Victoria & Abdul - Shrabani Basu - E-Book

Victoria & Abdul E-Book

Shrabani Basu

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Beschreibung

Ein Paar, das ungleicher kaum sein könnte: Judi Dench in der Rolle der Queen Victoria

Der stattliche, gut aussehende Abdul Karim war gerade vierundzwanzig Jahre alt, als er seine große Reise von Indien nach England antrat. Als Gesandter der indischen Kolonien kam er an den Königlichen Hof in London, um Ihrer Majestät Queen Victoria (Judi Dench), der Kaiserin von Indien, anlässlich ihres 50. Thronjubiläums (1887) im Haushalt zu dienen. Eine Begegnung mit dem jungen Muslim aus Agra, der Stadt des Taj Mahal, entflammte Victorias Neugier. Die auf die siebzig zugehende Monarchin erhob Abdul in den Stand des königlichen Lehrers und Sekretärs, es entwickelte sich eine intensive Freundschaft. Im Königshaus sorgte das für Spannungen, doch gegen alle Widerstände und Intrigen bestand die Queen darauf, sich auch auf Reisen stets von ihrem indischen Vertrauten begleiten zu lassen. Abdul sollte bis zu Victorias Tod nicht mehr von ihrer Seite weichen. Ein Skandal und zugleich eine zarte Liebesgeschichte.

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EPUB

Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Buch

Der stattliche, gut aussehende Abdul war gerade vierundzwanzig Jahre alt, als er 1887 am königlichen Hof in London voller Eifer seinen Dienst antrat. Für Ihre Majestät die Königin war die festliche Zeremonie anlässlich ihres 50. Thronjubiläums längst zur ermüdenden Pflicht geworden, als Abdul der verehrten Monarchin das Dessert serviert. Für einen winzigen Augenblick nur begegnen sich ihre Blicke …

Gegen alle Widerstände und Intrigen nimmt die Geschichte ihren wundersamen Lauf. Das große wahre Drama von Macht, Missgunst, Gier und Treue im britischen Empire.

Verfilmt von Regisseur Stephen Frears mit Oscarpreisträgerin Judi Dench in der Hauptrolle.

Autorin

Shrabani Basu, geboren in Kalkutta, studierte in Delhi Geschichte und arbeitete zunächst für The Times in Bombay. 1987 wechselte sie nach London als Auslandskorrespondentin u. a. für The Telegraph, Kalkutta. Die Journalistin und Historikerin ist Autorin mehrerer Bücher über die britisch-indische Geschichte. Shrabani Basu lebt mit ihren Töchtern in London.

SHRABANI BASU

VICTORIA & ABDUL

Die Queen und ihr treuester DienerEine wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Martin Bayer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Victora & Abdul. The True Story Of The Queen’s Closest Confident« bei The History Press, Stroud, Gloucesteshire.

1. AuflageAktualisierte Taschenbuchausgabe Oktober 2017Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 2010, 2011 der Originalausgabe by Shrabani BasuCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHRedaktion: Werner WahlsUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © 2017 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED.KF · Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-21236-0V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine Töchter Sanchita und Tanaya»Ich mag ihn wirklich sehr gerne. Er ist so gut & sanft & verständnisvoll … und ist mir ein echter Trost.«Königin Victoria an ihre Schwiegertochter Louise Herzogin von Connaught3. November 1888Balmoral

INHALT

Anmerkung der Autorin

Vorwort

Dramatis Personae

Stammbaum der Nachkommen Königin Victorias

Karte Britisch-Indiens mit Kronterritorien und autonomen Fürstenstaaten

Karte Großbritanniens mit den königlichen Residenzen und benachbarten Städten

Einleitung

1. Agra

2. Ein Jubiläumspräsent

3. Ein indischer Durbar

4. Curry und Highlander

5. Vom Diener zum Lehrer

6. Ländereien für den Munshi

7. Indische Angelegenheiten

8. Eine Weihnachtskarte für den Vizekönig

9. Verschwörung bei Hofe

10. Aufstand des Personals

11. »Munshimania«

12. Erlösung

13. Tod einer Königin

14. Ruhestand in Agra

15. Nachspiel

Epilog

Dank

Bibliografie

Anmerkungen und Quellenangaben

ANMERKUNG DER AUTORIN

Aus Gründen der historischen Authentizität habe ich mich entschlossen, die britische Schreibweise indischer Städtenamen beizubehalten, wie sie in Britisch-Indien üblich war. Im Folgenden heißt es also Cawnpore statt des heutigen Kanpur, Benares statt Varanasi, Simla statt Shimla, Bharatpore statt Bharatpur und so weiter.

Königin Victoria pflegte Wörter handschriftlich durch Unterstreichen hervorzuheben. In den Zitaten aus ihren Briefen gebe ich dies durch Kursivdruck wieder.

»Hindustani-Unterricht« bedeutet, dass die Königin von Abdul Karim Urdu lesen und schreiben lernte. Hindustani war in Britisch-Indien die zusammenfassende Bezeichnung für die heutigen Nationalsprachen Urdu und Hindi.

VORWORT

Während der Arbeit an der ersten Ausgabe dieses Buchs war ich mir schmerzlich bewusst, dass ich keinen Kontakt zu möglichen lebenden Nachfahren Abdul Karims hatte aufnehmen können. Diese Spur war im Sand verlaufen, weil die Familie nach der Teilung Indiens 1947 Agra verlassen hatte, um nach Pakistan zu fliehen. Karim selbst hatte ohnehin keine Kinder gehabt; mögliche Nachkommen waren höchstens die Kinder seines Neffen Abdul Rashid. Da ich keinerlei Namen oder gar Adressen hatte, mit denen ich in Pakistan beginnen konnte, musste ich die Suche vorläufig auf sich beruhen lassen und hoffen, dass die Veröffentlichung des Buchs vielleicht jemanden aufmerksam machte, der mir weiterhelfen konnte.

Das geschah dann schneller, als ich erwartet hatte. Als ich mich anlässlich des Erscheinens von Victoria & Abdul gerade in Bangalore aufhielt, um das Buch vorzustellen, meldete sich das British Council mit der Nachricht, dass ein Urgroßneffe Abdul Karims namens Javed Mahmood mich zu sprechen wünsche. Wie sich herausstellte, war seine Mutter, die 85-jährige Begum Qamar Jehan, die Tochter Abdul Rashids. Die alte Dame war gebrechlich und erblindet, erinnerte sich aber noch lebhaft an ihre Zeit in der Karim Lodge in Agra und nannte sie die »glücklichsten Tage« ihres Lebens. Die Familie zeigte mir Bilder Abdul Karims und Abdul Rashids und erzählte mir, in Karachi gebe es noch ein Tagebuch. Abdul Rashid hatte neun Kinder gehabt, deren Familien inzwischen über Indien und Pakistan verstreut lebten und von denen nur noch Begum Qamar Jehan am Leben war. Zwei Monate später flog ich von London nach Karachi, um den Rest der Familie kennenzulernen und Abdul Karims persönliche Aufzeichnungen einzusehen. Jetzt war meine Geschichte endlich vollständig.

In Karachi wurde mir das Tagebuch ausgehändigt. Es war ein brauner Lederband mit Goldprägung, den ich sofort erkannte: Solche Notizbücher waren damals auf Windsor Castle üblich gewesen. Dieses hier enthielt einen Bericht Karims über seine zehn Jahre in London zwischen dem goldenen und dem diamantenen Thronjubiläum Königin Victorias. Zusätzlich hatte das Tagebuch als Sammelalbum gedient; es steckte voller Bilder und Zeitungsausschnitte. Die Familie hatte es bei ihrer Flucht während der Teilungsunruhen 1947 zusammen mit anderen Erinnerungsstücken aus Indien herausgeschmuggelt.

»Es gab Gerüchte, Karim Lodge solle überfallen werden«, erklärte Zafar Sartaj, der bei der Flucht erst neun gewesen war. Als aufgehetzte Hindus und Moslems in den Straßen von Agra randalierten, wurden die Frauen und Kinder, um sie in Sicherheit zu bringen, mitten in der Nacht ins mittelindische Bhopal geschickt, dessen örtlicher Machthaber, der Nawab, mit der Familie befreundet war. Von Bhopal aus reisten sie mit der Bahn nach Bombay (heute Mumbai) weiter (die Frauen versteckten ihren Schmuck in den Saris) und nahmen dort ein Schiff nach Pakistan, das mit Tausenden Flüchtlingen überfüllt war. Zwei Koffer voller wertvoller Besitztümer wurden per Bahnfracht nach Pakistan vorausgeschickt, aber der Zug wurde unterwegs geplündert; die Familienerbstücke gingen verloren. Nur das, was die Männer der Familie auf dem Schiff als Reisegepäck bei sich gehabt hatten – darunter das Tagebuch, einige Bilder und Andenken und ein Teeservice, das ein Geschenk der russischen Zarin gewesen war, sowie eine Statuette Abdul Karims –, kam schließlich in Pakistan an.

Das Englisch des Tagebuchs war deutlich fließender als dasjenige Karims; er hat seine Erinnerungen also wohl diktiert, vielleicht seinem Freund Rafiuddin Ahmed. Ausgespart werden hier alle Zurücksetzungen, die Abdul Karim am Hof erlebte, als ob er diese unangenehmen Einzelheiten aus seinem Leben löschen wollte. Leider enden die Aufzeichnungen mit dem Jahr 1897, sodass wir über seine Rückkehr nach Indien und seinen Lebensabend in Agra nichts erfahren. Im Tagebuch erwähnt er, dass seine Frau ihre eigenen Erinnerungen veröffentlichen wolle, die vermutlich auf Urdu abgefasst waren. Von ihnen findet sich heute allerdings keine Spur mehr; die Gattin des Munshi starb auf See während der Überfahrt nach Karachi. In ihrem langen Leben hatte sie in Königspalästen gewohnt und die Herrscher Europas aus nächster Nähe gesehen, um es als Flüchtling aus ihrem eigenen Land zu beschließen.

Karim begann sein Tagebuch mit der geziemenden Bescheidenheit:

Unter dem Schatten Ihrer Majestät Königin Victorias unterfange ich mich als demütiger Untertan, dem geneigten Leser mit den folgenden Seiten eine kurze Zusammenfassung des Tagebuchs meines Lebens am Hofe der Königin zwischen dem goldenen Thronjubiläum 1887 und dem diamantenen Thronjubiläum 1897 vorzulegen. Ich war in diesem Land stets ein Fremder unter Fremden und muss daher auf den Langmut des Lesers vertrauen, den ich bitte, alle Fehler, die mir unterlaufen sein mögen, freundlich zu überlesen.

Ans Ende setzte er die Worte: »Ich will es zufrieden sein, wenn die Lektüre des vorliegenden Werkleins demjenigen, in dessen Hände es durch Zufall geraten mag, ein wenig Aufklärung oder Unterhaltung verschafft habe.«

Über ein Jahrhundert nachdem es geschrieben wurde, um anschließend verlorenzugehen, ist es mir eine große Ehre, mit Karims Tagebuch die Neuauflage meines Buchs auf den neuesten Stand zu bringen.

DRAMATIS PERSONAE

Die königliche Familie

Königin Victoria – Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien

Prinz Albert Edward (»Bertie«), ihr Sohn – Prince of Wales, später König Edward VII.

Prinzessin Alix, dessen Gemahlin und Schwiegertochter Königin Victorias – Princess of Wales, später Königin Alexandra

Prinzessin Victoria, älteste Tochter Königin Victorias – Deutsche Kaiserin und Königin von Preußen, Gemahlin Friedrichs III. (»Kaiserin Friedrich«)

Prinzessin Alice, zweite Tochter Königin Victorias – Großherzogin von Hessen

Prinzessin Helena, dritte Tochter Königin Victorias – Erbherzogin von Schleswig-Holstein

Prinz Arthur, Sohn Königin Victorias – Herzog von Connaught

Prinzessin Beatrice, jüngste Tochter Königin Victorias

Prinz Heinrich von Battenberg – Gemahl von Prinzessin Beatrice

Prinz George, Enkel Königin Victorias – später König Georg V.

Prinzessin Maria von Teck (»May«) – Gemahlin Prinz Georges

Prinz Ludwig von Battenberg – Gemahl von Königin Victorias Enkelin

Die Inder

Abdul Karim – Munshi (Sprachlehrer) Königin Victorias

Mohammed Buksh – Bediensteter Königin Victorias

Dr. Wuzeeruddin – Vater Abdul Karims

Die Ehefrau des Munshi

Die Schwiegermutter des Munshi

Hourmet Ali – Bediensteter Königin Victorias und Schwager Abdul Karims

Ahmed Husain – Bediensteter Königin Victorias

Sheikh Chidda – Bediensteter Königin Victorias

Ghulam Mustafa – Bediensteter Königin Victorias

Khuda Buksh – Bediensteter Königin Victorias

Mirza Yusuf Baig – Bediensteter Königin Victorias

Bhai Ram Singh – Architekt von Durbar Hall

Sir John Tyler – Direktor des Gefängnisses von Agra

Abdul Rashid – Neffe Abdul Karims

Rafiuddin Ahmed – Anwalt, Journalist und Freund Abdul Karims

Duleep Singh – Sohn des Mararaja Ranjit Singh (abgesetzter Herrscher des Punjab), Mündel Königin Victorias

Nripendra Narayan – Maharadscha von Cooch Behar

Hurwan Singh – Maharadscha von Kapurthala

Sayaji Rao III. Gaikwar – Maharadscha von Baroda

Chimnabai – Maharani von Baroda

Der königliche Hof

Sir Henry Ponsonby – Privatsekretär Königin Victorias

Sir James Reid – Leibarzt Königin Victorias

Frederick (Fritz) Ponsonby – Stellvertretender Privatsekretär Königin Victorias

Arthur Bigge – Stellvertretender Privatsekretär Königin Victorias, später ihr Privatsekretär

Alexander (Alick) Yorke – Groom in Waiting und Master of Ceremonies for Royal Theatricals

Marie Mallet – Ehrenjungfer

Lady Jane Churchill – Hofdame

Harriet Phipps – Woman of the Bedchamber und Privatsekretärin der Königin

Lady Edith Lytton – Hofdame

Ethel Cadogan – Ehrenjungfer

Fleetwood Edwards – Keeper of the Privy Purse

Dighton Probyn – Privatsekretär des Prince of Wales

Edward Pelham Clinton – Master of the Household

Vizekönige Britisch-Indiens

Lord Dufferin

1884–1888

Lord Lansdowne

1888–1894

Graf Elgin

1894–1899

Lord Curzon

1899–1905

Graf Minto

1905–1910

Staatssekretäre im India Office

Lord Cross

1886–1892

Graf Kimberley

1892–1894

Lord Fowler

1894–1895

Lord Hamilton

1895–1903

Lord Morley

1905–1910 und 1911

Premierminister

Lord Salisbury

1885–1886, 1886–1892 und 1895–1902

William Gladstone

1868–1974, 1880–1885, 1886, 1892–1894

Graf Rosebery

1894–1895

EINLEITUNG

Januarnebel lag um Osborne House, als die kurze Reihe der Trauergäste schweigend durch das Anwesen zu den Privatgemächern Königin Victorias schritt. Im Gang davor stand einsam ein hochgewachsener Inder. Es war Abdul Karim, der indische Munshi (Sprachlehrer) der Königin. Er wartete dort schon seit dem Morgen; gelegentlich schaute er auf den Garten hinaus, wo er so viele Stunden gemeinsam mit der Verstorbenen verbracht hatte. In der Ferne schaukelten die Schiffe lautlos auf dem Solent, die Flaggen auf Halbmast.

Die 81-jährige Victoria war drei Tage zuvor friedlich im Schlaf im Kreis ihrer Familie verstorben. Inzwischen war sie gemäß ihrem Letzten Willen für ihre letzte Reise nach Windsor Castle eingekleidet, und Die königliche Familie war zusammengekommen, um Abschied zu nehmen. Die Königin lag im Sarg aufgebahrt, das Gesicht mit dem weißen Brautschleier verhüllt. Sie glich, wie es ein Augenzeuge beschrieb, »einer schönen Marmorstatue, ohne ein Zeichen der Krankheit oder des Alters«, im Tode ebenso königlich wie im Leben. Ihre Hand hielt einen Strauß weißer Lilien. Die Prozession zog vorüber – zuerst ihr ältester Sohn und Thronerbe Edward VII. mit seiner Frau, Königin Alexandra, dann die anderen Kinder und die Enkel der Verstorbenen, schließlich eine Reihe der vertrautesten Bediensteten und Angehörigen des Hofes. Jeder hielt einige Augenblicke vor dem Sarg inne und betrachtete die Verstorbene, die mit 18 den Thron bestiegen und einem ganzen Zeitalter ihren Namen gegeben hatte. Zum Schluss durfte mit Erlaubnis des Königs auch Abdul Karim an den Sarg treten. Er war damit der Letzte, der mit der Königin allein war.

Der Munshi trat gesenkten Kopfes ein, gekleidet in eine dunkle indische Jacke und einen Turban. Seine Präsenz füllte die Totenkammer. Der König respektierte den Wunsch seiner Mutter und gestattete Abdul Karim einige Augenblicke allein mit der Verstorbenen. Tiefe Bewegtheit prägte das Gesicht des Inders, als er das im Kerzenlicht weich schimmernde Antlitz betrachtete. Sie hatte ihm – einem einfachen Diener – über zehn Jahre lang selbstverständliche Liebe und Respekt entgegengebracht. Die Jahre in ihrer Gesellschaft zogen blitzartig vor seinem inneren Auge vorbei: die erste Begegnung im Sommer 1887, als er sich niedergebeugt und ihre Füße geküsst hatte; die müßigen Tage, in denen er sie seine Muttersprache gelehrt und ihr von seinem Land erzählt hatte; Klatsch und Vertraulichkeiten, die sie miteinander geteilt hatten; die Großzügigkeit, die sie ihm erwiesen hatte; ihre Einsamkeit, die er verstanden hatte. Und schließlich und vor allem ihr stures und unverwandtes Eintreten für ihn gegen alle Anfeindungen. Er legte die Hand auf sein Herz und stand schweigend da, während er mit den Tränen kämpfte. Lautlos murmelte er ein Gebet an Allah, ihrer Seele Frieden zu schenken. Nach einem letzten Blick und einer letzten Verbeugung schritt er langsam aus dem Raum. Zwei Arbeiter verschraubten und versiegelten hinter ihm den Sarg.

Bei der Begräbnisprozession in Windsor durfte Abdul Karim in der Gruppe der Hauptleidtragenden gehen. Die alte Königin hatte es ausdrücklich so verfügt, gegen – wie sie wusste – den Widerstand der Familie und des Hofes. Sie hatte ihrem geliebten Munshi einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern wollen.

Aber nur wenige Tage nach ihrem Tod wurde der Munshi durch lautes Hämmern an seine Haustür aus dem Schlaf gerissen. Draußen standen Prinzessin Beatrice und Königin Alexandra mit mehreren Wachleuten. Der König hatte diese Razzia in Frogmore Cottage angeordnet und forderte die Herausgabe aller Briefe, die Victoria jemals an ihn geschrieben hatte. Der Munshi musste mit seiner Frau und seinem Neffen entsetzt mit ansehen, wie die Briefe in der unverwechselbaren Handschrift der verstorbenen Königin aus seinem Schreibtisch gezerrt und draußen im Garten auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurden.

Schweigend stand der Munshi da, während die Briefe an den »Lieben Abdul« in der kalten Februarluft brannten. Ohne seine Königin war er machtlos, stand allein da. Postkarten und Briefe der Königin, abgeschickt aus Windsor Castle und Balmoral, von der königlichen Jacht Victoria and Albert und aus Hotels in ganz Europa prasselten in den Flammen. Die Königin hatte ihrem Munshi täglich geschrieben; unterzeichnet hatte sie mit »Ihre teuerste Freundin«, »Ihre ergebene Freundin«, sogar mit »Ihre liebende Mutter«. Die entsetzte Frau des Munshi schluchzte neben ihm, das verschleierte Gesicht tränenüberströmt. Der verängstigte Neffe musste jedes einzelne Stück Papier mit dem Siegel der Königin darauf aus dem Schreibtisch seines Onkels holen und den Wachen übergeben. Die Familie des Munshi, noch vor Kurzem unverzichtbar bei Hofe, musste sich damit abfinden, wie Verbrecher behandelt zu werden. Königin Victoria konnte ihm nicht mehr helfen, und jetzt nahm das Establishment seine Rache an ihm. König Edward VII. ließ ihm mitteilen, er habe unverzüglich seine Sachen zu packen und sofort nach Indien zurückzukehren.

Das Märchen, das begonnen hatte, als ein junger Abdul Karim 1887 an den Hof gekommen war, hatte ein plötzliches Ende gefunden.

Karim war ein Geschenk der indischen Besitzungen Victorias zu ihrem Goldenen Thronjubiläum gewesen. Der gut aussehende 24-Jährige war, prächtig anzuschauen in scharlachroter Jacke und weißem Turban, aus Agra gekommen, der Stadt des Tadsch Mahal – des schönsten Baudenkmals der Welt. Ursprünglich nur ein Bediensteter, der am Tisch der Königin aufwartete, stieg er rasch in der Hierarchie auf. Nach wenigen Monaten kochte er bereits das Curry der Königin, und bald darauf wurde er zum königlichen Munshi befördert, zum Sprachlehrer der Königin. Während sein indischer Kollege Mohammed Buksh weiter bei Tisch bediente, brachte es Karim zum hochdekorierten indischen Sekretär Ihrer Majestät. Außerdem war er der engste Vertraute der einsamen Frau und damit Nachfolger ihres schottischen gillie John Brown,der vier Jahre zuvor gestorben war.

John Brown war von den übrigen Angehörigen des Hofes gehasst worden; Karim schlug noch stärkere Ablehnung entgegen. Man misstraute ihm und fürchtete seinen Einfluss auf die Königin. Die immer stärker werdenden Rufe nach der Unabhängigkeit Indiens, die auch in den höchsten Kreisen für Beunruhigung sorgten, verstärkten diese Furcht nur noch. Aber der Queen war es weitgehend egal, was andere dachten. Sie stellte sich bedingungslos vor ihren »lieben Munshi«, stellte ihm Cottages in Windsor, Balmoral und Osborne House zur Verfügung und bedachte ihn mit großen Ländereien in seiner indischen Heimat. Sie bestand darauf, dass er als vollgültiger Angehöriger der Hofhaltung behandelt wurde und ließ ihn von Rudolf Swoboda und Heinrich von Angeli porträtieren. Er durfte mit ihrer Erlaubnis sogar einen Säbel und seine Auszeichnungen bei Hofe tragen. Sie sorgte sich unermüdlich um sein Wohlergehen, ließ seine Frau und seine Familie nachkommen und erging sich in Lobeshymnen über ihn vor ihren Angehörigen und den Ministern ihrer Regierung. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens stand Victoria unerschütterlich zu Karim.

Und je mehr sich der Hof über ihn beklagte, desto sturer verteidigte ihn die Königin. Die Wortgefechte um den Munshi schienen ihr ein diebisches Vergnügen zu bereiten. Sie gab sich auffällig große Mühe, Karim vor dem unterschwelligen Rassismus des Hofes zu bewahren, und installierte mitten in der Blütezeit des britischen Empire einen jungen Moslem auf einer einflussreichen Position nahe der Herrscherin. Bei einem Besuch in Italien wurde Karim für einen jungen Prinzen und Geliebten Victorias gehalten, so hoheitsvoll wirkte er, als er in seiner Privatkutsche durch Florenz fuhr.

Was aber war es eigentlich, das die Königin an ihrem Munshi so schätzte? War er ein Seelengefährte für diese einsame, verbitterte, alternde Dame, jemand, der sie verstand und mit dem sie sich austauschen konnte? Angesichts der gegenwärtigen Haltung im Westen gegenüber Moslems ist es umso interessanter und bedenkenswerter, dass ein Moslem an Königin Victorias Hof eine so wichtige Rolle einnehmen konnte. Pflegte die Königin privat eine aufgeklärtere und tolerantere Einstellung als der Rest ihres Empire? War die Razzia in der Morgendämmerung Vorbote einer kommenden Entwicklung?

Diese Fragen und hundert andere gingen mir im Kopf herum, als ich die Fähre über den Solent zur Isle of Wight nahm, wo ich zuerst auf den geheimnisvollen Abdul Karim gestoßen war.

Er hatte mich von einem Porträt im Indischen Korridor auf Osborne House angeschaut, das Rudolf Swoboda gemalt hatte. Ich hatte den Landsitz Königin Victorias zu ihrem einhundertsten Todestag 2001 aufgesucht, um im Zuge meiner Recherchen über die Vorliebe der Königin für indische Currys, die ich damals für ein anderes Buchprojekt durchführte, den restaurierten Durbar Room zu besichtigen. Was ich entdeckte, war ihre Vorliebe für denjenigen, der ihr die indischen Currys gekocht hatte.

Der österreichische Maler hatte Abdul Karim in beigefarbenen, roten und goldenen Tönen dargestellt, ein gut aussehender junger Mann in nachdenklicher Stimmung mit einem Buch in der Hand; er sieht mehr wie ein Nawab als wie ein Bediensteter aus. Der Künstler hatte damit wohl der romantischen Sichtweise der Königin Rechnung getragen. Später erfuhr ich, dass Victoria das Bild so sehr mochte, dass sie es eigenhändig abgemalt hatte.

Der Indische Korridor auf Osborne House heißt so, weil er mit Porträtgemälden indischer Handwerker geschmückt ist, die auf Wunsch der Königin angefertigt wurden. Weber, Schmiede und Musiker schauten mich von den Wänden an, alle detailgetreu dargestellt, sodass sich Victoria buchstäblich ein Bild ihrer indischen Untertanen machen konnte. Aus der Vielzahl der Gemälde ragte das packende lebensgroße Porträt des Maharadschas Duleep Singh von Winterhalter heraus. Es illustrierte die Faszination der Königin für den Jungen, der ihr den Koh-i-Noor geschenkt hatte – einen der größten Diamanten der Welt und Bestandteil der britischen Kronjuwelen bis heute –, nachdem die Briten im Zweiten Sikh-Krieg 1849 die Sikhs geschlagen und den Punjab annektiert hatten.

Der von der nationalen Denkmalschutzstiftung English Heritage anlässlich des einhundertsten Todestages Victorias restaurierte Durbar Room hatte mir ebenfalls viel zu sagen. Er sprach von der Liebe der Königin zu Indien, einem Land, das sie, wie sie wusste, zwar nie würde besuchen können, das sie aber faszinierte. Wenn sie schon nicht nach Indien reisen konnte, so wollte sie wenigstens Indien nach Osborne House bringen. Die marmorverkleideten Decken, die filigranen Holzschnitzereien, die Balkone mit ihrem Jali-Flechtwerk waren die indische Zuflucht der Königin. Hier saß sie, die Kaiserin dieses so weit entfernten Landes, um seine Atmosphäre in sich aufzunehmen. Dass sie auf ihrem geliebten Osborne House mit seiner Sammlung indischer Antiquitäten auch aus dem Leben geschieden war, sprach für sich. War ihre Zuneigung zu Abdul eine Folge ihrer Liebe zu Indien und dem Empire – ihre Art, das Kronjuwel ihres Reiches zu berühren?

Fünf Jahre nach meinem Besuch auf Osborne House fand ich mich in Agra wieder, der Stadt des Tadsch Mahal und Heimat Abdul Karims. Mein gutmütiger junger Fahrer, ein Sikh namens Babloo, sah aus wie ein hochgewachsener Monty Panesar, der berühmte englische Kricketspieler, eiferte aber eher Michael Schumacher als dem sanften leftarm spinner aus Northamptonshire nach. Er hatte mich gerade in ganzen drei Stunden von Delhi hierherkatapultiert, in rasender Fahrt auf den sechsspurigen Autobahnen, die Indien seit einigen Jahren als stolzes Symbol seines Anschlusses an die Globalisierung überall anlegt. Und jetzt rumpelten wir durch die engen Gassen Agras, vorbei an Internetcafés, Kodak-Sofortentwicklungs-Fotoläden und Elektrohändlern, vor denen sich vereisungssichere Kühlschränke und energiesparende Waschmaschinen stapelten – materieller Beweis für den Konsumhunger der wachsenden indischen Mittelschicht.

Ich hatte einen Termin mit einem örtlichen Reporter namens Syed Raju, einem drahtigen Mann in weißen Nike-Sneakers, der ununterbrochen in sein Mobiltelefon sprach und mit zwei kleinen Notebooks jonglierte. Politische Würdenträger und Bollywood-Filmstars, die den Tadsch Mahal besichtigten, waren der Gegenstand seiner glamouröseren Berichterstattung, aber von Abdul Karim und einem Haus namens Karim Lodge hatte er noch nie gehört. Auch nach zwei Tagen hatte er noch nichts gefunden. Vielleicht sei die Familie nach Pakistan gegangen, so Raju. Vielleicht sei Abdul Karim dort gestorben. »Ich konnte in ganz Agra absolut niemanden auftreiben, der etwas über ihn weiß.«

Ich erzählte ihm, dass Karim 1909 in Agra gestorben und sicher in der Stadt beerdigt worden sei. Angesichts seiner ehemaligen Stellung bei Hofe hätte er bestimmt ein auffälliges Grabmal bekommen, vermutete ich und sah mich schon sämtliche Friedhöfe der Stadt durchkämmen und alle Moscheen abklappern. Aber wir hatten Glück: Schon am Abend hatte Raju eine Spur gefunden – einen Kollegen, dem der Name bekannt war. Es war ein Journalist, der historische Artikel für eine Lokalzeitung schrieb. Also fuhren wir zur Redaktion des Dainik Jagaran, einer der auflagenstärksten Hindi-Tageszeitungen Indiens, kürzlich vom irischen Zeitungsmagnaten Tony O’Reilly, Eigentümer des Independent, aufgekauft.

Wir arbeiteten uns zwischen den Zeitungsbündeln hindurch, die vor dem Eingang gestapelt lagen, und eine schmale Treppe hinauf zu den Redaktionsräumen. In der Nachrichtenredaktion summten die Rechner im Dämmerlicht. Ein Mann mit grau meliertem Bart begrüßte uns mit freundlichem Lächeln: Rajiv Saxena, Erster Stellvertretender Chefredakteur.

»Sie suchen also den ustad, den Lehrmeister Königin Victorias!«, rief er. »Ja, ich weiß, wo er begraben liegt. Morgen bringe ich Sie hin.«

Panchkuin Kabaristan in Agra war einst die Begräbnisstätte der Großmoguln. Geblieben ist eine schlammige Grasfläche; Büffel grasen hier zwischen verfallenen Grabsteinen. Einige Mausoleen sind noch intakt – hier ruhen meist weniger wichtige Verwandte der Großmoguln –, wenn auch die Halbedelstein-Inkrustrationen längst geplündert und Graffiti an die Wände geschmiert sind. »Niemand kommt mehr hierher«, klagte Nizam Khan, der alte moslemische Friedhofswächter. Er wirkte verloren in der Wildnis, betraut mit der Fürsorge für Gräber, die von Zeit und Geschichte längst vergessen sind. Er lotste uns auf einem gewundenen Pfad zwischen namenlosen Gräbern, Brombeergestrüpp und herrenlosen Hunden hindurch, die uns in der Wintersonne gelangweilt hinterherkläfften. Bald schon schlossen sie sich unserer Prozession schwanzwedelnd an und liefen sogar voraus, als wären sie eine Eskorte auf dem Weg zum verlassenen Grab des Munshi. Endlich blieb Nizam Khan stehen und zeigte voraus. »Das ist es«, erklärte er dramatisch; er spürte unsere Spannung. Auf einem hohen Sockel, umgeben von kleineren Grabstätten, erhob sich ein Mausoleum aus rotem Sandstein. Wir stiegen die steilen Eingangsstufen empor und fanden im Inneren drei Gräber. In der Mitte lag Abdul Karim, sein Vater zur Rechten. Auch hier war der Halbedelsteinschmuck aus dem marmornen Grabstein längst herausgebrochen worden. Niemand war mehr da, das Grab zu pflegen oder Blumen niederzulegen; die Überlebenden der Großfamilie waren ja nach der Teilung Indiens bereits 1947 nach Pakistan übergesiedelt. Hier ruhte jetzt der Mann, der einmal auf Windsor Castle gewohnt und engster Vertrauter einer Kaiserin gewesen war, auf einem düsteren verfallenen Friedhof in der Obhut eines alten Mannes und einiger streunender Hunde. Seine Königin hatte ihn großzügig versorgt, aber gerade der Zerfall ihres Reiches war es gewesen, der seine Nachkommen vertrieben hatte. Der Landbesitz war verloren, Hindu-Flüchtlinge aus Pakistan hatten ihn übernommen; und das hohe Mausoleum – es muss einmal ein beeindruckender Bau gewesen sein – schaute nur noch über andere verfallene Gräber.

Nizam Khan las uns die auf Urdu gehaltene Grabinschrift Abdul Karims vor. Der Singsang seiner Stimme hallte über den einsamen Friedhof:

Dies ist die letzte Ruhestätte vonHafiz Mohammed Abdul Karim, CIEVO.Er ist jetzt allein auf der Welt.Einst gehörte er zur höchsten Kaste ganz Hindustans.Niemand konnte sich mit ihm vergleichen.

Kaum wagt der Dichter, ihn zu preisen,So viel gibt es zu loben an ihm.

Sogar die Kaiserin Victoria war so angetan von ihm,Dass sie ihn zu ihrem Hindustani-Lehrer machte.

Viele Jahre lebte er in EnglandUnd beglückte dieses LandMit dem Überströmen seiner Güte.

Der Dichter spricht ihm ein Gebet:Möge er hier seinen ewigen Frieden finden.

Ebenfalls auf Urdu standen hinter dem Grabstein die Worte: »Für einen jeden kommet der Tag, da er die Süße des Todes zu kosten hat.«

Wieder zurück in England suchte ich die Royal Archives auf Windsor Castle auf. Hier saß ich im Round Tower des Schlosses und ging die dicken Bände von Königin Victorias Hindustani-Übungsheften durch, für jeden Tage eine Seite, und das 13 Jahre lang. Abdul Karim schrieb zunächst eine Zeile auf Urdu vor, dann die Übersetzung ins Englische und schließlich noch eine Umschrift des Urdu-Textes in lateinischen Buchstaben, damit die Königin sich die klangvollen Worte vorsprechen konnte. Sie schrieb die Zeilen dann sorgfältig ab und bedeckte die Seite mit ihrer raumfüllenden Handschrift. An langen Winterabenden und milden Sommertagen wurden diese »Journale« zum stärksten Band zwischen Victoria und Abdul. Diese Seiten gehörten nur ihnen beiden. Sie blieben frei von den Problemen bei Hofe, von der anstrengenden Familie und den Verdächtigungen und Forderungen ihrer unmittelbaren Umgebung. Nie ließ die Königin die Hindustani-Stunde ausfallen. Fast kokett beklagte sie sich, wenn Karim einmal nicht da war, bei ihm, wie sehr sie ihren »lieben Abdul« während seiner Urlaubszeit vermisst habe. Abduls Stimme wiederum hören wir in seinen schriftlichen Kommentaren am Ende jedes Bandes, in denen er der Königin ein Zeugnis ihrer Fortschritte ausstellte.

So saß ich da, träumte vor mich hin und schaute aus dem Fenster auf die Touristenströme unter mir, als plötzlich ein rosafarbenes Blatt Löschpapier aus einem der Bände flatterte. Es musste über ein Jahrhundert lang unberührt darin gelegen haben. Ich nahm es in die Hand und stellte mir vor, wie Karim, prächtig angetan, neben der Königin stand und sich diskret vorbeugte, um die Tinte ihrer Unterschrift trockenzutupfen. Hier lag jene Geschichte vor mir, die das Establishment hatte auslöschen wollen: Die Geschichte eines unbekannten indischen Dieners und seiner Königin, die Geschichte eines Reiches und seines Kronjuwels, und schließlich auch eine Geschichte von Liebe und menschlichen Beziehungen.

1 AGRA

Der Ruf des Muezzins hallte durch die Morgendämmerung Agras und weckte die Bewohner der Stadt. Im Sommer waren sogar die Nächte unerträglich heiß, und Abdul Karim war fast erleichtert, endlich aus dem Bett zu kommen. Neben ihm schlief seine junge Braut noch. Er genoss diese wenigen stillen Minuten ganz für sich frühmorgens. Er trat auf die Terrasse hinaus und schaute über die Dächer der Nachbarhäuser zu den hohen Mauern des nahen Zentralgefängnisses hinüber, wo sein Vater und auch er arbeitete. Bald würde ganz Agra auf den Beinen und voller Betriebsamkeit sein, die gullies und Basare voller Händler, Handwerker, tongah wallahs und anderer Arbeiter. Kühe würden mitten auf der Straße ungerührt Gemüse wiederkäuen, das sie von den Karren der Straßenhändler stibitzt hatten, Lastelefanten würden mit Ladungen von Baumstämmen, Kornsäcken, Baumwollballen oder Teppichrollen durch die engen Gassen zu den mandis und Fabriken schwanken.

Als Karim sich auf seine Gebetsmatte kniete, fielen die ersten Sonnenstrahlen auf den Tadsch Mahal und badeten ihn in einen warmen Schimmer. Dahinter strömten die sanften Wasser des Yamuna. Weiter stromauf, strategisch günstig an einer Flussbiegung, stand das beeindruckende Fort Agra, ein hochragendes Festungsbauwerk aus rotem Sandstein, errichtet im 16. Jahrhundert unter dem Großmogul Akbar auf der Höhe seines Ruhms. Agra hieß damals Akbarabad und war Hauptstadt des Mogulreiches. Die Mauern der Festung bargen vier Generationen Mogulgeschichte: Krieg, Liebe, Intrigen und Brutalität am Hof der Großmogule. Im prächtigen Diwan I Khas, der Halle für Privataudienzen mit ihren edelsteingeschmückten Marmorsäulen, hatte der seinerzeitige Herrscher Shah Jahan (1628–1657) die Gesandten William Hawkins und Sir Thomas Rose empfangen, die für die britische Ostindien-Kompagnie um Genehmigung zur Errichtung von Handelsposten baten. In der Folge entstanden in Agra britische und niederländische Faktoreien. Im Jasminturm des Forts war der alternde Shah dann von seinem Sohn Aurangzeb eingekerkert worden. Hier schaute er bis zu seinem Tod 1666 durch ein winziges Fenster sehnsüchtig hinaus auf den Tadsch Mahal, das Grabmal seiner Lieblingsfrau Mumtaz Mahal.

Karims Familie war erst vier Jahre zuvor nach Agra zugezogen und genoss die Atmosphäre des alten Mogulreiches, jetzt bereichert um Glanz und Präzision der britischen Kolonialverwaltung. Die Familie stammte ursprünglich aus dem nahen Farrukhabad in den Vereinigten Provinzen. Karims Vater Haji Wuzeeruddin war bei seinem Stiefvater Malvi Mohammed Najibuddin aufgewachsen, der Wert auf eine gute Ausbildung für den Jungen gelegt hatte. Najibuddin stand seit 1845 als Privatsekretär im Dienste des Briten William Jay, dem die Familie sehr am Herzen lag. Er förderte den jungen Wuzeeruddin und verschaffte ihm eine Arbeitsstelle. Von 1856 bis 1859 war Haji im Vaccine Department tätig, dem für Impfungen zuständigen Dezernat der Verwaltung in Agra, erhielt 1861 sein Diplom als Hospital Assistant und diente von November 1861 bis März 1874 beim 36th Regiment North India in verschiedenen Garnisonen Nord- und Mittelindiens. Im Quartier in Lalatpur bei Jhansi wurde dann 1863 sein Sohn Abdul Karim geboren.

Das Indien, in dem Karim aufwuchs, war ein ganz anderes als das seines Vaters – es wurde jetzt direkt von der britischen Krone verwaltet, nicht mehr von der Ostindien-Kompagnie. Sechs Jahre zuvor war der Landstrich, aus dem er stammte, Hauptschauplatz der Indian Mutiny gewesen, des großen Eingeborenenaufstands von 1857 gegen die Briten. Haji Wuzeeruddin war Augenzeuge der Kämpfe gewesen, die indische Nationalisten später zum »Ersten Indischen Unabhängigkeitskrieg« umdeuteten. Karims Geburtsort bei Jhansi war untrennbar mit der wilden Lakshmibai verbunden, der wilden Rani von Jhansi, die während des Aufstands eine Rüstung angelegt, ihr treues Pferd bestiegen und ihre Truppen persönlich gegen die Soldaten der Ostindien-Kompagnie geführt hatte.

Zuerst hatten Soldaten der Garnison Meerut in den Vereinigten Provinzen gegen ihre Befehlshaber gemeutert, Kameraden aus dem Arrest befreit und mehrere britische Offiziere getötet. Bald schon waren auch Cawnpore (das heutige Kanpur) und Gwalior, Nachbarstädte Agras, in den Händen der Rebellen, die jetzt die Vertreibung der Ostindien-Kompagnie überhaupt erreichen wollten. Auf der Suche nach einer Symbolfigur blickten sie nach Norden, wo der bejahrte Großmogul Bahadur Shah Zafar noch immer im Roten Fort in Agra Hof hielt, und erklärten ihn zu ihrem Anführer. Der 82-jährige Greis, bekannter für seine ghazals und seine Urdu-Dichtungen als für seine Staatskunst, ließ sich darauf ein und rief sich zum Kaiser von Indien aus, womit er die britische Kolonialverwaltung offen herausforderte. Die Herrscher verschiedener nord- und mittelindischer Staaten schlossen sich ihm an. Da die Streitkräfte der Ostindien-Kompagnie nicht auf einen Aufstand vorbereitet gewesen waren, konnten die Meuterer zunächst Erfolge verbuchen. Die Briten mussten Delhi vier Monate lang belagern, bis sie es am 21. September 1857 schließlich einnehmen konnten. Bahadur Shah Zafar wurde in einem Schnellverfahren verurteilt und außer Landes geschafft. Der letzte Großmogul, ein Nachkomme des legendären Mongolenkhans Tamerlan, wurde wenig würdevoll auf einem Ochsenkarren aus Delhi in Richtung seines Exils im birmanischen Rangun gefahren. Damit endete eine Ära indischer Geschichte.

Die Rache der Briten war gnadenlos. Hunderte Aufständische wurden nach buchstäblich kurzem Prozess gehängt, andere vor Kanonen gebunden und durch das Abfeuern in Stücke zerrissen. Delhi wurde nicht verschont; zahlreiche historische Denkmäler in der Stadt wurden geplündert, Kunstgegenstände und Manuskripte weggeschleppt oder vernichtet, Hunderte harmloser Zivilisten hingerichtet. Die Einwohnerschaft Agras wurde zu einer kollektiven Geldbuße verurteilt, weil sie den Aufständischen geholfen hatte. Zahlreiche Bauten und Häuser der Mogule in Agra wurden abgerissen. Das Blut der Meuterer sickerte in die staubigen Ebenen Mittel- und Nordindiens; ihre Leichen baumelten an Bäumen und Laternenmasten und warnten potenzielle Nachahmer davor, die Herrschaft der Kompagnie noch einmal in Frage zu stellen. In diesem Land wurde Karim sechs Jahre nach dem Verstummen der Kanonen geboren.

Er war erst 13, als Premierminister Benjamin Disraeli seiner Königin Victoria 1876 den Titel einer Kaiserin von Indien gab. Die Ostindien-Kompagnie war bereits 1858 aufgelöst worden; der britische Staat übte die Macht in den indischen Besitzungen jetzt direkt aus. Es gab jetzt einen Secretary of State for India, einen Staatssekretär für Indien, bei der Regierung in Westminster und einen Viceroy, einen Vizekönig, als Vertreter der Krone in Indien.

Die Königin war sehr angetan von ihrem neuen indischen Herrschertitel und ließ auf dem am 1. Januar 1877 in Delhi abgehaltenen Hoftag, der ersten der künftig als Delhi Durbar bekannten zeremoniellen Versammlungen während der britischen Herrschaft, folgende offizielle Erklärung verlesen: »Wir sind Uns gewiss, dass diese Versammlung die Bande der Zuneigung zwischen Uns und Unseren Untertanen noch enger knüpfen wird und dass alle, die Höchsten wie die Niedrigsten, unter Unserer Herrschaft in den Genuss jener großartigen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kommen werden.« Karim könnte diese Botschaft als Jugendlicher in Meerut City gehört haben.

Nachdem die britische Krone die Verwaltung der indischen Provinzen von der aufgelösten Ostindien-Kompagnie übernommen hatte, führte sie tiefgreifende Reformen durch. Rasch und energisch ausgebaut wurden besonders die Eisenbahnverbindungen, um das Innere des Landes zu erschließen. Cawnpore, Lucknow, Meerut und Agra, die nordindischen Zentren des Aufstands, erhielten Bahnanschluss. Die East India Railway führte von der Hauptstadt Kalkutta durchgehend bis nach Delhi, und die Central India Railway verband zum Beispiel Bombay und Baroda mit dem Norden.

Im Gefolge des Aufstands wurde auch die britisch-indische Armee neu aufgebaut, und Karim erlebte als Kind in den Garnisonen von Lalatpur und Meerut City, wie die paradierenden Soldaten vorbeizogen. Er träumte davon, eines Tages eine ebenso prächtige Uniform zu tragen. Er war das zweite von sechs Kindern und hatte einen älteren Bruder, Abdul Azeez, und vier jüngere Schwestern.

Als das 36. Regiment nach Agra verlegt wurde, kam Karim in die Schule, obwohl er die meiste Zeit mit den anderen Kindern draußen herumtobte. »Heute bedauere ich sehr, dass ich während meiner Grundschulzeit mehr Zeit mit Spielen als mit Lernen verbrachte«, schrieb er später in seinen Erinnerungen. »Als Lieblingskind meiner Mutter wurde ich ziemlich verwöhnt und gab mir keine Mühe mit Lernen.«1 Im Jahr 1874 wurde Haji Wuzeeruddin dann zum Second Regiment der Central India Horse versetzt, einer Kavallerieeinheit, die in Agar an der Grenze zwischen Rajputana und den Zentralprovinzen stationiert war (heute stoßen hier die Bundesstaaten Rajasthan und Madhya Pradesh aneinander). Nach einem Jahr Dienst in Agar ließ Wuzeeruddin seine Familie nachkommen. Frau und Kinder reisten im Ochsenkarren mit Tagesetappen von knapp 40 Kilometern. Sie brauchten einen Monat bis an ihr Ziel.

Im neuen Quartier kümmerten sich die Eltern dann verstärkt um Karims Erziehung. Bei einem Privatlehrer, einem Maulvi oder islamischen Gelehrten, studierte er bis zum Alter von 18 Jahren. Hier lernte er Persisch und die Amtssprache des Mogulreiches, Urdu, und las Bücher über den Islam und seinen Propheten Mohammed.

Ein Jahr nach Ausbruch des britisch-afghanischen Kriegs 1878 wurde Haji Wuzeeruddin mit dem First und Second Regiment der Central India Horse unter Colonel Martin nach Afghanistan beordert. Der inzwischen 17-jährige Karim war von Kummer überwältigt, als er von dem Marschbefehl hörte, weil er glaubte, seinen Vater nie wiederzusehen. »Ich war sofort entschlossen, nicht in Ruhe und Bequemlichkeit zurückzubleiben und meinen Vater unbegleitet den Strapazen des Feldzugs auszusetzen, besonders, da ich mir sicher war, ihm von Nutzen sein zu können«, schrieb er. Seine Eltern waren dagegen, aber Karim ließ sich nicht aufhalten.

Sie passierten Lahore, »eine prächtige Stadt« mit »großartigen und zahlreichen« Mausoleen und Schreinen, und reisten weiter durch Jhelum, Rawalpindi und Peshawar mit Zwischenhalten in den Forts Basawal, Sandamuck und Jellalabad. Karim war voller Entdeckerdrang angesichts der rauen Landstriche voller Stammeskrieger. In Fort Jellalabad war es gewesen, wo der erschöpfte britische Feldchirurg Dr. William Brydon am 13. Januar 1842 endlich Sicherheit fand. Er war der einzige Überlebende einer Streitmacht von 4500 Soldaten und 12 000 zivilen Tross-Angehörigen, die auf dem Rückzug von Kabul nach Jellalabad während des Ersten Britisch-Afghanischen Kriegs (1837–1842) von afghanischen Kriegern massakriert worden waren. Die Rückkehr des einsamen Überlebenden am Ende seiner Kräfte wurde mehrfach dramatisch auf die Leinwand gebannt, und auch die britischen Kolonialbehörden hatten die hohen Verluste dieses Feldzugs nicht vergessen. Fast 40 Jahre später war Afghanistan weiter unruhig, und die Briten mussten ständig fürchten, dass das russische Zarenreich versuchen würde, über Afghanistan in Indien einzufallen. Nach einem Zusammenstoß britischer und russischer Truppen wegen der Einrichtung einer diplomatischen Mission in Afghanistan kam es 1878 zum Zweiten Britisch-Afghanischen Krieg.

Wuzeeruddins Regiment hatte Jellalabad kaum erreicht, da kam auch schon der Befehl zum in der Folge berühmt gewordenen Marsch auf Kandahar unter General Roberts im August 1880. Roberts war während der Belagerung Delhis bei der Meuterei von 1857 Offizier gewesen. Binnen drei Stunden waren die Soldaten unterwegs. Wuzeeruddin war als Sanitäter dabei; Karim durfte ihn ab jetzt nicht mehr begleiten, da er kein Angehöriger oder Zivilangestellter der Armee war. Er machte sich notgedrungen allein auf die Heimreise. Als er die 800 Kilometer von Jhelum nach Agra geschafft hatte, fand er seine Mutter krank vor Sorge vor.

Der historische Marsch der 10 000 britischen Soldaten von Roberts’ Kabul Field Force – eine von drei Marschkolonnen der Invasionsarmee – zunächst nach Kabul und dann nach Kandahar brachte einen entscheidenden britischen Sieg über den Afghanenherrscher Sardar Mohammed Ayub Khan. Einige Monate später war der Krieg vorbei; General Roberts kehrte im Triumph nach Großbritannien zurück, um dort zum Ritter geschlagen zu werden.

Wuzeeruddin erhielt nach dem Kriegseinsatz vier Monate Heimaturlaub. »Unsere ganze Familie war sehr froh und glücklich, sein Antlitz wiederzusehen«, schrieb Karim. »Wir alle dankten der Vorsehung, dass sie uns wieder zusammengeführt hatte.«

Karim reiste mit ihm nach Kabul zurück und bestaunte den Khaiberpass, den sie unterwegs überquerten. Eine 53 Kilometer lange schmale Straße windet sich hier durch die Berge des Hindukusch und dient Invasoren seit Jahrhunderten als Einfallstor nach Indien (schon Alexander der Große ist hier durchgezogen). Die unzugänglichen Steilhänge, bewacht von wilden Paschtunenkriegern, düstere Festungen in öden Gebirgssteppen, und dann die berühmten Basare Kabuls voller Wassermelonen und Trockenobst waren weit weg von den sanften Ebenen des Yamuna, in denen Karim aufgewachsen war.

Nach der Rückkehr aus Afghanistan nahm Karim eine Stelle beim Nawab von Jawara an, der ihn zu seinem Naib Wakil (Stellvertretenden Gesandten) an der Agency von Agar ernannte. Weil die britische Verwaltung inzwischen den Übergang von Zivilangestellten der Armee in die zivile Verwaltung gestattete, wechselte Wuzeeruddin ans Zentralgefängnis von Agra. Während Karim in Agar arbeitete, arrangierten seine Eltern eine Heirat für ihn in Agra, und er nahm zwei Monate Urlaub für seine Hochzeit. Als er nach Agar zurückkehrte, fühlte er sich einsam und hatte Heimweh. »Das musste ich allerdings ertragen, denn die Pflicht muss stets Sieger über das Gefühl bleiben, und so blieb ich«, schrieb er. Erst nach einem weiteren Jahr nahm er sich wieder einen Monat Urlaub, um seine Familie zu besuchen.

Nach drei Jahren im Dienst des Nawab von Jawara bekam er eine Stelle am Zentralgefängnis von Agra angeboten, wo ja auch sein Vater bereits angestellt war. Für monatlich zehn Rupien versah Karim die Arbeit eines vernacular clerk, eines Sekretärs für den Umgang mit Einheimischen, beim Gefängnisdirektor. Wuzeeruddin zog mit der Familie ins Viertel Hariparbat nahe dem Gefängnis. Die Familie besaß außerdem etwa fünf Morgen Land in der Umgebung. Karim ging gerne in den Wäldern um die Stadt auf die Jagd nach Rotwild, Schwarzböcken und Tigern. Die rajasthanischen Seen dienten zahlreichen Wildvogelarten als Brutgebiet, unter anderem den Kranichen, die jeden Winter aus Sibirien hierherkamen und bis in den Frühling blieben. Agra, die Stadt des Tadsch Mahal, war jetzt die Heimat der Familie. Hier ließ sich Karim mit seiner jungen Braut nieder. Auch deren Brüder arbeiteten im Gefängnis, und die Großfamilie, in der alle zusammenhielten, war im Viertel bald gut bekannt.

An jenem Sommermorgen, als Karim auf die Stadt hinausschaute, wusste er noch nicht, dass sich sein Leben schon bald radikal ändern würde.

Die Stadt war inzwischen erwacht, und die Ufer des Yamuna waren bereits voller Kamele und Elefanten, die von ihren Besitzern hierher zur Tränke geführt wurden und auf dem Rückweg gleich den Wasservorrat für den Tag mitnahmen. Auf den Märkten von Loha Mandi und Sadar Basar schlugen die Händler ihre in rotes Tuch gebundenen Hauptbücher auf und legten die Tagespreise ihrer Ware fest. Gewürze, Baumwolle, Weizen, Kichererbsen, Speiseöl, Zuckerrohr – alles Produkte dieses fruchtbaren Anbaugebiets – würden durch ihre eifrigen Finger wandern, wenn sie ihre Geschäfte abschlossen. Agra war schon im Reich der Großmoguln ein Handelszentrum gewesen, das Mittel- und Westindien mit den rauen Ländern des Nordwestens verband, und blieb es unter den Briten.

Auch die Handwerker begannen den Tag. Teppichweber strömten an die Webstühle von Otto Weyladt & Co., der größten Teppichweberei Agras, um die feinsten Teppiche für den Export herzustellen. In den engen Gassen rund um das Gefängnis begannen die Intarsienschneider, für die Agra seit den Zeiten des Großmoguls Akbar berühmt war, mit der Arbeit. Sie schnitten riesige Marmortafeln zurecht und fertigten wunderbare edelsteinbesetzte Einlegearbeiten daraus.

Unter dem Lärm ihrer Hämmer und Meißel, der jetzt die Morgenstille vertrieb, verabschiedete sich Karim von seinem Vater, rückte seinen pugree zurecht und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Zentralgefängnis. Mit 1,80 Metern Größe, dunklen intensiven Augen und einem ordentlich gestutzten Bart machte er eine beeindruckende Figur. Heute war ein wichtiger Tag; Superintendent John Tyler, der Gefängnisdirektor und sein Vorgesetzter, hatte ihn zu sich bestellt.

Tyler hatte immer viel zu tun. Eigentlich Arzt von Beruf war er zwar für seine Wärme und Umgänglichkeit beliebt, aber auch bekannt für Taktlosigkeit und Unbeherrschtheit.2 Als Anglo-Inder sprach er fließend Hindustani und hatte keine Probleme im Umgang mit den Einheimischen. Tyler war gerade erst aus London zurückgekehrt, wohin er zur erfolgreichen Colonial and Indian Exhibition von 1886 gefahren war. Anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten war die zweite Strophe der britischen Nationalhymne auf Sanskrit gesungen worden, was es noch nie gegeben hatte. Tyler hatte 34 Häftlinge seines Gefängnisses zur Ausstellung begleitet, die dort ihr Geschick als Teppichweber vorgeführt hatten. Teppichweberei wurde im Gefängnis als Teil des Rehabilitationsprogramms betrieben. Sie war in der Stadt ein traditionelles Gewerbe, seit Großmogul Akbar die besten Teppichweber aus Persien in seine Hauptstadt geholt hatte, damit sie dort ihr Wissen weitergaben. Da die Gefangenen ja naturgemäß nicht unter Zeitdruck standen, konnten sie ihr Handwerk mit großer Sorgfalt ausüben und stellten die exquisitesten Mogulteppiche aus Seide, Baumwolle und Wolle her. Inzwischen waren die Teppiche aus der Gefängnisweberei weltweit berühmt, und die britische Verwaltung hielt an dieser Tradition fest.

Die Teppichweber des Gefängnisses von Agra hatten Königin Victoria mit ihrer Kunstfertigkeit sehr beeindruckt. Karim, Tylers Untersekretär, hatte ihm bei der Auswahl der Teppiche geholfen, die als Ausstellungsstücke nach England gehen sollten, und auch die Häftlinge selbst bestimmt, die sie als Weber begleiteten und die er zuvor persönlich begutachtet hatte. Der Gefängnisdirektor wollte der Königin zusätzlich noch ein Paar traditioneller goldener Armreifen schicken, sogenannte kadas, und auch hier hatte sich Karim nützlich gezeigt. Tyler hatte sich auf die Effizienz und den guten Geschmack Karims verlassen, der ein Paar massiv goldener kadas mit den traditionellen meenakari, in Emaille eingelegten Mustern, und zwei Drachenköpfen als Abschlüsse gewählt hatte. In indische Seide und Samt eingewickelt machten sich die kadas auf den Weg nach London, und Tylers Geschenk wurde von Ihrer Majestät gut aufgenommen. Am 20. September 1886 schrieb sie ihm, die Armreifen gefielen ihr sehr, und sie habe sie am vergangenen Abend getragen.

Tyler erzählte Karim, wie erfolgreich die Ausstellung gewesen war, und bedankte sich für seine Hilfe. Dann hatte der Gefängnisdirektor noch einen weiteren Vorschlag. Die Königin hatte bei seinem Aufenthalt in London den Wunsch geäußert, für das nahende goldene Thronjubiläum einige indische Bedienstete am Hof zu haben. Sie erwartete zu den Feierlichkeiten mehrere fürstliche Persönlichkeiten aus Indien und brauchte jemanden, der ihr half, mit den Hoheiten zu sprechen, die ihr vorgestellt werden würden.3 Tyler hatte erwidert, da kenne er den richtigen Mann. Jetzt fragte er Karim, ob er nicht vielleicht eine Stellung am Königlichen Hof in England antreten wolle, als Page Ihrer Majestät während des goldenen Thronjubiläums im folgenden Jahr.

Karim war überwältigt. Er hatte auf eine Beförderung gehofft, aber keine auf einen derartig abgehobenen Posten. Über das Meer ins Mutterland selbst zu reisen und der Königin persönlich dienen zu dürfen war ein wahr gewordener Traum für ihn. Er schaute zu dem Porträt der Königin hinüber, das Tylers Arbeitszimmer zierte und das sie majestätisch auf dem Thron sitzend zeigte. In einem wahren Adrenalinrausch nahm er das märchenhafte Angebot an und machte auf der Stelle mit seinem Vorgesetzten aus, in Kürze ein Jahr Urlaub zu nehmen und nach England aufzubrechen.

Allerdings hatte Karim das Wort orderly in seinem indischen Sinn aufgefasst, wo es den berittenen Begleiter eines Herrschers oder einer hochgestellten Persönlichkeit bezeichnet, also mehr das, was im europäischen Militär eine Ordonnanz ist. Das ist natürlich eine sehr viel herausgehobenere Position als die eines orderly in der britischen Armee, die einem Offiziersburschen entspricht – einem Mannschaftsdienstgrad, der sich um Essen und Wäsche eines Offiziers kümmert und seine Stiefel putzt. »Ich hatte den Begriff im ersteren Sinne verstanden und war unter dieser Voraussetzung nach England gegangen«, schrieb Karim später, als er herausfand, dass er die Königin nicht etwa glanzvoll beritten begleiten, sondern ihr bei Tisch aufwarten sollte.

Zunächst aber folgten hektische Monate für Karim, der sich an britische Umgangsformen gewöhnen und die Hofetikette lernen musste. Als persönlicher Bediensteter der Königin musste er sich auch im Protokoll zeremonieller Ereignisse auskennen. Er bekam erklärt, wie er die Königin zu begrüßen hatte, übte, wie man sich korrekt verbeugt, und trainierte, wie man lange regungslos still steht. Man sagte ihm, dass neu eingestellte Bedienstete der Königin nie direkt in die Augen schauen dürfen, sondern nur auf die Füße. Er bekam die Familienverhältnisse der Herrscherin erklärt – wer der Prince und die Princess of Wales waren, das Kronprinzenpaar, wie ihre jüngeren Kinder hießen und wie sie mit dem europäischen Hochadel verwandt und verschwägert waren. Die Königin, so erfuhr Karim, hielt sich gewöhnlich in einer der drei Residenzen Windsor Castle, Balmoral Castle oder Osborne House auf, am liebsten auf Windsor Castle. Den Buckingham Palace, die offizielle Stadtresidenz in London, benutzte sie dagegen nur für Staatsempfänge und blieb kaum je über Nacht dort. Und natürlich musste Karim jetzt sehr rasch Englisch lernen, zumindest so viel, dass er sich mit seiner neuen Dienstherrin und den anderen Hofangehörigen verständigen konnte. So saß er Abend für Abend mit einem illustrierten Sprachführer, den ihm Tyler gegeben hatte, bei Lampenlicht da und übte die Sätze ein, die er im britischen Alltag brauchen würde.

Ein angesehener Schneider aus Agra wurde beauftragt, für Karim eine spezielle Uniform anzufertigen – eine lange Tunika im indischen Stil in dunklem Rot und Blau, mitsamt passenden pugrees und Schärpen. Dazu wurden weite weiße Hosen, die salwars, getragen. In der wenigen freien Zeit, die ihm noch blieb, ließ Karim sich derweil von seiner Frau beibringen, wie man seine Lieblingsgerichte kochte, damit er darauf in England nicht verzichten musste. Die Aufregung war groß im Haus der Familie in Hariparbat, als sich der junge Karim darauf vorbereitete, über das Meer zu fahren und seiner Herrscherin zu dienen. Seine Schwager, von denen zwei ebenfalls im Gefängnis von Agra angestellt waren, kamen zu Besuch und neckten ihn gutmütig, während er sich mit dem vielen Lernstoff herumschlug; seine Schwiegermutter segnete ihn und ermahnte ihn, im kalten England gut auf sich zu achten.

Bald lernte Karim auch seinen Reisegefährten und künftigen Dienerkollegen Mohammed Buksh kennen. Der füllige und immer fröhliche Buksh war ein Bediensteter des Generals Thomas Dennehy, des politischen Agenten in Rajputana. Er verwaltete den gesamten Haushalt des Generals. Dennehy war auf eine neue Stellung als zusätzlicher Groom-in-Waiting der Königin versetzt worden und sollte für die indischen Bediensteten verantwortlich sein, wenn sie in England eintrafen. Buksh hatte zuvor mehrere Jahre für den Rana von Dholpore gearbeitet, den Fürsten eines einheimischen autonomen Staats in der Nähe Agras in Rajputana, und war mit den Tätigkeiten eines Kochs und Aufwärters gut vertraut. Karim, von seiner Ausbildung her Sekretär, hatte vom Bedienen keine Ahnung, lernte aber schnell und willig, beflügelt von der Aussicht, der Kaiserin von Indien persönlich zu dienen und bei den Jubiläumsfeiern mitzuwirken.

Als die letzte Naht genäht, die Englischfibel durchgearbeitet und der Schiffskoffer fertig war, ließ sich Karim von seiner Frau noch einige seiner Lieblings-pan und Betelnüsse für die lange Reise einpacken. Außerdem nahm er einen Kasten mit indischen Gewürzen mit. Anders als indische Hindus, die Seereisen und von Ausländern gekochtes Essen ablehnten, hatten die indischen Moslems keine religiösen Vorbehalte gegen Aufenthalte in Übersee, aber trotzdem wollten Karim wie Buksh möglichst auch in der Ferne nicht auf ihre gewohnten Speisen verzichten.

Als der Tag der Abreise da war, verabschiedete sich Karim bewegt von seiner Familie und brach zu seinem neuen Abenteuer auf. »Am 17. Mai verließ ich Agra und alles, was mir lieb und teuer war«, schrieb er.4 Sie fuhren zunächst mit der Bahn von Agra nach Bombay, wo es mit dem Postdampfer weiterging. Am 20. Mai ging Karim mit Dr. Tyler, Buksh und einigen Bharatpore Sardars an Bord des P&O-Dampfers Cathay. Als der Hafen von Bombay am Horizont zurückblieb und das Schiff im klaren blauen Wasser des Arabischen Meeres Kurs auf die offene See nahm, spürte er einen Kloß im Hals.

2 EIN JUBILÄUMSPRÄSENT

Bereits mehrere Wochen vor dem goldenen Thronjubiläum hatten in London die Vorbereitungen auf das Ereignis des Jahres begonnen. Journalisten und Fotografen legten sich an Kais und auf Bahnsteigen auf die Lauer, als Repräsentanten des Adels der gesamten Welt in London eintrafen. Sie kamen mit Dampfern und in Erster-Klasse-Abteilen, elegant gekleidet, Kinder und Kindermädchen im Schlepptau, Bedienstete und Träger unter Bergen von Gepäck ächzend. In London war die Saison voll im Gange, und dieses Jahr war nichts zu teuer. Als Aushängeschild des Empire sollten die indischen Fürsten dienen, die von der Krone eigens eingeladen worden waren und ein wichtiger Bestandteil der Festlichkeiten werden sollten. Die Anwesenheit der reichen und glamourösen, juwelenbehangenen Maharadschas, Maharanis und sonstigen Fürstlichkeiten des Subkontinents würde, so das Kalkül der Regierung, nicht nur den Glanz des Jubiläums erhöhen, sondern auch die Loyalität der indischen Besitzungen demonstrieren.

Es war nicht ganz einfach gewesen, die erwünschten Symbolfiguren nach London zu lotsen. Einerseits war es vielen hinduistischen Maharadschas durch ihren Glauben verboten, die sprichwörtlichen kala pani, die dunklen Wasser des Meeres zu überqueren, also eine Überseereise anzutreten. Andererseits waren diejenigen, die gerne teilnehmen wollten, nicht immer geeignete Repräsentanten. Zwischen dem Staatsekretär im India Office von Whitehall, der vizeköniglichen Verwaltung in Kalkutta und den politischen Agenten in den Fürstenstaaten gingen ununterbrochen Telegramme hin und her. Vizekönig Lord Dufferin schickte dem Staatssekretär Lord Cross detaillierte Profile der einzelnen Kandidaten und suchte diejenigen heraus, die in ihrer einheimischen Tracht eine gute Figur machen würden, fließend Englisch sprachen und sich in der westlichen Gesellschaft einigermaßen zu benehmen wussten. Zwischen diesen drei Kategorien mussten Kompromisse geschlossen werden.

Das »blaueste indische Blut«, so Lord Dufferin, das er aufgetrieben habe, sei wohl Pertab Singh, Spross eines hochadeligen Rajputenhauses – sein Bruder war Maharadscha von Jodhpur –, der sich bereit erklärte, »versuchsweise« übers Meer zu reisen. Aber selbst dieser noble Rajpute hatte seine Nachteile. »Sein persönliches Erscheinungsbild, insbesondere in europäischer Kleidung, ist leider nicht unbedingt einnehmend«, warnte der Vizekönig.1 Außerdem, fügte Dufferin hinzu, ließen Pertabs Englischkenntnisse zu wünschen übrig, seine Zähne seien durchs Betelkauen verunstaltet, und »seine Vorstellung eleganter Kleidung beschränke sich unglücklicherweise darauf, möglichst wie ein englischer Jockey auszusehen«. Immerhin aber war er ein leidenschaftlicher Sportsmann und im Sattel zu Hause. Niemand kam ihm in der Wildschweinjagd, bei Querfeldein- und Bahnrennen so schnell gleich.

Was Pertab Singh an persönlicher Eleganz fehlte, machte er überdies durch seinen Rang wett, und was den anderen an Rang fehlte, glichen sie durch ihre malerische Erscheinung aus. Der Maharadscha von Cooch Behar, überlegte Dufferin, sei wohl eine gute Wahl, da er »der britischen Vorstellung von einem echten indischen Radscha sehr nahekommt«. Selbst in europäischer Kleidung wirke er gentlemanlike, außerdem bringe er eine »nette kleine Gattin« mit. Lady Dufferin habe ihr bereits gut zugeredet, sie solle unbedingt in einheimischer Tracht erscheinen, »in der sie bezaubernd aussieht«, und Dufferin bat darum, die Königin selbst solle ihr noch einen entsprechenden Wunsch übermitteln.

Bei einigen anderen, wie Holkar, dem Maharadscha von Indore, waren deutlichere Warnungen angebracht – »Er ist ein grober, vulgärer Mahratte ohne Manieren« –, aber selbst er hatte seine Vorzüge. »Er wird von einem großen Hofstaat begleitet, dessen prächtige Kostümierung die Jubiläumsfeierlichkeiten sehr beleben wird«, kommentierte Dufferin.

Erst nach vier Monaten lagen die Einladungslisten fertig vor. Dufferin schickte detaillierte Instruktionen mit, wie die Königin die einzelnen Fürstlichkeiten empfangen, zu welchen Anlässen man sie einladen solle, in welcher Rangfolge sie zueinander standen und wie der Staatssekretär dafür sorgen solle, dass ihnen in London etwas geboten wurde. Sie reisten alle auf eigene Kosten und erwarteten ein anspruchsvolles Besuchsprogramm. Die britischen Offiziere in ihrer Begleitung würden die Besichtigungstouren übernehmen, die Königin könne vielleicht einen Durbar, einen Hoftag im indischen Stil, mit ihnen veranstalten und der Staatssekretär einen Empfang zu ihren Ehren geben. Sie sollten alle in den Buckingham Palace eingeladen werden und Plätze in der Westminster Abbey bekommen. Protokoll und Formalitäten warfen schwierige Fragen auf: »Ob die Fürsten an einer Levée mit der Königin persönlich teilnehmen können, ist eine delikate Frage, da sie in diesem Fall vor Ihrer Majestät niederknien und ihr die Hand küssen müssten«, warnte Dufferin.

Lord Cross wiederum schrieb aus London zurück: »Die Königin wünscht, dass sie allesamt in ihrer einheimischen Tracht erscheinen. Europäischer Anzug wäre geschmacklos.«2

Diese Jubiläumsfeier sollte später als Vorbild für weitere Großereignisse der Monarchie dienen – das diamantene Thronjubiläum, den Krönungs-Durbar König Edwards VII