Verloren im Paradies - Elmar Faber - E-Book

Verloren im Paradies E-Book

Elmar Faber

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Beschreibung

Deutsche Literatur- und Verlagsgeschichte Vom Nachklang der Weimarer Republik bis in die Jetztzeit -- Der Lebensbericht eines herausragenden deutschen Verlegers erfasst mit immer auch politischem Blick einen dramatischen Abschnitt deutscher Geschichte. Elmar Faber zieht Bilanz: Ein verwechselbarer Blick auf fast ein dreiviertel Jahrhundert deutscher Geistesgeschichte. Ein Leben zwischen den Untergängen könnte man die Erinnerungen des deutsch-deutschen Verlegers Elmar Faber nennen: von den Trümmern Weimars über den Zusammenbruch 1945 bis zum Ende der DDR 1990. Doch hier wird nichts betrauert, sondern mit luzider Heiterkeit über ein immer auch politisches Leben berichtet, das sich nie irgendeiner allgemein verbreiteten Meinung andiente. Sein Engagement galt den Autoren der DDR – die meisten kannte er persönlich, viele verlegte er selbst bis vor wenigen Jahren, darunter Christoph Hein, Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Wolfgang Hilbig, Heiner Müller. Seine Autobiographie fügt sich in die Reihe der Memoiren von Hans Mayer bis Marcel Reich-Ranicki – sie vervollständigt den Blick auf deutsches Kulturleben der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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ELMAR FABER

Verloren im Paradies

EIN VERLEGERLEBEN

Impressum

ISBN 978-3-8412-0741-8

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2014

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2014 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, Hamburg

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

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Impressum

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Quellennachweis

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»Dorf am Abgrund. Ein Dokument deutscher Not aus dem Jahre 1932«, so betitelte der Weltspiegel der New York Times am 9.Oktober1932 in einem Thüringer Sonderbericht ein Panorama des Elends in dem kleinen Glasbläser- und Waldarbeiterdorf Deesbach im Thüringer Wald. Bilder zeigten einen »Marsch des Elends«, Ährenleserinnen mit ihren kärglichen Tageserträgen, den Gemeindevorsteher bei der Ausgabe von Bettelscheinen, eine Mutter von 23Jahren, die wie fünfzig aussah, tief zerfurcht im Gesicht und voller Angst vor dem kommenden Winter.

In dieses Dorf wurde ich hineingeboren, am Ostersonntag 1934, als die Nazis die Not umgestülpt hatten in eine Verheißung, die Bettler jetzt Straßen bauten, die Mütter nun »deutsche Mütter« hießen und in einem Gefängnis am Nordrand des Thüringer Schiefergebirges meine Großmutter für ein paar Wochen einsaß. Es hieß, sie hätte ein loses Maul gehabt und sie hätte an ein Fabriktor eine fatale Losung gepinselt.

Vieles habe ich seitdem von der Welt gesehen. Ich bestaunte die Große Chinesische Mauer und den Eiffelturm in Paris, spazierte über die Golden Gate Bridge in San Francisco, der Kreml in Moskau erinnerte mich an die Macht der russischen Großfürsten und Zaren, ich durchstreifte die ukrainischen Birkenwälder, die Heidel- und Preiselbeerhänge Mittelschwedens, badete im Schwarzen Meer, überflog das kanadische Felsengebirge, ich hörte die Glocken des Petersdoms schlagen und die Rufe der Muezzins verhallen, ich bin über die Katalaunischen Felder gelaufen und über die dürren Grassteppen der ungarischen Puszta. Ich habe in den traumhaften Fjorden Norwegens gekreuzt. Mein Gott, die Welt war schön, aber was konnte sie aufwiegen gegen diesen winzigen Punkt der Erde, in dem mein ganzes Leben steckte, dieses kleine Dorf im Thüringer Wald, das in den letzten Hungerjahren der Weimarer Republik am Abgrund gestanden hatte.

In großen Kolonnen zogen Wolken über das Land, türmten Berge auf, schnöselige Hügel zuerst, dann ganze Felsenketten. Ein schlechtgelaunter Wind zerzauste die kunstvollen Bauwerke, zerfetzte Fassaden, Erker und Mansarden, schlug Krater in die porösen Schlösser aus Wasser und Eis. Der Regen zertrümmerte die Schwüle, zerstampfte sie zu kühlen Temperaturen. Wie Kristalle schlugen die Tropfen auf Dächer und Pflaster. Von den Berghängen rauschten die Wasser ins Tal. In den Mulden gurgelte und brodelte es wie in Hexenkesseln. Am Glasbläsertisch donnerte Großvater eine wetterharte Ballade in die Flamme, daß einem Hören und Sehen verging, als Gleichnis für Wasser, Wellen, Geister und Gespenster und bekundete damit seine Teilhabe an der verrückten Welt.

So war es immer. Für jedes Wetter, jede Jahreszeit, jedes sich wandelnde Bild der Natur hatten die Alten, Großvater und Großmutter, die Strophe eines Gedichtes in den Schubladen ihres Gedächtnisses, das sich fortpflanzte auf die folgende Generation und wieder Samen legte ins jüngste, ins kommende Geschlecht. Vom »Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte« über »Es wallt das Korn weit in die Runde und wie ein Meer dehnt es sich aus« oder »Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt« sprangen die meist romantischen Verse bis in den Herbst und den Winter, bis zum »Herbsttag, wie ich keinen sah«, bis zu Knecht Ruprecht und dem Lied, hinterm Ofen zu singen: »Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer«. Eingebettet alles in einen Strom von poetischen Bildern, die abgerufen wurden, wenn es an der Zeit oder wenn Not am Manne war, und die den heranwachsenden Knaben erstaunten, ins Grübeln brachten oder Angst einflößten, so daß er sich lange an der Schürze der Großmutter festhielt, wenn ein Gewitter heranzog oder aus dem Talkessel nicht herauskam, weil er an das schauerliche Geschehen denken mußte von »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind«, die dort alle vom Blitz niedergestreckt werden.

Es war die Großmutter, die den Kindern, den Enkeln, die Lichter aufsteckte. In den Wintermonaten, wenn die Dämmerung hereinbrach, schichtete sie einen Stapel Bücher, Kalender und Familienblätter hin und her und las Geschichten vor. Aus Grimms Märchen, den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, Reisenotizen von Sven Hedin und Karl May, Wirkliches und Erfundenes dieser und anderer Globetrotter, Protziges aus der Thüringer Sagenwelt, Schauergeschichten von Goethes Schwager Vulpius, dem Erfinder des Räuberhauptmanns Rinaldo Rinaldini. Wir lauschten den Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel mit dem leicht erhobenen christlichen Zeigefinger. Die Fabeln von Lafontaine dagegen hatten eine eiserne Moral. Verzückt beugten wir uns über Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder, von dem einige Bände auf nicht aufklärbare Weise in den Glasbläserhaushalt gelangt waren. Auf elysischen Streifzügen wanderten wir damit durch die Kontinente. Die Kinderenzyklopädie der Goethezeit, wahrscheinlich ein Unikum der Bücherwelt jener Tage, sammelte alles Wissenswerte über Mensch, Getier und Pflanzenwelt und beflügelte unsere Phantasie.

Die Bücher- und Blättersammlung der Großmutter war keine erlesene Bibliothek. Die gebundenen Bücher hielt ein einziges Regal zusammen, unsortiert, in einem Raum des langgestreckten Schieferhauses, der »die Vorratskammer« hieß. Eigentümlich war es, daß man die bedruckten Papiere streng auseinanderhielt. Im Regal die Festeinbände. Das war »die Dichtung«, sagte Großmutter. Das andere, die Hefte, Kalender, die alten Zeitungen und Zeitschriften, hieß »der Papierkram«. Der wurde zusammengerollt und mit Stoffbändern zusammengeschnürt. Diese Bündel kamen in ein Holzfaß, wie zu Gutenbergs Zeiten, als die ungebundenen Bücherlagen in Holzfässern auf die Jahrmärkte und Warenmessen transportiert wurden. Es hat Jahre gegeben, wo neben dem Papierfaß ein Faß mit Geselchtem stand, ein Faß mit Gurken oder Sauerkraut. Vorratskammer eben, Lebensnotwendiges. Vornehm war das nicht, aber fürsorglich. Nobel behandelt im Haus wurden nur die Bibel, von Luther übersetzt, der Katechismus, das kirchliche Gesangbuch, vor allem aber die Kräuterbücher und Rezeptsammlungen aus alter Zeit. Die standen in der guten Stube in einer kleinen Vitrine oder auf dem Spiegeltisch neben dem Kanapee. Diese Bücher waren ein Vermächtnis, und so wurden sie auch behandelt, als Solitäre. Als Kind durfte man sie nur unter Aufsicht anfassen. Sie waren Erbstücke des Urgroßvaters, eines Zimmermanns, der in den langen arbeitslosen Wintermonaten sein Handwerk vertauschte und sich als dilettierender, aber beschlagener Heilkundler einen Namen machte. Er konnte Erstickte wieder zum Leben erwecken, Erfrorene mit ausgeklügelten Abreibungen vor Amputationen bewahren. Er kannte die Geheimnisse der Pflanzen, den Zauber der Kräuter, die Wunderwirkung der Tees und die Giftküchen in der Natur. Er konnte Liköre und Arrake und andere Getränke aus ätherischen Ölen und Essenzen herstellen. Ein wundersamer Mann, dem freilich einmal ein Malheur passierte, als ihm ein paar Tollkirschen in einen Schlehenwein hineingerieten und die stillen Zecher fast daran krepiert wären. Jedenfalls warf dieser Urgroßvater lange Schatten in mein Elternhaus, so daß nicht nur sein Büchervermächtnis auf feinen Borden stand, sondern auch die Pflanzen- und Kräuterliebe sich in Generationen fortpflanzte wie ein heiliges Feuer. Die Apotheke der Natur überträfe alle Weisheit der Menschen, zitierte man den alten Paracelsus, wenn Zweifel an der Naturheilkunst aus dem Felde zu schlagen waren. Kräuter-Else sagte man zu meiner Mutter in ihren letzten Lebensjahren, und sie fühlte sich durch den Spitznamen geehrt. So wäre es meinem Großvater auch nie in den Sinn gekommen, in der schlimmen Zeit nach 1945 die Kräuter- und Essenzenbücher zu verscherbeln. Da hätte er sich eher die Finger abhacken lassen. Von dem Bücherregal in der Vorratskammer nahm er allerdings die besten Stücke weg, verstaute sie in einer Spankiepe, schleppte sie im harten Winter 1946/47 über die Thüringer Berge hinweg in ein Großbauerndorf nahe Großkochberg und machte daraus Mehl und Butter. Frau von Stein, die einst in dem kleinen Wasserschloß in Großkochberg residierte, hätte sich im Grabe umgedreht, wenn sie von dem Geschäft erfahren hätte, zumal sich auch die Bände von Bertuchs Bilderbuch für Kinder unter der Tauschware versteckt hatten. Bertuch war ja der Beaumarchais der Goethezeit, ein Tausendsassa, der, allen Freuden aufgeschlossen, als Unternehmer ein wohltätiger Mann war und Goethes spätere richtige Frau, Christiane Vulpius, ein »Mädchen der mittleren Klassen«, durch die Herstellung künstlicher Blumen ernährte. Mit dem Verlust ging für mich ein Stück Kindheit zu Ende. Es war, als hätte mir jemand das Schaukelpferd geraubt.

Großvater konnte ich nicht böse sein. Er hatte an Vaters statt die ersten bewußten Jahre meines jungen Lebens begleitet, hatte mich durch die Thüringer Wälder geschleppt, Blüten und Blätter erklärt, Schnecken, Schlangen und Käfer bezeichnet, den Gesang der Vögel ihren Verursachern zugeordnet, die Wolkenbahnen beschrieben, Sternbilder entschlüsselt. Er hatte meine ersten Schneeschuhe gebaut, meine lecken Schuhe mit Holzstiften besohlt, Bucheckern für die weihnachtlichen Pfefferkuchen gesammelt, die Osterlämmchen ans Licht geholt, die Pfingststräuße gebunden und die Haustür damit geschmückt. Großvater konnte nicht böse sein, auch wenn er den Bertuch verscherbelt hatte. Mit seinen lachenden Augen, dem gezwirbelten Schnurrbart, dem Kautabak in der Kinnbacke, den bunten Hosenträgern im Gewand. Er hatte Wespennester mit mir gestürmt, der Kreuzotter den Kopf abgeschlagen, wenn sie mir zu nahe kam, beim Tieffliegerangriff mich in die Ackerfurche gedrückt und mich mit seinem Körper geschützt. Großvater war voller Schalk, wenn er die Großmutter neckte. Er hatte Wörter und Namen auf Lager, die ich noch nie gehört hatte. Zur Preiselbeere sagte er Helperl, zum Schneider Beinschläger, zum Schuster Schuhknecht. Teufelsakramenthimmelhoch, sagte er, wenn ihm der Blasebalg ausging, weil die Gasanstalt seiner Meinung nach zu dünnes Gas in die Rohre blies.

Meinem Vater, der im Krieg war, war er nicht grün. Er nannte ihn einen Hallodri. In einer einzigen Ballnacht hatte der meiner Mutter den Kopf so verdreht, daß sie nicht wieder von ihm loskam. In Knickerbockern, einem grellgelben Sakko und einer Schirmmütze, die einem Modejournal entnommen schien, hatte er die Eroberung gemacht und war bald darauf mit einer knatternden Maschine durch die Dorfstraßen gebraust. Nachdem er am Glasbläserhaus angehalten, erzählten die Beobachter, hätte er sich eine dicke Zigarre zwischen die Zähne geklemmt und wäre wie ein Baron die Treppe zum Schieferhaus hinaufgestiegen. Der Kaufmann, der in Nürnberg gelernt hatte, war aus seiner Firma ausgerissen, weil er dem stürmischen Verlangen der alternden Patronin entweichen wollte, so sein Bericht, und schnurstracks in den Armen meiner Mutter gelandet, mit der er, seinen Auskünften nach, ein eigenes Kaufmannsgeschlecht begründen wollte. Mein Großvater war nicht verstimmt über das forsche Auftreten des fränkischen Eindringlings, aber wie er nach der Hochzeit meine Mutter zu seiner Dienerin machte, das erboste ihn zusehends. Das Glasbläserhaus hatte Platz für zwei Familien, aber wie mein Vater die freizügige Lokalität in kurzer Zeit umstülpte in einen Warenbasar, in dem man über mannigfaltige Produkte aus den sogenannten Kolonien, Schokoladen- und Bonbonkisten, Zigaretten- und Tabakbehältnisse, Eimer, Büchsen, Warenkoffer und -kästen, hinwegstolperte, das ist bedrückend gewesen, auch wenn er fortlaufend erklärte, er würde schon bald für geeignete Räumlichkeiten sorgen, die den kulinarischen Allerweltskram aufnähmen. Mein Vater hatte selbst keinen Knopf in der Tasche. Er war auf Zuschüsse beider Großeltern und meiner Mutter angewiesen, um seinen Traum vom Südthüringer Großkaufmann zu realisieren, seine Idee vom Engroshändler eines ganzen Landstrichs aufzublasen zu einem bunten Luftballon, der durch die Landschaft segelte und seinen Namen zu den Kunden trug, in Läden, Cafés, Restaurants, Wirtshäuser groß und klein. Was Vater verstand, war parlieren. Auf einen soliden Hausstand im Schieferhaus gegründet, auf verläßliche Heimarbeit, Sparsamkeit, Häuslerwirtschaft mit sechs Morgen Land in Wald und Flur, hatte er sich bald durch blendendes Aussehen und geschulte Konversation bis an die Stammtische der Wohlhabenden emporgearbeitet. Zustatten gekommen sein mußte ihm dabei eine Art Kompagnonschaft mit einem Schnapshersteller, dessen Magenbitter später zum Markenzeichen eines ganzen Wirtschaftswunderlandes werden sollte, der aber zu Vaters Zeiten im verwinkeltenThüringer Bergland noch nichts anderes hatte als eine kleine Schnapsbude. Vater –hochtrabend– ihr Generalvertreter.

Bevor sein Aufstieg perfekt war, bevor sein Firmenschildden ersten Rost ansetzte, war der Traum vorbei, der Friede auch. Mein Vater zog die Knobelbecher an, um fremde Erde festzutrampeln. Ich war inzwischen sechs, übte das Einmaleins, kratzte mit dem Schieferstift die ersten Buchstaben ins schwarze Tafelgerüst und übte Sütterlin, eine steile, rundgeschliffene Schreibschrift, die ein Berliner Graphiker Anfang des Jahrhunderts für die preußischen Grundschulen entwickelt hatte. Mein erster Lehrer, Dr. Dornheim, ein breiter Hüne, Stachelkopf, schlug mit dem Lineal auf die Finger, wenn wir später, als wir schon die Feder benutzten, Tintenkleckse in die Hefte gespritzt hatten. Mir zog er einmal die Samthosen stramm und zischte mir mit einer Haselrute zwölf Schläge auf den straffen Hintern, weil ich mit einem Blaserohr, gefüllt mit grünen Ebereschenbeeren, eine Dorfschöne beschossen hatte und es herausgekommen war, daß ich der Täter sein mußte, versteckt in einer Feuerluke unseres Hausanbaus. Berüchtigt waren Dr. Dornheims Nasenkrabbel und Kehlkopfkitzel. Wenn die Nasenspitze zwischen seine kräftigen Bauernfinger oder die dünne Haut am Kehlkopf in seine militanten Hände geriet, dann hörte man rasch die Engel pfeifen oder wünschte sich, ein Mann mit einer Wunderlampe zu sein, der den Gewalttäter aufs Schafott führen konnte. Im nächsten Augenblick war Dr. Dornheim wieder gütig und fromm, und nur einer in der Klasse hatte sich richtig über ihn zu beklagen, ein kleiner, untersetzter Bursche mit stetiger Rotznase, der einem einzigen Diktat neben ein paar richtigen Buchstaben sechsundsechzig Fehler einverleibt hatte. Mit diesem ars delicti, hoch über seinem roten Kopf wie zum Fanal erhoben, rannte Dr. Dornheim wie ein Spießrutenläufer durch das Klassenzimmer und klagte den verkommenen Rotzlöffel an, der in einer deutschen Schule nichts zu suchen hätte. Das Zerwürfnis war nachhaltig, es bekam eine Art Ewigkeitswert. Der stolze Dr.Dornheim mußte das Diktat als eigene Schmach empfunden haben, als Niederlage seiner Lehrmethoden, nicht als Ausfluß einer grandiosen Dummheit, deren Mutter die Faulheit war.

Die Dorfschule war ein landschaftsarchitektonisch fein angepaßter, schöner Zweckbau aus dem laufenden Jahrhundert mit zwei hoch hinausstrebenden großen Erkern, die als Wohnungen für die Lehrerschaft ausgeschrieben waren. Im Parterre zwei große Klassenzimmer, eins für die unteren, eins für die oberen Klassen, dazwischen Verwaltung und Schulbibliothek. Häufig Zweiklassenunterricht, manchmal mehr Klassen, in einem Raum. Dorfschule. Das Nötigste für Lesen, Schreiben, Rechnen. Bildungsfern. Herzens- und Charakterbildung aber möglich. Fleißig und tapfer sein. Sparsam. Und eigensinnig wie die germanischen Stämme aus den ältesten Zeiten einer sagenumwobenen Thüringer Geschichte.

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Das Dorf hat die steilste Dorfstraße Deutschlands. Steigung4:1. Eingeklemmt in die Kerbe eines Gebirgsspalts, liegt es da wie ein erschöpfter Riese. Ein straffer Körper mit Kopf, Armen, Beinen. Wachstum ausgeschlossen und unerwünscht. In guten Zeiten eintausend Einwohner. Heute etwa dreihundertfünfzig. Berge und Wald ringsum. Wild- und Vogelstimmen. Das Knarren und Ächzen der Fichten und Buchen. Der Klang gurgelnder Quellen, das Plätschern der Bergbäche. Der Ruf des Eichelhähers. Die Vorbrutgesänge des Zeisigs, des Hänflings, des Distelfinks. Auf den Bergwiesen die Arnika, der Augentrost, das Eisenkraut. Wilder Lavendel, hingestreut im Kräutergarten als blauviolette Tupfer. Wilder Kümmel, ein Geruch wie Vaterland. Im Tal das Veilchen, die Schlüsselblume, der Wasserpfeffer, die großen Farne. Im Herbst die strahlenden Früchte des Rotdorns, die blausamtigen Kugeln der Schlehe. Haselnüsse, so groß wie Augäpfel, in mageren Jahren klein wie Pfefferkörner. Heidelbeeren, Preiselbeeren, Brombeeren, Schlemmerzeit unter freiem Himmel. In den Gärten der frische Salat, die Zuckererbse, die Schwarze Johannisbeere, Himbeerhecken wie Burgen, wie Höhlen, die Knorpelkirschen und die Stare, die alten Apfel- und Birnensorten voller Sonne und Süße, wo sind sie geblieben? Die Getreidemahd, die Kartoffelfeuer im Herbst, die Schreie der Schneegänse am Himmel, die Abschiedslaute der Schwalben, die Mistfuhren auf das zu umbrechende Ackerland.

In den elysischen Gärten der Natur wandelte ich als Kind vom Frühling bis in den Herbst, und wenn der Winter einbrach in das beschenkte Land, die Stimmen verstummten, die Düfte versiegten, die Schlote zu rauchen begannen, dann wurde man hineingeworfen in ein neues Abenteuer, den Schnee. Der höchste Punkt des Dorfes lag 800m über dem Meeresspiegel, schneesicher, meist rauh und stürmisch bei Tag und Nacht, Ausgangspunkt verwegenster Rodelpartien, Nahtstelle zum nächsten Ortsgelände, Kreuzweg, den die Alten gern als Teufelstreff und Hexentanzplatz beschrieben. Dort oben konnte man im Winter einbrechen in meterhohe Schneewehen, lebensbedrohlich, wenn man nicht aufpaßte. Geschichten über Verdruß und Rettung gab es genug. Die kindliche Phantasie tat ihre Bilder dazu, und schon landete man in den augenblendenden Eis- und Schneepalästen der Märchenwelt und fand den Ausgang erst wieder, wenn man aus den bedrückenden Träumen erwachte und schwer atmend die Mutter um Beistand rief.

Das Dorf, die Kindheit. Sonnenland. Leicht übersieht man die Schattenseiten, verdrängt die gruseligen Erlebnisse, verbannt Böses und Schlechtes in die Geheimkammern der Erinnerung. Den schaudererregenden Ruf des Käuzchens in der Nacht, den Widerschein der Haus- und Straßenlampen des einen Straßenarms auf der Nordseite des Tals in den Denkmälern des Friedhofs im Straßenarm auf der Südseite, so daß beim nächtlichen Laufen von der einen Dorfseite zur anderen auf dem Friedhof die Spiegelungen wie Irrlichter herumhüpften. Überirdisches vermutete man erschrocken und dachte an die Verlockungen von Irrlichtern in wohnnahen Sümpfen, auch nichts anderes als sich spiegelnde Lichtpunkte in kleinen Wasserlachen, die manchem Neugierigen das Leben kosteten, wie es Großmutter aus Geschichten von Theodor Storm oder anderen Erzählern belegte. Einmal hatte sich einer erhängt. Liebeskummer, hieß es. Wir Kinder verstanden zu wenig davon. Zwei Mörder sollten in Königsee hingerichtet worden sein. Männer aus Deesbach. Es war unglaublich. Mit Drahtseilen den Kameraden erdrosselt? Mehr war nicht herauszukriegen. Einer im Dorf wackelte immer mit dem Kopf, ein anderer mit den Beinen. Das Zipperlein, sagten die Leute, und böse Kinder verspotteten sie. Einem Buckligen riet man, seinen Buckel doch lieber unter dem Arm zu tragen, worauf der dem Spötter einen Fußtritt verpaßte, als wäre es ein Hufschlag. Wochenlang schleppte sich der Bestrafte mit einer Krücke durchs Dorf, woraufhin man ihm riet, ob es nicht besser wäre, wenn er auf Stelzen ginge. Wieder eine Tücke der Bosheit. In der Kopfzeile des Dorfes, in Umkehrung gewohnter Muster, nistete die Armut. Dort standen die Häuser wie auf luftigem Boden und drohten in den Dorfbach zu stürzen. In einer selbstgezimmerten Hütte mit Balken aus schwankenden Holzstämmchen wohnte eine arbeitslose Familie und kämpfte gegen die Tuberkulose, die am besten, behauptete man, mit Hundefett abzuwehren sei. Wenn ein Hund nicht heimkehrte, und das geschah öfters, mußte der Hundefänger naturgemäß ein Tuberkulöser sein. Krankheit und Verleumdung gingen Hand in Hand. Ein schreckliches Paar. Ausgleichende Gerechtigkeit bestand vielleicht darin, daß die Krankheit, aus mysteriösen Gründen, auch um die noblen Familien keinen Bogen machte, aber die hatten ja glücklicherweise auch die Flinten. Auf die Logik kam niemand.

Das Dorf, durch Naturbett und Ansiedlung zerklüftet in Körper, Kopf, Arme und Beine, hatte seine Straßennamen, die wenigen, die es gab, sinnstiftend nach praktischen Erfahrungen ausgesucht. Die Treibe war das Dorfstück, wo das Vieh auf die Weide hinausgetrieben wurde. Die Wagengasse war der Teil, wo die meisten Wagen, Leiterwagen, Kuh- und Pferdegespanne, auf- und abwärts fuhren. »Vorneraus« hieß ein Straßenzug, der in die Felder und auf anderem Wege als über die Treibe ins nächste Dorf führte, in das mit dem bedenklich schiefen Kirchturm, der ein ganzes Kirchspiel von insgesamt fünf Dörfern um sich raffte. Ich behaupte, daß nicht einmal der Postbote den richtigen Namen dieser wichtigen Ausfallstraße kannte. Er ging auch immer bloß »vorneraus«. Dann gab es die Friedhofsstraße, das Untere Dorf und Neu-Deesbach, den Unterschenkel, der einem Dorfbein erst viel später zuoperiert worden war. Das Dorf lebte vom Wald und von Heimarbeit. Holzfäller, Pflanzer, Harzschürfer, in älterer Zeit Köhler, Glasbläser, Porzellanmaler beherrschten das gewerbliche Terrain. Die wenigen Manufakturen, den Steigungswinkeln geschuldet, hatten sich einen Platz im Ortskern und in den ebeneren Dorfarmen gesucht. Sie mußten ihre Produkte ja einigermaßen sturzsicher abtransportieren können. Viel war es ohnehin nicht, was das Dorf verließ. Bemaltes Porzellan, Thermosflaschen, Glühlampen, medizinische Apparate aus Glas und ein bißchen Firlefanz: Glasperlen, kleine Schmuckpilzchen, Tierfiguren für Vitrinen und Vertikos, die in Mengen abgezählt wurden, die uns nicht mehr geläufig sind: eine Mandel, ein Gros, ein Schock, ungeläufig längst wie ein Scheffel Salz. Bemaltes Porzellan mit Veduten vieler Landstriche und manch medizinischer Apparat gingen freilich in alle Welt, bis Argentinien und Brasilien, und machten Herz und Rede ihrer Erzeuger weit und stolz. Mitten im Dorf gab es eine kleine Pappfabrik, mehr eine Art Pappsalon, in den unteren Räumen des Wohnhauses von Pappkerns Marie, ein Paradies für Entdeckungen. Der Papierkram, den man dort sammeln konnte, öffnete das Tor zur Welt. Vor allem die Makulaturen, die verklebt wurden, brachten Nachricht von den kuriosesten Erscheinungen des Erdballs, und was man lesend noch nicht verstand, setzten Bilder ins rechte Licht. Es war, als wenn man im Knopfkasten der Mutter stöberte, ein Gefühl, als könnte esjeden Moment eine neue Überraschung geben. Der Aufenthalt bei Pappkerns Marie war wie ein Lichtabend im Bekannten- und Verwandtenkreis, wenn die ewig plaudernden und plappernden Mütter an langen verschneitenWinterabenden zusammensaßen und Neuigkeiten austauschten, Kalenderwissen und Familienblätterweisheiten, über andere Leute herfielen, ihren Kummer, ihre Nöte ausspuckten, ihre Freuden und Neigungen kundtaten und wir Kinder in den dunkleren Ecken saßen und lauschten wie die Heftelmacher auf die Nachrichten von Gott und der Welt.

Durch die Räume der Pappfabrik wehte der Duft von Leim und Papier und wurde in Schachteln und Schächtelchen, Dosen und Döschen eingesperrt, die –nur ungern sage ich es– »allerliebst« zu nennen waren, und zum Liebesdienst waren die meisten davon auch bestimmt mit ihren glänzenden und matten Papieren, den Blumen- und Vogelmotiven, den Kinderspielen, den Osterhasen und Weihnachtsbäumen. Die größeren Behältnisse waren auch beeindruckend und mitunter verblüffend ineinanderzuschachteln, so daß das Maß, das genaue Maß, eine besondere Bedeutung erhielt. Was sich bei Pappkerns Marie herstellte, war ein Gefühl von Schönheit, welches das schwebend-leichte Material auslöste, das befaserte, zurechtgeschnittene Papier und der fertige Karton, die Form, die es umhüllte. Es war wie Zauberkunst, was Hände und Maschine aus Lagen, Rollen und dicken Papppaketen herausholen konnten an Anmut und Frische. Ich bin mir ziemlich sicher, daß mir in diesem Pappsalon etwas eingehaucht wurde, was mich nicht wieder losließ und was zusammen mit Großmutters Vorlesestunden als eine Art Initialzündung für meine spätere Profession betrachtet werden konnte. Die Prägungen des Menschen finden in seiner frühen Biographie statt.

Ich hatte inzwischen die Dorfschule in Deesbach verlassen und war ab Klasse fünf in eine Einrichtung eingekehrt, die einen bedeutenden Namen trug, in die Friedrich-Fröbel-Oberschule in Oberweißbach. Der Schultyp hieß damals Hauptschule. Die Nazizeit verband damit andere Begriffsinhalte als heute, worüber wir Schüler nicht nachdachten. Wichtig war, daß man einem Schülerclub angehörte, der sich auf einen Mann berief, der hier geboren war und die Welt verändert hatte. Friedrich Fröbel, der Initiator der Vorschulerziehung, war ein Experimentator, und ich war schon, sporadisch, in einen seiner Kindergärten gegangen, ein Haus, meine ich, das nach seinen Erziehungsmethoden arbeitete, so daß es mir folgerichtig vorkam, daß ich nun auch in eine Schule ging, die nach ihm benannt war, und zwar meist an der Hand oder im Schatten eines baumlangen Kerls, der drei oder vier Klassen älter war und mir Beine machte auf dem beschwerlichen Schulweg über den großen Berg hinweg.

Der Berg, kein Koloß im Thüringer Schiefergebirge, aber ein mächtiger Bordstein, der Wetter und Mundarten trennte, warum war er zwischen Elternhaus und Schule gesetzt? Wollte er das Herz und die Muskeln kräftigen, wollte er entzweien oder verbinden, wollte er etwas verbergen? Wenn man oben stand, leuchtete die Ferne, unten sah man in ein schwarzes Loch, in Wälder, die noch vor ein paar hundert Jahren der Wildnis glichen, undurchdringlichem Dickicht, Bewaldungsurformen, unter denen Eisenerze, Uran und Schiefer längst fertig waren, andere Metalle und Gesteine noch auf Vollendung warteten! Wer wußte es, der liebe Gott, der Pfarrer, der Führer oder das Vaterland oder gar Dr. Stadelmann, der feinsinnige, sanfte Lehrer in Chemie, der die Welt belächelte und die Prozesse, die er beschrieb, für nicht zu widerlegen hielt? Das erste Mal im Leben spürte ich, daß ich einem Lehrer zugehörig war, ein Schüler, der den Zweifel liebte wie er, Resultat von kindlicher Naturbeobachtung, nichts bleibt, wie es ist, stimmte plötzlich mit Lehrsätzen überein, die auf Experimenten, auf Beweisen gründeten. Endlich fing ich an, auch die Sinnsprüche am Portal unseres Dorffriedhofes zu verstehen, die mir, dem kleinen fleißigen Leser, je geordneter ich denken lernte, schwer zu schaffen machten und mich beständig ins Grübeln brachten: »Alle, die Ihr hier vorübergeht, bedenket, wie es um Euch steht/Denn was Ihr seid, das waren wir, und was wir sind, das werdet Ihr.« Ein paar gruselige Bilder hatte ich gesehen, in den Hausfluren, wo die Toten aufgebahrt waren –ein Leichenhaus gab es nicht– und dann hinausgeschafft wurden auf den irrlichternden Friedhof. Die Blaskapelle, ohne Posaune, traurige Musik, der Männerchor, ein trauriges Lied, Frauen unter schwarzen Schleiern, Männer mit schwarzen Hüten, lauter blasse Totengräber, die morgen in Bornkessels Bierstube schon wieder randalierten und Sauflieder in die dreckige Bude grölten. Auf dem Friedhof sammelten wir, Schulauftrag, Frauenmantel, der bei uns Kindern Regenmantel hieß, weil seine Blätter wie ein Regenschirm aussahen. Das Kraut gedieh dort besonders üppig, wie Rainfarn, gut gegen Würmer und Darmparasiten, die, wie die Warzen, zu den lästigen Kinderplagen zählten. Auch die wurden mit einem Kraut bekämpft, das der Friedhof in üppigen Formen aus der Erde schleuderte. Schöllkraut, Goldwurz sagten die Alten dazu, Warzenkraut schalten es liebevoll-bewundernd wir Kinder, weil sein Saft, ein Gift, die häßlichen Hauthuckel langsam zum Verschwinden brachte, und wenn das nicht glückte, wurden sie einfach abgesäbelt oder, bei den empfindlicheren Mädchen, mit einem Faden abgebunden. Wenn man die Kräuter, die man, heimlich, auf dem Friedhof sammelte, in der Schule abgab, hatte man ein makabres Gefühl in der Bauchgegend, das nur das Lob des Sammelstellenleiters über die prächtige Beute etwas eindämmte. Das schlechte Gewissen, die Ängste, der Tatort könnte herauskommen, waren vergleichbar mit dem Gefühl über einen bösen Streich, den wir Marieluise einmal spielten, als wir ihr einredeten, ein Priem aus Großvaters Hanewacker-Dose wäre die köstlichste Lakritze der Welt, und das Mädchen das teuflische Zeug in einem Anfall von Selbstzerstörung einfach hinunterschluckte. Danach verschwand sie in ihrem Bauernhaus und kam zwei Tage nicht zum Vorschein. Magenkrämpfe, Koliken wie beim Pferd, orakelte später ihr Vater, ein Hausmetzger. Wir, die Verursacher, schlichen zwei Tage lang bedeppert um den Hof herum und warteten auf ein Lebenszeichen. Wir dachten, sie würde daran zugrunde gehen und wir müßten uns als Mörder verantworten.

Die Angst rumorte häufig als aufmüpfiger Begleiter durch unsere Kindertage. Als wir Poppens Oskar einen Nagel ins Fensterkreuz trieben, genau zwischen Glasscheibe und unterer Holzleiste, daran eine Hanfschnur knüpften und einen Eisenring, durch straff gespannten Faden und ständiges Hinundherziehen des Rings Musik machten wie die Katzen zur Mitternacht, was sich über die vibrierende Glasscheibe in die dumpfe ebenerdige Stube des armseligen Hausbesitzers und seiner Frau Ida, Pfeifenschusters Ida, übertrug als ein schauderhaftes Konzert in nächtlicher Stunde, da war der Teufel los. Zumbern hieß das schräge Ding, mit hartem p oder weichem b geschrieben, ich weiß es nicht. Hart war das Konzert selbst für taube Ohren. Der Gendarm, auf Tätersuche, durchkämmte tags darauf das umfeldige Straßenkreuz. Die zudringlichen Fragen des bärtigen Ordnungshüters, als er mich als einen der Verdächtigen ausmachte, schlug Kapps Wilhelm, der überlange ältere Schulkamerad, aus dem Feld, in dessen Schatten ichgerade auf dem Schulweg über den steilen Berg hinweg war, indem er dem Gendarmen erklärte, zu solchen Untaten hätte ich als Jünger Friedrich Fröbels gar keine Zeit und wir würden lieber in Lützows Korps kämpfen, als alte Leute einzuschüchtern und zu Herzflattern zu treiben, wie es den greisen Oskar und seine Frau offenbar befallen haben mußte.

Weniger glimpflich ging das Erstürmen eines weithin leuchtenden Birnbaumes aus, dessen rot und gelb strahlende Früchte wir uns erklettern wollten, die prall gefüllten Zweige aber unter der Last der Erstürmer zusammenbrachen. Unsanfte Landung und Peitschenhiebe des aufgescheuchten Besitzers auf Arsch und Kniekehlen verursachten tagelange Geh- und Sitzbeschwerden, die weder zur Einkehr noch zu deutlicher Rachsucht Anlaß gaben. Solange nichts von den Übeltaten ins Elternhaus drang oder die Schule beunruhigte, so lange hatte man Zeit, an den veritablen Streifzügen teilzunehmen, die quer durch das Dorf und die angrenzenden Wald- und Wiesengelände führten und meist von tolldreisten Knaben ausgeheckt wurden, die sich an die Spitze der Kolonne stellten. Wir waren zu klein noch, um Hitlerjugend zu spielen, aber Pimpfe spielten wir allemal. Halstuch, Knoten und Koppel hatte jeder in der Schublade, sollte das »Jungvolk« rufen, auch wenn Großvater und Großmutter es sich verbaten, das Teufelszeug im Hause abzulegen. In ihren Augen waren Politiker Lumpen und Verbrecher, Hitler auch, es gab keine Ausnahme. Versöhnlicher waren sie gegenüber Rommels Armee, die ein Nachbarsjunge gegründet –sein Vater kämpfte in Afrika– und zu kargem Ruhm in der Dorfgemeinschaft geführt hatte. Der Ruhm war ein zweischneidiges Schwert. Siege und Niederlagen wechselten sich ab, und bei den Siegen wußte man nicht, ob sie sich nicht schon am nächsten Tage in Niederlagen verwandelten, wenn Mäders Armee aus dem Unterdorf oder die Armee aus der oberen Dorfhälfte, die der Schwarze und der Sauerteig befehligten, angriffen. Es war ein Auf und Ab im Kampf der feindlichen Dorfbrüder, das auf selbstgespannten Drahtseilen über eine große Waldwiese hinweg von Waldkante zu Waldkante gefunkt wurde. Illusionen, lauter Illusionen, wie der große Krieg, der von den Vätern so ernst genommen und von den unreifen Söhnen mit Steinen von Anker-Steinbaukästen nachgestellt wurde. Zerstörte Brücken, zerborstene Tunnel, ruinöse Kirchen, Krieg hinter Häuserwänden, in den Kinderzimmern. Danach schlief man ein und ging mit auf Peterchens Mondfahrt, und wenn man die Himmelsleiter wieder herabstieg, träumte man von neuen Schlachten und daß man demnächst Kohlrabis als Kanonenkugeln benutzen konnte und Zuckerrüben mit Krautgriff als Panzerfäuste. Derweil betete Großmutter, und Großvater versuchte unter einer Zeitungshaube dem spilligen Volksempfänger ein Wort aus London zu entlocken. Sperr die Ohren zu, Junge, befahl Großmutter, schmissig im Ton wie eine Luftwaffenhelferin, dem Eleven der Fröbel-Schule, und irgendwie dämmerte mir, daß irgendwas nicht ganz geheuer war. Ich verstand es spät, aber der Zweifel gehörte zum Lebenselixier von Großvater, und das war wohl gut so. Die Natur hatte die Alten abwarten gelehrt, genau hinhören, hineinhorchen in die Dinge und skeptisch zu sein gegenüber Menschenwerk. Man war im Aufbruch, aus dem Dorf ins große Ganze, aus den wäldlerischen Gefilden der Gebirgsschneise in die Welt, und wollte wissen, was die Kriege und Revolutionen ausrichten konnten, die nationalen und internationalen Beutezüge, von denen Tag und Nacht berichtet wurde. Alles Lumpen und Verbrecher, wiederholte Großvater. Alles vergänglich.

Nur die Heimat, der Himmel mit seinen blauen Fernen, den Wolkentürmen, mit Blitz und Donner, Eis und Schnee, das sei beständig, ergänzte Großmutter selbstbewußt. Dann holte sie aus einem Geheimfach unter ihrem Blasebalg eine Flasche Kräuterlikör hervor und nahm einen kräftigen Schluck.

3

Über das Dorf sausten in einer Nacht die Granaten hinweg und zerschlugen in Neuhaus am Rennweg ein paar unscheinbare Fassaden. Der Ort lag etwa 1000m über dem Meeresspiegel, war von Deesbach 6km entfernt und wurde wahrscheinlich als strategischer Punkt angesehen. Es war die einzige Nacht in diesem Stück des Thüringer Waldes, in der der Krieg ganz nahe kam, von den Geschwadern abgesehen, die über den Himmel gezogen waren, und ein paar verirrten Tieffliegern, die wahllos auf alles schossen, was ihnen in die Quere kam. Tags darauf fuhren amerikanische Panzer durchs Dorf, schwarze Steuermänner auf den Raupenungetümen und flinken Jeeps winkten den strammen Bauernmädchen zu. Kaugummis flogen wie Goldregen durch die rauhe Bergluft. Auf der Sommerseite des Dorfes, direkt unterm Fröbelturm, einem Wahrzeichen der lieblichen Gegend, wurde eine Radarstation errichtet. Maschinengewehre lagen herum wie wertloser Schrott. Die Stare waren zurückgekommen und pfiffen ihre werbenden Lieder von spitzen Haus- und Scheunendächern. Mitunter grieselte es. Sonnig, rauh und stürmisch waren die klimatischen Wechselbäder des April1945. Sie machten den Leuten mehr zu schaffen als der Einzug der Besatzer. Aus mancher Dachluke hingen weiße Fetzen, flatternde Grüße schicksalsergebener Bergbewohner. Es wird schon werden, lautete die Devise, schlimmer als unter Hitler konnte es auch nicht kommen, orakelte der Großvater.

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