Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas - Geza Vermes - E-Book

Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas E-Book

Geza Vermes

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Beschreibung

Wie konnte aus dem Prediger und Wunderheiler Jesus von Nazareth, der den nahen Anbruch der Gottesherrschaft verkündigte und am Kreuz das Scheitern seiner Mission erfuhr, 300 Jahre später die präexistente zweite Person der Trinität werden? Der renommierte Religionswissenschaftler Geza Vermes zeichnet dicht an den Quellen entlang die wichtigsten Stationen auf diesem Weg: Nach einer Einleitung über das charismatische Judentum in alttestamentlicher Zeit und einer ausführlichen Darstellung des historischen Nazareners kommen die wichtigsten neutestamentlichen Autoren und die bedeutendsten Schriften und Theologen bis Origenes zu Wort. Den Abschluss bildet eine Skizze des Konzils von Nizäa (325 n. Chr.) mit der Verabschiedung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, das Jesus zum Gott erhob und noch heute katholische, orthodoxe und evangelische Christen verbindet.Für Vermes – Sohn jüdischer, zum Katholizismus konvertierter Eltern, selbst etliche Jahre Priester, bevor er die katholische Kirche verließ und sich zu seinen jüdischen Wurzeln bekannte – ist diese Entwicklung des Jesusbildes letztlich die Geschichte einer gescheiterten Akkulturation, in der durch die Verdrängung des jüdischen Elements und unter dem Einfluss griechischen Denkens im Christentum der historische Jesus fast bis zur Unkenntlichkeit verzeichnet wurde.

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Seitenzahl: 500

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Wie konnte aus dem Prediger und Wunderheiler Jesus von Nazareth, der den nahen Anbruch der Gottesherrschaft verkündigte und am Kreuz das Scheitern seiner Mission erfuhr, 300 Jahre später die präexistente zweite Person der Trinität werden? Dicht an den Quellen entlang schreitet Geza Vermes die wichtigsten Stationen auf diesem Weg ab.

 Für Vermes – Sohn jüdischer, zum Katholizismus konvertierter Eltern, selbst etliche Jahre Priester, bevor er die katholische Kirche verließ und sich zu seinen jüdischen Wurzeln bekannte – ist diese Entwicklung des Jesusbildes letztlich die Geschichte einer gescheiterten Akkulturation, in der durch die Verdrängung des jüdischen Elements und unter dem Einfluss griechischen Denkens im Christentum der historische Jesus fast bis zur Unkenntlichkeit verzeichnet wurde.

Geza Vermes (1924-2013) war ein aus Ungarn stammender britischer Religionshistoriker und Judaist. Schwerpunkte des renommierten Oxforder Professors waren das antike Judentum (besonders Qumran) und die Jesusforschung.

GEZA VERMESVOM JESUS DER GESCHICHTE ZUM CHRISTUS DES DOGMAS

Aus dem Englischen vonClaus-Jürgen Thornton

VERLAG DER

Titel der Originalausgabe:

Christian Beginnings. From Nazareth to Nicaea, AD 30-325

London: Allen Lane 2012

Gefördert durch die

Udo Keller Stiftung Forum Humanum

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

Daten sind im Internet abrufbar.

http://dnb.ddb.de

© Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Berlin 2016

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VOM JESUS DER GESCHICHTE ZUM CHRISTUS DES DOGMAS

Für Margaret und Ian, in Liebe

INHALT

Einführung

 1 Charismatisches Judentum von Mose bis Jesus

 2 Die charismatische Religion Jesu

 3 Das charismatische Frühchristentum

 4 Das Christentum des Paulus

 5 Das johanneische Christentum

 6 Didache und Barnabasbrief

 7 Die Apostolischen Väter

 8 Apologeten und Theologen des zweiten Jahrhunderts

 9 Drei Säulen der Weisheit

10 Nizäa

11 Vom Charisma zum Dogma – aus der Vogelperspektive betrachtet

Nachwort

Anmerkungen

Nachbemerkung des Übersetzers

Abkürzungen

Quellenverzeichnis

Namen und Sachen

EINFÜHRUNG

Über vierzig Jahre ist es her, seitdem ich mich erstmals auf das Gebiet der Jesusforschung gewagt habe, ein Unternehmen, das 1973 von Jesus the Jew (dt.: Jesus der Jude, 1993) gekrönt wurde. Nach der Publikation von zwölf weiteren Büchern zum Thema kam mir 2008 der Gedanke, die Reihe mit einem ganz andersartigen Werk abzurunden: einem Versuch, die historischen Verbindungslinien zwischen Jesus, wie er in seiner galiläisch-charismatischen Umwelt dargestellt wird, und dem ersten Ökumenischen Konzil von Nizäa im Jahr 325 n. ‌Chr. zu skizzieren, das feierlich seine Göttlichkeit zum christlichen Dogma erhob.

Bei diesem Unterfangen, dem Entwicklungsbogen nachzuspüren, werde ich besonderen Nachdruck auf die Frage legen, wie Jesus und das aufkommende palästinische Christentum durch das charismatische Judentum geprägt wurden. Genauso wichtig zu beachten ist der Einfluss, den die hellenistische Gedankenwelt und Mystik auf die frühen Gemeinden ausübten, die innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Kreuzigung in Sprache und Denken weitgehend griechisch wurden. Diese Tendenz setzte mit Paulus und dem Vierten Evangelium ein und war ab dem zweiten Jahrhundert für die Einwirkung platonischer Philosophie auf die Formulierung christlich-theologischer Vorstellungen verantwortlich. Den letzten, entscheidenden Anstoß gab Kaiser Konstantin, der Druck auf die Bischöfe des Konzils von Nizäa ausübte und sie zwang, die Folgen ihres nicht enden wollenden religiösen Streits für den inneren Frieden des römischen Staates zu bedenken.

Um das vollständige Bild zu erfassen, betrachten wir zunächst das Judentum. In religiöser Hinsicht waren damit im Wesentlichen Menschen gemeint, die in das jüdische Volk hineingeboren wurden. Auch Jesus hat sich seinerseits ausschließlich an Juden gerichtet und seinen Abgesandten aufgetragen, sich nur an die »verlorenen Schafe des Hauses Israel« zu wenden. Freilich hieß das Judentum auch heidnische Proselyten willkommen, die bereit waren, die Einzigkeit Gottes zu bekennen und sämtliche religiöse Verpflichtungen des Mosaischen Gesetzes auf sich zu nehmen. Die rituelle Initiation erfolgte durch die Proselytentaufe, die an Anwärtern wie Anwärterinnen vollzogen wurde, und durch die Beschneidung aller männlichen Bewerber. Es versteht sich von selbst, dass in verschiedenen Epochen der jüdischen Geschichte einschließlich des Zeitalters Jesu in gewissem Umfang eine Missionstätigkeit unter Heiden entfaltet wurde; aber wie weit verbreitet sie in jenen Tagen war und wie tief die eschatologische Vorstellung von Israel als dem Licht der Völker in das jüdische Bewusstsein eindrang, bleibt in der Forschung weiterhin umstritten.1 Der Aufnahme von Heiden in die älteste judenchristliche Gemeinde ging ursprünglich wohl die Bekehrung zum Judentum voraus. Dass ein Nichtjude ihr Glaubensgenosse wird, war für die ersten Anhänger der Jesusbewegung kaum vorstellbar. Doch keine zwanzig Jahre nach der Kreuzigung lenkten die Spitzenvertreter der Kirche auf Druck des Paulus ein und schafften die Vorbedingung ab, wonach zuerst das Mosaische Gesetz angenommen werden müsse, einschließlich der Beschneidung für Konvertiten. Sie verpflichteten Heiden, die zur Gemeinde gehören wollten, lediglich dazu, einige wenige Grundregeln zu beachten, ähnlich den Noachitischen Geboten, die Götzendienst, Blutverzehr und bestimmte Formen des Sexualverhaltens, die den Juden ein Gräuel waren, untersagten.

Unterhalb des im Wesentlichen am Gesetz orientierten Judentums gab es auch eine weniger formelle Frömmigkeitsströmung, die sich mit den Propheten verband und sich von ihnen, den einflussreichen Sprachrohren Gottes, inspirieren ließ. Charismatische heilige Männer hielten sie bis hinab ins Zeitalter der Rabbinen lebendig. Diese Religiosität verlangte eine fromme Haltung gegenüber der Gottheit, deren Schutz vor Krankheit, vorzeitigem Tod, Ungerechtigkeit und Krieg ebenso erbeten wurde wie ihre Obhut für Arme, Witwen und Waisen. Nach Gottes Gunst trachtete man auch für ein langes, glückliches Leben und für das Wohlergehen der Familie und in spätbiblischer Zeit gelegentlich für den Vorzug, auf irgendeine rätselhafte Weise der Unterwelt zu entkommen und jenseits des Grabes in irgendeiner Form von Leben nach dem Tod bei Gott zu sein.

In den frühen Stadien der biblischen Geschichte stand das Judentum weniger für den Monotheismus – den Anspruch, dass es nur einen einzigen Gott gibt – als für die Monolatrie, was bedeutet, dass die Juden nur ihren eigenen Gott verehrten und das Pantheon der anderen Völker praktisch unbeachtet ließen. In der Bibel findet sich keine vernunftgemäße Widerlegung des Polytheismus; die schlichte Behauptung, die fremden Götter seien von Menschen aus Holz, Stein oder wertvollen Metallen hergestellte Götzenbilder, kann kaum als intellektueller Beweis für die Nichtexistenz anderer Gottheiten gelten (obwohl sie noch jahrhundertelang von Juden und Christen nachgesprochen wurde). Konkret hatten Juden der gesellschaftlichen und politischen Attraktivität der Religionen ihrer Nachbarvölker (Kanaanäer, Philister) zu widerstehen und noch viel mehr denen ihrer Oberherren: Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen und Römer. Die Verehrung fremder Götter wurde nicht so sehr als ein Irrtum angesehen denn als Bruch einer mystischen monogamen Ehe zwischen dem Himmelskönig und seiner Braut, dem erwählten Volk Israel. Erst unter dem Einfluss der Propheten der exilisch-nachexilischen Zeit im sechsten vorchristlichen Jahrhundert trat Monotheismus im eigentlichen Sinne – der Gedanke eines einzigen Gottes, der für die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen verantwortlich ist – ins jüdische Bewusstsein, zusammen mit der Überzeugung, dass nur dieser Gott zuletzt von der gesamten Menschheit in gebotener Weise anerkannt werden wird. Monotheismus blieb der Kampfbegriff der Juden, während den Christen sowohl von Juden als auch von Heiden die Kritik entgegenschlug, ihr monotheistischer Anspruch sei unberechtigt.

Bezüglich der Eigenart der jüdischen Religion ist eines gewiss unstrittig: Intellektuelle religiöse Spekulation als solche spielte in der hebräischen und aramäischen jüdischen Literatur, die in der Zeit des Zweiten Tempels nach dem Babylonischen Exil und in den späteren Jahrhunderten der Mischna, des Midrasch und des Talmud verfasst wurde, keine Rolle. Die Werke Philos von Alexandrien und Josephus' Schrift Gegen Apion bilden in der Antike die wichtigsten Ausnahmen auf diesem Gebiet. Sie waren jedoch auf Griechisch verfasst, entweder für heidnische Leser oder für durch und durch hellenisierte Juden. Vor dem zehnten nachchristlichen Jahrhundert brachten Juden keine theologischen Traktate in einer semitischen Sprache hervor mit der einen möglichen Ausnahme der – in die Handschrift der Gemeinderegel aus Höhle 1 von Qumran aufgenommenen – ›Unterweisung über die zwei Geister‹ beziehungsweise ›Zwei-Geister-Lehre‹ aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, worin der göttliche Schöpfungszweck und die Geschicke der Menschheit zusammenfassend dargelegt werden.

Das Judentum war in erster Linie eine Religion der Tat. Abgesehen von der Zustimmung zu der einen Lehraussage bezüglich der Einzigkeit Gottes lief es im Wesentlichen auf eine Lebensform hinaus. Im Tempel oder in der Synagoge, zuhause oder am Arbeitsplatz wurde Religion durch den Gehorsam gegenüber den Satzungen praktiziert, von denen man glaubte, dass sie von der Gottheit erlassen worden seien. Diese Vorschriften, vor allem das Gesetz Moses, wurden von der Kaste der levitischen Priester, die als die von Gott ernannten Wächter von Gerechtigkeit und Frömmigkeit galten, weitergegeben und interpretiert. Ihr Monopol blieb bis ins zweite vorchristliche Jahrhundert unangefochten, als Laienintellektuelle – die Pharisäer, die ihre Autorität ihrer Gelehrsamkeit verdankten – es ihnen streitig zu machen begannen. Die Führerschaft über die Pharisäer sollte nach der Zerstörung des Tempels an ihre Erben übergehen, die Rabbinen.

Die Religion Jesu war im Wesentlichen ein Aufruf zur eschatologischen Tat; aber das anschließende Christentum, obwohl es ebenfalls auf Werken bestand und noch eine Zeitlang eschatologisch blieb, wurde von Paulus und Johannes in eine Religion des Glaubens umgestaltet. Ungeachtet seiner jüdischen Wurzeln entwickelte es sich in eine fundamental eigenständige Bewegung, die sich bereits bei Ignatius von Antiochien zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. ‌Chr. auf ein Bekenntnis gründete, und nahm mit Justin in der Mitte des zweiten Jahrhunderts eine philosophische Wendung. Die das Christentum beherrschenden Merkmale waren der Glaube bezüglich des Wesens der Gottheit, die genaue Bestimmung von Jesu Christi Person und Heilswerk und die erlösende Funktion der einen, wahren Kirche. Von rechtem Glauben hing ab, ob einer dazugehörte oder draußen war. Das persönliche Verhalten auf religiösem Gebiet stand demgegenüber erst an zweiter Stelle. Buße, obwohl von frühchristlichen Rigoristen nur ein einziges Mal nach der Taufe zugelassen, konnte Sünden heilen, und durch tätige Reue ließ sich jedes Unrecht wiedergutmachen, solange der Glaube da war.

Verglichen mit dem Judentum stellte der kosmopolitische Charakter des Christentums einen zweiten wesentlichen Unterschied dar. Schon wenige Jahrzehnte nach der Kreuzigung wandte sich die Kirche vom jüdischen Tempel ab, und bald nach 70 n. ‌Chr. setzte die christliche Ablösungstheorie (›Supersessionismus‹) ein, die sich auf die Ansicht gründete, dass die Zerstörung Jerusalems und seines Heiligtums die Verwerfung der Judenheit durch Gott und ihre Ersetzung durch ein neues Gottesvolk erwiesen habe. Des Weiteren führte gegen Ende des ersten Jahrhunderts die zunehmende Unempfänglichkeit der Juden für die Predigt der Apostel und Missionare zu einer immer stärker werdenden Kräfteverschiebung in der Jesusbewegung zugunsten hellenistischer Heidenchristen. Ihnen ging es vor allem um die Rolle Christi bei der Erlösung der Menschheit, um seine überirdische Präexistenz, was seine göttliche Hervorbringung vor der Zeit und seine Schöpfungsmittlerschaft für den Kosmos vor Anbeginn der Geschichte erforderte. Das Denken der Kirchenväter unterschied sich von dem Jesu ganz erheblich. Die Hauptaufgabe, die der Prophet aus Nazareth seinen galiläischen Jüngern auferlegte, war das Streben nach der Gottesherrschaft in der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt. Bis zum frühen vierten Jahrhundert war das von ihm gepredigte praktische, charismatische Judentum in eine intellektuelle Religion umgewandelt, die vom Dogma bestimmt und gelenkt wurde.

Dieses Buch will seine Leser auf dem Entwicklungsgang vom Jesus der Geschichte zum vergöttlichten Christus des Konzils von Nizäa geleiten.

Oxford, Juli 2011

Geza Vermes

1CHARISMATISCHES JUDENTUM VON MOSE BIS JESUS

Der Vorstellung vom Charisma, ganz allgemein gefasst, wurde erstmals von dem berühmten deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) Geltung verschafft:

Der charismatische Held leitet seine Autorität nicht wie eine amtliche »Kompetenz« aus Ordnungen und Satzungen und nicht wie die patrimoniale Gewalt aus hergebrachtem Brauch oder feudalem Treueversprechen ab, sondern er gewinnt und behält sie nur durch Bewährung seiner Kräfte im Leben. Er muß Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will.1

Den Begriff ›charismatisches Judentum‹ habe ich 1973 in Jesus der Jude2 in die bibelwissenschaftliche Terminologie eingeführt. Da manche Leser den Ausdruck verwirrend finden mögen, beginne ich dieses Buch mit einem Überblick über dieses Phänomen in den biblischen Erzählungen von der Frühgeschichte Israels bis zum ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende, mit anderen Worten, von Mose bis Jesus.

Die landläufige offizielle, nichtcharismatische jüdische Religion des alttestamentlichen Zeitalters drehte sich um Tempel und Thora, das Gesetz Moses. Die Bibel berichtet, dass die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten Gott zunächst in einem beweglichen Zeltheiligtum in der Wüste Sinai verehrt hätten. Nachdem sie sich in Kanaan niedergelassen hatten, taten sie das in zahllosen Tempeln an verschiedenen Orten Palästinas. Zuletzt, nach der Schließung der Kultstätten in der Provinz, beteten sie Gott in einem einzigen Heiligtum in der Hauptstadt, Jerusalem, an.

Die Thora wiederum ist eine sich ständig weiterentwickelnde verpflichtende religiöse Lehre bezüglich der jüdischen Lebensart. Sowohl die Durchführung des Kultes als auch die Unterweisung im Gesetz und dessen Anwendung befanden sich in den Händen einer erblichen Priesterschaft – zunächst des ganzen Stammes Levi und dann, ab dem späten siebten Jahrhundert v. ‌Chr., als nur noch das Jerusalemer Heiligtum in Betrieb war, der privilegierten Priesterfamilie der Aaroniten. Ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. ‌Chr. trat die Laienbewegung der Pharisäer in Konkurrenz zu den Priestern als Gesetzesausleger, einschließlich der Vorschriften bezüglich der Tempelzeremonien.

Kurz zuvor brach auch innerhalb der Reihen der Priesterschaft ein Wettstreit aus. Nach der Ermordung des Hohen Priesters Onias III. 171 v. ‌Chr. kehrte dessen Sohn, Onias IV., Jerusalem den Rücken und errichtete im ägyptischen Leontopolis im Nildelta ein Konkurrenzheiligtum. Tatsächlich führten seine Nachkommen dort ihr Amt fort, bis ihr schismatisches Kultzentrum das Schicksal Jerusalems teilen musste und von den Römern im Jahr 73/74 n. ‌Chr. zerstört wurde. Als die Familie der Makkabäer die Hohepriesterwürde in Jerusalem im Jahr 152 v. ‌Chr. an sich gerissen hatte, sagten sich ihre Widersacher, die Essener von Qumran, vom nationalen Heiligtum los und ersetzten es durch einen geistigen Tempel innerhalb ihrer Gemeinschaft, in dem Gebet und ein heiliger Lebenswandel an die Stelle von Dankesgaben und Opfern traten; gleichwohl hatten sie die Hoffnung, am Ende der Tage die Leitung des nationalen Kultes in der Hauptstadt wieder zu übernehmen. Trotz dieser Umwälzungen im Inneren blieb Jerusalem für die meisten palästinischen Juden und auch für die frommen Besucher aus der Diaspora Dreh- und Angelpunkt des religiösen Lebens, besonders während der drei jährlichen Wallfahrtsfeste. Der Tempelkult kam im Jahr 70 n. ‌Chr. mit der Zerstörung Jerusalems am Ende des Großen Aufstandes der Juden gegen Rom zum Erliegen. Von da an wurden die Synagogen, die außerhalb Jerusalems im Heiligen Land und jenseits seiner Grenzen bereits religiöse Zentren waren, die einzigen Sammelplätze jüdischen Gottesdienstes.

Und doch existierte seit den frühen Jahrhunderten neben der organisierten Form der Priesterreligion immer schon eine zweite Spielart. Sie beanspruchte, auf direkter Verbindung mit dem Göttlichen zu gründen. Auf ihrer höchsten Ebene wurde diese Strömung durch ein offenbarungsgegründetes prophetisches Judentum repräsentiert. Es war die Religion Moses am brennenden Dornbusch und auf dem Gipfel des Berges Sinai, ererbt von den alttestamentlichen Propheten, führenden Persönlichkeiten, die den Herrschern Israels Vorhaltungen machten und das Volk zu erleuchten versuchten. Ihre Worte sind in der Bibel erhalten geblieben.

Unterhalb dieser Ebene gab es zu allen Zeiten auch eine von den öffentlichen Zentren und der Priesterbürokratie abgeschnittene Volksfrömmigkeit, die ebenfalls von charismatischen Erscheinungen wie Ekstase und Wundertätigkeit geprägt war. Da sie nicht Teil der Mehrheitsreligiosität war und häufig mit Königen und Tempelpersonal aneinandergeriet, wurde sie nur sporadisch aufgezeichnet. Gleichwohl überlebte sie bis in die Zeit Jesu und darüber hinaus, ja sogar bis in die Neuzeit, unter Juden in Gestalt des chassidischen ›Wunderrebbe‹ und unter Christen in Gestalt der Pfingstler unterschiedlicher Denominationen. Ohne diese Art des charismatischen Judentums lassen sich die typischen Züge der Religion Jesu und des frühen Christentums nicht richtig erfassen.

Die Zeit der Bibel

Charisma, das heißt der Erweis gottgegebener Kraft, ist in der Bibel von der Zeit Moses bis in die Ära des Neuen Testaments bezeugt, aber seine eindrücklichste biblische Demonstration fand ungefähr zwischen 1000 und 800 v. ‌Chr. statt. Die Strömung war mit drei frühen prophetischen Gestalten – Samuel, Elia und Elisa – verknüpft, die auch ›Männer Gottes‹ genannt wurden. Um das Wesen des charismatischen Judentums zu begreifen, müssen deshalb die Begriffe ›Prophet‹ und ›Mann Gottes‹ untersucht werden.

Beginnen wir mit der Prophetie: Der Wörterbuchdefinition zufolge ist ein Prophet ein Lehrer, der die Zukunft vorhersagt, und ›prophezeien‹ ist ein transitives Verb und meint das Überbringen einer göttlichen Botschaft. Die hebräische Wurzel Nun-Bet-Aleph (›prophezeien‹) vermittelt eine Vorstellung, die sich von den analogen altgriechischen, lateinischen oder neusprachlichen Begriffen deutlich unterscheidet. Sie bezeichnet nicht die Mitteilung himmlischer Pläne oder Unterweisungen, sondern beschreibt stattdessen – in der reflexiven Verbform – die Verfassung des Propheten. Tatsächlich erfuhr eine solche Person in den Augen des außenstehenden Betrachters eine prophetische Verzückung oder Ekstase, ausgelöst durch den göttlichen Geist, der für ihr seltsames Gebaren verantwortlich gemacht wurde. Die nächsten modernen Parallelen sind das Auftreten der muslimischen Mystiker, der sogenannten Sufis oder tanzenden Derwische, die sich im Verlauf eines ekstatischen Tanzes ins eigene Fleisch ritzen und sich selbst verletzen, oder (in einer nicht so extremen Form) die Trance schwärmerischer Gottesdienstteilnehmer in Pfingstkirchen.

Der Zustand des ›Prophezeiens‹ erscheint erstmals in gemäßigter Gestalt in den ersten fünf Büchern der Bibel, dem Pentateuch. Mose, ein mit Wunderkraft ausgestatteter Visionär, war der Prototyp schlechthin. Ehe er den Juden das göttliche Gesetz überbrachte, stand er unter dem Bann des Geistes Gottes.

Niemals wieder ist in Israel ein Prophet wie Mose aufgetreten. Ihn hat der Herr Auge in Auge berufen. Keiner ist ihm vergleichbar, wegen all der Zeichen und Wunder, die er in Ägypten im Auftrag des Herrn am Pharao, an seinem ganzen Hof und an seinem ganzen Land getan hat, wegen all der Beweise seiner starken Hand und wegen all der Furcht erregenden und großen Taten, die Mose vor den Augen von ganz Israel vollbracht hat.

(Dtn 34,10-12)

Der Geist, der Mose beseelte, ging auch auf die siebzig Ältesten seines Rates über. Bei diesem speziellen Anlass führten sich alle wie Propheten auf (Num 11,24-25). Außerdem wurden zwei von ihnen, Eldad und Medad, sozusagen nicht wieder nüchtern, und vom Geist besessen, fuhren sie fort zu prophezeien (Num 11,26-29).

Doch die Hauptbelege für charismatische Prophetie finden sich in späteren Erzählungen. Beispielsweise erwähnen die Samuel- und Königebücher regelmäßig ekstatische Scharen von ›Prophetensöhnen‹, die mit den lokalen jüdischen Heiligtümern in Verbindung standen. Saul, der künftige erste König Israels, wurde in der Nähe der Kultstätte von Gibea in ihrer Gesellschaft gesehen. Sie spielten verzückte Musik, und ihre Ekstase war ansteckend. So kündigte Samuel dem Saul an: »Dann wird der Geist des Herrn über dich kommen, und du wirst wie sie in Verzückung geraten und in einen anderen Menschen verwandelt werden.« (1 Sam 10,6, vgl. V. 10)

Auch heidnische Kultpropheten verrichteten ihren Dienst auf den Kulthöhen der kanaanäischen Gottheit Baal. Im neunten Jahrhundert v. ‌Chr. trat der Prophet Elia ganz allein vierhundertfünfzig Baalspropheten auf dem Berg Karmel entgegen und tötete sie. Dass sich die jüdischen ›Prophetensöhne‹ mit Schwertern und Lanzen selbst verletzten wie die kanaanäischen (1 Kön 18,28), wird nicht ausdrücklich gesagt. Doch sogar noch dreihundert Jahre später behauptet der jüdische Prophet Sacharja, dass Wunden am Körper eines Mannes seinen prophetischen Rang zu erkennen geben (Sach 13,6).

Die Volksfrömmigkeit in der Zeit Samuels, Sauls und Davids war voller Geister und Gespenster. In einer aufschlussreichen Anekdote versucht Saul im Angesicht der Bedrohung durch das mächtige Heer der Philister zunächst durch legitime Mittel Gottes Plan für den Ausgang der bevorstehenden Schlacht in Erfahrung zu bringen. Als sich die Unwirksamkeit der israelitischen Propheten und Traumdeuter herausstellt, wendet sich der König in seiner Verzweiflung an verbotene Mittlergestalten (1 Sam 28,3-20). Aber Zauberer zu finden gestaltet sich schwierig, da Saul sie zu einem früheren Zeitpunkt seiner Herrschaft im Gehorsam gegen die Thora, die Magie mit dem Bann belegt (Lev 20,27), ausgerottet hat. Seinen Männern gelingt es dennoch, das einzige weibliche Medium aufzuspüren, das sich noch im Lande verbirgt, nämlich die berüchtigte Hexe von Endor. Sie wird angewiesen, den Geist des jüngst verstorbenen Samuel aus der Unterwelt heraufzubeschwören, um von ihm in Erfahrung zu bringen, welches Schicksal den König und sein Heer erwartet. Samuel kündigt den bevorstehenden völligen Untergang an: »Der Herr wird auch Israel zusammen mit dir in die Gewalt der Philister geben, und morgen wirst du samt deinen Söhnen bei mir sein; auch das Heerlager Israels wird der Herr in die Gewalt der Philister geben.« (1 Sam 28,19)

Über die Okkultisten und die ekstatischen ›Prophetensöhne‹ hinaus finden wir auch herausragende Persönlichkeiten, die als ›Männer Gottes‹ bezeichnet werden. Ihre Wirksamkeit ist in einem richtungweisenden Aufsatz von J. ‌B. Segal beschrieben worden.3 In solchen Menschen sah man bestimmte gottgegebene Eigenschaften am Werk, die sie in die Lage versetzten, vor Königen und Prinzen die Autorität ihres göttlichen Schutzherrn zu proklamieren und unter Beweis zu stellen, sich der Probleme der kleinen Leute anzunehmen und sie zu lösen und vor allem Kranke zu heilen. Ihre besondere Macht wurde unmittelbar auf das wirksame Innewohnen von Gottes Geist zurückgeführt. Der folkloristische Kontext, in dem sie erscheinen, bildet den natürlichen Hintergrund des charismatischen Judentums.

Wie gesagt, sind Samuel, Elia und Elisa die Hauptvertreter dieser Kategorie, aber sie tragen zugleich den Titel ›Seher‹ beziehungsweise Prophet. Samuel ließ Saul, den er bald zum Herrscher über sein Volk salben sollte, nicht nur wissen, wie er die verirrten Eselinnen seines Vaters wiederfindet, sondern auch, wie er mit Israels Feinden zu verfahren hat (1 Sam 9,1-21). Die ›Männer Gottes‹ waren nicht gütig und sanftmütig: Samuel selbst metzelte die amalekitischen Feinde der Juden nieder, und Elia tat dasselbe mit den Baalspropheten, nachdem er sie wundersamerweise in einem Wettstreit besiegt hatte, der die Überlegenheit seines Gottes bewies (1 Kön 18). Er soll auch Blitze auf Soldaten, die zu seiner Verhaftung ausgesandt worden waren, herabbeschworen haben (2 Kön 1,9-12). Die Geschichte erinnert an die beiden aufbrausenden Apostel Jesu, die die ungastlichen Samaritaner mit Feuer vom Himmel bestrafen wollten (Lk 9,54). Eine anstößige Episode handelt von Elisa, der eine Gruppe unverschämter Kinder verfluchte und tötete (2 Kön 2,23-24); dasselbe tat – der apokryphen Kindheitserzählung des Thomas zufolge (griechischer Text, Rezension B) – der junge Jesus einem Spielkameraden an, weil der einen Stein nach ihm geworfen hatte. Normalerweise diente die charismatische Macht von Männern Gottes in der Antike aber wohlmeinenden und barmherzigen Zwecken. Beispielhaft stehen für sie Elia und sein Nachfolger Elisa, der Erbe mit den »zwei Anteilen seines (= Elias) Geistes« (2  Kön 2,9).

Von urwüchsigem Erscheinungsbild und wie seine künftige Wiederverkörperung, Johannes der Täufer in den Evangelien, mit einem härenen Mantel und ledernem Hüftgurt bekleidet (2 Kön 1,8; siehe Mt 3,4), wird Elia wie Mose (siehe Ex 33) eine Schau Gottes auf dem Berg Horeb zuteil, den der Prophet nach vierzigtägiger Reise ohne Nahrung und Getränk erreicht (1 Kön 19,8). Sein mystisches Erlebnis wird sogar noch dramatischer dargestellt als das des Gesetzgebers. Anstatt sich wie Mose in einer Felsspalte zu verstecken, als der Herr an ihm vorüberging (Ex 33,21-23), darf Elia die Begegnung mit Gott, die mit einem Schrecken beginnt und leise endet in einer Zwiesprache des Schweigens, unmittelbar erfahren. In einem stillen Flüstern war es, dass es Gott gefiel, sich Elia zu offenbaren und so die innere Tiefe und Schönheit sowie die mystische Eigenart der charismatischen Religion anzudeuten.

Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.

(1 Kön 19,11-12)

Sowohl Elia als auch Elisa waren gefeierte Wundertäter. Elia wird dargestellt, als komme und gehe er nach Belieben (1 Kön 18,12), bis er am Ende ganz plötzlich verschwindet, von einem Wirbelwind, einem feurigen Wagen und feurigen Rossen in den Himmel entrückt (2 Kön 2,11). Sein Mantel, den Elisa erbt, galt als Wunder wirkendes Hilfsmittel (2 Kön 2,7-8.13-14). Elia, der sich an einem Bach verborgen hatte und dort von Raben ernährt worden war (1 Kön 17,2-6), vermehrte wundersamerweise Mehl und Öl für die Witwe von Sidon, die ihm in ihrer Barmherzigkeit während der großen Hungersnot Unterkunft gewährt und ihn verköstigt hatte (1 Kön 17). Unter Einnahme einer spezifischen, yogaartigen Gebetshaltung brachte er auch Regen hervor, der nach einer langen Dürre das Leben im Land erneuerte (1 Kön 18,41-45).

Sowohl Elia als auch Elisa wurden als Heiler verehrt. Elia machte den Sohn der Witwe, die ihm Herberge bot, wieder lebendig. Wie Abraham vor der Zerstörung von Sodom und Gomorrha (Gen 18,22-33) warf Elia Gott dessen ungerechte Behandlung der Witwe vor und reanimierte den Jungen, indem er seine eigene Lebenskraft auf ihn übertrug:

Und er nahm ihn von ihrem Schoß, trug ihn in das Obergemach hinauf <…> und legte ihn auf sein Bett. Dann rief er zum Herrn und sagte: »Herr, mein Gott, willst du denn auch über die Witwe, in deren Haus ich wohne, Unheil bringen und ihren Sohn sterben lassen?« Hierauf streckte er sich dreimal über den Knaben hin, rief zum Herrn und flehte: »Herr, mein Gott, lass doch das Leben in diesen Knaben zurückkehren!« Der Herr erhörte das Gebet Elias. Das Leben kehrte in den Knaben zurück, und er lebte wieder auf. Elia nahm ihn <…> und gab ihn seiner Mutter zurück mit den Worten: »Sieh, dein Sohn lebt.«

(1 Kön 17,19-23)

Elisa kann mit einer Darbietung aufwarten, die genauso spektakulär geschildert wird. Dank seines Eingreifens bekommen eine lange Zeit kinderlose Frau aus Sunem und ihr betagter Ehemann wundersamerweise einen Sohn (2 Kön 4,8-17). Doch wenige Jahre später stirbt der Junge plötzlich; seine Mutter legt das tote Kind auf das Bett des Propheten und benachrichtigt Elisa.

Das charismatische Heilungsverfahren wird in fantastischen Einzelheiten beschrieben. Erst schickt Elisa seinen Knecht, das Gesicht des Kindes mit seinem Prophetenstab zu berühren, aber die Mission scheitert. Also eilt der Mann Gottes zum Haus und gibt dem Kind einen charismatischen Kuss des Lebens, woraufhin siebenmaliges Niesen das Ausfahren der bösen Dämonen anzeigt, die für den Tod des Knaben verantwortlich waren.

Als Elisa in das Haus kam, lag das Kind tot auf seinem Bett. Er ging in das Gemach, schloss die Tür hinter sich und dem Kind und betete zum Herrn. Dann trat er an das Bett und warf sich über das Kind; er legte seinen Mund auf dessen Mund, seine Augen auf dessen Augen, seine Hände auf dessen Hände. Als er sich so über das Kind hinstreckte, kam Wärme in dessen Leib. Dann stand er auf, ging im Haus einmal hin und her, trat wieder an das Bett und warf sich über das Kind. Da nieste es siebenmal und öffnete die Augen.

(2 Kön 4,32-35)

Sogar Elisas ausgetrockneten Gebeinen, die einen Leichnam, der in das Grab des Propheten geworfen wurde und dabei versehentlich mit dessen sterblichen Überresten in Berührung kam, wieder lebendig gemacht haben sollen, wurde Charisma zugesprochen (2 Kön 13,20-21).

Elisas Ruf als Wunderheiler war weit verbreitet und überzeugte den von einem schweren Aussatz befallenen syrischen Feldherrn Naaman, ihn um Hilfe zu bitten. Auf Anraten des israelitischen Königs sucht Naaman den Mann Gottes auf. Ohne die Höflichkeit zu besitzen, den syrischen Würdenträger zu empfangen, erteilt Elisa ihm durch seinen Knecht unumwunden den Befehl, sich siebenmal im Jordan zu waschen (2 Kön 5,10). Außer sich vor Wut, will Naaman gerade heimkehren, doch seine Diener überreden ihn, den Worten des Propheten Folge zu leisten. Wie durch ein Wunder »wurde sein Leib gesund wie der Leib eines Kindes« (2 Kön 5,14).

Wundersame Speisung war dem Alten Testament zufolge eine weitere charismatische Besonderheit. Elia sicherte seiner sidonitischen Wohltäterin das Überleben durch einen beständigen Vorrat an Nahrungsmitteln während der Hungersnot (1 Kön 17,8-16), und Elisa gelang es, wie später zu seiner Zeit Jesus, einhundert Menschen mit ein paar Laib Brot zu sättigen, wobei sogar noch einiges übrig blieb (2 Kön 4,42-44).

Auf politischer Ebene wurde Elisa als der Retter seines Landes verehrt, weil er die Aramäer mittels des scheinbaren Getümmels von nahenden Schlachtwagen und Rossen (2 Kön 7,6) gezwungen hatte, die Belagerung Samarias aufzugeben, und weil er König Joas von Israel durch das symbolische Abschießen von Pfeilen in Richtung des syrischen Heerlagers den Sieg über Aram verliehen hatte (2 Kön 13,14-19).

Im Fortgang der prophetischen Bewegung traten die volkstümlichen Züge (Verzückung und Wundererscheinungen) in den Hintergrund des charismatischen Judentums, und das Phänomen wurde intellektueller und lehrhafter. Die Aufgaben eines Sprechers Gottes waren die Verkündigung einer für zeitgenössische Ereignisse relevanten Botschaft sowie auch das Vorhersehen der Zukunft. Propheten wie Jesaja und Jeremia berieten oder kritisierten weiterhin jüdische Könige, aber aufs Ganze gesehen wurden sie nicht mehr als Wundertäter dargestellt.

Im achten und siebten Jahrhundert v. ‌Chr. stießen manche Propheten aufs heftigste mit den Priestern zusammen und attackierten den Tempelkult. In ihren Augen lenkte die Sorge um die penible Ausführung der Opferriten davon ab, dass an oberster Stelle wahre Religion und Moral stehen.

Amos sprach unvergessliche Worte:

»Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie

 und kann eure Feiern nicht riechen.

Wenn ihr mir Brandopfer darbringt,

 ich habe kein Gefallen an euren Gaben,

und eure fetten Heilsopfer

 will ich nicht sehen.

Weg mit dem Lärm deiner Lieder!

Dein Harfenspiel will ich nicht hören,

sondern das Recht ströme wie Wasser,

 die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.«

(Am 5,21-24)

Jesaja war nicht minder nachdrücklich:

»Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern?«, spricht der Herr.

»Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt, und das Fett eurer Rinder habe ich satt;

das Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider. <…>

Wer hat von euch verlangt, dass ihr meine Vorhöfe zertrampelt?

Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben,

Rauchopfer, die mir ein Gräuel sind.

Neumond und Sabbat und Festversammlung

– Frevel und Feste – ertrage ich nicht. <…>

Wascht euch, reinigt euch!

Lasst ab von eurem üblen Treiben!

Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun!

Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten!

Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!«

(Jes 1,11-17)

Micha wiederum stellt der prophetischen Religion, die von Gott eingegeben ist, den Tempelkult gegenüber, der von Priestern vollzogen wird:

Womit soll ich vor den Herrn treten,

 wie mich beugen vor dem Gott in der Höhe?

Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten,

 mit einjährigen Kälbern?

Hat der Herr Gefallen an Tausenden von Widdern,

 an zehntausend Bächen von Öl?

Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen,

 die Frucht meines Leibes für meine Sünde?

Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist

 und was der Herr von dir erwartet:

Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben,

 in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.

(Mi 6,6-8)

Obwohl sie für ihre Verkündigung göttliche Autorität beanspruchten, wollten einige der Boten Gottes wie beispielsweise Amos sich nicht Propheten nennen lassen, da sie keine Ekstatiker waren. »Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler«, sagte er zu dem Priester in Bethel (Am 7,10-15, hier V. 14). Es dauerte Jahrhunderte, bis der volkstümliche charismatische Anstrich der Prophetie abgeblättert war. Sogar noch zur Zeit Sacharjas (um 520 bis 500 v. ‌Chr.) wollten Boten Gottes verbergen, dass sie Propheten sind.

An jenem Tag wird jeder Prophet sich wegen der Visionen schämen, die er verkündet hat. Um sich zu verleugnen, wird er seinen härenen Mantel nicht anziehen. Er wird sagen: »Ich bin kein Prophet, ich bin nur ein Mann, der seinen Acker bebaut; schon von Jugend an besitze ich Ackerland.«

(Sach 13,4-5)

Dennoch trat auch Jesaja noch als Charismatiker auf, als er den todkranken König Hiskia heilte, indem er Feigenbrei auf dessen Geschwür strich, und bewies seine göttliche Berufung dadurch, dass er den Schatten auf der königlichen Sonnenuhr rückwärts statt vorwärts gehen ließ (2 Kön 20,1-11; Jes 38,1-8). Ezechiel verhielt sich ebenfalls eigenartig, als er seine Visionen der Zukunft mimisch darstellte. Beispielsweise inszenierte er die Belagerung Jerusalems mithilfe eines Lehmziegels, auf den das Bild einer Stadt eingeritzt war. Er backte Gerstenbrot auf Menschenkot, um die künftige Befleckung seiner Landsleute zu versinnbildlichen, wenn sie in ein unreines Land ins Exil geführt werden (Ez 4). Und er kroch mit Gepäck auf den Schultern durch ein Loch in der Stadtmauer, um die Deportation der Juden nach Babylonien anzudeuten (Ez 12). Man unterstellte Ezechiels charismatischer Zeichenhandlung Wirkmacht: Was in der Folge geschah, wurde seiner Inszenierung zugeschrieben.

Ein Letztes müssen wir noch festhalten, bevor wir diese Skizze des charismatischen Judentums in biblischer Zeit abschließen: Im jüdischen Denken der vorprophetischen und der prophetischen Zeit wurde Krankheit als göttliche Strafe für Sünde angesehen und Heilung folglich als Vorrecht Gottes. Deutlich drückt sich diese Einstellung in dem nachexilischen Bericht über das Ende des judäischen Königs Asa aus. Während der vorexilische Geschichtsschreiber voll des Lobes über ihn ist (1 Kön 15,11-15), kritisiert ihn der Autor des Zweiten Chronikbuches (4./3. Jahrhundert v. ‌Chr.) wegen seines mangelnden Gottvertrauens; denn anstatt um Gottes Hilfe zu bitten, verließ er sich fälschlicherweise auf Ärzte (2 Chr 16,12). Die einzigen Menschen, die der Thora zufolge in gleichsam medizinischer Funktion zu handeln befugt waren, sind die Priester, deren Aufgabe in der Diagnose des Ausbruchs und der Abheilung der ›Lepra‹ bestand und die verschiedene Reinigungsriten durchführen sollten, die im Falle von Menstruation, Kindsgeburt usw. erforderlich waren (Lev 12-15).

Die Prophetie, die ursprüngliche Heimat der charismatischen Religion, soll mit den drei letzten Vertretern der Bewegung in der Zeit des Wiederaufbaus des Jerusalemer Tempels unter persischer Herrschaft (ausgehendes sechstes bis fünftes Jahrhundert v. ‌Chr.) versiegt sein. Einer alten rabbinischen Tradition zufolge (tSoṭa 13,2) markiert der Tod von Haggai, Sacharja und Maleachi den Abschluss des prophetischen Wirkens des heiligen Geistes in Israel, aber nicht das Ende des direkten Verkehrs mit Gott: Diese Unmittelbarkeit wurde durch eine hörbare göttliche Äußerung bewahrt, die in der rabbinischen Literatur als bat qol, als ›Tochter einer Stimme‹, bezeichnet wird. Während die bat qol sowohl bei den Rabbinen als auch in den Evangelien (siehe unten S. 55) eine wichtige Rolle spielte, lässt sich diese Ansicht über den Abschluss der Prophetie historisch nicht bestätigen. Tatsächlich wurden noch in der letzten Phase des Zweiten Tempels (zweites Jahrhundert v. ‌Chr. bis erstes Jahrhundert n. ‌Chr.) Propheten erwartet, wie das Erste Makkabäerbuch (1 Makk 4,46; 14,41), die Gemeinderegel von Qumran (1QS 9,11) und das Neue Testament (Mt 11,9; 13,57; 21,11; Mk 6,4; Lk 4,24; 7,16.26; 24,19) beweisen.

Außerdem wissen wir durch die Schriftrollen vom Toten Meer, dass der Lehrer der Gerechtigkeit, der namentlich nicht genannte priesterliche Gründer der Gemeinschaft von Qumran, in der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts eine neue Form von Prophetie einführte: die offenbarte Auslegung der alten Weissagungen. Er wird als charismatischer Deuter der biblischen Prophetie geschildert, den Gott über den eigentlichen Sinn der dunklen Orakelsprüche in der Schrift aufgeklärt hat.

Und Gott sprach zu Habakuk, er solle aufschreiben, was kommen wird über das letzte Geschlecht. Aber die Vollendung der Zeit hat er ihm nicht kundgetan. Und wenn es heißt: »Damit eilen kann, wer es liest« (Hab 2,2), so bezieht sich seine Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat alle Geheimnisse der Worte seiner Knechte, der Propheten.

(1QpHab 7,1-5; siehe auch 2,5-10)

Drei essenische Propheten aus dem späten zweiten Jahrhundert v. ‌Chr. bis zum beginnenden ersten Jahrhundert n. ‌Chr. werden von Josephus namentlich erwähnt: Judas, Menahem und Simon (AltertümerXIII 11,2 [§§ 311-313]; XV 10,5 [§§ 373-378]; XVII 13,3 [§§ 345-348]).

Das charismatische Judentum wollte sich nicht widerstandslos geschlagen geben.

Frühe nachbiblische Literatur

Aus gelegentlichen Bezeugungen in den Apokryphen und den vorchristlichen jüdischen Schriften, die man als Pseudepigraphen bezeichnet, wird ersichtlich, dass die prophetisch-volkstümliche Religion in den letzten Jahrhunderten der alttestamentlichen Epoche halb im Verborgenen weiterlebte. Wie in früheren Zeiten äußerte sie sich vornehmlich in der Heilung von Kranken. Trotz der Bedeutung der Medizin im Alten Orient hat die Hebräische Bibel wenig über jüdische Ärzte zu sagen. Das Gesetz Moses erwähnt medizinische Fachleute aus Ägypten (Gen 50,2), nennt ihre israelitischen Kollegen aber nur einmal: Im Zusammenhang mit dem Fall einer Entschädigung, die ein Israelit bezahlen musste, wenn er jemanden verletzt hatte, wird seine Verpflichtung gegenüber dem Opfer erwähnt, das Honorar des behandelnden Arztes zu begleichen (Ex 21,19).

Zu Beginn des zweiten Jahrhunderts v. ‌Chr. versuchte Jesus, Sohn des Sira, ein Jerusalemer Priester und Autor des apokryphen Buches Jesus Sirach (auch Ecclesiasticus oder Weisheit Ben Siras genannt), Medizin und Religion miteinander zu versöhnen, indem er aus dem Arzt einen geistigen Mittelsmann des Allmächtigen machte (Sir 38,1-14). Frommes Zusammenwirken zwischen dem bußfertigen Patienten (Sir 38,9-11) und dem gottesfürchtigen Arzt hielt Ben Sira für das beste Heilmittel. »Zu gegebener Zeit liegt in seiner (= des Arztes) Hand der Erfolg; denn auch er betet zu Gott, er möge ihm die Untersuchung gelingen lassen und die Heilung zur Erhaltung des Lebens.« (Sir 38,13-14)

Im sogenannten Väterlob (Sir 44-50) fährt derselbe Weise fort, die außergewöhnliche Macht und die Wunder der Männer Gottes, Elia und Elisa, zu rühmen. Der Abschnitt steckt voller charismatischer Vorstellungen.

Da stand ein Prophet auf wie Feuer,

seine Worte waren wie ein brennender Ofen.

Er entzog ihnen ihren Vorrat an Brot,

durch sein Eifern verringerte er ihre Zahl.

Auf Gottes Wort hin verschloss er den Himmel,

und dreimal ließ er Feuer herniederfallen.

Wie Ehrfurcht gebietend warst du, Elia,

wer dir gleichkommt, kann sich rühmen.

Einen Verstorbenen hast du vom Tod erweckt,

aus der Unterwelt, nach Gottes Willen.

Könige hast du ins Grab geschickt,

Vornehme von ihren Lagern hinweg.

Am Sinai hast du Strafbefehle vernommen,

am Horeb Urteile der Rache.

Könige hast du gesalbt für die Vergeltung

und einen Propheten als deinen Nachfolger.

Du wurdest im Wirbelsturm nach oben entrückt,

in Feuermassen himmelwärts.

Von dir sagt die Schrift, du stehst bereit für die Endzeit,

um den Zorn zu beschwichtigen, bevor er entbrennt,

um den Söhnen das Herz der Väter zuzuwenden

und Jakobs Stämme wieder aufzurichten.

Wohl dem, der dich sieht und stirbt;

denn auch er wird leben.

Elia ist im Wirbelsturm entschwunden,

Elisa wurde mit seinem Geist erfüllt. <…>

Solange er lebte, hat er vor niemand gezittert,

kein Sterblicher hatte Macht über seinen Geist.

Nichts war für ihn unerreichbar,

noch im Grab zeigte sein Leichnam Prophetenkraft.

In seinem Leben vollbrachte er Wunder

und bei seinem Tod erstaunliche Taten.

(Sir 48,1-14)

Diese Äußerungen Ben Siras über die beiden bedeutenden charismatischen Propheten der fernen Vergangenheit rufen das Fazit des Wirkens Elisas bei dem jüdischen Historiker Josephus aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert in Erinnerung, der von »fast unglaublichen Wundertaten« (thaumasta gar kai paradoxa erga; AltertümerIX 8,6 [§ 182]) spricht, die durch seine prophetische Kraft geschahen – ein bemerkenswerter Ausdruck, der in der Jesusdarstellung des Josephus wiederkehrt (siehe S. 57).

Jesus Sirachs Kompromiss zwischen Religion und Medizin erwies sich als unnötig; der charismatisch-engelhafte Heilungstyp war im jüdischen Denken nach wie vor weit verbreitet. Auch in nachexilischer Zeit blieb Krankheit mit bösen Geistern verbunden, und die Macht über die Dämonen lag bei den Engeln, insbesondere bei Rafael, dem Heilungsengel, dessen Name ›Gott hat geheilt‹ bedeutet. Erstmals erscheint er im apokryphen Tobitbuch, das wahrscheinlich aus der Zeit zwischen 400 und 200 v. ‌Chr. stammt. Darin ist Rafael der von Gott ernannte Reisebegleiter des jungen Tobias und dessen Beschützer vor dem teuflischen Aschmodai. Dieser böse Dämon, der Tobias' Braut, die schöne Sara, liebt, versucht ihn in deren Hochzeitsnacht zu töten, so wie er bereits sieben ihrer früheren Ehemänner umgebracht hat, bevor sie die Ehe vollziehen konnten. Rafael versorgt seinen jungen Schützling mit Schadensabwehrmitteln, dem Herzen und der Leber eines Fisches, die Tobias auf brennenden Weihrauch legen muss. Angewidert vom Geruch, läuft der Dämon davon, doch Rafael verfolgt den bösen Geist bis in den hintersten Winkel Ägyptens und fesselt ihn dort, womit er Tobias das Leben rettet. Dieselbe Vorstellung einer Hilfe durch Engel begegnet uns, ungefähr gleichzeitig mit dem Tobitbuch, im Ersten Henochbuch, von dem vorchristliche aramäische Fragmente in Qumran gefunden wurden. Auch hier ist es Aufgabe Rafaels, den Fürsten der Dämonen, Azazel, zu überwinden (1 Hen 10,1-7).

Man darf keinesfalls vergessen, dass die Vertreter des charismatischen Judentums die arkane Heilkunst aus göttlich inspirierten Geheimbüchern erlernten, die zwei biblischen Gestalten zugeschrieben wurden, dem Erzvater Noah und König Salomo. Dem Jubiläenbuch zufolge hat ein Engel Noah beigebracht, wie er durch die Verwendung von Heilkräutern Seuchen besiegen und Dämonen beherrschen kann (Jub 10,10-14). Salomo war die zweite Quelle charismatischer Weisheit und Medizin. Bereits die biblische Tradition schrieb ihm einige der wichtigsten Weisheitsbücher der Bibel zu – Sprüche, Prediger und Hohelied –, und Jesus Sirach hat das biblische Bild Salomos durch Unterstreichung seines internationalen Ruhms weiter ausgearbeitet (Sir 47,15.17).

Josephus, der bald nach Jesu Tod geboren wurde, bietet uns eine Fülle an weiterem volkstümlichen Stoff.

Er (= Salomo) verfasste eintausendundfünf Bücher Gedichte und Gesänge sowie dreitausend (Bücher) Gleichnisse und Sprüche. Denn über jeden Baum, vom Ysop bis zur Zeder, dichtete er eine Parabel, desgleichen auch über die Zugtiere und alle übrigen Tiere der Erde sowohl im Wasser wie in der Luft. <…> Gott lehrte ihn auch die Kunst, böse Geister zum Nutzen und Heil der Menschen zu bannen. Er verfasste nämlich Sprüche zur Heilung von Krankheiten und Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe man die Geister dergestalt bändigen und vertreiben kann, dass sie nie mehr zurückkehren. Diese Heilkunst gilt auch jetzt noch viel bei uns.

(AltertümerVIII 2,5 [§§ 44-46])

Abgesehen von allgemeinen Aussagen über Noah und Salomo bezüglich Heilung und Exorzismus haben die jüdischen literarischen Quellen der Zeit Jesu eine Reihe von neuen Heilungs- und Auferweckungsgeschichten von heiligen Männern der Vergangenheit überliefert. Das aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert stammende Genesisapokryphon aus Höhle 1 von Qumran schildert den Erzvater Abraham als charismatischen Dämonenbeherrscher (1QGenAp 20,16-29). Nachdem seine Frau Sara in den Harem des Pharao verbracht wurde, wird der König mit seinem gesamten männlichen Hofstaat durch das Gebet des Erzvaters impotent, sodass Saras Tugend gewahrt bleibt. Als der Pharao ihre Freilassung anbietet, nutzt Abraham seine charismatische Macht gegen den Dämon: »Und ich betete für diesen (= den Pharao) <…> und legte meine Hände auf sein [Hau]pt, und die Plage wich von ihm, und der böse (Geist) entfernte sich (von ihm), und er lebte.« (1QGenAp 20,8-29, hier 20,28-29)

Artapanus, ein jüdisch-hellenistischer Historiker des dritten/zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, zeichnet auch Mose als einen Wunder wirkenden Bevollmächtigten Gottes. Wir erfahren von ihm, dass Mose vom Pharao gefangen gesetzt wird, als der König von seiner Absicht erfährt, die Juden zu befreien; aber bei Einbruch der Nacht ereignen sich eine Reihe von Wundern: Die Gefängnistore öffnen sich, der eine Teil der Wachen schläft ein, während der andere stirbt, und all ihre Waffen zerfallen in Stücke. Auf diese Weise kann Mose aus dem Kerker spazieren und ungehindert das königliche Schlafzimmer betreten. Der wütende Pharao erkundigt sich nach dem Namen seines Gottes, um ihn zu verfluchen, und das hochheilige Tetragramm (JHWH) wird ihm ins Ohr geflüstert. Augenblicklich fällt er tot um, aber wundersamerweise belebt Mose ihn wieder (Eusebius, Praeparatio evangelica – Vorbereitung auf das EvangeliumIX 27,22-26).

Eine weitere Anekdote von enormer Bedeutung stammt aus einer Qumranschrift, die mit dem Danielbuch verwandt ist und wahrscheinlich auf das erste Jahrhundert v. ‌Chr. zurückgeht. Fiktiver Sprecher ist der letzte König der Babylonier, Nabonidus, der erklärt, dass ein namentlich nicht genannter jüdischer Charismatiker, vermutlich Daniel, ihm die Sünden vergeben und ihn zugleich von seiner Krankheit geheilt habe. Er wird als ein gazer beschrieben. Dieses Substantiv steht im Danielbuch (2,27; 4,6; 5,7.11) neben Begriffen wie ›Magier‹, ›Traumdeuter‹ und ›Astrologe‹. Wörtlich genommen erlässt ein gazer Dekrete oder erteilt Befehle; deshalb wird er als ›Exorzist‹ interpretiert, weil das entsprechende Verb in der rabbinischen Literatur mit der Befreiung von dämonischer Besessenheit im Zusammenhang steht (siehe unten S. 47).

Die Worte des Ge[b]ets, welches Nabonaj gebetet hat, König des L[andes von Ba]bel, der [Groß-]König <…>: »[Ich, Nabonaj, bin mit der bösen Entzündung] geschlagen worden für sieben Jahre, und […] war i[ch] gleich(gesetzt) – meine Vergehen (?). <…> ließ ihm einen Wahrsager (/Exorzist) (gazer), und de[r (war ein j)üdischer [Mann].«

(4Q242 1,1-4)

Es ist bemerkenswert, dass in diesem Gebet des Nabonid der in den Evangelien bezeugte Zusammenhang von Sündenvergebung und Krankenheilung (vgl. Mk 2,8-11) vorwegggenommen wird. Exorzismus und die religiöse Heilung von Gebrechen werden auch in einem historischen Bericht des Josephus über eine Geschichte bezeugt, die in den Ersten Jüdischen Aufstand gegen Rom (66-70 n. ‌Chr.) gehört. »Ich habe <…> gesehen«, behauptet Josephus,

wie einer der Unseren, Eleasar mit Namen, in Gegenwart Vespasians, seiner Söhne, der Obersten und der übrigen Krieger die von bösen Geistern Besessenen davon befreite. Die Heilung geschah auf folgende Weise: Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Salomo angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleasar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Salomos und die von ihm verfassten Sprüche hersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren.

(Josephus, AltertümerVIII 2,5 [§§ 46-47])

Die Wurzel, um die es hier geht, die Alraune (Mandragora officinarum), wuchs Josephus zufolge im Ostjordanland bei Baara, unweit des Palastes Herodes' des Großen in Machärus. Man glaubte, sie sei mit medizinischen und exorzistischen Eigenschaften ausgestattet,4 aber sie einzusammeln galt als sehr gefährlich.

Diese Wurzel ist von flammend roter Farbe und gibt zur Abendzeit Strahlen von sich. Nähert man sich ihr und will man sie anfassen, so ist es schwer, sie festzuhalten, da sie sich fortbewegt und nicht eher stehen bleibt, als bis man den Urin oder das Menstruationsblut einer Frau auf sie gießt. Aber selbst dann ist die Berührung tödlich, wenn man die Wurzel nicht so trägt, dass sie von der Hand herabhängt. Man kann sie übrigens auch auf folgende ungefährliche Weise gewinnen: Nachdem man sie ringsum durch Graben gelockert hat, bis nur noch ein kleiner Teil der Wurzel in der Erde streckt, bindet man einen Hund daran. Wenn nun das Tier dem, der es angebunden, schnell folgen will, wird sie leicht ganz herausgezogen: Der Hund aber stirbt auf der Stelle <…>; jetzt kann man sie ohne Gefahr in die Hand nehmen. Trotz dieser Gefahren wird sie wegen einer besonderen Eigenschaft eifrig gesucht. Die sogenannten Dämonen <…> werden durch jene Wurzel sogleich vertrieben, wenn man sie nur in die Nähe der Kranken bringt.

(Jüdischer KriegVII 6,3 [§§ 180-185])

Wie ein Magier im Zirkus lieferte Eleasar seinem hochrangigen römischen Publikum, Vespasian mit seiner Entourage, einen greifbaren Beweis für das Ausfahren des bösen Geistes: Er »stellte nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geist, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er den Menschen verlassen habe« (AltertümerVIII 2,5 [§ 48]).

Die in der Forschung geäußerte Vermutung, dieser Eleasar sei ein Essener gewesen, weitet die historische Perspektive aus. Zusammen mit den Therapeuten, dem ägyptischen Zweig der Sekte, genossen die Essener einen internationalen Ruf als Heiler und Asketen. Eine Reihe von Autoren, mich selbst inbegriffen, bringt ihren Namen (griechisch Essaioi) mit dem aramäischen assaja (›Heiler‹) in Verbindung, was auch eine der Bedeutungen des griechischen therapeutai ist. In seinem detaillierten Bericht über die essenische Gemeinschaft behauptet Josephus nachdrücklich: »Sie bemühen sich aber in außergewöhnlicher Weise um die Schriftwerke der Alten; dabei wählen sie vor allem das aus, was Seele und Leib fördert. Aus diesen Schriften erforschen sie zur Heilung von Krankheiten heilkräftige Wurzeln und Eigenschaften von Steinen.« (Jüdischer KriegII 8,6 [§ 136])

Philo von Alexandrien wiederum, der die Therapeuten im Eingangsabschnitt seines Buches Über das betrachtende Leben beschreibt, führt näherhin aus, dass ihr Name die Doppelbedeutung ›Heiler‹ und ›Verehrer‹ der Gottheit hat.

Nachdem ich (in Über die Freiheit des Tüchtigen) über die Essäer gesprochen habe, welche dem tätigen Leben nacheiferten <…>, will ich jetzt <…> das Erforderliche über diejenigen sagen, welche sich dem betrachtenden Leben widmen <…>. Das Prinzip, von welchem diese Philosophen sich leiten lassen, wird durch den Namen, den man ihnen gab, ohne Weiteres kenntlich. Man nennt sie nämlich in der wahren Bedeutung des Wortes Therapeutai und Therapeutrides (= Heiler und Heilerinnen), entweder insofern sie eine Heilkunst ausüben, welche besser ist als die in den Städten gebräuchliche – diese behandelt nämlich nur Körper, jene aber auch Seelen –, <…> oder insofern sie von der Natur und den heiligen Gesetzen gelehrt wurden, das Seiende zu verehren.

(De vita contemplativa – Über das betrachtende Leben 1-2)

Sowohl dem Neuen Testament als auch der rabbinischen Literatur nach zu urteilen war die einfachste Form von Exorzismus der unmittelbare Befehl, dem aber durch die Nennung des Namens des bösen Geistes besonderer Nachdruck verliehen werden konnte. Jesus erkundigte sich einmal nach der Identität eines gadarenischen Dämons und erfuhr, dass er ›Legion‹ hieß (Mk 5,9). In der späteren rabbinischen Literatur lesen wir, wie Schimʿon ben Jochai und Eleasar ben Jose, die beiden Rabbinen aus dem frühen zweiten Jahrhundert n. ‌Chr., die Tochter eines römischen Kaisers exorzieren, indem sie dem Dämon namens Ben Temalion befehlen auszufahren (bMeʿila 17b).

Jüdische Exorzisten und Heiler der zwischentestamentlichen Epoche verfügten darüber hinaus zweifellos über Gebete und Zaubersprüche des salomonischen Typs. Aus späteren Jahrhunderten haben wir zahlreiche magische Formeln, aber auch aus der Zeitenwende gibt es ein paar Beschwörungstexte. Einer, der in Höhle 4 von Qumran gefunden wurde, gehörte zu einem Formular des essenischen Lehrers gegen eine Vielzahl von bösen Geistern.

(Gottes) Herrschaf[t] liegt auf allen Krafthelden, und vor der Kraft seiner Mach[t] erschrecken und zerstreuen sich alle, und sie flüchten vor der Pracht der Stät[te] der Herrlichkeit seiner Königsherrschaft. Und ich als Maskîl (= Unterweiser) künde die Majestät seiner Hoheit, um in Schrecken und Furcht zu ver[setzen] alle Geister von Schadensengeln und Geister von Gestirnen (/Bastarden), Schakalen-Dämon, Lilit, Eulen und […], die einen plötzlichen Schlag ausführen, um einen Geist von Einsicht irrezuführen und um ihr Herz zu verstören.

(4Q510,2-6)

Darüber hinaus ist in Pseudo-Philos Biblischen Altertümern (Liber antiquitatum biblicarum) aus dem ersten Jahrhundert n. ‌Chr. ein Lied erhalten. Es wird David zugeschrieben, der dafür sorgen sollte, dass es König Saul wieder gutgeht, indem er dem bösen Geist Einhalt gebietet, der den König quält.

Und in jener Zeit wurde der heilige Geist von Saul genommen, und es würgte ihn ein sehr böser Geist. Da sandte Saul aus und führte David herbei, und der sang auf seiner Zither einen Psalm in der Nacht. Und dies ist der Psalm, den er für Saul sang, damit der böse Geist von ihm weiche:

Finsternis und Schweigen war, bevor die Welt wurde,

und es sprach das Schweigen, und die Finsternis wurde sichtbar.

Und damals wurde dein Name geschaffen <…>.

Und danach wurde der Stamm eurer Geister geschaffen.

Und jetzt sei nicht unwillig <…>.

Wenn nicht, so gedenke des Tartarus (= der Hölle), in dem du wandelst. <…>

Überführen aber wird dich der neue Mutterschoß, aus dem ich geboren worden bin,

von dem nach einer Zeit aus meinen Seiten der geboren werden wird, der euch bezwingen wird.

(Biblische Altertümer 60,1-3)

Im Gegensatz dazu verwendete Jesus den Evangelien zufolge bemerkenswerterweise nur Befehlsworte und griff nie auf exorzistische Formeln zurück.

Rabbinische Literatur

Um unsere Übersicht über die Belege, die Licht auf das charismatische Judentum werfen können, zu vervollständigen, müssen wir einen zusammenfassenden Blick auf die Darstellung von prophetenähnlichen Gestalten aus der Ära Jesu in der rabbinischen Literatur werfen (100 v. ‌Chr. bis 100 n. ‌Chr.). Unter ihnen stechen zwei hervor, Choni/Onias mit dem Beinamen ›der Kreiszieher‹ aus der Zeit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahr 63 v. ‌Chr. und Chanina ben Dosa, ein heiliger Mann aus Galiläa aus dem ersten Jahrhundert n. ‌Chr. Beide erinnern an den Propheten Elia, was ihre Regen wirkende Macht betrifft; außerdem wurde Chanina wie Elia und Elisa auch als Wunderheiler und allgemeiner Thaumaturg gefeiert.

Die älteste rabbinische Version der Choni-Anekdote wird in humoristischer Form dargeboten, was darauf hinweist, dass einige nüchtern gesinnte Rabbinen keine uneingeschränkten Bewunderer charismatischer Frömmigkeit waren.

Es ereignete sich, daß sie zu Choni dem Kreiszieher sprachen: »Bete, dass Regen herunterfalle.« <…> Er betete, aber es fiel kein Regen. Was tat er da? Er zog einen Kreis, stellte sich hinein und sagte: »Mein Meister (= Gott), deine Söhne haben ihr Angesicht auf mich gerichtet, denn ich bin wie ein Sohn des Hauses vor dir, ich schwöre bei deinem großen Namen, dass ich von hier nicht weichen werde, bis du dich deiner Söhne erbarmst.« Begann der Regen zu tröpfeln, sprach er: »Nicht so habe ich gebetet, sondern um Regen für Zisternen, Gräben und Höhlen.« Fiel er (= der Regen) mit Gewalt, sprach er: »Nicht so habe ich gebetet, sondern um Regen des Wohlgefallens, des Segens und der Güte.« Fiel er (= der Regen) in richtiger Weise <…>, so sprachen sie zu ihm: »Wie du um das Niederfallen gebetet hast, so bete, dass er aufhöre.«

(mTaʿanit 3,8)

Hier und anderswo begegnen wir einem vielgeliebten, verzogenen Sohn, der von Gott, seinem fürsorglichen Vater, gereizt wird. Doch das Kind bleibt bei seinen Forderungen, bis der Vater dem Drängen nachgibt. Der normale Rabbi hielt Chonis Verhalten für respektlos und kritikwürdig. In der Tat neigten jüdische Charismatiker, unter ihnen Jesus, dazu, ›bürgerliche‹ Empfindlichkeiten zu verletzen.

Josephus, der sowohl für Heiden als auch für Juden schrieb, war voller Ehrerbietung für Choni/Onias. Er nennt ihn ›den Gerechten‹. Es kann keine Rede davon sein, ihn der Respektlosigkeit zu bezichtigen; Josephus schildert ihn als bewundernswerte Persönlichkeit, die – nachdem er eine landesweite Katastrophe durch die Beendigung einer verheerenden Dürre abgewendet hat – als wirksamer Mittler zwischen Gott und den Juden aufgetreten ist. Er wird sogar zum tragischen Helden, der seine Weigerung, sich im Verlauf der inneren Unruhen in Jerusalem Mitte der sechziger Jahre des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zwischen den hasmonäischen Hohepriestern Aristobul II. und Hyrkan II. auf eine Seite zu schlagen, mit dem Leben bezahlte.

Nur ein gewisser Onias, ein gerechter und Gott wohlgefälliger Mann, der, als er einst bei einer Dürre Gott um Regen gebeten hatte, augenblicklich erhört worden war, verbarg sich, weil er noch kein Ende des Streites absah. Die Juden aber ergriffen ihn, führten ihn ins Lager und verlangten von ihm, er solle, wie er einst durch sein Gebet der Dürre ein Ende gemacht habe, so jetzt über Aristobul und dessen Anhänger den Fluch herabrufen. Da er nun trotz seines Bittens und Sträubens von der Menge genötigt wurde, trat er in ihre Mitte und rief aus: »O Gott, König des Weltalls, da die jetzt um mich Stehenden dein Volk und die Belagerten deine Priester sind, so bitte ich dich, du wollest weder den einen noch den anderen gewähren, was sie über ihre Gegner herabflehen.« Als er so geredet hatte, töteten ihn einige Bösewichter aus den umstehenden Juden mit Steinwürfen.

(AltertümerXIV 2,1 [§§ 22-24])

Charismatische Macht lag bei Choni in der Familie, und zwei volkstümliche Enkel wandelten in den Fußstapfen des ehrwürdigen Großvaters. Abba Chilkia war anscheinend – wie Elisa vor seiner Begegnung mit Elia – ein einfacher Bauer. Der Titel ›Abba‹ (das bedeutet ›Vater‹), den beide Enkel führten, erinnert an die Anrede Elias und Elisas (2 Kön 2,12; 6,21; 13,14). Abba Chilkia wurde von den Rabbinen um Regen gebeten, zweifellos, nachdem ihr eigenes formelhaftes Flehen unerhört geblieben war. Als der Regen einsetzt, leugnet Chilkia, etwas damit zu tun zu haben – ein wiederkehrender Zug der Bescheidenheit in Geschichten über Charismatiker, was die scharfsinnigen Rabbinen allerdings durchschauen.

Einst benötigte die Welt des Regens, und die Rabbanan (= unsere Rabbinen) sandten zu ihm (= Chilkia) ein Jüngerpaar, dass er um Regen flehe. Diese gingen zu ihm nach Hause, trafen ihn aber nicht an; hierauf gingen sie aufs Feld und trafen ihn beim Graben. <…> (Als er nach Hause kommt, sagt er zu seiner Frau:) »Ich weiß, dass die Rabbanan wegen des Regens gekommen sind; wollen wir auf den Söller gehen und um Erbarmen flehen; wenn der Heilige, gepriesen sei er, vielleicht gnädig ist und Regen kommt, so soll man dies nicht uns zugute halten.« <…> Die Wolken kamen <…>. Als er herunterkam, fragte er sie: »Weswegen sind die Rabbanan hergekommen?« Sie erwiderten: »Die Rabbanan schickten uns zum Meister (= zu dir), dass er um Regen flehe.« Dieser erwiderte: »Gepriesen sei Gott, dass ihr Abba Chilkia nicht mehr braucht.« Darauf sprachen sie zu ihm: »Wir wissen, dass der Regen wegen des Meisters (= deinetwegen) gekommen ist.«

(bTaʿanit 23a-b)

Solche Selbstverleugnung erinnert daran, dass Jesus seine Heilungen dem Glauben des Kranken zugeschrieben hat.

Chanan der Scheue (wörtlich ›der sich Versteckende‹), der andere Enkel Chonis, legte unter vergleichbaren Umständen eine ähnliche Bescheidenheit an den Tag. Bemerkenswerterweise nennt Chanan Gott ›Abba‹ und nimmt so die von Jesus verwendete Terminologie vorweg (siehe S. 78).

Wenn die Welt Regen nötig hatte, schickten unsere Meister (= die Rabbinen) Schulkinder zu ihm. Die packten ihn am Saum seines Gewandes und sagten zu ihm: »Vater, Vater, gib uns Regen!« Da sagte er vor dem Heiligen, gelobt sei er: »Herr der Welt, mach es um dieser willen, die nicht unterscheiden können zwischen einem Vater, der Regen geben kann, und einem Vater, der keinen Regen geben kann!«

(bTaʿanit 23b)

Ein jüngerer Zeitgenosse Jesu, Chanina ben Dosa aus der galiläischen Stadt Arab (Arava oder Gabara), wird als vielseitiger Charismatiker geschildert; er war nicht nur ein Regenmacher. Er wird als Schüler Jochanan ben Zakkais vorgestellt, des berühmten pharisäischen Lehrers, der zur Zeit des Ersten Jüdischen Krieges wirkte. Dem Talmud zufolge verbrachte Jochanan achtzehn Jahre in Galiläa in der Heimatstadt Chaninas, bevor er als Anführer der Pharisäer nach Jerusalem zog. Nur eine seltsame Geschichte verbindet Chanina mit Regen, den er dieser Darstellung zufolge zum Versiegen bringen konnte, wenn er ihm unangenehm war, ihn dann aber wieder einsetzen ließ, damit seine Landsleute nicht in Mitleidenschft gezogen werden.

Chanina ben Dosa befand sich auf dem Weg, und es kam ein Regen. Da sprach er: »Herr der Welt, die ganze Welt in Behagen und Chanina in Not!« Da hörte der Regen auf. Als er nach Hause kam, sprach er: »Herr der Welt, die ganze Welt in Not und Chanina in Behagen!« Da kam Regen.

(bTaʿanit 24b)

Die meisten von Chaninas sonstigen Wundergeschichten handeln von Heilung und dem Schutz von Menschen vor körperlicher Gefahr, aber da ist auch eine Episode über seine Begegnung mit der Königin der Dämonen. Zwei besonders bedeutsame Heilungserzählungen sind erhalten, die mit der Therapierung der Söhne berühmter Rabbinen, Jochanan ben Zakkais, des Lehrers Chaninas, und Rabban Gamaliels, des mutmaßlichen Lehrers des Paulus, zu tun haben.

Abermals ereignete es sich mit Rabbi Chanina ben Dosa, dass er zu Rabban Jochanan ben Zakkai die Thora studieren ging, und da gerade der Sohn des Rabban Jochanan ben Zakkai erkrankte, sprach dieser zu ihm: »Chanina, mein Sohn, flehe doch für ihn um Erbarmen, dass er genese!« Da legte er sein Haupt zwischen die Knie und flehte für ihn um Erbarmen; und jener genas.

(bBerakhot 34b)

Chaninas charismatische Heilungstat geschah durch wirksames Gebet. Da die Rekonvaleszenz der Fürbitte direkt auf dem Fuß folgte, verbanden die Menschen beides miteinander und glaubten, dass tatsächlich Chaninas Worte zum Erfolg geführt haben. Die von ihm eingenommene, absoluter Konzentration förderliche hockende Gebetshaltung, als er den Sohn Jochanan ben Zakkais in Abwesenheit kurierte, erinnert an Elias Bittgebet auf dem Berg Karmel, der sich auf dem Boden niederkauerte und sein Gesicht gegen die Knie presste (1 Kön 18,42).

Eine parallele Heilungsgeschichte, die von der wundersamen Genesung des Sohnes Rabban Gamaliels handelt, ist in zwei Versionen überliefert; beide ähneln der Heilung des Dieners eines römischen Hauptmanns in Kapernaum durch Jesus (Mt 8,5-13; Lk 7,1-10).

Die kürzere Version stammt aus dem Jerusalemer Talmud:

Es geschah einst, dass, als ein Sohn des Rabbi Gamaliel erkrankte, dieser zwei Gelehrte zu Rabban Chanina ben Dosa in dessen Stadt sandte. Da sagte er zu ihnen: »Wartet hier auf mich, ich gehe hinauf ins Obergemach.« Er ging hinauf ins Obergemach, kam herunter und sagte zu ihnen: »Ich bin sicher, dass der Sohn des Rabbi Gamaliel von seiner Krankheit genesen wird.« Man stellte fest, dass genau zur selben Zeit er (= der Kranke) von ihnen (= den Hausleuten) Speise verlangt hatte.

(jBerakhot 9d)

Der Babylonische Talmud weitet die Erzählung aus und schaltet eine Erläuterung ein, die von Chaninas Wissen um die Wirksamkeit seiner Worte handelt. Für ihn ist reibungslose, ungezwungene Zwiesprache mit Gott ein Anzeichen für Erhörung, wohingegen einfallsloses, weitschweifiges Gebet nichts Gutes für den Patienten verheißt.

Es geschah einmal, dass der Sohn Rabban Gamaliels erkrankte. Er schickte zwei Gelehrte zu Rabbi Chanina ben Dosa, damit er für ihn um Erbarmen bitte. Sobald er diese sah, stieg er zum Obergemach hinauf und bat für ihn um Erbarmen. Als er herunterkam, sagte er zu ihnen: »Geht! Denn das Fieber hat ihn verlassen.« Sie sagten zu ihm: »Bist du denn ein Prophet?« Er sagte zu ihnen: »Nicht Prophet bin ich, auch nicht eines Propheten Sohn, sondern so habe ich es empfangen: Wenn das Gebet meinem Munde geläufig ist, so weiß ich, dass er (= der Beter, also ›ich‹) angenommen wurde, wenn aber nicht, so weiß ich, dass er (= ich) verworfen wurde.« Da setzten sie sich und schrieben, indem sie die Stunde genau angaben. Als sie zu Rabban Gamaliel kamen, sagte er zu ihnen: »Beim Kult! Nichts habt ihr abgezogen, und nichts habt ihr hinzugefügt, sondern genau so ist es geschehen: In ebendieser Stunde hat ihn das Fieber verlassen und bat er uns um Wasser zum Trinken.«

(bBerakhot 34b zu mBerakhot 5,5)