1. Bernsteinblut
Prolog:
Bernsteinblut
Die salzige Gischt peitschte gegen die zerklüftete Steilküste Rügens, als wäre das Meer selbst unruhig. Ein eisiger Wind pfiff durch die knorrigen Kiefern, die sich klammernd an den Abgrund duckten. Unter dem fahlen Licht des fast vollen Mondes wirkten die weißen Kreidefelsen gespenstisch, fast wie die Überreste einer längst vergangenen Welt.
In einer einsamen Bucht, verborgen vor neugierigen Blicken, lag ein kleines Fischerboot vor Anker. Die sanften Wellen wiegten es hin und her, doch die Stille an Bord war trügerisch. Im Inneren, im trüben Schein einer Petroleumlampe, knisterte die Spannung förmlich in der stickigen Luft. Drei Männer beugten sich über eine grobe Seekarte, ihre Gesichter im Schatten verborgen.
Einer von ihnen, ein hagerer Mann mit stechenden, dunklen Augen, deutete mit einem knochigen Finger auf einen Punkt nahe der dänischen Küste. Seine russische Muttersprache klang rau und befehlend. „Dort. Das nächste Treffen. Pünktlich um Mitternacht.“
Ein anderer, ein breitschultriger Mann mit tätowierten Knöcheln, nickte stumm. Der dritte im Bunde, ein junger Mann mit nervösen Zügen, zuckte unmerklich zusammen, als draußen eine Möwe kreischte.
Plötzlich riss die knisternde Stille. Ein dumpfer Knall hallte über das Wasser, gefolgt von einem kurzen, erstickten Schrei. Die Männer erstarrten. Der hagere Mann riss eine Pistole unter seiner Jacke hervor. „Was war das?“ zischte er.
Bevor einer der anderen antworten konnte, barst die Kajütentür auf. Im Türrahmen stand eine Gestalt, die im spärlichen Licht wie ein Schatten wirkte. In der Hand hielt sie eine weitere Waffe, deren Lauf unheilvoll auf die Männer gerichtet war.
„Das war das Ende einer Vereinbarung“, knurrte die Gestalt, deren Stimme tief und bedrohlich klang. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht. Der junge Mann sank lautlos zusammen, eine rote Blüte breitete sich auf seiner Brust aus.
Der hagere Mann feuerte blindlings zurück, doch sein Schuss verfehlte das Ziel. Die Gestalt wich geschickt aus und erwiderte das Feuer. Der breitschultrige Mann stöhnte auf und klammerte sich an seine Schulter.
Die Situation eskalierte in einem chaotischen Feuergefecht auf engstem Raum. Der Geruch von Pulver lag in der Luft, vermischt mit dem salzigen Duft des Meeres und dem metallischen Geruch von Blut.
Schließlich herrschte wieder Stille. Nur das leise Plätschern der Wellen gegen den Bootsrumpf war zu hören. Die Gestalt stand unbewegt da, die Waffe noch immer in der Hand. Vor ihr lagen zwei leblose Körper.
Langsam trat die Gestalt ins Licht. Es war eine Frau. Ihre Züge waren hart und entschlossen, ihre Augen kalt wie das winterliche Meer. Sie blickte auf die beiden Toten herab, dann wandte sie ihren Blick hinaus auf die dunkle See.
„Das ist erst der Anfang“, flüsterte sie heiser, bevor sie sich wieder in den Schatten zurückzog und im Dunkel der Nacht verschwand. Das Meer spülte weiter gegen die Küste, ahnungslos von dem Blut, das in seinen Tiefen vergossen worden war. Die Ostsee hatte ihr erstes Opfer gefordert – und die russische Mafia sollte bald erfahren, dass sie sich mit der falschen Person angelegt hatte.
Kapitel 1:
Der Fund am Strand
Einige Tage später. Der Himmel über Warnemünde zeigte sich in einem trüben Grau, die Sonne kämpfte vergeblich gegen eine dichte Wolkendecke an. Touristengruppen schlenderten die Promenade entlang, ihre Stimmen vermischten sich mit dem Kreischen der Möwen und dem leisen Rauschen der Wellen. Doch die Idylle trug einen dunklen Schleier.
Kommissar Jakob Thomsen stand am Strand, die Hände in den Taschen seiner abgewetzten Lederjacke vergraben. Der Wind zerzauste sein graumeliertes Haar. Vor ihm knieten zwei Spurensicherungbeamte neben einer rot-weiß gestreiften Absperrung. Ihr konzentrierter Blick galt einem leblosen Körper, der halb im Sand, halb in den seichten Wellen lag.
„Ein Fischer hat ihn heute Morgen gefunden“, berichtete Hauptkommissarin Lena Jensen, Jakobs junge und ehrgeizige Kollegin. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, ihre Augen nahmen jedes Detail des Fundortes auf. „Er trieb etwa einen Kilometer von hier entfernt.“
Jakob nickte stumm. Der Tote war ein junger Mann, sein Gesicht war aufgedunsen und von Salzwasser gebleicht. Um sein Handgelenk klammerte sich ein auffälliges Tattoo: ein stilisierter Wolfskopf, darunter kyrillische Buchstaben.
„Sieht nicht nach einem Badeunfall aus“, bemerkte Jakob, seine Stimme rau wie Schleifpapier.
Lena stimmte ihm zu. „Keine sichtbaren Verletzungen, aber seine Hände sind gefesselt gewesen. Die Spuren im Sand deuten darauf hin, dass er hierher gespült wurde.“
Ein Gerichtsmediziner in einem weißen Schutzanzug kam auf sie zu. „Ertrunken“, stellte er fest. „Aber er war schon tot, als er ins Wasser kam. Ich habe Würgemale am Hals gefunden.“
Jakobs Blick wanderte zu dem Tattoo. „Der Wolfskopf… das könnte etwas mit der russischen Mafia zu tun haben.“
Lena runzelte die Stirn. „Die sind hier an der Ostseeküste aktiv? Ich dachte, deren Revier wäre eher im Süden.“
„Sie breiten sich aus“, erwiderte Jakob nachdenklich. „Drogenhandel, Schutzgeld… und jetzt vielleicht auch Mord.“ Er bückte sich und betrachtete den Toten genauer. „Das Tattoo… ich habe das schon einmal gesehen.“ Er kniff die Augen zusammen, versuchte, sich zu erinnern. „Vor Jahren… bei einer Razzia in Rostock.“
„Wir sollten Interpol einschalten“, schlug Lena vor. „Die haben sicher mehr Informationen zu solchen Tattoos.“