Arbeiter aus bürgerlichen Verhältnissen ». Arbeiter, weil seine Eltern welche waren und er als Schweißer sein Geld verdiente, obwohl er - außergewöhnlich für die damalige Zeit - eine abgeschlossene Ausbildung zum Architekten besaß. Mein Großvater hat seinen Vater nie kennengelernt.
Er fiel 1914 im Krieg.
Meine Großmutter mütterlicherseits wuchs auch ohne Vater auf. Er starb, als sie 2 Jahre alt war.
Die Eltern meiner anderen Großmutter ließen sich scheiden – unerhört für diese Epoche. Ihren Vater lernte sie ebenfalls nie kennen.
Die kulturelle Verschiedenheit beider Familien, zwischen Alteingesessenen und polnischen Zuwanderern, ist wichtig und hat unser Leben entscheidend geprägt.
Die Eltern meiner Mutter arbeiteten in den Kohleminen und erwarteten von ihren Kindern, es ihnen gleich zu tun und das Arbeitermilieu nicht zu verlassen.
Mein Großvater väterlicherseits hatte in einem Architekturwettbewerb den ersten Preis gewonnen, seinen Beruf aber nie ausgeübt. Ganz im Gegenteil. Er verdiente Zeit seines Lebens seinen Unterhalt als Schweißer. Seine Frau arbeitete als Köchin in, wie sie sich ausdrückte, « guten Häusern ». An beide habe ich keine sehr positiven Erinnerungen, denn sie stritten sich unentwegt mit meiner polnischen Mémé, die nur wenige Straßen von ihnen entfernt wohnte.
Unser Makel bestand in den Augen meiner französischen Großeltern darin, dass wir polnisches Blut in unseren Adern hatten.
Meiner Mutter begegneten sie nie mit Wertschätzung. Von Anfang an waren sie gegen die Hochzeit mit ihrem Sohn.
Wenn wir die einen Großeltern besuchten, achteten wir immer peinlich darauf, auch bei den anderen vorbei zu schauen, um sie nicht zu verstimmen.
Als ihr Mann 1966 an Gelbsucht starb, wurde Mémé Witwe. Beide waren bereits als junge Menschen nach Frankreich gekommen. Dort hatten sie sich kennengelernt und 1923 geheiratet. Meine Großmutter war zu diesem Zeitpunkt erst 19 Jahre alt.
Ich habe keine Erinnerungen an meinen polnischen Großvater. Man sagt, er sei sehr autoritär und kalt gewesen. Dagegen erinnere ich mich sehr gut an meine polnische Großmutter Mémé, die erst 2005 verstarb. Wir verbrachten eine lange gemeinsame Zeit, voll von Erinnerungen, die nicht immer die besten waren. Ich werde später darauf zurückkommen.
Die Vorgeschichte meiner Eltern ist für das Verständnis sehr wichtig. Besonders die meiner Mémé, die schon in jungen Jahren zur Vollwaise wurde. Als ihr Vater starb, war sie zwei. Mit 9 verlor sie auch noch ihre Mutter. Sie konnte sehr liebevoll sein, aber auch sehr streng. Das liegt vermutlich daran, dass sie ohne Eltern groß wurde. So wuchs sie bei ihrer großen Schwester auf. Beide gingen später nach Frankreich und bei ihr blieb sie, bis zu ihrer Hochzeit im Jahr 1923. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Zwei Jungen und ein Mädchen, meine Mutter.
Die Lieblingsenkel meiner Großmutter Mémé waren eindeutig die Kinder ihrer beiden Söhne. Denn mit ihren Schwiegertöchtern fühlte sie sich herzlich verbunden. Meine Mutter hingegen hatte einen « echten Franzosen » geheiratet. Mein Vater stammte aus einem völlig anderen sozialen und kulturellen Milieu – schlimmer noch, einem französischen. Dafür verabscheute sie ihn und war gegen die Hochzeit mit meiner Mutter.
Wenn meine Cousins und Cousinen bei Mémé zu Besuch waren, überschlug sie sich jedes Mal für sie. Kaum waren sie da, wurden sie von ihr bestürmt und mit Küssen überschüttet. Schließlich waren sie die Kinder ihrer geliebten Söhne.
Zu meiner Mutter hingegen war sie sehr abweisend. Nie empfing sie uns mit derselben Herzlichkeit, wie die anderen. Bei den Eltern meines Vaters sah es nicht besser aus.
Ich erinnere mich noch, als wir an Weihnachten bei ihnen waren, um Pépé und Mamie unsere Wünsche zu überbringen. Meine Cousins hatten gerade ihr Weihnachtsgeschenk bekommen: eine HiFi-Anlage! Welch ein Luxus. Ich erinnere mich auch an unser Geschenk. Mein großer Bruder bekam einen hellbraunen Pullover mit roten Streifen. Mein kleiner Bruder erhielt denselben, nur in dunkelbraun. Für mich gab es kakifarbene Socken. Ich weiß noch genau, wie rau und kratzig sie waren.
Dennoch erinnere ich mich gerne an viele besondere Momente vor 1972. Die Geburt meines kleinen Bruders, den ersten « Ausflug » meines großen Bruders mit dem Fahrrad, der jäh auf dem Bürgersteig endete, woraufhin er an der Augenbraue genäht werden musste.
Ich erinnere mich an die Mäuse, die in unserer Wohnung herumliefen und die wir mit « Tim und Struppi »-Heften erschlugen, weil deren Einband dafür die nötige Stabilität besaß.
Ich denke an die Einkäufe im Supermarkt und die ersten großen Vollmilch-Nuss Schokoladentafeln, die wie Samstagabend kauften.
Und dann gab es da noch wundervolle Momente im Kindergarten und in der Grundschule, wo ich tolle Kameraden fand.
Es gab in meiner Schulzeit viele frohe, unbeschwerte Augenblicke. Ich war eine sehr gute Schülerin, die viele « Pluspunkte» sammelte, war aufgeschlossen und ausgeglichen. Gleichwohl war ich auch ein Plappermaul.
Ich weiß noch wie mir meine Mutter eines Nachmittags im Bad die Haare kämmte und mir leicht genervt « androhte », mir ein Bündel zu schnüren und mich von zu Hause wegzuschicken. Sie nahm einen Stock, ein Tuch und wickelte Kleidungsstücke darin ein.
Meine Mutter war an diesem Tag bestimmt sehr müde. Es erging ihr oft so, auch wenn sie das abgestritten hätte.
Ich war jedenfalls äußerst schockiert von dieser Aktion, zu der sie sich hatte hinreißen lassen. Wo sollte ich nur hingehen? Wo würde ich schlafen?
Ich erinnere mich an den Unfall meines kleinen Bruders, bei dem er sich ernsthaft an der Hand verletzte. Und wie sich meine Mutter mit uns dreien an diesem Nachmittag auf die Suche nach einem Arzt machte, um die Wunde nähen zu lassen.
Vor allem aber sind mir die Leere und das Fehlen meines Vaters im Gedächtnis geblieben. So manchen Abend warteten meine Mutter und ich, aufgestützt auf die Fensterbank, dass mein Vater endlich von der Arbeit heimkommt. Oft kam er spät nach Hause. Oft gab er vor, er habe eine Motorpanne oder kein Benzin mehr gehabt.
Einmal hat er sogar behauptet, er habe das Auto eigenhändig nach Hause geschoben, weil der Tank leer gewesen sei. Meine Mutter glaubte ihm.
Ich erinnere mich nur sehr vage an unseren gemeinsamen Urlaub in der Normandie. War mein Vater damals wirklich bei uns? Ich kann es nicht mehr sagen. Meine Mutter hat mir erzählt, er habe seine Tage zusammen mit anderen Urlaubern beim Pétanque-Spielen verbracht, während Mama und wir allein am Strand waren.
Ich weiß noch ganz genau, wie mein Vater meinen großen Bruder vor den Fernseher setzte und ihm sagte: « Auf, mach dich schlau und lerne. Für Murielle ist das nicht wichtig. Sie ist ja nur ein Mädchen. Sie muss nicht lernen, denn sie wird später einen reichen Mann heiraten. »
Dann gab es noch diesen Nachbarn, von dem ich meine Phobie gegen Spinnen habe. Er machte sich einen Spaß daraus, sie mit seinem Fahrrad zu zerquetschen.
An eines erinnere mich noch genau: wie mein Vater, ein großer Fan klassischer Musik, sonntags Beethoven hörte. Und an ein Picknick mit der Familie im Wald, zusammen mit unserem Nachbarn, mit dabei unser Dalmatiner Jupiter.
Habe ich etwa absichtlich die schönen Momente meiner frühen Kindheit verdrängt?
Wenn ich meiner Mutter Glauben schenke, ist dem nicht so. Denn mein Vater war von Anfang an in meinem Leben überhaupt nicht präsent.
Schließlich, an dem Tag, als dieses junge Mädchen in unser Haus kam, änderte sich alles. Unser Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.
Es war Nachmittag. Die Schule war aus. Frühlingszeit.
Sie war 17 und mein Vater hatte sie in unser Haus geholt, damit Sie Mama zur Hand gehen und entlasten könnte.
Aber auch, weil sie in ihrem eigenen Zuhause sehr unglücklich gewesen war und oft von ihrer Mutter geschlagen wurde. Damals arbeitete mein Vater bei einer Versicherung. Den Job hatte ihm sein Bruder verschafft, der ihm versicherte, dass man da « viel Geld » verdienen und bald sehr reich werden kann. Ich erinnere mich noch genau. An dem Tag, als sie zu uns kam, trug sie einen terracottafarbenen Pullover, eine lange grüne Weste und einen extra kurzen Minirock. Auf den ersten Blick wirkte Sie sehr schüchtern. Mit ihren langen schwarzen Haaren und ihren grünen Augen gab sie ein sehr beeindruckendes Bild ab. Ich sah in ihr gleich nicht nur den Babysitter, sondern die große Schwester, die ich nie hatte.
Ihre Aufgabe war es, sich um uns zu kümmern (mein großer Bruder war 9, ich 7 und der kleine 4) und sehr schnell fühlten wir uns mit Ihr eng verbunden, mit diesem Mädchen, das offensichtlich einen sehr starken, dominanten Charakter besaß.