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Schauspielerin Lisa Maria Potthoff gewährt dem Leser einen inspirierenden Einblick in die Welt der Kampfkunst. Schnell wurde aus dem anfänglichen Sport mehr als eine körperliche Herausforderung. Die Kampfkunst wurde Teil ihres Lebens, der sie grundlegende Tugenden, wie Demut, Respekt und Vertrauen lehrte. In ihrem Buch teilt sie ihre persönliche Entwicklung. Humorvoll und intensiv erzählt sie, wie diese erworbenen Werte nicht nur ihre Rollen beeinflussten, sondern ihr gesamtes Leben positiv prägten. Ein inspirierendes Buch über den Reiz des Neuanfangs und der persönlichen Entwicklung.
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Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für meine Eltern,die mich voller Vertrauen die Welt entdecken ließen,und für meine beiden Mädchen,denen ich das Gleiche wünsche.
★
Originalausgabe
1. Auflage 2024
Verlag Komplett-Media GmbH
2024, München
www.komplett-media.de
ISBN: 978-3-8312-0638-4
e-ISBN: 978-3-8312-7178-8
Auch als E-Book erhältlich
Werte auf den Kapiteltrennern: Yi-Chung Chen, Chimosa Berlin
Begleitlektorat und Endredaktion: Judith Schneiberg-Adameit
Korrektorat: Elisa Garrett, Bayreuth
Fotos: Cover, S. 12, S. 42, S. 58, S. 72, S. 88, S. 106, S. 140, S. 152, S. 166,
S. 180: @ Linda Rosa Saal
S. 28: © die film gmbh, Fotografin Christine Schröder
S. 122: © die film gmbh, Fotografin Marion von der Mehden
S. 192: Privat
Autorinnenfoto Umschlag: @ Nils Schwarz
Layout & Gestaltung: Prof. Bettina Otto
Umschlaggestaltung: Heike Kmiotek und Prof. Bettina Otto
Satz: Daniel Förster, Belgern
Druck & Bindung: Florjancic tisk d.o.o., Maribor
Gedruckt in der EU
Die Wertetexte auf den Kapiteltrennern sind verfasst von meinem Meister und Freund, Yi-Chung Chen. Die Erzählung, mein Reisebericht zur und über die Kampfkunst und was sie mich über das Leben lehrt, ist über die Kapitel hinweg beschrieben.
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
EINLEITUNG
1 WILLENSKRAFT
2 VISION
3 DEMUT
4 LIEBE & PASSION
5 OFFENHEIT
6 DISZIPLIN
7 RESPEKT
8 MUT
9 ACHTSAMKEIT
10 GEDULD
11 VERTRAUEN
12 HARMONIE & BALANCE
13 DANKBARKEIT
LITERATUREMPFEHLUNGEN
Es riecht nach Schweiß und Männerparfum. Eigentlich eher nach billigem Männerdeo, das vor saurem Schweiß kapituliert hat. Vor mir steht ein sehr großer, bulliger Mann. Bis zum Hals tätowiert. Und dieser Hals hat die Breite seines Kopfes. Nur er und ich. Ein leerer Ring im Hintergrund. Pokale, Fotos von strahlenden Siegern und vergilbte Proteinwerbung. Der Mann, der die nächsten drei Monate mein Trainer sein soll, wirft mir ein Seil hin und verschwindet mit den Worten: »Zehn Minuten Seilspringen.« Ich hopse unkoordiniert los, muss nach 10 Sekunden aufs Klo, nach einer Minute kapituliert mein Beckenboden, nach fünf Minuten habe ich das Gefühl, dass langsam wichtige Gehirnzellen aufgrund des Sauerstoffmangels absterben. Und von Minute zu Minute ärgere ich mich mehr über mich und den Wahnsinn, den ich hier vorhabe.
Ich will mich auf meinen nächsten Film vorbereiten.
»Carneval«. Eine Reihe für die ARD. In dem vorangegangenen Film wurde meine Figur Maria, eine Polizistin, vom Clanchef einer Mafiagruppe schwer verletzt und traumatisiert. Dieser nun folgende Film soll unter anderem Marias Geschichte erzählen, in der sie versucht, ihren Peiniger wiederzufinden und sich an ihm zu rächen. Um ihm nahezukommen, prostituiert sie sich nahezu und riskiert ihr Leben. Sie hat jeglichen Kontakt zu ihren Kollegen abgebrochen und verfolgt manisch ihr Ziel nach Rache.
Bevor ein Film entsteht und man sich am Set begegnet, um zu drehen, entwickeln alle Kreativen eine gemeinsame Vision zum anstehenden Projekt. Der Kameramann überlegt sich zusammen mit dem Regisseur oder der Regisseurin ein Bildkonzept, die Kostümbildnerin oder der Kostümbildner und die Szenenbildner entwerfen Moodboards mit Farb- und Designkonzepten. Und wir Schauspieler entwickeln mit der Regie eine Vision zu der Figur, die wir spielen. Wie soll sie aussehen? Woher kommt sie, aus welchem Milieu? Spricht sie vielleicht mit Akzent oder Dialekt? Man entwickelt sowohl ein inneres als auch ein äußeres Konzept für diese Figur.
Unser Regisseur Nicolai Rohde erzählte mir von seiner Vision der Maria. Eine Frau auf Rachefeldzug. Man sieht im Film, wie sie heimlich heftig trainiert hat, wie sie manisch nach Clanchef Witrenko gesucht hat und nun abgetaucht ist.
Nicolai beschreibt mir, dass er den Kampf, in dem meine Figur Maria von der rechten Hand des Clanchefs entlarvt wird und sich auf Leben und Tod verteidigen muss, in einer Plansequenz drehen will. Das heißt, diese Kampfszene sollte möglichst nicht unterschnitten werden. Kein Stuntdouble. Normalerweise werden Schauspieler beim Film in herausfordernden Stuntsequenzen gedoubelt. Das hat in erster Linie Sicherheitsgründe, da Kampf- und Actionszenen oft nicht ungefährlich sind. Verletzt sich eine Schauspielerin und kann dadurch nicht weiterdrehen, ist das mit hohen Kosten verbunden. Außerdem kann man mit Stuntdoubles Actionszenen anspruchsvoller gestalten. Sie können mit Autos rasante Manöver fahren, man glaubt ihnen eher den Faustkampf als ungeübten Schauspielern. Der Nachteil an Doubles ist, dass man mehr Schnitte braucht, da man das Gesicht der Stuntfrau nicht sehen darf, wenn sie den Körper einer Schauspielerin doubelt. Es ist komplizierter, im Drehprozess die Szene so zu filmen, dass das Doubeln nicht von den Zuschauern bemerkt wird.
Nico möchte in unserem Film den entscheidenden Kampf möglichst ohne Schnitt drehen, um die Brutalität besonders spürbar zu machen. Ein Kampf um Leben und Tod. Kein Double.
Bevor Maria auffliegt und sich diesen Kampf mit der rechten Hand Witrenkos liefert, beginnt sie eine Affäre mit ihm. Im Film zeigt sich dieses Verhältnis der beiden in einer Sexualität, die geprägt ist von unterschwelliger Gewalt und Marias Bereitschaft zur Selbsterniedrigung. Um es für den Zuschauer fast unangenehm voyeuristisch zu erzählen, wollten wir auch die Kamera voyeuristisch nah sein lassen: kein dezentes Wegblenden. Wir sehen Maria nackt, schutzlos, sich anbietend beim Sex mit diesem Mann. Alles, um ihrem Ziel näherzukommen.
Ich erzählte Nico, dass ich es spannend fände, das Ganze noch weiter zu treiben: Nämlich eine Frau zu zeigen, die so getrieben ist, sich zu rächen, dass man körperlich sieht, wie sie alles diesem Ziel untergeordnet hat. Sie ist nicht nur muskulös, sondern an ihr ist kein Gramm Fett mehr. Keine sinnliche Weiblichkeit. Keine Gefühle, nur noch Wille. Da ist nichts mehr außer ihr Wunsch nach Rache.
Die Aufgabe war also klar: Muskelaufbau, Fettabbau, Kampftraining.
Ich fing an zu googeln und vereinbarte meine erste Kickboxtrainingsstunde.
Das ist nun fast acht Jahre her. Seitdem hat sich mein Leben nicht nur sportlich gesehen radikal verändert. Von einer Schauspielerin, die sich auf einen Film vorbereiten wollte, bin ich zu einer begeisterten Kampfkunstschülerin geworden. Ich habe in diesen acht Jahren nicht nur erfahren, was körperlich alles möglich ist, ich habe mich auch mental mit Werten beschäftigt, die mein Leben positiv verändert haben. Nach und nach habe ich gelernt, dass die Kunst des Kampfes, so wie sie in der asiatischen Tradition des Martial Arts verstanden wird, eine ganzheitliche Haltung ist, eine Herausforderung auf allen Ebenen, den geistigen im gleichen Maße wie den körperlichen. Das begriff ich durch den Mann, den ich heute meinen Meister und Freund nenne, Yi-Chung Chen, kurz Yichy. Mein Weg hat mich nicht gleich zu ihm geführt, und auch heute ist er nicht mein einziger Lehrer. Ich habe einige wunderbare Menschen und Kampfkünstler kennengelernt, von denen ich lernen darf und von denen ich hier auch erzählen möchte.
Aber Yichy ist derjenige, dessen Training mich an einem Punkt abgeholt hat, wo es darum ging, alles zu investieren und damit anzufangen und die Werte der Kampfkunst in mein Leben zu integrieren. Er begleitet mich seit unserer ersten Begegnung kontinuierlich als Lehrer. Ein Verhältnis, um das er mich erstmal ganz schön hat kämpfen lassen. Ich musste ihm beweisen, wie ernst es mir war mit dem Lernen. Heute ist Yichy nicht nur mein Trainer, sondern auch mein Lebensfreund. Wir inspirieren uns gegenseitig und befassen uns gemeinsam mit der Kampfkunst und mit fundamentalen menschlichen Werten.
Von all diesen Erfahrungen und Begegnungen möchte ich erzählen. Nicht aus der Sicht einer Meisterin, sondern aus der Perspektive einer Lernenden, einer oft Suchenden, einer Schülerin, die mehr und mehr begreift, wie viel von der großen Welt in der Welt der Kampfkunst steckt, die übertragbar ist auf das normale Leben. Ich muss oft schmerzlich lernen, wie langsam der heiß ersehnte Fortschritt passiert, habe einen neuen Zugang zur Disziplin gelernt, musste und muss mich immer noch in Geduld üben und habe den Wert des Respekts noch einmal ganz anders kennengelernt. Dabei scheitere ich an den gleichen Dingen, die jeder und jede kennt, ob Sportlerin oder nicht. Oft habe ich keine Antworten, nur ähnliche Fragen wie alle.
Das, was ich hier niederschreibe, ist also eine Art Reisebericht meiner letzten acht Jahre in die Welt der Kampfkunst. Ich startete mit einer Trainingsstunde, um ein paar Wochen später einen Film zu drehen, und schreibe jetzt als Mensch, der das Glück hatte, eine bis heute andauernde und hoffentlich nie endende Reise in eine mir damals fremde Welt anzutreten.
Nach acht Jahren Training als Kampfkunstschülerin weiß ich zumindest eines sicher: Dass mich die Kampfkunst zu einer besseren Schauspielerin macht, zu einer wacheren Kollegin für meine Spielpartner und zu einem erfüllteren Menschen.
ist es, was uns zum Erfolg führt.Der Unterschied zwischen Sieg und Niederlagewird im Kopf entschieden.
Yi-Chung Chen (Yichy)
Ende 2016 stehe ich also erst einmal vor diesem mir fremden Kickboxtrainer, den ich mir zur Vorbereitung für den Film »Carneval« über Google rausgesucht hatte. Ich hatte ihm am Telefon erzählt, dass ich mich optimal auf die Stuntszenen beim Dreh zu meinem neuen Film vorbereiten möchte. Beeindruckt habe ich ihn damit augenscheinlich nicht. Er grinst mich abschätzig an, während ich irgendwie versuche, noch die letzten Kräfte in mir zu mobilisieren, um das durchzustehen, was ich mir vorgenommen habe.
Schon das Aufwärmen bringt mich physisch an meine Grenzen, das Training selbst weit darüber hinaus. Ich werde die nächsten Wochen winselnd nach Hause kriechen. Die Badewanne wird mein bester Freund werden. Ich bin fassungslos, als ich von meinem Trainer erfahre, dass es Kunden gibt, die zwei Stunden Personal-Training hintereinander buchen. Und ICH weiß nicht, wie ich diese EINE Stunde überleben soll.
Die folgenden Wochen werden mental und körperlich die herausforderndsten meines Lebens. Und das sage ich als Frau, die zwei Kinder geboren hat …
Aufwärmen – Andehnen – Training – Ausdehnen. Das Kickboxtraining über einer tristen Elektronikmarktfiliale beginnt immer gleich. Der Trainer versucht mir in den folgenden Stunden die Basics des Kickboxens beizubringen: Schläge und Tritte. Ich stelle ernüchtert fest, dass ich nicht nur wenig Kondition, sondern auch gar nicht mal so viel Talent habe. Das Einzige, was mich durch diese erste Zeit und auch später noch durch meine ganze Reise hindurch trägt, ist, dass ich ein Ziel vor Augen habe. Und: mein Wille, nicht aufzugeben.
Immer wieder stehe ich im Ring, boxe, versuche gegen die Pratzen zu kicken und schwitze. Die Uhr zählt erschreckend langsam die drei Minuten runter, bis endlich der erleichternde Gong ertönt und ich 60 Sekunden Pause habe.
Wenn ich nicht schnell genug wieder auf Position bin, schubst mich mein Trainer zurück. Ich versuche mich zu beruhigen, dass er das nicht böse meint, nur wiegt er mit Sicherheit 40 Kilo mehr als ich und hat wirklich außerordentlich viel Kraft. An einem Tag stößt er mit seinem Handschuh so stark gegen meinen, dass ich mir durch den Rückprall selbst ein Stück vom Schneidezahn ausschlage. Okay, ich muss mich in Acht nehmen. Das wird nicht ohne.
Jeden Morgen, nachdem die Kinder in Schule und Kita verstaut sind, krieche ich die Treppen zum Studio nach oben und versuche durchzuhalten.
Immer wieder lässt er mich diese Kicks an den Sandsack und die Pratzen machen. Klassisches Training für einen Martial Artist. Aber die Haut eines Laien, insbesondere die zarte Haut einer Frau, kapituliert. Ich stehe im Ring, in einer dieser endlosen Drei-Minuten-Runden, und meine Haut platzt am Fußrücken auf. Das Blut spritzt bei jedem Kick durch den Ring. Ich denke, mein Trainer wird gleich abbrechen. Hygienisch ist das Ganze nicht. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass er damit rechnet, dass ICH abbrechen werde. Ein stiller Machtkampf. Wer unterbricht? Er oder ich? Also kicke ich so lange weiter, bis er irgendwann sagt: »Kurze Pause, da müssen wir was drum machen«, und meinen Fuß in Paketband einwickelt. Innerlich breche ich in Jubel aus. ICH habe gewonnen, nicht er.
Von Anfang an möchte ich diesem Trainer beweisen, dass er mich unterschätzt. Und ich will meinem Regisseur zeigen, dass ich das hinbekomme, was wir uns vorgenommen haben. Ich will ans Set kommen und den richtigen Körper für diese Figur haben. Das Beste aus mir rausholen, um diesen Stunt zu schaffen.
Dafür will ich drei Monate alles geben. Und: Danach wieder zurück in mein normales Leben.
Tatsächlich bemerke ich, wie ich in den folgenden Wochen mehr und mehr von meinem Trainer respektiert werde. Er spürt meinen Willen, durchhalten zu wollen. Er erkennt an, dass ich nicht aufgebe.
Diese Erfahrung werde ich immer wieder machen. Mit nichts kannst du andere Martial Artists oder Sportler mehr beeindrucken, als mit deinem Willen zu lernen und nicht aufzugeben. Jeder von ihnen erkennt sich darin wieder und ist bereit, dich auf deinem Weg zu unterstützen, denn diesen Weg mussten sie alle gehen. Dadurch findest du Verbündete und Wegbegleiter.
Schon in den ersten Wochen der Vorbereitung auf »Carneval« begreife ich, dass Kickboxen oder Thaiboxen eine Kampfkunst ist, die man nicht mal eben schnell lernt. Ich werde ungeduldig, brauche noch etwas neben dem klassischen Kickboxtraining, wo ich schnell lernen kann, meine Hemmung zu schlagen zu überwinden. Wo ich schnell Erfolge sehe und eine andere Körperlichkeit entwickle. Ich habe entfernt von einer sehr brutalen Kampftechnik gehört und fange wieder an zu googeln.
Und lande bei Krav Maga.
Krav Maga ist eine israelische Kampftechnik, die sich aus verschiedensten Kampfkünsten bedient und Szenarien entwickelt hat, um sich optimal zu verteidigen. Viele Polizisten oder Militärs werden in Krav Maga geschult, um Festnahmen vorzunehmen, bewaffnete Gefahrensituationen, Terrorlagen etc. zu lösen. Krav Maga wirkt hardcore. Genau das Richtige für mich, denke ich, nicht wissend, was da auf mich wartet.
Ich finde eine Schule, auf deren Homepage steht: I am my problem but also my solution – Ich bin das Problem, aber auch die Lösung. Nun gut, das stimmt mich optimistisch, das alles irgendwie hinzubekommen.
Wenn ich also nicht bei meinem Kickboxtrainer im Boxring stehe, fahre ich von nun an quer durch Berlin in eine kleine Krav-Maga-Halle, um eine richtig brutale Kämpferin zu werden. Klingt für mich nach einem soliden Plan für die nächsten drei Monate.
In meiner ersten Stunde stehe ich vor dem Leiter der Krav-Maga-Schule, Oliver Hoffmann, in einem schwarzen, komplett mit Matten verkleideten Raum.
Mein Blick auf einen riesigen Satz in grellen Buchstaben an der Wand: Si vis pacem para bellum – Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor.
Die Pazifistin in mir jault. Dieser Satz befremdet mich, und ich versuche ihn für mich umzumünzen: Wenn du was können willst, bereite dich ordentlich vor! Oder so ähnlich. Letztlich versuche ich einfach so wenig wie möglich auf die martialischen Worte an der Wand zu gucken.
Oliver, mein Krav Krav-Maga-Instructor, steht vor mir und erzählt mir in der ersten Stunde, wie anstrengend das Training sein wird. Wie sehr man an seine Grenzen gehen muss und darüber hinaus, wie oft Menschen im Training kollabieren, weil es so hart ist. Dabei zeigt er auf einen Turm von Kotzbechern, die am Rande der Trainingshalle auf dem Fensterbrett dekoriert sind.
»Die wirst du irgendwann brauchen.«
Ich will weg. Kotzen ist das Allerletzte, was ich anstrebe, insbesondere mit Ansage. Diese ganze paramilitärische Struktur schüchtert mich ein und befremdet mich. Gleichzeitig zieht mich der Gedanke irgendwie an, in eine Art Bootcamp zu gehen. Zu gucken, wozu mein Körper fähig ist. Ich WILL das versuchen. Also muss ich wohl die Lösung meines Problems sein.
Während ich im Ostteil Berlins versuche, Boxen und Kicken zu lernen, versucht Oliver mir im Westen der Stadt die Angst davor zu nehmen, Menschen körperlich zu attackieren, beziehungsweise bei einer Attacke nicht in Schockstarre zu verfallen. Das größte Problem, besonders bei Frauen in Angriffssituationen. Er versucht mich in Angriffsszenarien zu schulen und klassisch Muskeln aufzubauen.
Das Training bei Oliver beginnt meist mit Laufen. Ausgerechnet Laufen. Ich hasse Joggen. Wirklich. Sehr. Viele meiner Freunde sind begeisterte Läufer. Wenn ICH allerdings joggen gehen muss, bekomme ich ab dem ersten Meter rasend schlechte Laune. Ich habe schon oft gehört, wie gesund und wundervoll Laufen sein soll. Nur: Der viel beschriebene Endorphin-Ausstoß nach angeblichen fünfzehn Minuten findet in meinem Körper definitiv nicht statt. Stattdessen empfinde ich abgrundtiefen Hass. Hass auf den Vorgang des Laufens, fünf Minuten später auf einfach alles. Auch auf nahestehende Menschen, die ich eigentlich sehr liebe.
Ich habe in der Vergangenheit drei Mal den fundamentalen Fehler begangen, gemeinsam mit einem Ex-Freund, der begeisterter Jogger war, laufen gehen zu wollen, und es endete jedes Mal in einem fulminanten Streit, in dem wir uns anbrüllten, dass dies definitiv das letzte Mal sei. Jedes dieser drei Male stand unsere Beziehung kurz vor dem Aus.
Und jetzt laufe ich also schlecht gelaunt in dieser Halle meine Runden, gefolgt von den Blicken des Krav-Maga-Trainers, der keine Pause duldet.
So muss es in der Hölle sein.
Dann zeigt er mir Verteidigungstechniken. Wir gehen Situationen durch, in denen er als Angreifer von vorn auf mich zukommt, mich an den Haaren packt, mich würgt, mich schlägt, mich zu Boden wirft und mich zu vergewaltigen droht. Ich stelle fasziniert fest, dass es, auch wenn ich eine Frau bin und einem angreifenden Mann potenziell kräftemäßig unterlegen, durchaus Möglichkeiten gibt, sich aus einer vermeintlich ausweglosen Lage zu befreien.
Oliver steht vor mir, deutet an, mich zu würgen, und fragt: »Was würdest du jetzt machen?«
»Äh, hmpff, weiß nicht … das?«, stammle ich und fange an, an seinen Händen zu zerren, um seinen Griff um meinen Hals zu lösen.
Oliver lacht. »Das machen die meisten. Das wird dir aber nicht helfen. Der Angreifer ist wahrscheinlich stärker als du, und du hast nur ein paar Sekunden, bis dir schwarz vor Augen wird, weil deine Arterien abgedrückt werden. Du wirst schnell bewusstlos werden. Also, was machst du?«
»Ich weiß es nicht.« Es nervt, es ist mir zu nah, zu krass, zu beklemmend.
Oliver löst seinen Griff und fordert mich auf, ihn zu würgen. Als meine Hände an seinem Hals liegen, hebt er einen seiner Arme senkrecht nach oben, mit der anderen Hand greift er meinen Arm und dreht sich aus der Umklammerung. Dann deutet er einen Ellenbogenschlag an, während er mich mit der anderen Hand weiter festhält.
WHAT?? Wie ging das?
»Siehst du, reine Physik. Keine Kraft. Durch die Drehung meines Körpers ist es dir unmöglich, mich weiter zu würgen, egal wie viel stärker du bist als ich. Wichtig dabei ist: eine schnelle, entschiedene Reaktion und so lange weitermachen, bis du genug Platz zwischen dich und den Angreifer gebracht hast, um wegzurennen. Im besten Fall hast du ihn zu Boden gebracht. Sonst wirst du es nicht schaffen wegzukommen, da er wahrscheinlich schneller ist als du. Verstanden?«
Ich nicke. Und merke, wie schwer es mir fällt, jemanden zu schlagen, jemanden körperlich anzugehen, gerade als Frau. Wie schnell ich erstarre, wenn Oliver aggressiv auf mich zukommt. Ich merke, wie ich immer noch irgendwie versuche höflich zu sein, dem anderen nicht wehzutun. All das hindert mich, wie auch andere Frauen, mich schnell und entschieden zu verteidigen. Ich begreife, wie sehr uns körperlich unterlegenen Frauen die Überwindung des Schockmoments hilft, um den Angreifer mit unserem Verteidigungswillen zu überraschen.
Oliver erklärt mir, dass das schon mit Lautstärke anfängt. Werden wir laut bei einem Angriff, werden wir den Angreifer eventuell allein schon dadurch verschrecken. Ich komme mir rasend bescheuert vor, in dieser Halle mit Oliver rumzubrüllen. Muss es aber tun.
Nach den Stunden in dieser dunklen Halle setze ich mich wieder in mein Auto und höre auf dem Weg nach Hause kitschigen Deutschpop. Tim Bendzko singt etwas von Gefühlen, Verletzungen und Vermissen, mit zarter, unschuldiger Stimme. Das balsamiert meine Seele nach dieser permanenten Amoklage. Während ich über die Stadtautobahn fahre, kaum die Kraft habe, den Blinker zu setzen, denke ich darüber nach, was ich den Kindern nachher erzähle, wenn ich sie von Schule und Kita abhole.
»Und, wie war’s in der Schule?«
»Laaaaangweilig. Und was hast du gemacht, Mama?«
»Ich wurde gewürgt und angebrüllt, habe getreten, geschrien und um ein Messer gerauft.«
»---«
»Zum Mittag gibt’s Pfannkuchen. Falls ich die Pfanne heben kann.«
Die nächsten Wochen werden ein ständiges Wiegen, ich messe meinen Fettanteil und die Muskelmasse im Akkord. Es ist unglaublich schwer abzunehmen, ohne Muskelmasse zu verlieren. Ein ungewohntes Leben mit Ernährungskonzept und strengem Trainingsplan, exakt aufeinander abgestimmt und geduldig kontrolliert durch Oliver, dem ich alle meine Nahrungsmittel in eine App eintrage. Meine erste Diät. Gewöhnungsbedürftig und relativ spaßbefreit: die gläserne Lisa.
Nach ein paar Wochen gehe ich das erste Mal zu einer Krav-Maga-Gruppenstunde. Bisher habe ich nur Einzeltraining mit Oliver gehabt, da ich Angst hatte, in der Gruppe nicht zu bestehen. Das lässt Oliver nicht länger gelten. Ich soll raus in die Welt. In die kleine Welt der Gruppenstunde. Halleluja.
Wir werden immer wieder in den fünften Stock gejagt. Rennen auf Zeit. Wer ist am schnellsten oben und dann wieder unten. Jede Trainingsstunde werden die Zeiten aufgeschrieben. Man sieht, wie schnell die anderen sind im Vergleich zu einem selbst, und ob man sich verbessert.
Wir üben in Vollmontur mit Helm und Brustpanzer Angriffe mit dem Messer, mit der Pistole, mit dem Schlagstock. Oliver macht hartes Konditionstraining und setzt uns Stresssituationen aus. Zum Beispiel, indem er, sobald wir vom fünften Stock unten wieder in die Halle kommen und denken »Das war’s!«, andere Schüler hinter die Tür stellt und sie uns angreifen lässt. Wir sollen unsere Reflexe verbessern, da ein Angriff oft aus dem Nichts kommt. Wir sollen unsere Wehrhaftigkeit trainieren, auch wenn wir konditionell am Ende sind.
Aufgeben ist im Krav Maga keine Option. Um einen Angriff erfolgreich zu kontern, brauche ich drei Dinge: Speed, Surprise, Action.
Das heißt, wenn du in einer gefährlichen Situation bist, reagiere so schnell es geht. Wenn du kannst, renn weg. Sonst kämpfe! Mit allem, was du hast.
Das ist Krav Maga.
Meine Beine sind grün und blau, meine Arme schmerzen. Ich schlurfe erschöpft zu Massageterminen, um meinen geschundenen Körper zu pflegen. Ich bin fix und fertig, aber gleichzeitig euphorisch. Wenn meine Kinder meine blauen Beine sehen, reagieren sie anfangs entsetzt, nach ein paar Wochen zucken sie nur noch mit den Schultern und fragen: »Hast du dich wieder geprügelt, Mama?«
Ich lerne über einen Punkt hinauszugehen, bei dem ich sonst aufgehört habe, mich zu quälen. Fasziniert beobachte ich mich selbst und werde mein eigenes Versuchsobjekt, denn:
Mit der Zeit verändert sich mein Körper. Ich habe plötzlich einen recht ordentlichen Bizeps und entwickle auch andere Muskeln, von denen ich vorher nicht mal wusste, dass es sie gibt. Langsam baut sich meine Kondition auf, und ich entdecke einen unbändigen Willen in mir, besser zu werden. Ich WILL das lernen.
Wenn ich wimmernd auf dem Boden liege vor Erschöpfung, beschimpft mich Oliver als Memme. Tritt mich. Sagt, ich solle wieder aufstehen.
An diesem Punkt des Buches haben meine Lektorinnen eingegriffen und die Textpassage mit »Ooooookay. Sollten wir das nicht abschwächen? Du wirkst ein wenig masochistisch« kommentiert.
Ich verstehe den Einwand. Ich verstehe, dass man das als befremdlich empfinden kann. Das tat ich übrigens selbst. Ich erinnere mich heute mit Faszination an diese intensive Zeit der Vorbereitung. Ich war mir nicht wirklich darüber bewusst, dass ich genauso manisch anfing, mich auf meine Figur Maria und den Film vorzubereiten, wie es Maria im Film macht, um ihrem Peiniger gegenüberzutreten. Aber ich war im Begriff, eine Frau zu spielen, die über ihre Grenzen geht, physisch wie psychisch. Und daran letztendlich zugrunde geht. Ich denke, zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, wie sich das anfühlt, seine eigenen Grenzen zu vergessen, das machte für mich den Reiz aus.
Wie ist das, sich und seinen eigenen Körper bis an die Erschöpfung zu bringen und darüber hinaus? Wie ist es, sich einer Sache mit Haut und Haaren zu widmen und nicht nachzulassen? Indem ICH es spüre, kann ich es im Spiel meiner Figur schenken.
Und es gibt eine Tatsache, die schlicht und ergreifend ist: Olivers paramilitärisches Training hilft. So absurd es ist. Ich stehe immer wieder auf. Stelle belustigt fest, dass mich Beschimpfungen augenscheinlich zu Höchstleistungen bringen und blicke immer wieder zu den Kotzbechern: Ihr kriegt mich nicht.
Gefühlt verbringe ich diese drei Monate entweder im Ring bei meinem Kickboxtrainer, in der Krav-Maga-Halle bei Oliver oder in der Badewanne, weil ich nicht weiß, wohin mit mir und meiner Erschöpfung.
Ein paar Wochen vor Drehbeginn treffen wir uns zu den ersten Stuntproben. Und ich lerne das erste Mal in meinem Leben, wie man eine Kampfszene wirklich gut vorbereitet.
Stuntcoordinator und Fight-Choreograph Matthias Schendel übt jeden Schlag, jede Drehung, Würgen, alles, mit meinem Kollegen Murathan Muslu und mir wie in einer Tanzchoreographie.
Das werde ich in den nächsten Jahren immer besser lernen und verstehen: Kämpfen ist wie Tanzen. Auch das Kämpfen im Film oder das Sparring im Training. Im besten Falle kommen der Tänzer und die Tänzerin, kommen zwei Kämpferinnen oder Trainingspartner, in einen Flow, und es entsteht für den Moment des Tuns eine Symbiose, die magisch sein kann.
Davon bin ich in diesen ersten Wochen noch weit entfernt, aber in mir wächst in diesen Wochen der Wille heran, zu perfektionieren, was ich hier angefangen habe. Und das, obwohl die Drehs hart sind, anstrengend. Man einstecken lernen muss.
Meine erste Verletzung passiert gleich bei diesem ersten großen Kampf, für den wir wochenlang geprobt hatten.