Vom Glück, mit dem Wind zu leben - Renske Jonkman - E-Book

Vom Glück, mit dem Wind zu leben E-Book

Renske Jonkman

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Beschreibung

Renske Jonkman lebt hinterm Deich, auf dem flachen Land, wo der Wind freies Spiel hat. Mitreißend schreibt sie über ihre Verbundenheit mit dem aufbrausenden Element. Über ihre Kindheit in den westfriesischen Poldern, die heranrollenden Wolken beim Surfen mit ihrem Bruder und die Freude ihrer Kinder beim Fahrradfahren im Gegenwind. Denn für die Niederländer gibt es nichts Erfrischenderes als uitwaaien: vorgebeugt gegen den Sturm anzulaufen und sich den Kopf freipusten zu lassen – um Kraft und Inspiration zu finden oder auch den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen zu überwinden. »Vergesst ›Hygge‹, es ist Zeit für ›Uitwaaien‹!« Washington Post Poetisch und inspirierend zeigt uns dieses sehr persönliche Buch auf, wie beruhigend und heilend die Natur sein kann. Ein Plädoyer fürs Draußensein und Durchatmen.  »Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, sich den Naturkräften auszusetzen, sich zu spüren: den Rhythmus der Schritte bei einem Spaziergang, den Herzschlag, das Blut in den Adern. Es zeigt uns, was wir finden, wenn wir uns von den Nachrichten auf unserem Bildschirm verabschieden. Dieses Buch bringt uns nicht nur in Bewegung, es bringt uns vor die Tür.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Niederländischen von Barbara Heller

Mit zehn farbigen Abbildungen

© Renske Jonkman, 2023

Titel der niederländischen Originalausgabe: »Uitwaaien: lofzang op ons vlakke land« bei Nijgh & Van Ditmar, Amsterdam 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Birgit Kohlhaas

Fotos: Loek Buter

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Das Schicksal (…) spielt die Rolle des Windes, indem [es] uns schnell weit fördert, oder weit zurückwirft; wogegen unser eigenes Mühen und Treiben nur wenig vermag.

Arthur Schopenhauer

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

Erster Teil

Wenn der Wind aufkommt

Flachländerbeine

Kumuluswolken

Gleichgewicht

Windsurfen

Müller

Aufgedreht

En plein air

Stille Stunden

Weißes Rauschen

Zweiter Teil

Sturm

Himmel

Wild

Abschlussdeich

Nase im Wind

Etersheim

Der Fliegende Holländer

Dreifachsturm

Tessel

Nase im Wind

Ich war ihr Haus

Dritter Teil

Abflauen

Kontrolle

Brachland

Heißluftballon

Holländische Frösche

Fallen

Auf, in die Welt hinaus

Anmerkung

Bibliografie

Übersetzerförderung

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Ich hatte vergessen, wie heftig der Wind hier weht.

Im Winter 2015 luden wir unseren Hausrat in den Viehtransporter meiner Schwiegereltern, verließen Amsterdam und zogen mit der Familie aufs flache Land Nordhollands, in einen alten Bauernhof, mit einem Zwischenmietvertrag über ein Jahr. Acht Jahre später wohnen wir immer noch hier.

Das ländliche Holland und insbesondere das zwischen Nordsee und Ijsselmeer gelegene Westfriesland, wo ich aufgewachsen und wohin ich nach zehn Jahren wieder zurückgekehrt bin, liegt mehrere Meter unter dem Meeresspiegel und ist so flach, dass der Wind hier freies Spiel hat. Flach ist es deshalb, weil das Gebiet einst der Boden eines Binnenmeers war. Bei Springflut drang das Wasser bis weit auf die Halbinsel vor und überschwemmte die sumpfigen Felder. Der Polder, in dem ich wohne, entstand vor vierhundert Jahren, als die Seen und Binnenmeere trockengelegt wurden. Wer sich in einem Polder aufhält, muss sich vorstellen, dass er eigentlich mit den Füßen auf dem Meeresgrund steht. Der Blick reicht kilometerweit, und allenthalben sieht man Wolken, Deiche und Wassergräben. Das kahle Land wurde zu einem großen Teil von den Bewohnern selbst geschaffen: Die Felder sind geometrisch angelegt, unsere Vorfahren haben mit der Schaufel die Gräben ausgehoben und die Deiche erhöht, und so ist überall in der Landschaft die Hand des Menschen sichtbar.

Das Licht hier ist golden, so golden, wie ich es nirgendwo sonst gesehen habe. Es ist das holländische Licht. Es ist weich und diffus, und an herbstlichen Tagen nimmt es die Farbe des Schilfs an, das die Gräben säumt. Das Wasser der Nordsee und des Ijsselmeers, der Gräben und des Ringdeichs wirkt wie ein reflektierender Spiegel und verleiht der Luft ihr besonderes Leuchten. An grauen Tagen kann plötzlich ein gleißender Sonnenstrahl durch die Wolken brechen, sodass sich Licht und Luft immer wieder ein klein wenig verändern. Feuchter Nebel über den Wiesen lässt alles in weicheren Farben erscheinen – die Kühe, die Häuser, die Bäume. Die französischen Brüder Goncourt, die im 19. Jahrhundert ihr gemeinsames literarisches Werk veröffentlichten, beschrieben Holland als »ein aus dem Wasser hervorgegangenes Land, (…) eine Heimat vor Anker, ein wässriger Himmel, Sonnenstrahlen, die aussehen, als schienen sie durch eine Karaffe mit Brackwasser«.

In dieser Landschaft mit ihren kühlen Sommern und milden Wintern, in der es fast immer windet und regnet, wuchs ich auf. Geboren bin ich in Heerhugowaard – dem einstigen Binnenmeer De Waerdt –, in einer von grünen Wiesen und Weiden umgebenen Wohnsiedlung. Ich war das jüngste von drei Kindern einer Lehrerfamilie – zwei Mädchen und ein Junge – und hielt mich nach der Schule am liebsten auf den wenige Kilometer entfernten Bauernhöfen auf, wo ich bei allen möglichen Arbeiten half, die Pferde versorgte oder mich einfach in den Ställen herumtrieb. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich wieder bei starkem Gegenwind über den Deich dorthin radeln, um mich herum viel Raum, die Wege lang und gerade, die Kopfweiden in Reih und Glied. Viel Himmel. Graue Kumuluswolken über den weiten Feldern. Und auch später, als Jugendliche, die ihren Weg noch suchte, fuhr ich, als mein Bruder krank wurde und die Spannung in unserem Haus zunahm, am liebsten ins flache Land hinaus. Dort konnte ich frei atmen.

Kein Wunder also, dass die Rückkehr in meine Heimat dem simplen Wunsch entsprang, wieder bis zum Horizont schauen zu können. In den zehn Jahren, die ich in Amsterdam wohnte und in denen ich meine ersten Romane schrieb, verbrachte ich mehr Zeit drinnen als draußen. Mein Blick reichte nicht weiter als bis zum Wohnblock gegenüber, begrenzt von Straßen zwischen hohen Mauern und der Ringautobahn mit dem endlosen Strom der Fahrzeuge. Ich achtete weder auf die goldene Stunde vor Sonnenaufgang noch auf die blaue Stunde vor Sonnenuntergang, weder auf die Abenddämmerung noch auf den Mond, der manchmal schon nachmittags am Himmel steht. Richtige Stürme gab es selten, und wenn der Wind wehte, konnte ich nicht erkennen, woher er kam.

In der Stadt kommt der Frühling immer plötzlich und unangekündigt: keine rammelnden Hasen, keine Igel, die sich vorsichtig aus ihrem Laubversteck hervorwagen. An manchen Tagen kam ich kaum einmal eine halbe Stunde aus dem Haus, und dann auch nur, um von A nach B zu radeln oder einen kurzen Spaziergang durch den Park zu machen. Ich musste keine Tiere füttern, ich musste mich nicht um Haus und Hof kümmern, und die Elemente – die Luft, das Licht, die Wolkenbrüche – bewegten sich an mir vorbei und um mich herum.

Es gibt Studien, wonach der Durchschnittsamerikaner etwa dreiundneunzig Prozent seiner Zeit in geschlossenen Räumen verbringt. Schwedische Wissenschaftler fanden heraus, dass sich unser Herzschlag verlangsamt, wenn wir durch eine Virtual-Reality-Brille Bäume betrachten – sogar der Duft des Waldes wird künstlich erzeugt. Dasselbe geschieht, wenn wir dem Gesang der Vögel lauschen. Erlebt der domestizierte Mensch der Zukunft die Natur lieber in der Sicherheit seiner vier Wände? Wie ein Tier im Käfig?

In Holland ist es Tradition, sich am zweiten Weihnachtsfeiertag kräftig durchpusten zu lassen; alle setzen sich am Ende der Feiertage mit größter Selbstverständlichkeit dem Wind aus. Menschen in Festkleidern unter dicken Mänteln bevölkern dann die Strände, aber auch die Wälder, und vertrauen sich den Wolken, dem endlosen Horizont an. Selbst schlechtes Wetter und Windstärke fünf halten die Holländer nicht davon ab. Wir lehnen uns in den Wind, der Regen strömt uns übers Gesicht, und hinterher wärmen wir uns bei heißer Schokolade auf. Es ist ein nationales Massenphänomen, geboren aus einem gemeinsamen Bedürfnis. Der Mensch ist ein durch vielerlei kulturelle Regeln domestiziertes Wesen, das sich danach sehnt, auszubrechen, der Enge des häuslichen Lebens, dem endlosen Sitzen zwischen vier Wänden, dem Einhalten fester Traditionen einmal zu entfliehen. Warm eingepackt, in freier, sturmgepeitschter Luft, findet er etwas von seiner ursprünglichen Wildheit wieder.

Auch ich brauchte Licht.

Von diesem ersten Winter nach meinem Umzug aufs Land habe ich noch ein bestimmtes Bild vor Augen: windbewegte Pappeln. Es war Februar, der Wind fegte gleichbleibend heftig über Wiesen und Weiden, und wenn ich gefragt wurde, wie es für mich sei, wieder hier zu leben, antwortete ich jedes Mal: »Ich hatte ganz vergessen, wie es hier stürmen kann.«

Der Wind war ein rastloser, ungebärdiger Kindheitsfreund, zu dem ich nun zurückgekehrt war, aber ich fühlte mich nicht mehr wohl mit ihm. Sobald ich die Haustür aufmachte, blies er mich fast um. Im Gemüsegarten knickte er Maiskolben und Artischocken ab und zerschlug sie auf der Erde. Ich fuhr auf meinem klapprigen Stadtfahrrad gekrümmt über die Polderstraßen, kam aber kaum vorwärts. Schnell lernte ich, dass ich den Wind nicht verfluchen durfte, sondern mich mit ihm bewegen musste. Ich musste wieder lernen, mit ihm zu leben, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Musste mich ihm anpassen. Ich zwang mich hinauszugehen, wenn er ums Haus pfiff. Unterwegs zu sein inmitten der unbeherrschbaren Elemente, mich in der Kunst zu üben, Kräften standzuhalten, die stärker sind als ich. Und immer öfter kam ich erfrischt und mit leerem Geist von meinen Gängen zurück. Als hätte die stürmische Natur mir Ruhe beschert.

Um den Wind kennenzulernen, muss man wissen, woher er kommt, wie er an Stärke zunimmt und wann er wieder abflaut. Im Polder aufgewachsen, ist mir das Beobachten dieses Elements zur zweiten Natur geworden, und auch mein Buch folgt seinem Rhythmus: dem Aufkommen, Anschwellen und Wiederabflauen. Ich möchte einen Einblick geben in das Leben mit dem Wind und zeigen, wie sehr er Teil des flachen Polderlandes und seiner Menschen ist, wie er uns mitunter auf die Probe stellt und uns geformt hat. Und so ist dieses Buch ein Loblied auf das flache Land Hollands, eine Erkundung der Natur und zugleich ein Leitfaden für Stadtbewohner, die für eine Weile wieder in die freie Luft hinauswollen.

Erster Teil

Wenn der Wind aufkommt

Flachländerbeine

Als ich das letzte Mal in den Bergen war – im Hohen Atlas in Marokko –, wurde ich höhenkrank. Mit einem Taxi fuhr ich durch Schlaglöcher und Haarnadelkurven in einer halben Stunde zweitausend Meter nach unten, und als ich aus dem Auto stieg und wieder den Boden unter meinen Füßen spürte, begann sich mein Kopf zu drehen, und ich bekam hohes Fieber. In der Nacht träumte ich von dem flachen Land, aus dem ich komme. Wie flach es ist, kann sich kaum jemand vorstellen – an trockenen Sommertagen erinnert es noch am ehesten an eine öde Wüstenlandschaft, in der man das Dunkel der Nacht über dem endlosen Horizont heranziehen sieht.

Ich habe Flachländerbeine, und meine Augen sind von Natur aus in die Ferne gerichtet. Am wohlsten fühle ich mich auf ebenem Boden, in waagerechtem Gelände, auf einer Fläche, die eine gewisse Weite bietet. Ich hatte mir bis dahin nie klargemacht, dass ich physiologisch für die Landschaft gebaut bin, aus der ich stamme, dass ich große Höhen und dünne Luft nicht gewöhnt bin. Dass starke Höhenunterschiede mich offensichtlich krank machen können. »Wetter und Landschaften beeinflussen die Menschen mehr, als ihnen eigentlich bewusst ist«, schrieb Joan Didion einmal in The Paris Review.

Anders als in den unwandelbaren, in Stein gehauenen Bergen bleibt in dem Delta, in dem ich aufgewachsen bin, nichts für immer gleich. Es ist ein Land, das von Menschenhand geschaffen, am Reißbrett geplant wurde. Kaum eine andere Landschaft, die ich kenne, ist so vergänglich: Was heute ein Acker ist, kann sich das Meer in fünfzig Jahren zurückgeholt haben. Nichts ist von Dauer. Nichts ist endgültig.

Das Sumpfdelta musste von den Menschen dem Meer abgerungen werden.

Die Gefahr kam damals von allen Seiten: von der Zuiderzee, der Nordsee, vom weit ins Land hineinreichenden Ij, und aus Angst vor dem Untergang hat man diesen westfriesischen Polder entwässert und trockengelegt. Deichbauer, Mühlenbauer und Landvermesser waren die Ersten, die auf dem noch morastigen, bis zum fernen Horizont reichenden Grund des einstigen Binnenmeers standen. Es muss eine kahle, unwirtliche Fläche gewesen sein, als sich diese Pioniere zu Beginn des 17. Jahrhunderts daranmachten, den Kleiboden in fruchtbares Land zu verwandeln.

Der Polder wurde vollständig von Menschen konzipiert, und als ein einziges Konzept muss man ihn auch sehen: rechteckige Felder, Entwässerungsgräben, die im rechten Winkel zueinander verlaufen, wie mit dem Lineal gezogene Straßen. Das Ganze hat etwas von einem abstrakten Mondrian-Gemälde. Das Land ist grün und sehr fruchtbar, und da der Polder an drei Seiten vom Meer umgeben ist, kann der Wind ungehindert darüber hinwegfegen. Berge und Wälder gibt es hier nicht, man sieht den Himmel, wohin man auch schaut: tief hängende graue Wolken, weiße Kumuluswolken, dunkle Gewitterwolken oder weites, gleichmäßiges Blau. Oft ziehen den ganzen Tag Wolken über den Himmel, und dann treibt der Wind große Schattengebilde über Wiesen und Weiden. Bricht für einen Moment die Sonne durch, färbt sich das Gras leuchtend grün, um sich gleich darauf wieder zu verdunkeln, sodass es fast schwarz wirkt. Man braucht nur den Wolkenschatten zu folgen, um zu wissen, woher der Wind weht.

Das Wasser ist überall, folgt aber stets dem Lauf, den die Menschen ihm zugewiesen haben. Kein mäandernder Bach weit und breit. Kein Wasserfall, kein schäumender Fluss. Eine feine Schicht Entengrütze liegt auf dem metertiefen dunklen Wasser; dass es überhaupt fließt, ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Nur nach starken Regenfällen strudelt es bis an die Grabenkanten hoch, und dann wird alles Überschüssige mit den Schöpfwerken in die höher gelegenen Ringkanäle gepumpt und gelangt schließlich über weitere Kanäle und Flüsse in die Nordsee und das Ijsselmeer. Aus der Vogelperspektive würde man sehen, dass jeder trockengelegte Polder Westfrieslands von einem schimmernden Ring aus Wasser umgeben ist wie die Sonne von einem Halo. An den Ufern der Ringkanäle wächst hohes Schilf, in dem im Winter, wenn die Sonne tief steht, der Raureif glitzert. All die Gräben, Kanäle und Pumpwerke leiten das Wasser durch das Land: reguliert und überwacht. »Wohin man auch blickt, überall stößt das Auge auf Menschliches – eine widerwärtige Allgegenwart, die den Betrachter verstört und empört und in einen wütenden Stupor stürzt«, schrieb der rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran.

Das sei nicht wirklich Natur, könnte ein Hochgebirgsbewohner sagen, weil eben nicht der Schöpfer das Land geschaffen habe, sondern der Mensch.

Und doch: Wer an einem Sommertag auf einem holländischen Deich steht und tief unten das Land sieht – die weite Fläche mit ihren fruchtbaren grünen Feldern, mit Gräben, Kanälen und den Basiliken der jahrhundertealten Windmühlen in der Ferne –, der kann nur Ehrfurcht empfinden angesichts dieser innigen Verflechtung von Mensch und Natur.

Kumuluswolken

 

Unser Haus liegt am Fuß eines Deichs, drei Meter unter dem Meeresspiegel. Die Gegend ist so flach, dass Bäume, Sträucher und Schilf sich im kalten Hauch von der Nordsee her unablässig bewegen.

Ich stehe gebückt zwischen den Gemüsebeeten und entferne die abgeknickten Maisstängel. Von hier schweift der Blick frei über die ausgedehnten Äcker. Zuckerrüben wachsen dort, in Reih und Glied, Hunderte Meter nichts als Zuckerrüben, flankiert von Kürbis- und Weißkohlfeldern. Im Westen begrenzt der alte Windschutzstreifen aus Buchen, Eschen und Eichen unser Grundstück. Sie sind wie eine Hecke ineinandergewachsen und sollen das Haus und die Ställe gegen den ewigen Südweststurm abschirmen, der jedoch durch sie hindurchbläst wie durch eine schlecht gefütterte, an den Nähten verschlissene Jacke. Auch das Wohnhaus schaut mit der Rückseite nach Südwesten.