Vom Gegenwind getragen - Darius Braun - E-Book

Vom Gegenwind getragen E-Book

Darius Braun

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Beschreibung

Mit 15 Jahren überlebte Darius Braun einen tennisballgroßen Hirntumor, der ihm Sprache und Bewegung raubte. Doch er kämpft sich zurück ins Leben und wagt das Unmögliche: 21.020 Kilometer, alleine auf dem Fahrrad von Kanada nach Feuerland. 508 Tage lang meistert er 215.000 Höhenmeter und unzählige Herausforderungen. Seine unfassbar abwechslungsreich wie traumhaft schöne Route führt ihn durch die Rocky Mountains, den Amazonas, das Hochland Perus und die Salzwüsten Boliviens bis ans ersehnte Ziel seiner Reise, Patagonien. Darius' Reise wurde zur Inspiration für Tausende: In Schulen und Krankenhäusern entfacht er mit seiner Geschichte einen Funken Hoffnung in den Herzen von Menschen, die wie er lebensbedrohlich erkrankt sind. Diese außergewöhnliche Reise ist mehr als ein Abenteuer, denn Darius Braun zeigt: Egal wie tief man fällt, wie hart das Schicksal zuschlägt, man kann wieder aufstehen und seinen Träumen folgen.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Darius Braun

Vom Gegenwind getragen

Wenn Tiefpunkte zu Chancen werden – und warum es sich lohnt, niemals aufzugeben

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Copyright © 2025 adeo Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im September 2025

ISBN 978-3-86334-887-8

Lektorat: Tanja Omenzetter, Bünde

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter · grafikbuero-sonnhueter.de

Umschlagmotiv und Fotos im Innenteil: Darius Braun, Augsburg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.adeo-verlag.de

Inhalt

Prolog: Mexiko, Januar 2023

Calgary – Die Stadt der verlorenen Träume und Fahrräder

Kanada – Zwischen Bären und Blutsaugern

USA – Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten?

Mexiko I – Hier beginnt das wahre Abenteuer!

Mexiko II – Dolce Vita und gefährliche Begegnungen

Zentralamerika – Hitze, Tropen, Lebensfreude

Südamerika – Plötzlich Fernsehstar

Kolumbien – Begegnungen fürs Leben

Ecuador – Die Mitte der Welt

Peru – Hoch hinaus in die Anden

Bolivien – Über den Altiplano zu mir selbst

Argentinien – Eine Frage der Willenskraft

Chile – Entlang der schönsten Strasse Südamerikas

Feuerland – Durch Südpatagonien zum Ende der Welt

Epilog: 22.12.2023 Flughafen Zürich

Meine Reise in Zahlen

Prolog:Mexiko, Januar 2023

Die letzten Sonnenstrahlen tauchen den Lago Chapala in ein warmes goldenes Licht, bevor sie langsam hinter den Bergen verschwinden. Eine kühle Brise weht vom See herüber, während ich auf einer einsamen Straße fahre. Eigentlich sehne ich mich nur nach einem friedlichen Platz am See – Zelt aufschlagen, im goldenen Licht des Sonnenuntergangs etwas Warmes kochen und dann eingerollt im Schlafsack dem leisen Plätschern lauschen. So der Plan. Die Realität? Ein zäher Kampf gegen die Gegebenheiten. Seit über einer halben Stunde folge ich einer schmalen Straße, die sich anfangs vielversprechend am Seeufer entlangschlängelte –, doch mit jedem Meter scheint das Wasser weiter in die Ferne zu rücken. Statt Idylle: trockene Felder, verstreute Scheunen, Höfe, die so weit entfernt liegen wie das Ziel meiner Sehnsucht. Links, rechts – überall nur Zäune. Privatgrundstücke. Und mit jeder neuen Absperrung wächst die Enttäuschung und liegt mir wie ein Stein im Magen. Inzwischen ist es dunkel, und den Sonnenuntergang habe ich auch verpasst. Irgendwann muss ich doch endlich einen geeigneten Platz finden. Hätte ich doch bloß auf meinen Freund Luis, der Polizist in Guadalajara ist, gehört! Er hatte mich eindrücklich vor dieser Gegend bei Dunkelheit gewarnt. So ein Quatsch, Wildcampen war doch wesentlich interessanter und außerdem besser für mein viel zu schnell schwindendes Reisebudget! Seine Bedenken hatte ich damit abgetan. Doch langsam beschleicht mich ein ungutes Gefühl, weil es nirgends eine Möglichkeit gibt, unbemerkt und geschützt mein Zelt aufzubauen. In der Ferne höre ich aggressives Hundegebell durch die Dämmerung schallen, und bei jedem Laut zucke ich zusammen. Hier kann ich nicht bleiben.

Als die Dunkelheit endgültig einbricht, wird mir immer mulmiger. In meiner Not sehe ich nur noch eine Option: in ein eingezäuntes Feld einzubrechen. Hier ist weit und breit kein Haus zu sehen, und die Hunde scheinen weit weg zu sein. Nervös öffne ich den Knoten des Seils, mit dem das Gatter verschlossen ist. Hier wird mich niemand entdecken, versuche ich mich zu beruhigen. Sobald ich im Zelt bin, ist alles gut, und morgen früh bin ich weg. Niemand wird wissen, dass ich hier war. Unzählige Mücken umschwirren mich, als wollten sie den letzten Tropfen meines Blutes aussaugen. Augen zu und durch, sage ich mir, während ich die lästigen Biester ignoriere und mein Zelt so schnell wie möglich aufbaue. Es ist stockdunkel, und ich komme einfach nicht an mein Mückenspray. Die Situation fühlt sich zunehmend bedrohlich an, fremd und feindselig. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ein Schnauben, Zweige knacken. Mein Herz hämmert gegen meine Brust. Ich schwenke die Taschenlampe und leuchte in die Dunkelheit. Kühe! Zum Glück nur ein paar Kühe, die auf der Weide grasen. Ich atme erleichtert auf und mache weiter, als ich erneut ein Geräusch höre. Diesmal ist es das dumpfe Stampfen von Hufen, die sich nähern. Mit zitternden Händen leuchte ich wieder in die Dunkelheit, und plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein weißes Pferd auf. Es kommt direkt auf mich zu. Auf seinem Rücken sitzt ein Mann mit breitkrempigem Hut, ein Gewehr locker in einer Hand, während die andere die Zügel hält.

Verdammt!, schießt es mir durch den Kopf, als das grelle Licht meiner Taschenlampe den Mann und die Waffe in seiner Hand beleuchtet. Ein Moment lähmender Panik überkommt mich. „Oh Gott, was mache ich jetzt?“

6.500 Kilometer und weitere aufregende Erlebnisse liegen mittlerweile hinter mir. Als ich vor sechs Monaten in Calgary aufgebrochen war, hätte ich nie erwartet, was alles auf mich zukommen würde. Ich bin nun mitten in Mexiko, auf der Tour meines Lebens, und erfülle mir meinen Lebenstraum. Mit dem Fahrrad durch die Amerikas. Von Kanada bis nach Feuerland – zum südlichsten Zipfel Südamerikas. Schon als kleiner Junge war ich fasziniert von riesigen Bergen, endlosen Ozeanen und den Geschichten von Menschen, die sich ins Ungewisse wagten, um die Welt zu ergründen. Während andere Kinder Pilot oder Polizist werden wollten, träumte ich davon, Entdecker zu werden, und vom großen Abenteuer. Spätestens, nachdem ich eine Dokumentation über die Panamericana gesehen hatte, war es um mich geschehen. Die Panamericana – die längste und berüchtigtste Straße der Welt. Seitdem brannte in mir dieser Funke. Diese Tour wollte ich auf jeden Fall machen.

Doch das Leben schien mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Im Alter von 15 Jahren wurde bei mir ein Hirntumor diagnostiziert. Nahezu tennisballgroß drückte dieser auf das Stammhirn und musste unmittelbar operiert werden, da ich sonst die nächste Woche wahrscheinlich nicht mehr erlebt hätte. Nach der Operation war ich linksseitig gelähmt, konnte kaum noch sprechen und musste alles von Neuem lernen.Für mich als Leistungssportler im Rudernbrach eine Welt zusammen. Die Prognosen sahen nicht gut aus. Doch der Funke in mir brannte weiter.

Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Trotz der niederschmetternden Aussichten war ich nicht bereit aufzugeben. 17 Jahre nach der Operation und vielen Rehabilitationen war es dann so weit: Ich war zwar längst zurück im Leben, hatte mein Abitur gemacht, studiert, war gereist und sportlich aktiv, aber nie wirklich angekommen. Jahrelang musste ich meine Wünsche und Träume hintenanstellen. Aber jetzt war der Moment gekommen, meinen Kindheitstraum endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Ich wollte mir selbst und der Welt zeigen, dass ich bereit war – bereit für das große Abenteuer und neue Herausforderungen. Doch diese Reise war mehr: Ich entschied mich bewusst dafür, allein zu reisen, um mir Zeit zu nehmen. Zeit, um nach Antworten auf meine brennenden Fragen zu suchen. Wer bin ich wirklich? Was ist meine Aufgabe in dieser Welt? Ich spürte, diese Antworten konnte ich nur in mir selbst finden.

Aber um dahin zu kommen, musste ich raus aus dem Alltag und weg von all der Ablenkung zwischen Terminen und Verpflichtungen. Außerdem war es mir ein Herzensanliegen, mit dieser Tour anderen Menschen Mut und Hoffnung zu machen. Ich nutzte die mediale Aufmerksamkeit, um die Arbeit der Deutschen Hirntumorhilfe sichtbar zu machen und Spenden zu sammeln. Gleichzeitig wollte ich unterwegs Menschen treffen, die ähnliche Herausforderungen meistern, ihre Erfahrungen teilen und Schulen sowie Kliniken besuchen – um Inspiration zu geben und Zusammenhalt zu fördern.

Diese Reise sollte für mich kein klassisches Abenteuer sein, bei dem es nur ums Ankommen geht – oder darum, mich als Extremsportler darzustellen. Mir ging es nicht um höher, schneller, weiter oder irgendwelche Rekorde. Natürlich liebe ich es, mich herauszufordern, sonst hätte ich diese Tour nicht angetreten, aber nicht, um mich mit anderen zu messen. Ich habe diese Challenge für mich gemacht – und für all die, die vielleicht gerade an sich zweifeln. Ich bin losgezogen, um zu zeigen, was möglich ist, wenn man an sich glaubt. Wenn man fällt – und trotzdem wieder aufsteht. Wenn man nichts unter Kontrolle hat – und trotzdem losgeht. Aber auch, weil ich erfahren habe, wie viel die Welt für uns bereithält, wenn wir offen sind und dem Moment vertrauen. Nicht alles läuft glatt. Das Leben beginnt meist genau dort, wo es unbequem wird. Und oft schätzt man erst danach wert, wie kostbar es ist.

Und trotzdem – das ist mein Motto. Für alles, was unmöglich erscheint und trotzdem machbar ist. Es steht für all die Momente, in denen ich am Boden lag – und trotzdem weitergemacht habe. Und genau das möchte ich weitergeben: dass man Schritt für Schritt viel mehr schaffen kann, als man sich je zugetraut hätte. Das Leben muss nicht perfekt sein, um großartig zu sein. Stolpern und Zweifeln gehören dazu. Nicht, perfekt zu funktionieren, ist das Ziel, sondern einfach nur ehrlich und authentisch zu sein. Die Welt ist voller Möglichkeiten – wir müssen nur bereit sein, sie zu sehen. Und mutig genug, sie zu ergreifen.

Der mexikanische Farmer hat offensichtlich doch nicht abgedrückt. Das Gewehr in seiner Hand ließ mir das Herz bis zum Hals schlagen, und ich war wie gelähmt. Mein Kopf war wie leergefegt, und der einzige Satz, der mir noch einfiel, war: „Una cerveza por favor.“ Als ob mir der Bauer ein Bier servieren würde. Womöglich noch eiskalt. Im Gegenteil, eiskalt erwischt hat er mich.

Der Google Translator hat mich dann gerettet. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit hatte ich endlich eine Erklärung eingetippt und die App sprechen lassen. Der Mann sah mich lange an, dann nickte er. „Diese Region ist gefährlich“, sagte er schließlich. „Du kannst hier übernachten, aber morgen früh musst du verschwinden.“ Damit verschwand er in der Dunkelheit. Meine Erleichterung kannte keine Grenzen. Das war noch mal gut ausgegangen!

Calgary – Die Stadt der verlorenen Träume und Fahrräder

18.07.2022, Flughafen Calgary

Jetlaggeplagt und mit einem riesigen Kloß im Hals stehe ich nach einer über 20-stündigen Reise am Serviceschalter von WestJet am Flughafen in Calgary. Meine Beine sind schwer, mein Kopf dröhnt vor Müdigkeit, während ich versuche, meine Situation zu erklären. „Mein Fahrradkarton ist nicht angekommen“, sage ich erneut, diesmal etwas verzweifelter. Schon bei meinem Zwischenstopp in Vancouver gab es einige Probleme. Die Mitarbeiter meinten, dass mein Fahrrad, falls es angekommen sei, höchstwahrscheinlich direkt nach Calgary weitergeflogen wäre. Jetzt warte ich hier seit Stunden, und niemand kann mir sagen, wo es ist.

Die Frau am Schalter mustert mich genervt. Es ist kurz vor Mitternacht, und sie schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen gereizt an. „Fahrrad nicht da“, sagt sie schnippisch, mit gelangweilter Miene. „Kommen Sie morgen wieder.“

„Morgen?“ Ich starre sie fassungslos an. Ein Tsunami aus Wut, Angst und Verzweiflung droht mich zu überrollen. Wie soll ich meine Reise ohne Fahrrad machen? Die Panamericana, mein Traum, mein Lebensziel, die Chance, mein Leben zu hinterfragen und einen kompletten Neustart zu wagen – alles hängt an diesem verdammten Karton. Dabei hatte doch alles so gut begonnen. Noch vor wenigen Stunden hatte ich mich tränenreich, aber voller Vorfreude von meiner Freundin Susanne verabschiedet. Wir standen am Flughafen, umgeben von den geschäftigen Geräuschen der Abreisenden. Sie hielt mich fest umarmt, ihre Wärme spüre ich noch immer. Ein letzter Kuss, ein letzter Blick, dann verschwand sie in der Menge.

16.07.2022: Abschied von Susanne am Frankfurter Flughafen.

Natürlich hatte ich Angst, besonders in den letzten Tagen vor dem Abflug, als der Stress immer größer wurde. Ich dachte immer wieder an all die Gefahren, die mich auf der Reise erwarten könnten: ein Grizzlybär, der mich beim Wildcampen überrascht. Ein Überfall durch ein Drogenkartell. Eine Reifenpanne mitten in der Wüste. Doch dass mir gleich zu Beginn mein Fahrrad abhandenkommt und ich dann auch noch von der Fluggesellschaft so im Stich gelassen werde – das hätte ich mir im Leben nicht vorstellen können.

„Kommen Sie morgen wieder. Ich kann nichts weiter für Sie tun!“, reißt mich die Flughafenmitarbeiterin aus meinen Gedanken. Ihre Stimme klingt kalt und abweisend. Ich fühle mich hilflos und allein. Total genervt von dieser unfreundlichen Art, wende ich mich seufzend ab und trotte zu einer nahegelegenen Sitzbank, um meine Gedanken zu ordnen. Völlig erschöpft werde ich von meinen Emotionen überrollt. Wie soll ich das schaffen? Bin ich dieser Herausforderung überhaupt gewachsen?

Die erste Nacht in Calgary ist eine Qual. In einer vermeintlich ruhigen Ecke des Flughafens versuche ich zu schlafen, doch die Ungewissheit lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Meine Gedanken rasen wie ein Zug, der außer Kontrolle geraten ist. Wie soll ich diese Reise ohne Fahrrad antreten? Die Reise, die ich seit Jahren geplant hatte. Die Reise, die mir nach meiner Hirntumor-Diagnose und dem folgeschweren Kletterunfall auf Mallorca neuen Lebensmut geben sollte. Ist mein Traum jetzt schon vorbei?

Der menschenleere Flughafen mit seinen grauen Hallen und niedrigen Decken wirkt trostlos. Die bedrückende Stille verstärkt meine Sorgen. In meinem Kopf spielen sich Szenarien ab, in denen ich die Reise abbrechen muss. Ich sehe all meine Pläne zerplatzen wie Seifenblasen. Vielleicht ist das ein höheres Zeichen dafür, dass ich diese Reise nicht antreten soll. Doch dann erinnere ich mich daran, warum ich überhaupt aufgebrochen bin, nämlich um mir und der Welt zu beweisen, dass ich trotz all der Rückschläge und Hindernisse meine Mission verwirklichen kann.

Die nächsten zwei Tage ziehen sich wie Kaugummi. Ich hänge in einem Airbnb in einem tristen Vorort von Calgary fest. Ohne Fahrrad und ohne Perspektive fühle ich mich wie ein gestrandeter Wal. Meine Motivation ist am Boden, und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Die Panamericana scheint in unerreichbare Ferne zu rücken. Selbstzweifel nagen erneut an mir. Meine Eltern, mein Onkel – ein Filmemacher, der eine Dokumentation über meine Reise für den SWR drehen will –, und meine Freundin Susanne bilden eine kleine Taskforce. Sie telefonieren, recherchieren und ziehen alle möglichen Register, um mein Fahrrad aufzuspüren. Doch die Situation spitzt sich weiter zu und wird mit jeder neuen Information immer undurchsichtiger. Verschiedene Kontakte geben mir widersprüchliche Informationen. Ein Kontakt behauptet, dass mein Fahrrad in Frankfurt sei, in einem riesigen Hangar für liegen gebliebenes Sperrgepäck. Ein anderer ist überzeugt, dass das Fahrrad irgendwo in Vancouver in einer Ecke des Flughafens steht, vergessen und unbeachtet. Und dann gibt es noch die Theorie, dass es aufgrund eines falsch zugeordneten Barcodes vielleicht sogar ganz woanders in der Welt verschollen sein könnte. Meine Verzweiflung wächst mit jedem Telefonat. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, nach Vancouver zu fliegen und selbst nach meinem Fahrrad zu suchen. Aber die Kosten für die Flüge schrecken mich ab. Diese Ungewissheit, dieses Nichtwissen, was ich tun soll, ist das Schlimmste. Es fühlt sich an, als würde ich komplett in der Luft hängen.

Über Social Media berichte ich laufend über Neuigkeiten und Updates. Die Solidarität, die mir entgegengebracht wird, ist beeindruckend. Immer mehr Menschen schreiben mir und machen mir Mut. Die nächsten Tage verbringe ich damit, ziellos durch Calgary zu wandern. Irgendwo tief in mir wartet ein Funken Hoffnung darauf, dass sich doch noch eine Lösung findet. Die Nächte sind am schlimmsten. In meinem Airbnb liege ich wach, mein Kopf voller Gedanken und Sorgen. Warum passiert das ausgerechnet mir? Warum kann nicht einmal etwas reibungslos verlaufen? Der Zweifel lastet schwer auf mir wie ein Rucksack voller Steine. Doch wie so oft in meinem Leben wird mein Motto Und trotzdem auch diesmal zum entscheidenden Anker. Ich erinnere mich an all die Rückschläge, die ich bisher durchgemacht habe. So oft bin ich schon gescheitert. So häufig gab es Hindernisse, die mich Jahre zurückwarfen.

Wie damals, als mich der Tumor lahmlegte und ich meine Karriere als Leistungssportler an den Nagel hängen musste. Die immensen körperlichen Einschränkungen hatten mich damals fast gebrochen. Es dauerte Jahre, bis ich mich zurückkämpfen konnte. Und dann zwei Jahre später ein Kletterabsturz – ich hätte sterben können. Stattdessen überlebte ich mit einem gebrochenen Arm und durchtrennten Nervenbahnen, die mir die Kontrolle über meine Hand nahmen. Wieder brauchte ich über ein Jahr, um meine Hand bewegen zu können.

Nun, da ich in Calgary gestrandet bin, fühle ich mich an diese Zeiten erinnert. Gewiss, all diese Rückschläge haben mich geformt, aber auch ihre Spuren hinterlassen. Zwar kann ich immer wieder beweisen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse, doch nun habe ich keine Lust mehr. Endlich soll es einfach sein, ohne großes Drama. Ich bin es satt, wieder aufs Neue stark sein zu müssen. Langsam verlässt mich die Geduld. Nach außen versuche ich, besonnen zu wirken, aber innerlich brodelt es in mir, und am liebsten würde ich losbrüllen. Ich kämpfe schon so viel, überwinde so viele Hürden. Eigentlich ist mir zum Heulen zumute. Am liebsten möchte ich das Handtuch werfen! Doch zum Glück gibt es diesen unbändigen Willen, der mich bisher mein Leben lang angetrieben und mich aus all diesen Situationen herausgebracht hat. Am dritten Abend sitze ich frustriert in einem der gesichtslosen Fastfood-Restaurants in der Nähe meines Airbnbs. In einem letzten Versuch, etwas Positives zu finden, öffne ich die App WarmShowers, eine Art Couchsurfing für Radreisende, und suche nach Gastgebern in Calgary. Zu meinem Glück meldet sich gleich der erste: Eric. Er bietet mir an, bei ihm unterzukommen, und schon am nächsten Tag treffe ich ihn in einem Café in Inglewood, einem charmanten historischen Stadtteil von Calgary, der mich mit seiner lebendigen Atmosphäre sofort in seinen Bann zieht.

Eric ist ein freundlicher, ruhiger Typ, sportlich, ein bisschen alternativ, hilfsbereit und weltoffen. Er ist eher zurückhaltend, aber ich spüre sofort, dass er es ehrlich meint.

„Oh Mann, ich kann echt verstehen, wie du dich ohne dein Rad fühlst“, sagt er, als er mir einen Cappuccino reicht. „Keinen Stress. Du kannst erst mal bei mir bleiben. Ich freue mich, dir helfen zu können.“ Eric erzählt mir von seinen eigenen Radabenteuern, während wir auf dem Weg zu seiner Wohnung durch Inglewood schlendern. Seine Begeisterung ist ansteckend, und ich merke, wie sich meine Stimmung langsam aufhellt. Wir verstehen uns auf Anhieb, und ich folge ihm mit meinem Gepäck zu seiner Wohnung.

Meine Unterkunft für zwei Wochen: Erics Wohnung in Calgary.

Erics Zuhause ist ein gemütliches Apartment – ein charmantes Chaos aus Büchern, Kunst und Fahrradteilen, welches sich über zwei Zimmer und einen kleinen Dachboden erstreckt. Ein Ort, der Kreativität und Abenteuerlust ausstrahlt. Er ist ein absoluter Fahrrad-Enthusiast. Vier unterschiedliche Fahrräder für jeglichen Einsatzzweck stehen in seiner Wohnung verteilt. Im Wohnzimmer hängt ein altes Rennrad schmuckvoll an der Wand. Karten und allerhand künstlerische Souvenirs von den kanadischen Ureinwohnern stehen herum. Es ist nicht viel, aber es ist ein Zuhause, und Eric lässt mir alle Freiheiten. Ich fühle mich sofort wohl mit seiner unkomplizierten Art und seinem Vertrauen. Dass er mir seinen privaten Raum so selbstverständlich öffnet, berührt mich tief.

„Bleib so lange, wie du willst“, sagt er. „Mach es dir gemütlich.“ Nach der Zeit der Ungewissheit und Einsamkeit ist es ein Geschenk, einen Ort zu haben, an dem ich mich fallen lassen kann. In den folgenden Tagen lerne ich Eric besser kennen. Er ist Umweltingenieur, ein ruhiger, intelligenter Typ. Wir unternehmen zwar nur wenig zusammen, da er viel arbeitet, aber am Wochenende erkunden wir gemeinsam die Umgebung von Calgary. Erics entspannte Art und die herzliche Gastfreundschaft lassen meine Sorgen um eine teure Unterkunft verschwinden. Für mein schmales Reisebudget ist ein wochenlanger Aufenthalt in Calgary nicht vorgesehen. Seine coole Haltung und sein Vertrauen in den Lauf der Dinge lassen mich entspannen und erkennen, dass ich mir Zeit nehmen und in Ruhe nachdenken kann, um die beste Lösung zu finden.

Langsam kehrt meine Zuversicht zurück. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, mein Fahrrad in den nächsten Tagen zu bekommen, gegen null geht, beschließe ich, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich setze mich an meinen Laptop und schreibe E-Mails an die Lokalzeitungen in Calgary. Ich erzähle ihnen von meiner Reise, von meinem verloren gegangenem Fahrrad und meiner Mission, Menschen mit Hirntumoren, Krebs und körperlichen Einschränkungen Mut zu machen. Schon am nächsten Tag bekomme ich eine Antwort vom Calgary Herald, der größten Tageszeitung der Region. Sie sind begeistert von meiner Geschichte und wollen mich interviewen. Ein paar Stunden später sitze ich einem Journalisten gegenüber und erzähle ihm alles. Ich berichte von meiner Krankheit, meiner Mission und meinem verlorenen Fahrrad. Wichtig ist mir, meine Befürchtung mitzuteilen, dass mein Traum schon vorbei sein könnte, bevor er richtig begonnen hat. Am nächsten Morgen schlägt der Artikel im Calgary Herald wie eine Bombe ein. Mein Telefon klingelt ununterbrochen. CBC, die lokale Radiostation, will ein Interview, und mein Posteingang quillt vor Hilfsangeboten über. Verschiedene Sportläden und ein Fahrradgeschäft sichern mir ihre Unterstützung zu. Diese überwältigende Resonanz nach dem Medienrummel sowie die kanadische Hilfsbereitschaft von allen Seiten ermutigen mich, meinen Plan doch noch zu verwirklichen. Sogar die kanadische Hirntumorhilfe nimmt Kontakt zu mir auf.

Titelcover vom Zeitungsbericht für den Calgary Herald. Darius vor der Skyline von Calgary, Kanada.

Durch die mediale Aufmerksamkeit gehen auch viele Spenden an die kanadische Hirntumorhilfe ein. Dafür bin ich sehr dankbar, denn ich möchte ja Menschen mit einer ähnlichen Lebensgeschichte wie meiner mit meiner Mission ermutigen und unterstützen. Besonders die moralische Unterstützung der kanadischen Hirntumorhilfe ist eine große Motivation für mich. Langsam erkenne ich den positiven Effekt des Fahrradverlusts.

Ich entscheide mich, nicht länger zu warten, sondern meine Reise nun so schnell wie möglich anzutreten. Ein lokaler Fahrradladen, Two Wheels View, bietet mir ein gebrauchtes Tourenrad zu einem stark reduzierten Preis an. Neben einem Fahrrad muss ich mir nahezu mein ganzes Campingequipment sowie eine Kamera erneut organisieren. Auch hier gewähren mir einige Händler Sonderrabatte. Obwohl meine Familie, meine Freundin und viele Freunde für mich da sind und sich in Deutschland für mich einsetzen, fühle ich mich dennoch in Kanada etwas alleingelassen. Ich bin so erfüllt, dass mich die Menschen nach dem Zeitungs- und Radiointerview so sehr unterstützen. Dadurch sehe ich mich in meiner Mission bestätigt. Nun nimmt der Start meiner Tour wieder Fahrt auf. Nach dem Gefühl der Zerrissenheit der letzten Tage bin ich erleichtert und zuversichtlich, meine Reise endlich richtig beginnen zu können.

Nach zwei Wochen des Wartens und der Ungewissheit mustere ich mein neues Gefährt. Es ist ein gebrauchtes Masi, ein italienisches Tourenrad. Zwar nicht zu einhundert Prozent ideal – bei meinen knapp zwei Metern Körpergröße passt mir eigentlich nie etwas direkt von der Stange –, doch das Rad ist in gutem Zustand. Ich spüre, wie sich die Aufregung in mir ausbreitet. Endlich kann es losgehen! Endlich! Ein neues Fahrrad, eine neue Chance und das große Abenteuer stehen kurz bevor.

Fertig gepacktes Übergangsrad bereit für den Start am nächsten Tag.

Zwischenzeitlich, nach endlosen Telefonaten, E-Mails und schlaflosen Nächten, kristallisiert sich heraus, dass der Fahrradkarton tatsächlich in Frankfurt steht und den Flughafen nie verlassen hat. Die Erleichterung ist enorm, denn die wochenlange Ungewissheit und das ständige Hin und Her haben mich viel Kraft gekostet. Jetzt habe ich Klarheit darüber, wo mein Fahrrad ist, doch wie schnell und wo ich es zurückbekomme, bleibt noch ungewiss. Am Abend vor meinem Aufbruch meldet sich sogar die Fluggesellschaft aus Deutschland und versichert mir, dass sie mein Fahrrad in Frankfurt gefunden haben. Es befindet sich tatsächlich in einem riesigen Hangar zwischen zahlreichem liegengeblieben Sperrgepäck, wo es aufgrund des fehlerhaften Barcodes abgeladen wurde. Sie entschuldigen sich aufrichtig und versprechen mir, alles daran zu setzten, das Rad innerhalb der nächsten zwei Wochen nach Vancouver zu bringen. Außerdem sichern sie mir zu, meine zusätzlichen Ausgaben zu übernehmen. Ich packe bis spät in die Nacht meine Taschen und bereite das Fahrrad vor. Je näher die Abreise rückt, desto mehr überkommen mich letzte Zweifel und Ängste.

Der erste Schritt ins Ungewisse

Abschied von Eric am 01.08.2022.

Am Tag meiner Abreise aus Calgary verabschiede ich mich herzlich von Eric. Unfreiwillig bin ich für fast zwei Wochen sein Mitbewohner geworden. In dieser Zeit ist nicht nur eine Freundschaft entstanden, sondern auch das Gefühl, dass ich einen Platz in der Welt habe, an den ich jederzeit zurückkehren kann und willkommen sein werde. Wir umarmen uns zum Abschied, und ich trete in die Pedale. Mit jedem Tritt löst sich die Anspannung, und die Zweifel des Vorabends verfliegen wie ein Windhauch. Ein Gefühl von Freiheit und unbändiger Energie erfüllt mich – ich bin bereit für das Abenteuer meines Lebens. Die ersten Kilometer radle ich entlang des Flusses und lasse schnell die pulsierende Stadt hinter mir, passiere die Skisprungschanze der Olympischen Spiele von 1988 und tauche schließlich in die Weite der kanadischen Prärie ein. Der erste Tag im Sattel ist ein Genuss: sommerliche Temperaturen, strahlender Sonnenschein und eine endlos scheinende Landschaft, die sich vor mir ausbreitet. Am Horizont zeichnen sich bereits die majestätischen Umrisse der Rocky Mountains ab. Ich fühle mich winzig angesichts dieser Weite, doch gleichzeitig erfüllt von Freiheit und Abenteuerlust. Endlich geht es los! Nach so vielen Jahren des Hinarbeitens und der immer wieder missglückten Anläufe bin ich überglücklich, nun die größte Reise meines Lebens zu beginnen.

Die letzten zwei Wochen waren intensiv und turbulent, doch gerade in den Momenten der Verzweiflung habe ich am meisten über mich selbst herausgefunden. Ich lernte, mir selbst und dem Moment zu vertrauen, Zweifel loszulassen. Auch wenn es nicht immer leicht war, bin ich am Ende an diesen Herausforderungen gewachsen, innerlich gereift und viel entspannter geworden. Es hat sich eine Lösung gefunden. Manchmal braucht es einfach Mut, andere um Hilfe zu bitten und offen für neue Wege zu sein. Die Unterstützung meiner Lieben zuhause in Deutschland war dabei unglaublich wertvoll und zeigt mir, dass ich absoluten Rückhalt habe, egal, wie weit entfernt ich bin. Egal, wie schlimm es am Anfang aussah – jetzt sitze ich im Sattel, weil ich an mich und an diese Reise geglaubt habe. Vor allem lasse ich mich nicht unterkriegen. Und trotzdem!

Mit jedem Pedaltritt entferne ich mich weiter von Calgary und nähere mich meinem großen Traum. Doch die wahre Reise hat gerade erst begonnen. Die Panamericana wartet auf mich – und ich bin gespannt, was sie für mich bereithält.

Einfahrt in die Rockies am ersten Tag.

Kanada – Zwischen Bären und Blutsaugern

August 2022: 1.550 Kilometer, 16.600 Höhenmeter

Sobald ich in die Rocky Mountains einfahre, verändert sich die Landschaft. Die sanften Hügel werden zu steilen Felswänden, und die weiten Felder verwandeln sich in dichte Wälder. Die Straße schlängelt sich durchs Tal, rechts und links ragen die schneebedeckten Gipfel der Berge auf, die gelblich in der Abendsonne schimmern. Ich checke auf einem Campingplatz in Canmore ein, koche mir vor meinem Zelt eine leckere Pasta und schlafe bald erschöpft, aber glücklich, ein. Hier, inmitten dieser atemberaubenden Naturkulisse, beginnt meine Reise wirklich. Gleich am nächsten Morgen laden mich zwei Kletterer, die ich auf dem Campingplatz kennengelernt habe, zu Eiern und Speck ein. Gestärkt starte ich meine Etappe. Die Tour führt durch den berühmten Banff-Nationalpark. Besonders wegen der gigantischen Aussichten in diesem Teil der Rockies wollte ich die Tour von Calgary aus starten. Der Weg nach Lake Louise hat es in sich. Die Sonne knallt erbarmungslos, und mein Fahrrad macht mir das Leben zur Hölle: Drei Platten auf wenigen Kilometern – ich bin kurz davor, es die Böschung hinunterzuwerfen. Nach den zeitraubenden Reparaturen beginnen die Pedale zu knarzen und blockieren schließlich ganz. 20 Kilometer vor Lake Louise muss ich mich mit starren Pedalen die Anstiege hochquälen, während die Sonne bedrohlich tief am Horizont hängt. Es sind die zähesten Kilometer meines Lebens – zumindest fühlt es sich so an. Und mitten im Bärengebiet hoffe ich nur, dass mir kein Grizzly begegnet. Mit diesen Pedalen hätte ich keine Chance.

Völlig abgekämpft erreiche ich spät abends die Bergsteigerherberge in dem Örtchen Lake Louise. Am nächsten Tag beschließe ich, meinem Fahrrad und mir eine Auszeit zu gönnen. Während mein Gefährt in der Werkstatt wieder fit gemacht wird, fahre ich mit dem Shuttlebus zum berühmten Moraine Lake. Der kristallklare, türkisblaue Bergsee fesselt mich und lässt mich für einen Moment alles um mich herum vergessen. Eingerahmt von majestätischen Bergen wirkt er nahezu unrealistisch, fast wie gemalt! Kein Wunder, dass er der erste Treffer bei Google ist, wenn man Kanada eingibt.

Am Moraine Lake im Banff National Park, Kanada.

Von Pelztieren und Plagegeistern

Nach diesem spektakulären Ausflug wartet mein Fahrrad, frisch repariert und einsatzbereit, in der Werkstatt auf mich. Die Vorfreude auf die Weiterfahrt ist groß, und so mache ich mich zur Mittagszeit auf den Weg. Mein Ziel: Der Highway 93, der mich direkt durch die atemberaubende Kulisse der Rockies führen wird. Die Straße führt mich durch ein wildes über 100 Kilometer langes Tal. Auch die Straßenschilder weisen darauf hin, dass ich auf dieser Strecke keinerlei Zivilisation begegnen werde. Wenn ich daran denke, auf den folgenden Kilometern ohne Handysignal völlig auf mich allein gestellt zu sein, wird mir flau im Magen. Dazu gesellt sich noch ein wachsender Frust, weil ich die ganze Zeit gegen einen starken Wind ankämpfen muss. Nach einer kurzen Pause am Straßenrand stelle ich fest, dass mein Reifen schon wieder an Luft verliert. Kaum lade ich mein Gepäck ab, wird es komplett windstill – und eine Wolke aus Mücken stürzt sich auf mich. Was ich jetzt für eine leichte Brise geben würde! Da taucht plötzlich James auf, den ich am Vorabend auf dem Campingplatz kennengelernt hatte – samt Mückenspray. Es wirkt kaum, aber immerhin teilen wir uns jetzt das Opfersein. Mit meinem notdürftig geflickten Reifen flüchten wir vor den Blutsaugern.

Auf den nächsten Kilometern kommen wir ins Gespräch. James ist Mitte Sechzig, kommt aus Vancouver und unternimmt eine einwöchige Radtour in den Rockies. Wir verstehen uns auf Anhieb, und er lädt mich zu sich nach Hause ein. Auch wenn sich unsere Wege bald wieder trennen, bleibt das Gefühl, dass ich nicht allein bin. Das gibt mir neuen Mut.

Am Abend erreiche ich Radium Hot Springs, wo mich eine tolle Überraschung erwartet: Lee, der Besitzer des Piccadilly Motels, hat meine Geschichte im Calgary Herald gelesen und mich zu sich eingeladen! Begeistert von meiner Ankunft und meiner Geschichte stellt er mir sein bestes Zimmer zur Verfügung. Ein Pausentag in seinem etwas skurrilen, britisch eingerichteten Motel kommt mir wie gerufen. Also nutze ich den freien Tag und bringe mein Rad erneut in eine Fahrradwerkstatt und hoffe, dass ich nun ohne Panne bis nach Vancouver komme. Voll neuer Motivation mache ich mich danach wieder auf den Weg.

Die Tage nach Radium Hot Springs verlaufen eher zäh. Die Landschaft wird trocken und wüstenähnlich. Mein Körper kämpft mit der drückenden Hitze, ich fühle mich schlapp und kränklich. Vielleicht sind es die ungewohnten Temperaturen, vielleicht die Anstrengung der täglichen 100-Kilometer-Etappen, vielleicht beides. Die Nächte verbringe ich auf Campingplätzen, denn dort gibt es bärensichere Container für meine Lebensmittel. Zusammen mit anderen Campern fühle ich mich sicherer. Nach den eintönigen Tagen freue ich mich auf den Kootenay Lake und die landschaftliche Abwechslung. Es wird grüner und die Luft kühler. Meine Lebensgeister erwachen wieder. Ich beschließe, an einem einsamen Strandabschnitt wild zu campen. In der Abendsonne koche ich mir ein leckeres Essen und genieße den Blick auf das kristallklare Wasser. Es ist der perfekte Bilderbuchort. So hatte ich mir einen Abend in Kanada vorgestellt!

Doch bei Sonnenuntergang verwandelt sich die Idylle: Die Mücken kehren zurück – in Massen. Hier hilft definitiv kein Mückenspray mehr. Ans Essen ist nun nicht mehr zu denken. Ich schlüpfe trotz der sommerlichen Temperaturen in Regenjacke und lange Hose. Am Ende ist meine Kleidung schwarz gepunktet.

Eine der wichtigsten Regeln im Bärengebiet ist es, die „Bär-Muda-Dreieck-Regel“ zu beachten. Das bedeutet, den Schlafplatz, die Kochstelle und die Lebensmittel weiträumig im Dreieck voneinander zu trennen. Selbst Thunfisch in Dosen, Zahnpasta, Seife oder Deos können von Bären über Kilometer hinweg gerochen werden. Deshalb verzichte ich lieber auf mein Abendessen, um nicht als Mahlzeit für Bären oder Mücken zu enden.

Grafik Bär-Muda-Dreieck (Derek Hansen; TheUltimateHang.com).

Mit den ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen sind die Mückenschwärme verschwunden. Nun kann ich endlich entspannt frühstücken und ein erfrischendes Bad im See nehmen. Nach einer schönen Fährfahrt über den Kootenay Lake empfängt mich Kevin, ein WarmShowers-Host und Fahrradmechaniker, mit dem ich mich wenige Tage zuvor in Verbindung gesetzt hatte. Sein Haus, direkt am See gelegen, ist ein Traum. Ich darf im Wintergarten vor der Veranda übernachten – mit Blick auf den riesigen Garten, der sich über zweihundert Meter bis zum See erstreckt.

Als ich auf der Veranda ein paar Dehnübungen mache, sehe ich am Ende des Gartens etwas Schwarzes vom See her auf das Haus zulaufen. Neugierig lege ich mich hin und beobachte das Tier – ein Schwarzbär! Er kommt näher, ohne mich zu bemerken. Ich bin fasziniert von seiner Größe und Schönheit, auch wenn etwas Angst mitschwingt. Nur noch wenige Meter trennen uns. Ich stehe langsam auf, hoffe, dass er gelassen bleibt. Doch er bemerkt mich und trottet davon. Was für ein Erlebnis! So nah war ich einem Bären noch nie. Es zeigt, dass diese Tiere nicht von Natur aus aggressiv sind, sondern eher scheu. Wahrscheinlich sucht er nur nach Futter und kennt die Mülleimer der Menschen als mögliche Quelle.

Im Tunnel meiner Vergangenheit