11,99 €
Sie ist eine der schillerndsten, exzentrischsten und interessantesten Frauen, die es derzeit im Fashion Business gibt. Stardesignerin Vivienne Westwood erzählt gemeinsam mit Ian Kelly in diesem Buch zum ersten Mal ihr Leben. Es ist die Geschichte einer Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich selbst das Schneidern beibrachte und damit die Grundlage ihrer in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte schuf. Ihre berühmten Kreationen trugen dazu bei, dass der Punk beim Mainstream ankam, sie machte Mode zur Kunst, die den Körper umgibt. Sie steht heute für Glamour ebenso wie für politische und ökologische Ideale und prägt die Avantgarde Englands. Mit ihrer unkonventionellen Lebensweise und Kreativität schrieb Vivienne Westwood nicht nur Modegeschichte, sondern beeinflusste auch die Pop- und Kulturgeschichte nachhaltig.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 650
VIVIENNE WESTWOOD gilt heute als eine der einflussreichsten Modedesignerinnen der Welt. Zum ersten Mal überhaupt erzählt sie in einer Mischung aus persönlichem Memoir und autorisierter Biografie aus ihrem Leben – in ihren eigenen Worten, ergänzt durch vielschichtige Beiträge von Freunden, Weggefährten und ihrer Familie.
IAN KELLY, preisgekrönter Autor von Biografien über Beau Brummell und Giacomo Casanova, hat zwei Jahre mit VIVIENNE verbracht, um auf einzigartige Weise von den bekannten und unbekannten Gesichtern einer Frau zu erzählen, die Millionen Menschen beeinflusst hat.
VIVIENNE WESTWOOD & IAN KELLY
VIVIENNE WESTWOOD
Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Titel der englischen Originalausgabe: »Vivienne Westwood«
Für die Originalausgabe: First published 2014 by Picador, an imprint of Pan Macmillan
Copyright © Vivienne Westwood Limited and Ian Kelly
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Judith Roth, Frankfurt Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München Coverfoto: © Juergen Teller E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-5836-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
»Es ist meine Pflicht, zu verstehen. Die Welt zu verstehen. Das ist unser Preis für das Glück, am Leben zu sein. Die Kunst unserer Vorfahren eröffnet uns die Möglichkeit, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – das ist die wahre Bedeutung von Kultur –, und dadurch können wir die Vision einer besseren Welt entwerfen. Einer Welt, die besser ist als die, in der wir leben, und die wir verunstaltet haben. Wir können unsere Zukunft beeinflussen. Der beständige Versuch, seiner Vision näher zu kommen und die Reflexion darüber verändert unser Leben. Und indem man sein Leben verändert, wird man die Welt verändern.«
© Vivienne Westwood Limited
»Das Kind sieht alles im Lichte der ›Neuheit‹. (…) Aber das Genie ist doch nichts anderes als die freiwillig wiedergefundene Kindheit.«
CHARLES BAUDELAIRE,Der Maler des modernen Lebens
»Tanze nie ohne eine Geschichte im Kopf.«
RUDOLF NUREJEW
Paris Fashion Week, vor der Show der Frühling/Sommer-Kollektion 2014
»Sprich mich jetzt bloß nicht an, Ian, ich habe alle Hände voll zu tun.«
Ich schreibe dies unter einem Kleiderständer sitzend, an dem Garderobe im Wert von gut hunderttausend Euro hängt. Auf einer Seite steckt Vivienne Westwood in Beanie-Mütze und ausgefranster Strickjacke glitzernde Applikationen auf Strickwaren und weicht meinen Fragen aus, auf der anderen Seite schwankt ein größtenteils unbekleidetes Model auf Plateau-High Heels. Wir befinden uns irgendwo im 2. Arrondissement. Es ist drei Uhr nachts.
Einige Fakten, die Sie über Vivienne Westwood wissen müssen: Sie ist unermüdlich. Selbst jetzt, kurz vor Morgengrauen, ist sie noch auf den Beinen und arbeitet so hart und intensiv wie eine fünfzig Jahre Jüngere. Sie sieht fantastisch aus: »Eine Haut wie Porzellan«, genau wie ihre Freundin Tracy Emin sie mir beschrieben hat. Sie ernährt sich scheinbar nur von Äpfeln und Tee. Sie ist unglaublich intelligent. Man darf sich nicht von ihrer albernen Northerner-Masche blenden lassen, ihr Verstand ist messerscharf und sie setzt ihre Argumente so präzise ein wie die Stecknadeln, die sie am Ärmel trägt. Sie ist ein wenig schwerhörig, wobei ich vermute, dass es sich um eine Art taktische Taubheit handelt, die sie vor dem Lärm ihrer Umgebung schützt. Das Wichtigste, was ich über Vivienne gelernt habe, ist jedoch: Sie hat sich das Kind in ihr bewahrt, trotz aller Widrigkeiten. Staunend. Fragend. Offen. Patzig. Lebhaft. Bisweilen mit Lust am Verkleiden. Manchmal unhöflich. Dann wieder herzerwärmend loyal und liebevoll. Meist wohlerzogen. Ab und zu explodiert sie auch.
Mit dreiundsiebzig, so könnte man meinen, sei das nicht gerade die feine Art, ja sogar höchst unpassend für eine Dame of the British Empire, Chefin eines globalen Modelabels und eine der bekanntesten Engländerinnen der Welt. Auch nicht sehr grande couturière hier in Paris für eine Frau, die sich selbstgefällig auf ihren Lorbeeren ausruhen könnte, »die Coco Chanel unserer Zeit«. Eine Frau, die in Fernost bekannter ist als die Queen oder Madonna und die bis heute noch jeden Tag mit dem Fahrrad die Londoner Battersea Brigde Road entlang zur Arbeit fährt.
Wenn Sie der oben genannten Meinung sind, dann werden Sie an dieser Geschichte wohl kaum Gefallen finden. Auch wenn Sie Mode mehr oder weniger für Firlefanz halten oder glauben, eine über Siebzigjährige hätte weniger, nicht mehr Recht darauf als eine Jüngere, die Welt vor zukünftigen Gefahren zu warnen oder die Vergangenheit zu kritisieren, können Sie dieses Buch getrost beiseitelegen. Wie Vivienne neulich zu mir sagte, würde das »eine Menge Bäume retten«.
Wenn Sie dagegen über ein paar Runden dieser Punk-Großmutter zusehen möchten, die immer noch im Ring steht und für das kämpft, was ihr richtig und schön erscheint, während viele ihrer Altersgenossen sich mit einem Lehnstuhl und ihren Erinnerungen begnügen, dann bleiben Sie bei ihr. Sie könnten genauso geblendet und von unerwarteten Einblicken in einen einzigartigen Verstand überrascht werden wie ich während meines Jahres mit Vivienne Westwood. Meinem Jahr des magischen Blingbling. Denn in dieser Geschichte geht es um viel, viel mehr als nur um Mode, obwohl diese ihren Grundstoff bildet.
»Schau, Ian, ich meine ja nur, dass du jetzt nicht mit mir reden sollst, weil ich mich konzentrieren muss. Geh und hol dir einen Drink. Die sind für alle verfügbar, ich nicht.«
Noch etwas, was Sie über Vivienne wissen müssen: Sie kann sehr lustig sein.
26. September 2013, zwei Uhr morgens, und noch liegen zweiundsechzig Stunden vor uns. Zweiundsechzig Stunden, bis die neue Vivienne Westwood-Kollektion in Paris zum ersten Mal präsentiert wird. Die Gold Label-Kollektion ist die Flaggschiff-Linie der Vivienne Westwood Group und ihre beiden jährlichen Präsentationen in Paris (Frühling/Sommer, Herbst/Winter) bilden für Vivienne die Höhepunkte des Designerjahres. Obwohl sie noch weitere Kollektionen führt – Red Label, eine junge Linie, Red Carpet (nomen est omen), Anglomania (eine nach ihren Ideen und klassischen Entwürfen in Lizenz gefertigte Casual Wear) sowie die Männerlinie MAN, die jeweils in Mailand und bei Shows in Fernost und anderswo gezeigt werden –, sind die Pariser Eröffnungsschauen von zentraler Bedeutung für Vivienne. Dasselbe gilt für all die anderen Modehäuser, die jedes Jahr um diese Zeit die Hotels rund um die Place Vendôme füllen. Chanel, Dior, Prada, Comme des Garçons – in dieser Woche zeigen alle ihre Kollektionen. Vivienne zeigt nur teilweise eine »Couture«-Kollektion, ihre Show läuft in der Prêt-à-porter-Woche. Diese Identität stiftenden, Trends setzenden High-End-Kollektionen werden noch immer in Paris vorgestellt, obwohl sich in den letzten Jahrzehnten auch andere Städte als Modemetropolen etabliert haben, etwa New York, London, Mailand oder Hongkong. Die meisten Kollektionen sind ein Verlustgeschäft, obwohl Vivienne mir stolz erzählt hat, dass ihr Gold Label sehr wahrscheinlich durch Sonderbestellungen Profit abwerfen wird. Die Pariser Fashion Week ist der Höhepunkt des Modekalenders. Alle paar Stunden endet eine Show und eine andere öffnet ihre Pforten. Die Bürgersteige sind überfüllt mit streichholzdünnen Frauen, die in hohem Tempo auf High Heels daherstöckeln und gleichzeitig mit dem Handy telefonieren. Im Ernst: Stellen Sie sich ihnen bloß nicht in den Weg! Es herrscht ein wahrer Tumult von Fashionistas und Fachpresseleuten, ein Hochglanzaufgebot von Käuferinnen und Models, Fotografen und Schnorrern. Auf diesem Ereignis liegt der Fokus monatelanger Arbeit in Vivienne Westwoods Londoner Studio sowie in den italienischen Schneidereien und Schuhfabriken. Die diesjährige Kollektion hat Vivienne Westwood »Everything is Connected« getauft – »Alles ist miteinander verbunden«. Bisher hatte ich Paris nur besucht, um gut zu essen oder eine Freundin zu beeindrucken. Diesmal habe ich für beides nicht den Hauch einer Chance, dafür werde ich mit einer einzigartigen Erfahrung belohnt.
Vivienne und die lange erwartete Running Order.Photo by Daniel Picado
In den letzten Jahrzehnten seit dem Beginn von Viviennes Tätigkeit als Designerin hat sich die Art, wie Mode vermarktet wird, grundlegend gewandelt. Ihre Entwicklung folgt einer seismischen Verschiebung dessen, was Mode ist und was sie für westliche Wirtschaftssysteme bedeutet. Früher war die Zielgruppe der Kollektionen ein außerordentlich privilegierter Kreis von Damen der Gesellschaft, die Garderobe für Galas, offizielle diplomatische Anlässe, Pferderennen und Teapartys benötigten. Was sie trugen, galt als Vorbild und wirkte durch die Verbreitung über Zeitschriften, Schnittmuster und Plagiate relativ schnell stilbildend. Die großen Häuser statteten nur wenige, auserlesene Kundinnen mit maßgeschneiderten Kleidern aus, deren unglaubliche Preise widerspiegelten, wie viele hoch qualifizierte Fachkräfte an ihrer Herstellung beteiligt waren. Heute wird eine Couture-Kollektion mit bedeutendem Verlust verkauft, trotz der atemberaubenden Preise. Ein einziges Vivienne Westwood-Outfit vom Laufsteg kann leicht zwischen 2500 und 7500 Euro kosten, ja, manche Kreationen sind auch schon für das Zehnfache verkauft worden. Dennoch ist dies nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kosten für Entwurf und Marketing, denn es handelt sich um Kunstwerke, in denen Tausende Arbeitsstunden von Dutzenden geschickten Händen stecken. Die Fashion Week hat nichts mit Vernunft zu tun. Sie dient – zunehmend über das Internet – der Vorgabe von Trends für Konfektionsbekleidung und Accessoires. Es geht darum, die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums und der Presse für das Modehaus oder den Designer und dessen Image zu wecken. Die Pariser Kollektionen symbolisieren in gewisser Weise Mode in ihrer reinsten Form: Mode als Kunstform. Mode, die ihre Zeit widerspiegelt. Mode, so sieht es Vivienne inzwischen, die sogar die Welt verändern kann.
Diese Kollektionen sind ein Publikumsmagnet, sowohl direkt vor Ort als auch im Internet, wobei die Menge der Zuschauer in keinem Verhältnis zur Anzahl derjenigen steht, die die gezeigten Modelle wirklich tragen werden. Während der Fashion Week verwandelt sich Paris in das Epizentrum eines einzigartigen Phänomens unserer Zeit: der neuen, globalen Faszination für Mode, einer neuen Sprache, die, hauptsächlich online, Design und Marketing, Berühmtheit, Kunst, Sinnlichkeit und Politik in einer Art und Weise miteinander verknüpft, die in der Kulturgeschichte Ihresgleichen sucht. Die Wurzeln dieses Phänomens reichen jedoch bis zu Viviennes frühen Arbeiten zurück, in denen sie Mode, Musik, Starkult und Zeitgeist vereinte. Deswegen halte ich Mode nicht nur für einen Spleen reicher Zicken, wobei sie das durchaus sein kann. Zugleich hat sie sich jedoch zu einem wichtigen Zweig der globalen Wirtschaft und einem bedeutenden Identität stiftenden Faktor des heutigen Europa entwickelt. Paris während der Fashion Week steht metaphorisch für eine bestimmte Richtung, in die sich die Weltwirtschaft entwickelt. Es ist eine Messe in großem Maßstab, aber auch ein Marketingevent für den Stil der Alten Welt, in dem Mode, Musik und ein neues Selbstbild ineinander verschmelzen. Im Vordergrund stehen aber natürlich die Geschäfte, zunehmend auch mit China.
Hunderttausende verfolgen das Geschehen online. Allein Viviennes Shows werden von zahlreichen professionellen Modejournalistinnen und Bloggerinnen bewertet, die die expandierenden Märkte in Fernost, Brasilien und Russland repräsentieren. Ihre Veröffentlichungen werden von einem riesigen Publikum akribisch verfolgt, in Schlafzimmern, Büros und den Einkaufsstraßen von Hongkong, São Paulo oder Moskau. Zuerst das Kabelfernsehen, dann das Internet haben die Mode revolutioniert und nichts ist dafür beispielhafter als die Geschichte von Vivienne Westwood, deren Name durch ihre Shows in Paris im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt bekannt geworden ist.
Paris ist der internationale Marktplatz für all die Accessoires, Parfüms und Zeitschriften, wichtig für alle, die sich von der Mode ernähren und um das kreisen, was sie erzeugt hat: Couture. Und hier, im Zentrum all dessen, behauptet sich auch Vivienne, die ehemalige Punkerin aus der King’s Road, die heute selbst eine weltweite Luxusmarke verkörpert. Sie hat sich ihren sarkastisch-humorvollen Blick auf das Business bewahrt, das Show ist, und sich trotz des Tohuwabohus ihre stille Leidenschaft für Schönheit erhalten, insbesondere in Stoff gehüllte Schönheit. Sie hört nicht auf, unermüdlich mittels der Mode ihre höheren Ziele in Kunst und Politik zu propagieren und nach den höchsten Standards in allem zu streben, was sie erschafft.
An dieser Stelle muss außerdem angemerkt werden, dass die Pariser Fashion Week zu den wenigen Gelegenheiten im Jahr zählt, bei denen Vivienne Westwood, der Schrecken des britischen Establishments, Großmutter, Mutter und Ökoaktivistin, ihren unfehlbaren Blick direkt und ausschließlich auf das lenkt, was sie weltberühmt gemacht hat: Kleidung. Während der restlichen Zeit des Jahres sind ihre Tage mit so viel anderem ausgefüllt. Doch nicht in Paris. In Paris widmet sie sich ausschließlich der Mode. Daher ist es wahrscheinlich der beste Ort, um sich Vivienne erstmals anzunähern, in diesem Moment kreativer Ruhe trotz der Hektik um – was, schon? – vier Uhr morgens, in diesem Sturm von Aktivität, der Vivienne Westwoods Lebensrhythmus üblicherweise bestimmt. Die Pariser Fashion Week endet an diesem Wochenende mit Viviennes Gold Label-Kollektion als einem der abschließenden Highlights. Und bis dahin sind es nur noch knapp drei Tage …
Das Haus Nummer 13 in der Rue du Mail, gleich hinter dem Palais Royale und der Pariser Nationalbibliothek, wird in dieser Woche komplett auf den Kopf gestellt. Das stattliche alte Gebäude, von Kriegen und kommerzieller Nutzung gebeutelt, einst das Heim von Liszt und später Sitz der Gestapo, beherbergt im ehemaligen Ballsaal Vivienne Westwoods Showroom. Jedes Jahr für jeweils drei Tage im September wird der Saal in den Stützpunkt für Vivienne Westwoods Gold Label-Show verwandelt. Die Show selbst findet an einem anderen Ort statt.
Angekommen in der Rue du Mail, kann ich den Vivienne Westwood-Showroom unmöglich verfehlen. Mädchen mit unendlich langen Beinen und klaren Augen strömen hinein und wieder heraus und schwingen sich draußen auf die Soziussitze wartender Mopedkuriere. Das sind die Models. Soeben aus Mailand eingefallen wie ein Heuschreckenschwarm, schwer voneinander zu unterscheiden, makellos schön und durchweg in Schwarz gekleidet. Mit ungeschminkten, ausdruckslosen Gesichtern pendeln sie auf den Rücksitzen von Mopeds von Casting zu Casting, ihre Stilettos in den Taschen und die langen Beine quasi um die Fahrer gewickelt. Jetzt, zwei Tage vor der Show der Hauptkollektion, findet das Casting statt. Ich folge den Mädchen ins Gebäude.
Der Ballsaal-Showroom wird von zehn Industriekleiderstangen unterteilt, an denen etwa einhundert einzigartige Couture-Kreationen hängen: Satin-Ballkleider, im griechischen Stil drapierte Schneiderkostüme aus Viskose, Wolle und Leinen, Kleider aus Baumwollstrick. Garderobe im Wert von über einer Million Euro. An einer Wand beherbergt eine Vitrine den gesamten Fundus an Vivienne Westwood-Handtaschen, an einer anderen Wand steht eine für den Schmuck. An einer dritten Wand befindet sich ein kleines provisorisches Büro aus Tischen mit Bildschirmen und Handys, ein Bienenhaus summend von Eventmanagern, geleitet von Kiko Gaspar, einem schneidigen, effizienten Portugiesen, der von Kopf bis Fuß in Vivienne Westwood gekleidet ist. Um die nächste Ecke wurde ein improvisiertes Fotostudio aufgebaut, ein Zyklorama mit grellweißen Scheinwerfern und einem Tisch, an dem ein Italiener mit glatt rasiertem Schädel die Qualität der Fotos optimiert. Heraus kommen Bilder von Mädchen in Laufsteg-Kreationen, die ausgedruckt, wie ein Kartenspiel gemischt und in die richtige Laufsteg-Reihenfolge gebracht werden.
Die Kleider, Schuhe und Strickwaren sind soeben aus Viviennes italienischen Fabriken und ihrem Londoner Studio eingetroffen. Der Schmuck für diese Kollektion wurde vom Zoll in Calais beschlagnahmt, doch niemand scheint sich über diese Panne in letzter Minute aufzuregen oder Sorgen zu machen. Einige Kleidungsstücke sind nicht einmal zur Hälfte fertig und liegen in Einzelteilen auf Schneidetischen zwischen Bögen von Seidenpapier mit Viviennes Logo. Das Casting der Models dient zugleich als Fitting für die Couture-Kreationen. Niemanden scheint es zu beunruhigen, dass Zwölftausend-Euro-Outfits in abgesteckten Einzelteilen auf dem Fußboden liegen, obwohl schon in gut zwei Tagen die Welt auf sie blicken wird. Auf Zehenspitzen laviere ich um sie herum und durch die Reihen der Models hindurch, die auf ihre Probevorstellung warten. Auf der Ballsaaltreppe stehen Schuhe, aufgereiht wie für hundert Punk-Aschenputtel. Ein leises Murmeln von Handygesprächen liegt in der Luft. Ich kann fünf Sprachen unterscheiden.
Ständig treffen mehr und mehr Leute ein, ohne dass es erkennbare Eingangskontrollen gibt. Als Eintrittskarte gilt anscheinend das Tragen mindestens eines Vivienne Westwood-Kleidungsstücks plus cooles Auftreten, dazu möglicherweise ein Tattoo. Das Zentrum des Raums wird von Viviennes Ehemann beherrscht, dem achtundvierzigjährigen Andreas Kronthaler, dessen Präsenz und hochgewachsene Gestalt alleine schon Respekt einflößen.
Wertvolle Gold Label-Einladung, gedruckt, bevor die Kollektion überhaupt einen Namen hatte.© Vivienne Westwood Limited
Was Modekenner längst wissen, interessierte Laien möglicherweise noch nicht: Seit zwei Jahrzehnten fungiert Vivienne Westwoods Mann und kreativer Mitarbeiter als Co-Designer all ihrer Arbeiten. Kennengelernt haben sich die beiden während Viviennes Zeit als Gastprofessorin an der Wiener Universität, wo Andreas zu ihren Studenten zählte. Mr und Mrs Kronthaler sind seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren zusammen, was auch in etwa dem Altersunterschied zwischen ihnen entspricht. Darüber später mehr. In diesem Augenblick spürt jeder im Raum, dass Andreas ebenso im Mittelpunkt steht wie Vivienne selbst. Im Kontext der Fashion Week kann er zusätzlich punkten, weil er das Aussehen eines raubeinigen Jeremy Irons mit dem Akzent von Arnold Schwarzenegger, einem irritierend magnetischen Blick und der Statur eines Tiroler Schmieds vereint. Das macht ihn zu einer auffälligen Gestalt in der Welt der Pariser Haute Couture. Alle, einschließlich Vivienne, scheinen ein wenig verliebt in ihn zu sein. Inmitten dieser beeindruckenden Szenerie ist es für mich eine ganz besondere Erfahrung, dieses Paar aus der Nähe zu erleben, das unter ziemlich stressigen Umständen zusammenarbeitet und dennoch entspannt und glücklich das Leben, die Kunst und das gemeinsame Geschäft miteinander teilt.
Zunächst weniger leicht zu entdecken ist Vivienne selbst, die irgendwo hinter den Kleiderständern beschäftigt ist und passenderweise ein Stirnband mit der Aufschrift »Chaos« trägt.
»Ich kann jetzt nicht mit dir reden, Ian – später, versprochen.«
Jedes der potenziellen Models wird fotografiert, einige von ihnen in den Outfits, die sie möglicherweise später tragen werden. Die Auserwählten werden auf einer Pinnwand mit einem roten Punkt markiert wie ein verkauftes Kunstwerk. Verantwortlich für die Auswahl der Models ist die Model-Bookerin Maiwenn, die einen Pearl-Harbor-Geisha-Look in Kombination mit Vivienne Westwood-Schuhen trägt. Die roten Punkte werden auf den Nasen der Mädchen angebracht; grüne Punkte bedeuten, dass ihnen die Kleider auch passen. Dies ist ein Vorteil, aber kein Nachteil für diejenigen, die nicht hineinpassen, da noch nicht alle Kreationen fertig sind. Issa, die japanische Wurzeln mit Modelgardemaß und einer ausdrucksvollen Haltung vereint, wird eventuell die Show eröffnen. Ajuma aus Nairobi, die regelmäßig für Vivienne läuft, ist zum ersten Mal nach der Geburt ihres Kindes wieder dabei. Marta aus Valencia, die einen Modelwettbewerb gewonnen hat, obwohl sie noch zur Schule gehen sollte, ist aufgeregt wie ein Hundewelpe und schön wie der Tag. Sie ist noch empfänglich für die Dramatik des Ganzen und den Spaß am Kleine-Mädchen-Verkleidungsspiel einer Pariser Laufstegschau. Die meisten anderen strahlen glamourösen Ennui aus und schotten sich mit ihren iPods von der Außenwelt ab.
Als ich sie alle zurücklasse, um eine Vogue-Redakteurin zu treffen, kristallisiert sich allmählich das Line-up der Mädchen und Kleider heraus.
»Es geht nicht nur um die Verfügbarkeit, sondern auch um die Chemie«, erklärt Maiwenn. »Viviennes Show ist nicht die höchst bezahlte in der Stadt, das war sie nie, daher verlieren wir möglicherweise einige der Mädchen. Andererseits ist es die Party, bei der alle dabei sein wollen, auch gegen den Willen ihrer Agenten. So geht es uns allen bei Vivienne.«
Noch dreißig Stunden und wieder sitze ich im Schneidersitz unter dem Kleiderständer, über mir eine Bolerojacke, die aus Chenille und Spinnweben gewebt zu sein scheint. Vivienne steckt sie mit Nadeln ab und verändert Nähte. Obwohl wir von einigen der schönsten Frauen der Welt in diversen Stadien der Nacktheit umgeben sind sowie von wunderschönen und außergewöhnlichen Stoffen und Kreationen in diversen Stadien der Fertigstellung, gelingt es Vivienne, sich nebenbei auf eine Presseverlautbarung mit Erklärungen zur Kollektion zu konzentrieren. Zettel mit Entwürfen umgeben sie wie Musterteile und fügen sich allmählich zu einem Text zusammen.
Zu diesem Zeitpunkt sollte ich Ihnen die Truppe von Vivienne Westwood vorstellen, deren Akteure überall im Saal verteilt ihre Aufgaben wahrnehmen. Eine Befehlskette oder Ähnliches kann ich nicht erkennen; es gibt weder eine Rangliste noch einen Chef. Der Ablauf entwickelt sich im Verborgenen und Anweisungen verbreiten sich osmotisch und im Flüsterton. Hauptdarsteller sind zunächst einmal natürlich Vivienne und Andreas. Sie pendeln zwischen den Fotowänden und den halb abgeschirmten Garderoben hin und her, wo sich die Models umziehen. Andreas ist ständig in Bewegung, Vivienne sitzt irgendwo oder arbeitet an einem Mannequin. In den nächsten Stunden werden die Models oft vor aller Augen angezogen. Christopher Di Pietro – Head of Marketing and Merchandising – kommt und geht und ist für alles zuständig, was nicht mit Design zu tun hat. Christopher ist in London, Paris und Ulster aufgewachsen und hat früher beim französischen Militär gedient. Heute trägt er derart auffällige Vivienne Westwood-Outfits, dass er in Pariser Restaurants darauf angesprochen wird, und dazu einen Bart, der seine attraktiven gallischen Züge halb verbirgt. Christopher zeichnet sich durch hohe Intelligenz aus und gehört zu den vielen klugen und engagierten Menschen, die Vivienne in ihrer Firma um sich geschart hat. Auch Carlo D’Amario, CEO und italienischer Pate von Vivienne Westwood Ltd., geht im Saal ein und aus. Mit dem rasierten Kopf und seiner untersetzten Gestalt ähnelt er einem Borgia-Papst. Er verkündet gern, dass er für den wirtschaftlichen Erfolg der Vivienne Westwood Group verantwortlich ist, und Vivienne widerspricht ihm nicht. Vivienne und er kennen sich schon seit den 1980er-Jahren, aus der Zeit an der King’s Road, und hatten damals auch eine kurze Liebesaffäre in Italien. Richtig in Erscheinung tritt er nur bei der Gold Label-Show und den anschließenden Treffen mit den italienischen Anwälten und den Käufern aus Fernost. Auch die »großen Drei« des Designs nach Vivienne und Andreas werden erst zur Show erscheinen. Murray Blewett und Mark Spye, Designmanager, die Vivienne seit den frühen 80er-Jahren begleiten, sowie Brigitte Stepputtis, Head of Couture, sind eng mit der Herstellung jeder Kollektion sowie ihrer späteren Verbreitung verbunden. Chefdesigner Alex Krenn, ein Bär von einem Mann, ist für sämtliche Stoffmuster verantwortlich und damit gemeinsam mit dem Designerpaar Joe und Beata de Campos für die Bildsprache Vivienne Westwoods auf Stoff und Papier. Kiko Gaspar aus Lissabon ist Chef-Eventmanager und daher bei dieser Veranstaltung in seinem Element. Er hat ein Lächeln für jeden, wenn auch ein wenig unverbindlich – ein allgemeiner Segen und eine allgemeine Aufforderung, gefälligst Gas zu geben. Ein Headset scheint fest mit seinem Kopf verwachsen zu sein. Im Showroom und auch später hinter den Kulissen stehen der supertrendige Designassistent Peppe und seine Freundin Ilaria kreativ gesehen im Mittelpunkt, zusammen mit den Stylistinnen Yasmin und Rachel. Make-up und Frisuren bilden eigene Bereiche, an deren Spitze Val Garland und Sam McKnight stehen. Maiwenn Le Gall und Brice Compagnon sitzen an einem der wenigen Tische und casten Models. Sie leben auf dem Planeten Mode, scheinen dort aber sehr glücklich. Der Westwood-Archivar und -Assistent Rafael, der einen dichten Bart trägt wie bei den männlichen Models in diesem Jahr üblich, strahlt unablässig durch den Schleier des Schlafmangels hindurch. Rafael löst alle Probleme für jeden, während er Kaffee und Essen aus der kleinen Küche in den Showroom bringt. Sein unerschütterlicher Humor und seine Fähigkeit, die Zusammenhänge zu erklären, machen ihn zu meinem Leitstern inmitten dieser seltsamen Geschehnisse. Normalerweise übernimmt Tizer Bailey diese Rolle, Viviennes persönliche Assistentin, eine Frau, die ätherische Schönheit – sie war in den 90ern eines von Viviennes Signature-Models – mit der beruhigenden Effizienz einer perfekten Schulsprecherin und einem ziemlich dreckigen Lachen vereint. Zum inneren Kreis zählt unter anderem Benedikt Sittler, ein weiterer ein Meter neunzig großer Österreicher, dessen über schulterlanges blondes Haar heute mit Bleistiften hochgesteckt ist. Er ist Andreas’ Assistent und stammt wie so viele andere hier – Georg, Alex, Brigitte – irgendwo aus dem ehemaligen Reich der Habsburger, wo Launen und Theatralik verpönt sind. Tatsächlich habe ich im Buchhandel bei WH-Smith mehr Dramen und Wutausbrüche erlebt als bei Vivienne Westwood. Es ist fast enttäuschend.
»Weißt du, es ist einfach toll. Wir arbeiten gerne hier«, erklärt Praktikantin Christina Nahler. »Ich bezahle dafür, hier zu sein, hierherzukommen, aber ich lerne viel mehr als irgendwo sonst. Und es bedeutet mir etwas, das ist Mode mit Tiefsinn und einer Geschichte. Ich meine: Das ist Vivienne Westwood! Unfassbar! Wir sind Teil einer Legende.«
Noch achtundzwanzig Stunden. Jetzt ist das Styling der auserwählten Models an der Reihe, die Schaffung des Gesamteindrucks, des richtigen »Looks«: Welche Schuhe passen zu welchem Kleid und in welcher Reihenfolge sollen die Kreationen vorgeführt werden? Alles dreht sich um die viel beschworene Geschichte dieser Kollektion und dazu müssen passende Frisuren und Make-ups gefunden werden. Andreas wählt die passenden Outfits für die Mädchen aus.
»Wir erzählen eine Geschichte«, erklärt Andreas lächelnd unter seinen dichten Augenwimpern und einer Baseballkappe hervor, »das wollen die Leute sehen. Wir zeigen Mode, wie sie früher war. Vivienne ist beständig. Was wir erschaffen, ist wiedererkennbar, weil es nicht Mode ist, sondern eine Geschichte über sie und ihre Reaktion auf die Welt.«
Die Temperatur ist um etwa zehn Grad gestiegen. Die Praktikantinnen nähen.
Die Models, die für morgen gebucht sind, erscheinen zum Fitting, schlendern umher, ziehen sich an und aus, spielen mit ihren iPhones und werden fotografiert. Die Wände füllen sich mit Hochglanzausdrucken von ihnen in verschiedenen Looks mit gleichförmig herunterhängenden Haaren. Kostbare Düfte und nervöses Gelächter erfüllen die Luft. Die letzten Schuhe, die versehentlich nach London geschickt wurden, treffen ein und erhalten ihren Platz auf der großen Treppe – eine Kavalkade von Absätzen. Der Schmuck der Kollektion liegt noch immer am Zoll, aber ansonsten wurde jetzt alles geliefert und aus einem wachsenden Berg von Seidenpapier ausgepackt, das mit dem markanten Westwood-Logo des Reichsapfels mit den Saturnringen bedruckt ist. Es sieht aus wie Weihnachten, sponsored by Vivienne Westwood.
Von den etwa dreißig benötigten Models sind jetzt vierzehn gebucht, tragen rote Punkte auf der Nase und grüne Punkte auf dem Körper. Fünf sind auf Stand-by. Viele der Spitzenmodels werden im Laufe des Nachmittags von anderen Designern und für andere Shows gebucht, Mädchen mit Namen wie Dasha und Iekeline – Mädchen aus aller Herren Länder und von jeder erdenklichen ethnischen Herkunft. Gemeinsam ist ihnen nur die überirdische Schönheit, die Körpergröße und der offensichtliche Bedarf an einer ordentlichen Mahlzeit. Ihr Durchschnittsalter liegt bei neunzehn Jahren. Mein kleiner Flirt mit Marta wird von ihrem Manager unterbrochen, der sich als ihr Vater erweist und ein wenig jünger ist als ich. Gegen Abend treffen mehr und mehr Models ein. Es wird eine lange Nacht werden und der Salat und das Obst für die Mädchen weichen Butterplätzchen, Schokolade und dem ständigen Summen der Espressomaschine.
Für den besonderen Look des Defilees sorgen nicht nur die Modelle; zu der kompletten Bühnenshow gehören Beleuchtung, Musik und thematisch passende Frisuren und Make-ups. Es handelt sich um eine ganz besondere, eigene Kunstform.
»Ich genieße es, mit Vivienne zu arbeiten«, sagt Val Garland, ein Vertreter dieser seltenen Kunstform, und hält einen Augenblick im Ausprobieren einer kabukiweißen Schminke inne. »Es ist ein kreativer Urlaub.«
»Die Mädchen lieben es, hier zu arbeiten«, bestätigt auch die Model-Bookerin, »weil sie sehr respektvoll behandelt werden und einen Teil der Geschichte ausmachen. Das wird schnell vergessen. Bei Vivienne und Andreas dagegen dreht sich alles um Ruhe und Respekt, und beides ist äußerst ungewöhnlich in unserer Branche.«
Das so gepriesene Ehepaar zankt sich gerade etwas abseits über ein Strickteil: »Das sieht einfach unmöglich aus, Vivienne«, meckert Andreas.
»Nein, schau mal, Andreas, siehst du: Man kann einfach immer rundherum nähen und es hier zusammenfassen: So habe ich mir das vorgestellt, da ist genügend Platz.« Vivienne zeigt es ihm und Andreas zuckt mit den Schultern.
»Lass es einfach an«, flüstert Vivienne der Praktikantin zu, »und zeig es ihm nicht.«
Noch dreiundzwanzig Stunden. Das Presse- und Marketingteam aus London trifft ein. Giordano Capuano, Laura McCuaig und Victoria Archer richten sich mitten auf der großen Treppe ein, kriechen auf der Suche nach Steckdosen und LAN-Verbindungen auf allen vieren umher und stecken VIP-Einladungen sowie Armbänder in Umschläge, die Zugang zu allen Bereichen gewähren. Da ich die drei bereits aus dem Londoner Hauptquartier der Vivienne Westwood Group kenne, wo sie stets elegant-geschäftsmäßig und modebewusst gestylt waren (obwohl Giordano mir versichert, dass er auch gerne Rugby-Mode trägt), ist es für mich ein merkwürdiger Anblick, sie zusammengekauert wie Studenten bei einem Sit-in zu sehen, eifrig mit Stapeln von Papieren und Listen hantierend. Hier ist jeder Mann und jede Frau auf sich selbst gestellt. Alle arbeiten härter als irgendjemand sonst, den ich kenne, außer vielleicht manche Ärzte, und sie kombinieren ihr Durchhaltevermögen mit einer beneidenswerten Fähigkeit, die Nacht durchzufeiern, wenn ihr Job es verlangt. Was hin und wieder der Fall ist. Die Presseleute aus Fernost und von der internationalen Abteilung der Vivienne Westwood Group treffen ein und lassen sich etwas abseits nieder. Das Team aus Taiwan erarbeitet ein Promi-Profil der Stars aus Fernost, die anwesend sein werden. Von Annie Chen und dem Rockstar Wubai, »einem der größten in Südostasien«, werden Fotos aus Google ausgedruckt, damit die Stars mit der passenden Ehrerbietung behandelt werden.
Manchmal, aber nicht immer geht aus einer Vivienne Westwood-Show ein Mädchen hervor, das schließlich für den ganzen Look der Kollektion steht. 1993 war es Naomi Campbell, auch weil sie auf dem Laufsteg mit ihren Plateauschuhen strauchelte. Sara Stockbridge wurde in Tweed und Krinolinen Viviennes Poster-Mädchen der 1980er-Jahre.
»Es muss nicht unbedingt das erste Mädchen oder das letzte im Hochzeitskleid sein«, erklärt mir Vivienne später. »Andreas ist ein Genie bei der Auswahl und findet unfehlbar das perfekte Mädchen für den perfekten Look. Ich weiß noch, wie Naomi Campbell in Tränen aufgelöst war, weil sie unbedingt dieses umwerfende Glitzerkleid tragen wollte, für das Andreas’ Vater die Metallblüten hergestellt hatte. Linda Evangelista sollte es aber tragen und Andreas sagte zu Naomi: ›Du würdest darin wie Diana Ross aussehen.‹ Meiner Meinung nach kann niemand besser wählen als Andreas und niemand besser mit Models umgehen.« Ajuma aus Nairobi und Marta aus Valencia scheinen als Mädchen für dieses Jahr infrage zu kommen.
»Sie ist diejenige, die mich in der Branche am meisten unterstützt«, sagt Ajuma, ehemalige kenianische Meisterin im Vierhundertmeterlauf und eines der vielen girls of colour (wie sie es ausdrückt), die Vivienne und Andreas ausgewählt haben. »Wir finden immer wieder zusammen, ob in New York, London oder auch in Kenia bei unserer Wohltätigkeitsarbeit. Wenn ich sie sehe, ist es wie eine Wiedervereinigung. Im Zuge unserer kenianischen Kampagne [Vivienne unterstützt ein Wohltätigkeitsprojekt, das ihre Taschen in Kenia herstellt, über die United Nations International Trade Centre Ethical Fashion Initiative] habe ich sie an Orte begleitet, an denen nicht einmal ich je gewesen war – üble Slums. Sie sind wirklich mutig. Aber in Paris will ich immer in ihrer Show sein. Ich habe vor Kurzem ein Kind geboren. Jetzt bin ich aber wieder da und frage mich natürlich, ob ich das gewisse Etwas noch habe!« Die Reihenfolge in der Show und die Besetzung des Eröffnungsmodels sowie der Braut ganz zum Schluss bleiben bis zum letzten Moment offen.
Vivienne zieht ihre falschen Krokodillederpumps aus und läuft von da an in Socken herum. Sie arrangiert ein Strickoberteil auf dem halb nackten Körper von Silvia. Der lockere Überwurf wird zusammengefasst und dann zu einem gerüschten Bodystocking zusammengezogen, reich appliziert und um das Gesäß und unter der Brust zu einer klassischen Vivienne Westwood-Silhouette gerafft. Da ist sie. Glückselig. Bei der Arbeit. Eins mit Stoff, Nadel und lebendem Körper. »Jetzt ist Vivienne am glücklichsten«, flüstert Christopher im Vorübergehen. Ja, das ist sie, während sie weiter in die Nacht hinein arbeitet.
Weitere Mitarbeiter treffen ein: Zuschneider und Mitglieder des Designteams sowie weitere Praktikanten und Pressesprecher. Alles in allem eine sechzigköpfige Mannschaft, die im Laufe der dreitägigen Pariser Show insgesamt achtzehnhundert Arbeitsstunden ableistet. Die Zahlen steigen. Schicht um Schicht an Aufwand, Fleiß und Kunst – das Palimpsest des Luxus in Aktion: sechzig Looks, neunundzwanzig Models, vierzig Frisur- und Make-up-Profis. Achthundertfünfundsiebzig geladene Gäste. Zweihundert Paar handgemachter Schuhe. Kleider im Wert von über einer Million Euro. Ein Budget von über 300000 Euro für das Event. Die VW-Gruppe direkt kostet es zwar nur gut 150000 Euro, aber man muss auch die Sponsoren und die internationale Presse bei der Stange halten. Alle Beteiligten verlangen konstante Updates und Bilder für ihre jeweiligen Blogs und PR-Teams und Victoria und Laura liefern ihnen pflichtschuldig Informationsschnipsel sowie eine vorläufige Version von Viviennes Pressemitteilung – inzwischen getippt und fast fertig – aus zusammengeklaubten, im Showroom umherfliegenden Notizen und Zitaten.
Kurz nach Mitternacht kursiert Viviennes erste fertige Presseerklärung. Sie zitiert Shakespeare, bezieht sich auf die Renaissance, die Aufklärung und Frida Kahlo und ihr brandneuer Titel »Everything is Connected« spielt auf E. M. Forster an. »Ich überlege mir oft die Titel«, erzählt mir Vivienne. »Das kann ich gut.« Einladungen für die Everything is Connected-Show, die noch nach Druckertinte riechen, werden in Kikos Ecke in Umschläge gesteckt. Verziert sind sie mit einem von Vivienne handgezeichneten Logo für die Kollektion: zwei Schlangen, die sich in den Schwanz beißen, ein altes Emblem aggressiver Symbiose, das ausdrücken soll, wie die Wirtschaft die Erde verschlingt. »Das ist die wichtigste Botschaft der Klimarevolution und meines heutigen Lebens: dass alles, was jeder von uns denkt, sagt oder tut, etwas bewirken kann«, sagt sie. Alles ist miteinander verbunden.
Der Ruf ertönt, sich die Begleitmusik für die Show anzuhören. Der Komponist Dominik Emrich hat weit ausgeholt und sich bei barocken Hofmärschen, englischen Madrigalen und auch bei kretischer, folkloristischer Flötenmusik bedient. Wir hören einen Ausschnitt von Alfred Schnittke und ein wenig Saint-Saëns, untermalt mit einem eindringlichen, sowohl tänzerischen als auch ominösen Beat: »Wie bäng – das ist das Ende der Welt – aufgepasst!«, ruft Andreas laut und strahlt sein energiegeladenes Lächeln. Er hat ganz offensichtlich seinen Spaß, entweder berauscht von der Mode oder wild entschlossen, Schlafentzug mit Gelächter zu bekämpfen. Vivienne reagiert nachdenklicher. Neuerdings hört sie nicht mehr gut bei störenden Hintergrundgeräuschen. »Ich verstehe nicht, was da geredet wird«, beklagt sie sich in Bezug auf Dominics Mantra hinter den Kulissen: Orakel von Mutter Erde … die Spur des Blutes, das ihr meiner bescheidenen Meinung nach gefallen würde, wenn sie es verstehen könnte. Die Unterhaltung zwischen Andreas und Vivienne dreht sich inzwischen um Schuhe, Handtaschen, Frisuren sowie um die Frage, wie man den Gesamtlook beschreiben könnte. »It should all be apposite«, sagt Andreas und deutet asymmetrische Frisuren an. »Du meinst opposite«, korrigiert ihn Vivienne. Dann treffen Rosita Cataldi und Paola Iacopucci aus der italienischen Westwood-Fabrik ein und bringen Blumen und Küsse für Vivienne, die in der liebevollen Umarmung der Freundinnen aufblüht. Die Unterhaltung wird mühelos und fließend auf Italienisch fortgesetzt, eine Sprache, die aus Viviennes Mund weicher klingt als ihre Muttersprache Englisch, sinnlich und licht.
Viviennes Studioskizze und das fertige Gold Label-Detail.© Vivienne Westwood Limited (oben), © Ben Westwood (unten)
Noch fünfzehn Stunden. Eine lange Nacht erstreckt sich vor uns. »Es muss auf die letzte Minute gehen – man muss alle Moleküle an einem Ort haben und dann wusch.« Andreas deutet mit den Händen einen wachsenden Baum oder eine atomare Pilzwolke an, wobei seine Körpersprache ebenso expansiv und unbestimmt ist wie sein Akzent. »Wir tun das für uns selbst, weißt du, Vivienne und ich, wenn wir alles so perfekt wie möglich machen. Es spielt keine Rolle, was andere darüber denken. Hauptsache, wir wissen, dass jedes Mädchen umwerfend aussieht.« Noch vierzehn Stunden. Es ist fast zwei Uhr morgens. Fairerweise muss ich zugeben, dass ich draußen im Café de Flore war und Espresso und Whisky hinuntergekippt habe, während ich versuchte, Modegesprächen zu folgen. Doch als ich zurückkehre, steckt Vivienne bis zum Hals in Fragen über die Reihenfolge der Modelle, die Musik und die Models. Schlafen diese Leute eigentlich jemals? Gerade werden die Showpieces anprobiert, das heißt Modelle, die nie in die kommerzielle Herstellung gehen werden, aber möglicherweise in einem Vogue-Editorial besprochen oder von einer bevorzugten und wohlhabenden Kundin bestellt werden könnten. Im Mittelpunkt scheint ein Metallic-Strickbikini zu stehen sowie die Frage, ob in der morgigen Couture-Show ein Überwurf oder eine Weste dazu getragen werden sollen. Der Bikini ist, ehrlich gesagt, sehr sexy. Das Hausmodel wird für die letzten Anproben und Absteckarbeiten eingesetzt und sie ist ebenso unerschütterlich gut gelaunt wie bildschön. Eine konzentrierte Ruhe scheint sich auf Vivienne gelegt zu haben, ein Resultat vieler Jahre in der Branche und zahlreicher Pariser Kollektionen. Sie betrachtet Schnappschüsse von Models und flüstert mir oder sich selbst oder wem auch immer zu: »Ich habe keine Ahnung, was wir machen werden«, obwohl sie es ganz offensichtlich durchaus weiß. Neunundzwanzig rosa abgesteppte Kleidersäcke liegen auf dem Boden, versehen mit den Namen und Fotos der gebuchten Models. Sie werden ihre jeweiligen Outfits enthalten, zwei pro Tasche. Die Namen der Mädchen klingen alle ähnlich, hauptsächlich mitteleuropäisch.
»Das ist der Trend der letzten zehn Jahre«, erklärt Rafael, der Assistent. Die Model-Bookerin fügt hinzu: »Slawische Wangenknochen und eine coole Haltung – zwar ist Vivienne selbst nicht bekannt dafür, aber Models mit Attitüde und Sex-Appeal sind heutzutage schwer zu finden. Perfektion dagegen überall.«
Endlich ist die Presseerklärung fertig. Laura hat sie rasch gekürzt, Andreas hat sie korrigiert und mit einer modischen Widmung für seine »Darlings« abgezeichnet, von der man nicht weiß, ob sie ironisch gemeint ist oder nicht.
»Ich werde die Show ›Everything is Connected‹ nennen«, hat Vivienne geschrieben, »weil das die zentrale Botschaft der Klimarevolution und meines Lebens ist – dass alles, was jeder von uns denkt, sagt oder tut, Auswirkungen hat.«
Noch gut dreizehn Stunden. Es ist drei Uhr morgens und die Kollektion sowie die Laufstegreihenfolge stehen fest. Vivienne sitzt zusammengekauert auf einem Stuhl, beklagt sich über geschwollene Beine und nippt mit leicht geröteten Augen an einem Glas Rotwein. Andreas trinkt Weißwein.
»In diesem Stadium dreht sich alles um die Reihenfolge. Die muss hundertprozentig stimmen und besonders wichtig ist das Eröffnungsmodell. Das setzt den Akzent.« Am Ende wird eines der von Frida Kahlo inspirierten Modelle den Anfang machen, getragen von einem eckigen, androgynen japanischen Model. Ihr Bild wurde mehrmals auf der Tafel hin und her geschoben, wanderte aber immer wieder an die Spitze. Ajuma wird das bodenlange, schmale weiße Kleid tragen und Marta unter anderem die Chenillespitze. Jetzt, so kurz vor der Show, wird denjenigen Stylingelementen die meiste Aufmerksamkeit zuteil, die den roten Faden der Geschichte bilden sollen: die Idee der Pilgerfahrt, die Anspielungen auf Kahlo. Einige Accessoires werden jetzt erst hergestellt: Kopfputze mit riesigen Blüten und antiken Bändern, Girlanden und Gehstöcke. »Niemand kann das besser als Andreas«, sinniert Vivienne, »das Styling. Wir arbeiten so lange daran, bis es perfekt ist. Es geht um Perfektion, und wenn man sieht, dass sie erreicht ist, kann man zu Bett gehen.« Vivienne und Andreas helfen, Preise festzulegen, über die bereits in London und Italien diskutiert wurde. Sie liefern das ganze Spektrum von einfach nur teuren Modellen bis hin zu sogar für Oligarchen unerschwinglichen Teilen. Es ist spät und einige Fragen können bis nach der Schau warten, bis zu den Verkaufstagen, die im Showroom stattfinden werden, wenn alles vorbei ist.
Vier Uhr morgens und es erweist sich als unmöglich, in Paris während der Fashion Week ein Taxi zu bekommen. Ich muss anderthalb Stunden bis zur Wohnung meiner Freunde zu Fuß gehen. Vivienne Westwoods Schuhe mögen auf den ersten Blick wenig praktisch erscheinen, überzeugen aber durch Bequemlichkeit und Haltbarkeit. Jedenfalls die Männerschuhe.
Noch fünf Stunden. Ich habe ein wenig geschlafen, die meisten im Vivienne Westwood-Team nicht. Um acht Uhr morgens sind sie vom Showroom in der Rue du Mail an den eigentlichen Ort des Geschehens umgezogen, wo ein Team von Baumeistern und Dekorateuren über Nacht den Laufsteg, die Kulissen und den Backstage-Bereich aufgebaut hat. Normalerweise ist das Gebäude Nummer 18 in der Rue du Quatre Septembre nahe der Börse Sitz einer Bank. Das grandiose zentrale Atrium, teils viktorianisches Opernhaus, teils futuristischer Hangar, erinnert an einen Filmset von Blade Runner, umgestaltet von Tim Burton. Die Hallen sind riesig; man könnte ein kleines Flugzeug durch den Mittelgang fliegen. Um hineinzugelangen, muss man eine breite Treppe hinaufsteigen, die von auffälligen Sicherheitskräften bewacht wird, erkennbar an den üblichen dunklen Sonnenbrillen, Hugo Boss-Anzügen und einer drohenden Haltung. Oben muss man Kontrollen passieren, sodass man sich fühlt wie auf dem Weg zu einer Audienz bei der Queen. Musik umtost uns, ein Soundcheck für Dominiks Komposition. Der Meister selbst kauert über einer Computerkonsole, kaut an seinem Schal und arrangiert das Finale, das Vivienne und Andreas bei ihrem Auftritt nach der Laufstegshow begleiten wird. Hinter dem Atrium geht es in der Bank drei Stockwerke nach unten, wie man durch ein Wirrwarr von Glasbrücken und durchscheinenden Fußböden erkennen kann. Rolltreppen steigen aus diesem unterirdischen Verlies auf, die Models werden auf diesen erscheinen und dann wieder verschwinden. Dazwischen umkreisen sie einen sechseckigen Laufsteg, der von einer Phalanx von Fotografen umlagert wird – achtzig werden erwartet. Über dieser Galerie wurden riesige Spiegel aufgehängt, die die Models wie Engel auf einer Jakobsleiter aufsteigend und absteigend reflektieren und auch das Publikum und die Pressefotografen widerspiegeln.
Im Untergeschoss, das taghell erleuchtet ist, wurden vierzig provisorische Garderoben errichtet, mit Glühbirnen hell erleuchtet und summend vor Aktivität. Val und Sam kreieren ihren Schlammspritzerlook, indem sie mit Pinseln braune Körperfarbe auf die Models spritzen. Die Mädchen zwinkern mit den Augen.
Zwei Stunden vor der Show beruft Kiko ein Produktionsmeeting ein. Zwei Dutzend internationale Teammitglieder der Vivienne Westwood Group, die zusammen über zwölf Sprachen sprechen, haben sich versammelt, um die Pressevertreter, die Klienten, Käufer und Sponsoren aus allen Teilen der Welt zu begrüßen und zu platzieren. Ein Drittel der Sitze wird an Besucher aus Fernost vergeben, an Journalisten und Käufer aus China, Taiwan, Hongkong und Japan. »Es ist ein außergewöhnlicher Veranstaltungsort«, spricht Kiko seiner Mannschaft zu. »Zeigen wir eine großartige Show!« Auf der Treppe herrscht ein solches Gedränge, dass Laura mit ihren hohen Vivienne Westwood-Schuhen rückwärts umkippt und ein Dominoeffekt nur durch einen der vielen Männer in karierten Vivienne Westwood-Anzügen verhindert werden kann.
Die Sitzplätze sind in drei Kategorien aufgeteilt und wer wo sitzt unterliegt einer strengen Hierarchie. »So muss es in Versailles zugegangen sein«, bemerkt meine französische Freundin spitz. Die Journalisten aus Großbritannien, Amerika und Fernost besetzen die erste Reihe, von wo aus sie die Models zuerst sehen können. In einem anderen Segment mit der besten Sicht auf das ganze Geschehen sitzen die CoutureKäufer und -Käuferinnen, jene ausgewählten Frauen und Männer, die Westwood Gold Label-Designs direkt vom Laufsteg kaufen, um sie zu tragen oder zu sammeln. Eine treue Kundin hat jedes einzelne Outfit der Saisonkollektion erworben, eine Investition von vielen Hunderttausend Euro. Den Vertretern von Time, Harper’s Bazaar, Sunday Times, Telegraph, Marie Claire, New York Times und International Herald Tribune werden die besten Sitze zugewiesen. Die Vogue erhält ein großes Kontingent für ihre diversen internationalen Repräsentantinnen. Dort, in der ersten Reihe der internationalen Zeitschriften, entdecke ich Gene Krell von der japanischen Vogue. Der ehemalige Besitzer der hippen Londoner Boutique Granny takes a trip gilt als Modelegende, als der Mann, der den Londoner Glam-Rock erschaffen hat. Er war auch einmal Untermieter von Vivienne, die ihn laut seiner eigenen Aussage von seiner Heroinsucht abgebracht und so vor einem frühen Tod gerettet hat.
Das Model Juana Burga im T-Shirt für den Probelauf.Photo by Miguel Domingos
Unten im Gebäude haben sich die Models jetzt T-Shirts mit der Aufschrift »VW GOLD LABEL SS [Spring/Summer] 2014« übergeworfen. Mit ihren kunstvollen, von Haarnetzen geschützten Frisuren erinnern sie an Rockabilly-Ausgaben von Nora Batty, der lockenwicklerbewehrten Hauptfigur der Sitcom Summer Wine. Untenherum tragen die meisten nichts als einen Stringtanga.
Noch neunzig Minuten. Probelauf mit Schuhen. Ein festes Ritual der Couture-Shows, bei Vivienne Westwood jedoch besonders wichtig, da ihre Schuhe berüchtigt hoch sind. Spätestens nach Naomi Campbells berühmtem Laufsteg-Sturz 1993 ist allen die Bedeutung dieser Probe bewusst. Bei ein Meter zweiundachtzig großen Models, die in zwanzig Zentimeter hohen Plateauschuhen von einer Rolltreppe schreiten, ist besondere Vorsicht geboten. Das letzte der Mädchen kommt an.
Theoretisch bleibt nur noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Show. Es ist vier Uhr nachmittags. Doch dann trifft von der Paris Federation die Information ein, dass vorherige Shows überzogen wurden, sodass wir wahrscheinlich erst um 16:45 Uhr beginnen. Spürbare Erleichterung. Vivienne zieht Kleider von Schultern, arrangiert kunstvolle Frida Kahlo-Blumen- und -Lorbeerkränze und Fotografen halten alles fest. Die Mädchen sind daran gewöhnt und posieren vor weißen oder schwarzen Hintergründen: perfekt, ernst und dann wieder flirtend und spielerisch. Sie finden sich zu zweit und zu dritt zusammen und posieren für die zahllosen Smartphones und anonymen Fotografen, die ebenfalls access to all areas haben. Sie werden beim Umziehen und mit dem Haar noch in Netzen fotografiert, ja sogar in Unterhosen und halb nackt. Kein Fleckchen hier bleibt verborgen, alles wird alsbald online zu sehen sein.
Vivienne, mit einem Schal um den Kopf und einer Brille, wirkt plötzlich wie die Madame in einem verrückten Bordell: »Ich bin wirklich ziemlich müde«, gibt sie zu, »aber es ist wunderschön, nicht wahr, wenn alles zusammenkommt?«
Noch fünf Minuten. Offenbar gibt es einen Notfall. Ein Tsunami nähert sich, eine Springflut serviler Menschen und greller Scheinwerfer, in deren Zentrum sich die ziemlich kleine, aber unverkennbare Gestalt von Pamela Anderson befindet. Obwohl sie sogar in hohen Vivienne Westwood-Schuhen von den meisten überragt wird, ist Pamela mit ihrem toupierten Haar und ihrer Promi-Ausstrahlung eine beeindruckende Gestalt. Als loyale, wenn auch recht neue Muse in Viviennes Welt ist sie eigens für dieses Event aus Los Angeles angereist und hat eine Suitenflucht im Plaza gebucht. Das Dinner im Anschluss an die Show wird mit Pamela und einem früheren Westwood-Model namens Carla Bruni stattfinden, die in Paris ziemlich bekannt zu sein scheint. »Nur ein paar Freunde, wir sind alle sehr müde«, erklärt Christopher. Pamela, Carla und Vivienne haben sich viel über ihre gemeinsamen Interessengebiete Ökopolitik und Tierschutz zu erzählen. Wer hätte das gedacht?
Als Suzy Menkes sich endlich hinsetzt und Pamela Platz genommen hat, beginnt die Show, eine halbe Stunde zu spät und genau drei Minuten, bevor Vivienne von der Paris Federation eine Strafe aufgebrummt worden wäre. Das Licht wird gedimmt, ein Scheinwerfer späht dreißig Meter über uns hinweg und fängt das erste Model ein, das von der Rolltreppe ins Atrium schreitet. Die riesigen Spiegel reflektieren sowohl die Fotografen als auch das Eröffnungsmodel und vierhundertfünfzig kostbar parfümierte Hälse recken sich nach oben. Im Atrium flammt ein Blitzlichtgewitter auf und aus dem Publikum sprießen Smartphones, als würden zweihundert Krokusse abrupt aufblühen. Überall, außer in der ersten Reihe, wo niemand eigenhändig fotografiert.
Die langen Überlegungen über die Laufstegreihenfolge scheinen in einer Montage gemündet zu haben, die mit Frida Kahlo beginnt, in die Farben und Texturen einer folkloristischen Pilgerreise übergeht und mit einigen Referenzen an ernsthafte Couture, Yves Saint Laurent und die strukturierten Barockschnitte endet, mit denen sich Vivienne in den Jahren nach dem Punk einen Namen als Designerin gemacht hat. Alle Mädchen nehmen die stählerne, tiefernste, supersexy Haltung an, die ihre professionelle Rüstung darstellt. Zwölf Minuten können lang sein. Durch das Fehlen einer richtigen Geschichte oder Sprache und den strengen Rhythmus, in dem alle dreißig Sekunden ein Model auftritt, ist die Show in der Tat schwer zu verarbeiten. Dazu kommt noch der schiere visuelle Overkill. Die Farben und Formen, die übernatürliche Schönheit der Kleider und der Mädchen: Ab und zu scheint es, als hätte sich das Leben auf Zeitlupentempo verlangsamt. Als die Models davonstolzieren und aus meinem Blickfeld verschwinden, bauschen sich die Kleider, als trotzten sie der Schwerkraft, luftige Gewebe aus Nichts, auf denen das Gewicht der Erwartungen eines Modeimperiums lasten. Zugleich scheinen sie sich ein wenig über die Schönheit zu amüsieren, die mit Stoff und der menschlichen Form erschaffen werden kann. Ja, wie man hört, bin ich von dieser Schönheit überwältigt. Kurz vor dem Ende sehe ich plötzlich, dass Mark Spye vor Ergriffenheit die Tränen über das Gesicht laufen – ein wenig überraschend bei einem gestandenen fünfzigjährigen Mann im Holzfällerhemd. »Das ist eine ihrer großen Kollektionen«, meint er. »Das ist das, was sie am besten kann.«
Dann ist es vorüber. Es entsteht ein kurzer Wirbel darum, ob Andreas oder Vivienne zuerst auf dem Laufsteg erscheinen soll, und in dem Durcheinander geht das Bouquet verloren, das Vivienne tragen sollte. Hand in Hand umrunden die beiden den Laufsteg, bis Andreas loslässt und in den Applaus für Vivienne einfällt, die wie gewöhnlich schüchtern lächelnd die Ovationen entgegennimmt.
Man kommt nicht umhin, sich zu wundern. Dreihunderttausend Euro. Zwölf Minuten. Sechzig Outfits. Achtzehnhundert Arbeitsstunden. Unwillkürlich fragt man sich, was das alles eigentlich soll. Wie Lord Chesterfield einmal bemerkte (über Sex, aber dasselbe gilt für die Couture), ist das Spektakel lächerlich, der Preis exorbitant und das Vergnügen von kurzer Dauer. Die Welt braucht Mode, aber davon scheint es doch wahrhaftig genug zu geben! Jeder erkennt die hinreißende Schönheit von Stoff, der perfekte Körper umschmeichelt, und besonders hier in Paris lässt es sich ausgiebig über die Perfektionierung jeglicher menschlicher Kunstform als Disziplin, Handwerk oder Religion philosophieren. Doch im Kult um die Mode schwingt im Gegensatz zu, sagen wir, der bildenden Kunst oder sogar der Haute Cuisine eine fetischhafte Verehrung des Jetzt mit, die ihre ganz eigene Magie entfaltet, manchmal auf Kosten der Kunstform selbst. Nein, es geht ums Geld, Dummkopf. Welches dieser Designs wird den Zeittest bestehen? Warum dieses Mehr, Mehr, Mehr an Design? Womit kann Vivienne die Kosten, die Flugmeilen und den unglaublichen Einsatz von Hunderten hoch talentierter und größtenteils unterbezahlter Leute rechtfertigen? Es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie sich diese Art von Kritik und misstrauischen Fragen anhört und einiges davon unmittelbar kommentiert. Mein Jahr mit Vivienne hat mich sehr viel darüber gelehrt, warum Mode durchaus wichtig ist, woran es liegt, dass ergebene Verehrer immer wieder an den Altar von Viviennes Kunst zurückkehren, und was sie dazu treibt, immer weiter kreativ zu sein. Natürlich darf man den industriellen Imperativ nicht vergessen – die wirtschaftlichen Zwänge. Zahlreiche Menschen leben von Viviennes und Andreas’ fortgesetzter Kreativität. Doch noch etwas anderes spielt eine Rolle: eine Leidenschaft für die zentrale Bedeutung der Mode im kulturellen Leben und eine Leidenschaft, die Welt, wie Vivienne sie sieht, mittels Kleidung zu erklären.
Vivienne und Andreas, Verbeugung auf dem Laufsteg, ohne Blumenstrauß.Photo by Ugo Camera
Nach der Show steht Vivienne im Zentrum einer turbulenten Menge von Modejournalisten. Kameras, Fernsehberichterstattung: das Epizentrum, wenn auch nur kurz, des rasenden Medientornados der Fashion Week. Sie nimmt es sportlich und ist vielleicht die einzige Frau im Raum, die sich nicht besonders um ihre Kleidung oder ihr Aussehen schert, weil sie sicher ist, dass ihr Stil durchscheinen wird. Sie gibt kurze Modeinterviews auf Französisch, Italienisch und Deutsch, meistens jedoch in der internationalen Modesprache Angloamerikanisch. Sogar die Taiwanesen haben einen Carrie Bradshaw-Akzent. Ein deutlicher Derbyshire-Tonfall hebt sich jedoch aus allem heraus: »Ich hatte die Vision eines Mädchens auf Pilgerreise …«
Einladung zur Nostalgia of Mud, Viviennes erster Kollektion, die in Paris gezeigt wurde.© Vivienne Westwood Limited
Am nächsten Morgen sitze ich leicht verkatert mit Vivienne im Showroom, bevor die Käufer eintreffen.
»An manchen Orten werden Legenden geboren«, sagt Vivienne, »wie Venus auf der Insel Kythera.« Dies ist natürlich nicht die Art von Antwort, die man auf die Frage »Magst du Paris?« erwartet, doch ich verstehe, was sie mir sagen will. »Paris hat alles für mich verändert. Die Sache ist die: Manchmal manövriere ich mich in Situationen hinein, aus denen ich schwer wieder herauskomme. Ich bin nur deswegen heute in Paris und Modedesignerin, weil ich es für meine Pflicht hielt, eine zu sein. Malcolm McLaren zuliebe, meinem damaligen Freund, um ihm zu helfen. Ich sagte: ›Malcolm, entweder ich helfe dir im Musikbusiness oder du hilfst mir mit der Mode. Entweder, oder. Entscheide dich.‹ Er sagte: ›Allemal die Mode.‹ Und dann ist er in die Musikbranche gegangen! Daraufhin traf ich die Entscheidung weiterzumachen, um mir selbst etwas zu beweisen. Damals entwarf ich die Piraten-Kollektion und das brachte mich schon auf den Weg nach Paris. Und da habe ich mich verliebt, ehrlich! Und wie das so ist, wenn man verliebt ist: Es war, als hätte ich die Stadt schon immer gekannt! Seit jeher wusste ich, dass Paris wichtig für mich war, und in gewisser Weise wusste ich auch schon immer, dass ich etwas in der Mode zu sagen hatte. Bis heute sorgt es häufig für Überraschung, dass man erst Punk und dann Couture machen kann, aber alles ist miteinander verbunden. Deswegen haben wir eine frühe Kollektion ›Punkature‹ getauft. Es geht nicht um die Mode, weißt du, für mich geht es um die Geschichte. Es geht um Ideen.
Doch wir sollten in Paris beginnen, weil es das Zentrum jenes Teils meines Lebens ist, der Kleidung betrifft. Zum ersten Mal nach Paris kam ich mit Malcolms Punkband The New York Dolls, weil sie dort einen Auftritt hatten. Doch erst Jahre später lernte ich die Stadt richtig schätzen: ihre Art und ihre Geschichte. Dafür gesorgt hat mein Freund Gary Ness. Ich werde dir später noch von ihm erzählen. Aber etwas anderes muss ich jetzt sofort loswerden: Manches kann ich nur deshalb in diesem Buch erzählen, weil genügend Zeit vergangen ist und einige Wegbegleiter – Malcolm, Gary – nicht mehr unter uns sind. Ich denke viel an Gary, wenn ich in Paris bin. Mit Garys Hilfe sind uns in Paris bedeutende Statements gelungen, weil er wusste, wovon er historisch gesehen redete. Damit will ich sagen, dass ich auf meine Ideen komme, weil ich mich für die Vergangenheit interessiere. Ich interessiere mich für die Genies der Vergangenheit und dafür, wie die Leute schon damals versuchten, das Beste aus sich zu machen. Ich interessiere mich dafür, wie sie die Welt sahen. Wir können so viel von den Geschehnissen der Vergangenheit lernen, von den Idealen und den Hoffnungen der Menschen für die Zukunft. Das spürt man hier sehr stark.
Es war Malcolms Idee, unbedingt eine Pariser Show auf die Beine zu stellen. Das war Anfang der 1980er Jahre und wir hatten eine französische Presseagentin eingestellt, Sylvie Grumbach, die sehr gut war. Es war meine dritte Kollektion. Wir hatten die Piraten und die Wilden gemacht und dies war die Buffalo-Kollektion. Der offizielle Titel lautete ›Nostalgia of Mud‹ in Analogie zu dem Geschäft, das wir damals besaßen. Der Beginn der neuen Romantik. Das war ich! Wir hatten Buffalo im Olympia-Center gezeigt und uns dazu entschlossen, in Paris eine Wiederholung zu bringen. Der Grund war, dass ich seit 1981 wieder und immer wieder die Erfahrung gemacht hatte, dass meine Kreationen kopiert wurden und auf den Pariser Laufstegen auftauchten. Punk zum Beispiel wurde in ganz Paris kopiert.
Daher stellten wir eine Pariser Show auf die Beine und zeigten sie in Angelina’s Café auf der Rue de Rivoli. Im Vergleich zu heute war das natürlich alles sehr provisorisch, aber so viel aufregender. Nicht nur, weil es neu für mich war oder weil ich jünger war. In jenen Tagen schauten sich die Vertreter der Modemagazine die Schau an, liehen sich am nächsten Tag die Kleider aus und machten ein Shooting. Ganz einfach. Alles in einem Aufwasch. Die französische Vogue, die italienische Vogue, sogar die amerikanische Vogue hielten es so. Die italienische und die amerikanische Vogue: Sie haben mich erschaffen. Es war so unmittelbar. So aufregend. Man wusste, welchen Effekt man hatte. Sofortiges Feedback. Natürlich war die Modewelt damals auch überschaubarer.
Der Buffelo Girl »Look«, 1982.Vivienne Westwood Archive
Ich war nicht nervös. Kein bisschen. Ich war nie, niemals nervös. Nicht wegen der Kleider. Niemals. Ich sage mir: ›Ich liebe sie und sie sind mein Bestes.‹ Die erste Pariser Show, die Buffalo-Kollektion 1983, war eine Sensation. Sie war in allen Zeitungen und auch in allen Zeitschriften. Es war so aufregend! Doch es dauerte viele Jahre, bis ich das Gefühl hatte, in Paris so akzeptiert zu werden wie heute oder mich wirklich uneingeschränkt als Designerin bezeichnen zu können. Wer mich immer erwähnte, waren die Italiener. Ich habe Italien sehr viel zu verdanken. Die italienische und die amerikanische Vogue: Sie waren wundervoll zu mir und gehörten aufgrund dessen, was sie in Paris gesehen hatten, schon bald zu meinen beiden Hauptunterstützern. Daher begann Paris schon zu einem frühen Zeitpunkt, alles für mich zu verändern. Weniger Punk. Weniger Boulevard. Ich wurde allmählich ernst genommen. Doch nicht wegen der Pariser oder der französischen Modepresse. Neben den Italienern und Amerikanern unterstützten mich anfangs besonders auch die Japaner, die nach Paris kamen, um für die Boutiquen einzukaufen. Denn weißt du, was passiert ist? Es ist lustig und ich erzähle dir das, obwohl ich es nicht sollte, aber damals war zum Beispiel John Galliano ein so großer Fan von mir, dass er meine Kleider sehr genau kopierte, und ich weiß das, weil er oft in den Laden kam. Als ich dann mit einer Freundin von mir in Paris Johns Show besuchte, gefiel sie ihr sehr gut, und zwar zu Recht, und mir gefiel sie ebenfalls, nämlich deshalb, weil es meine Show aus dem Jahr zuvor war. Ich dachte nur: Mode, die ist wirklich verrückt. Genau das ist sie. Verrückt. Die Leute schrieben, meine Kleider seien untragbar, doch dann sah ich alles in der nächsten Saison wieder und auch in der übernächsten, von anderen kopiert und für wesentlich mehr Geld und mit mehr Unterstützung verkauft. Ich weiß nicht. Damals hat mich das wirklich geärgert. Dennoch wusste ich, dass meine Kleider großartig waren und dass die Zeit für mich arbeiten würde. Aber es war seltsam und verstörend.
Das ist also ein Teil meiner Pariser Geschichte. Wo alles angefangen hat. Weißt du, beim Entwerfen geht es darum, eine Geschichte zu erzählen. Heute Morgen im Bett habe ich über chinesische Kunst gelesen und versucht, mittels der Artefakte zu verstehen, wie die Leute früher dachten und die Welt sahen. Oder wie ich in dieser Kollektion sage: ›Sie sieht aus, als ginge sie nach Canterbury.‹ Genau das passiert, wenn man ein Buch aufschlägt und ein mittelalterliches Manuskript betrachtet, und so geht es auch mit dieser Biografie: Sie ist eine Geschichte, das, was ich sagen will, in der Mode, im Aktivismus, in meinem Leben. Dies ist keine Kopie. Aber auch nicht mein vollständiges Ich. Das kann sie gar nicht sein. Sie ist durch Inspiration allmählich entstanden. Man erschafft etwas, indem man sich inspirieren lässt; man holt tief Luft – und plötzlich sieht man vor sich eine Pilgerin. Der Mantel, den sie trägt, muss der bestmögliche aller Mäntel sein. Es muss Josephs Mantel mit den vielen Farben sein. Es muss der Mantel des Zauberers von Oz sein. Der Mantel des Troubadours. Wenn man diese Referenzen zusammen einatmen kann, erhält man etwas, was die Quintessenz von ›Mantel‹ zusammenfasst. Um die ganze Quintessenz von ›Vivienne‹ zusammenzufassen – nicht dass ich sicher bin, dass ich das möchte oder dass man das könnte –, muss man die Referenzen finden; die Ideen aus der Vergangenheit und die Ziele für die Zukunft. Wie in dem Beispiel von dem Mantel. Diese Herangehensweise verleiht Kleidung Zeitlosigkeit, weißt du. Gewicht. Einen Bezug. Wie eine Art Nostalgie. Wie das Wissen, dass man Paris schon immer geliebt hat. Eine Art Sehnsucht nach etwas, was man bereits kennt. Wenn man es sieht, weiß man, was es ist: Hier ist etwas, was ich verstehe, was ich wiedererkenne. Und wenn ich ein Talent habe, dann wahrscheinlich dieses.«
Sie sieht mich plötzlich an. »Kennst du Pinocchio?«, fragt sie und spricht den Namen wie ein Italiener aus Glossop aus. »Ich meine die ursprüngliche Geschichte, nicht den Film. Den Film habe ich nie gesehen. Aber das Buch muss man unbedingt gelesen haben, genau wie Alice im Wunderland. Die Botschaft lautet, dass man das Beste aus sich machen muss. Das ist Teil der Geschichte, die auch wir erzählen sollten. Mach das Beste aus dir. Und folge deinem Gewissen.
So ist es auch, wenn man mit einer Kollektion beginnt: Zuerst erfindet man eine Geschichte. Einen Rahmen. So, das ist es. Genau das geschieht mit mir in diesem Augenblick. Die Momente der Aufmerksamkeit, die ich von dir erhalte und von allen, die dieses Buch lesen, muss ich bestmöglich nutzen. Man muss nach der Schönheit suchen. In allem. In jedem Moment. Und in jedem Menschen.
›Am Anfang‹, sagt Pinocchio, ›gab es nur dieses kleine Stück Holz …‹«
© Vivienne Westwood Limited
»Die Muster, die das Leben prägt, sind zu Anbeginn nicht notwendigerweise erkennbar; oftmals erwacht das Bewusstsein für sie erst durch den schmerzlichen Druck der Umstände auf den Nerv des rebellischen Verstandes.«
SAMUEL PUTNAM,François Rabelais, Man of the Renaissance
»Ich habe mein ganzes Leben so gelebt, als wäre ich jung. Jetzt, da ich alt bin, weiß ich, dass Jugend nicht nur wertvoll, sondern etwas unwiederbringlich Vergangenes ist.«
VIVIENNE WESTWOOD
»Etwas ganz Wichtiges über mich sollte man gleich zu Beginn erfahren: Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs geboren, in einer Zeit des Mangels, der Rationierung. Meine erste Banane habe ich im Alter von sieben Jahren gegessen. Sie schmeckte mir nicht. Da es kaum etwas zu kaufen gab, wurde die Kleidung von Hand gestrickt; es gab sogar Strickmuster für Hochzeitskleider. Es wurde tagelang gestrickt. Auch sonst machten wir viel selbst, sammelten zum Beispiel kleine Nussschalen, malten sie an und bastelten daraus kleine Blumensträuße. ›Do it yourself‹ hieß die Devise.«