8,50 €
In Leipzig geboren, führte der Lebensweg des Autors über Bitterfeld, Berlin, Heilbronn, Tübingen und Bielefeld nach Paderborn. Nicht alle Ortswechsel waren freiwillig bzw. eigeninitiativ, doch lassen sie erkennen, dass er weiß, wovon er spricht, wenn er versucht, die Geschehnisse in Deutschland nach 1957 politisch und wirtschaftlich einzuordnen. Studium und Beruf gaben ihm die Möglichkeit, diesen Horizont in besonderer Weise zu erweitern. Es fällt auf, dass besonders seine Begabung, auf Menschen zugehen zu können und diese in der ihnen eigenen Art zu schätzen, dazu beigetragen hat, politische Strömungen, wenn auch nicht immer zu akzeptieren, so doch meist zu verstehen. Geprägt hat ihn sicher die Notwendigkeit, sich schon als Kind in fremder Umwelt zurechtfinden zu müssen sowie die Bereitschaft der Mutter, sich selbstlos der Eingewöhnung und dem Fortkommen des Sohnes zu widmen. Obwohl er im Laufe der Zeit ein, wie er immer formuliert "Beuteschwabe" geworden ist, brach er doch nach dem Studium aus und verließ die Wahlheimat Heilbronn. Jenseits der Mainlinie, für viele Schwaben damals unvorstellbar, fand er eine neue Heimat. Liebe und Beruf machten ihn erneut sesshaft. So kam es, dass ihn mit der Zwischenstation Bielefeld der Lebensweg von Bitterfeld hinaus in die Welt führte - jeweils nicht dauerhaft, aber intensiv genug, um zu lernen, fremde Kulturen zu bewerten und einzuordnen. Vielfach war er als "Pionier" tätig... Eine empfehlenswerte, ebenso informative wie unterhaltsam geschriebene und gleichermaßen besondere Biographie. "Reisen" Sie mit dem Autor durch sein Leben, einen Großteil moderner deutscher wie europäischer Geschichte sowie durch die ganze Welt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 984
Veröffentlichungsjahr: 2015
Der Autor wurde 1943 in Leipzig geboren, ging in Bitterfeld, Berlin und Heilbronn zur Schule, studierte in Tübingen und legte dort 1969 sein Examen als Diplom-Volkswirt ab.
Sein Berufsleben verbrachte er von 1970 bis 2006 bei der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld. Dort leitete er als Geschäftsführer von 1976 bis 1992 die Abteilung „Außenhandel, Verkehr, Innerdeutscher Handel und Messewesen“. Von 1992 bis zu seiner Pensionierung 2006 war er als stellvertretender Hauptgeschäftsführer Leiter der IHK-Zweigstelle Paderborn + Höxter.
Meinen lieben Eltern
Thomas K. Herold
Von Bitterfeld in die Welt
Eine etwas andere Biografie
Impressum:
© 2015 Thomas K. Herold
2. Auflage
Foto Titelseite: Kimura2 / www.pixabay.com
Foto Rückseite: Westfalen Blatt, Bielefeld
Umschlaggestaltung: Angelika Fleckenstein
Lektorat/ Satz/ Layout:
Angelika Fleckenstein, spotsrock.de
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:
978-3-7323-6302-5 (Paperback)
978-3-7323-6303-2 (Hardcover)
978-3-7323-6304-9 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Lehr- und Wanderjahre
Vorrede und Begründung
Was prägt mehr als Familie, …
… die Orte des ersten Erinnerns …
… und letztlich der Opa?
Aber: Auch die Vorfahren „spielen“ mit
Der entscheidende Schritt
Von der Eisenbahn zum Flugzeug
Flüchtling unter Flüchtlingen
Bitterfelder Erinnerungen
Herold, Herold & Co. in Berlin
Auf dem Weg nach Heilbronn
Erste Freunde
Die zweite Heimat
Heilbronn bleibt unvergessen
Liebe(?) und Leid(!)
Plötzlich eine „Schwester“
Hurra, ich kann fahren
Auf dem Weg zur „Reife“
„Kompanie, still gestanden!“
„Droben stehet die Kapelle …“
Der Mond war „aufgegangen“
Schluss mit „lustig“!
Rückblick und Ausblick
Vom „Gaffenberg“ nach London
Urlaube im In- und Ausland
Mein „Finanzminister“
Auf zu neuen Ufern
Anekdotisches aus einem Vierteljahrhundert
Bielefeld, meine Zukunft?
Aller Anfang ist schwer
Start in das Berufsleben
Vier Jahrzehnte Berufsleben
Die Wende – Deutschland einig Vaterland
Und schließlich Paderborn
Ende gut, alles gut
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“
Liebe, Ehe, Familie
Unsere Wohnungen
„Hotel“ Herold
Meine Wegbegleiter
„Tante“ Else
Tante Grete und Onkel Org
Tante Lia
Tante Hedi
Tante Lotte
Eva und Hans Seuffert
Marta und Hans Backhaus mit Susanne
Mein Deutschlehrer und seine Kollegen
Reisen bildet!
Zum ersten Mal nach Japan
Einmal von Nord nach Süd
Die Hochzeitsreise
Die Toskana
Die oberitalienischen Seen
Amrum – unser „Geheimnis“
London, Paris, Brüssel, Berlin
Mit Christian in Hongkong und Dubai
Japan und immer wieder Japan
Und immer wieder kreuz und quer durch Deutschland
Und von Anfang an immer wieder auch Kultur
Zu schön, um wahr zu sein
Für und mit Unternehmern unterwegs
Japan – 1977
Japan, Taiwan, Hongkong – 1978
Japan, Hongkong, Thailand, Indien – 1979
Polen – 1980
Volksrepublik (VR) China, Hongkong – 1981
Bulgarien, Tschechoslowakei, Ungarn – 1982
Kanada – 1982
Die arabische Halbinsel – 1983
Vorbereitung, Durchführung und Ergebnisse dieses damals außergewöhnlichen Projektes
Australien; around the world in 30 days – 1984
ASEAN-Staaten – 1986
Brasilien, Argentinien und Paraguay – 1987
Hongkong, Taiwan, Süd-Korea – 1987
USA – 1988
Zwischenbemerkung I
„DDR“, Litauen, Lettland, UdSSR – 1989
Saudi-Arabien – 1989
Zwischenbemerkung II
USA/Chicago, Washington, New York – 1991/1992
Namibia, Südafrika, Simbabwe – 1991
Oman/VAE/Bahrain/Kuwait – 1993
Russland – Nowgorod, St. Petersburg – 1992/1993/1999
Mit der Stadt Paderborn und deren Universität in die VR China – 2004/2006
Europa - nur ein (gescheiterter) Versuch?
Und nun?
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist also bald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Johann Wolfgang von Goethe
„Daimon“ aus „Urworte orphisch“
Einleitung
„Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer.“
(Friedrich Nietzsche)
Warum schreibe ich eigentlich dieses Buch? Darüber nachgedacht habe ich schon lange. Nicht zuletzt hierzu angeregt durch meine liebe Frau Anne, die immer der Meinung war, dass ich zumindest die Reiseerfahrungen, die ich während meiner Berufszeit von Bielefeld aus gesammelt hatte, festhalten sollte. Damit hatte sie schon Recht. Seit ich beruflich von Bielefeld nach Paderborn gewechselt war, hatte sich mein dienstlicher Horizont verändert. Nicht mehr Tokio, Johannisburg, Sao Paulo, Chicago oder auch Peking standen in meinem Focus, sondern eher Lichtenau, Salzkotten und Delbrück oder auch Höxter und Borgentreich. Dies ist keine Wertung, sondern eine Darstellung der damaligen Fakten. Damit verbunden war sicher auch ein gewisses Verblassen der ehemaligen Eindrücke, was letztlich zu der alten Weisheit führte: „Wer schreibt, bleibt!“. Aber diese Begründung reichte immer noch nicht.
Als aber im September 2004 mein Vater in seinem 92. Lebensjahr verstarb und damit endgültig kein Familienmitglied der Herold-Linie aus seiner Generation mehr lebte, das eventuelle Fragen nach „früher“ hätte beantworten können, wurde ich nachdenklich! Dieser Zustand verstärkte sich, als ich in alten Fotoalben Menschen entdeckte, deren Beziehungen zu meinen Eltern mir von diesen wiederholt in früheren Jahren erläutert worden waren, jedoch bei mir lediglich nach dem bekannten Prinzip registriert worden waren: In das eine Ohr hinein, aus dem anderen heraus. Da ich sicher nicht ohne Grund vermute, dass es mit den eigenen zwei Kindern – beides natürlich Prachtexemplare – nicht anders werden würde, war ein weiterer Grund gegeben, Vergangenes zu dokumentieren.
Nicht zu vergessen ist, dass noch eine Besonderheit in meiner Familie existiert, nämlich die Tatsache jüdischer Verwandter. Dieses Faktum allein wäre schon berichtenswert, aber für mich zählt in besonderem Maße, dass mein jüdischer Onkel Georg, genannt „Org“, mich sehr stark geprägt hat und ohne Wenn und Aber mein Lieblingsonkel war. Er und seine Frau, Tante Grete, eine ältere Schwester meines Vaters waren für mich die auserkorenen „Lieblinge“ der Familie. Natürlich haben mich die Begebenheiten und die Ereignisse während des Dritten Reiches nicht zuletzt deshalb stark berührt und in meiner Grundhaltung beeinflusst. Auch ein Geschichtslehrer in der Oberstufe des Gymnasiums war in dieser Zeit ein starker Bezugspunkt für mich. Später werde ich auf all diese Menschen zurückkommen. Eines sei schon an dieser Stelle gesagt: Ich fühle mich ganz sicher nicht verantwortlich oder gar schuldig für das, was in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 geschehen ist, aber ich schäme mich abgrundtief, dass derartige Gräueltaten im Namen des Volkes verrichtet werden konnten, dem ich doch so gern angehöre!
Außerdem habe ich Verwandte in England und in Japan. England ist vor dem Hintergrund der jüdischen Verwandtschaft und deren Schicksal im Deutschland der 30er und 40er Jahre nicht verwunderlich, aber Japan ist schon etwas ungewöhnlicher. Wie es dazu kam, auch darauf werde ich noch ausführlich zurückkommen.
Wenn man bedenkt, welche Tendenzen in der deutschen Bevölkerung der Gegenwart erkennbar werden, wenn es um die Bewältigung des aktuellen Flüchtlingsproblems geht, kommen Erinnerungen an Deutschlands dunkelste Zeiten wieder hoch. Möge hier eine kluge und vorausschauende Politik Schlimmeres verhindern!
Einer anderen Spur will ich aber auch noch folgen bzw. eine andere Frage will ich versuchen zu beantworten, wenn ich diese Zeilen schreibe: Warum reise ich so gern? Warum interessieren mich ferne Länder und fremde Kulturen so sehr und warum weckt eine starke Dampflokomotive, z.B. eine „01“ noch heute in mir geradezu ein kindliches Fernweh? Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass unter den deutschen Volksstämmen die Berliner, die Sachsen und die Schwaben die aufgeschlossensten seien, d.h. die mit der größten Neugier nach Neuem, nach Fremdem; in Sachsen bin ich geboren, in Berlin zur Schule gegangen und letztlich in Heilbronn als „Beuteschwabe“ groß geworden. Ob das etwas zu bedeuten hat? Die Spurensuche wird es zeigen!
Lehr- und Wanderjahre
„Die Jahre fliegen pfeilgeschwind“
(Friedrich von Schiller)
Vorrede und Begründung
„In Xian bin ich noch nicht gewesen!“, murmelte ich, als ich, eine Zeitschrift lesend, beim Friseur saß und darauf wartete, dass ich endlich an der Reihe war. „Wo ist das denn“, fragt mich der kleine Steppke, der neben mir saß, neugierig. Da er ehrlich interessiert zu sein schien, erzählte ich ihm etwas von China und der Jahrtausende alten tönernen Armee, die in Xian ausgegraben worden war. Er ist vielleicht so acht oder neun Jahre alt, hört nachdenklich zu und berichtet mir dann, dass er selbst auch „alte“ Soldaten in einem Fort von Playmobil habe!
Er erinnert mich spontan an die Tage, als ich selbst so alt war. Auch ich war damals sehr neugierig und hatte, wohl noch von meinem Vater, Zinnsoldaten. Mein eigentliches Interesse ging in jener Zeit jedoch, soweit ich mich erinnern kann, in eine ganz andere Richtung: Gegenstand meiner Neugierde war alles, was Räder hatte. Da es jedoch damals, zumal in der „DDR“, kaum Autos gab und in der Kleinstadt Bitterfeld, in der ich mit meinen Eltern wohnte, auch keine Busse fuhren, richtete sich dieses Interesse zwangsläufig auf die Eisenbahn. Warum aber Räder, warum Eisenbahn?
Was prägt mehr als Familie, …
Dieses Interesse hatte mehrere Gründe. Mein Vater war das fünfte und jüngste Kind der Pächter der Bitterfelder Bahnhofswirtschaft. Beide Großeltern habe ich nicht mehr – bewusst – erlebt; mein Großvater väterlicherseits starb bereits 1920, als mein Vater selbst noch nicht einmal sieben Jahre alt war. Von ihm wurde berichtet, dass er immer gern verreist sei. Wie mir die älteren Geschwister meines Vaters erzählt haben, war er gelernter Kellner und hat als Chefkellner in mehreren internationalen Hotels gearbeitet, bevor er sich mit meiner Großmutter selbstständig machte. Ich weiß nichts von seinen Sehnsüchten und Zielen, aber die Tatsache seiner Reiselust und die Bereitschaft für den Beruf auch den Wohnort zu wechseln, ist an sich in gewisser Weise schon bemerkenswert. Seine Frau, meine Großmutter, war gelernte Köchin und hat dieses „Handwerk“ offenbar hervorragend beherrscht. Sie starb 1946 kurz bevor ich drei Jahre alt wurde. Auch an diese, entsprechend allen Erzählungen sehr tüchtige Frau, habe ich somit natürlich keine Erinnerung. Manchmal denke ich, dass ich noch weiß, wie ich kurz vor ihrem Tod an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten habe; fast habe ich das Bild vor mir. Sicherlich beruht dieses „Bild“ aber eher auf Erzählungen der Erwachsenen, denn auf meiner eigenen kindlichen Erinnerung.
Ein älterer Bruder meines Vaters hatte dann 1945, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, den Betrieb der Bahnhofswirtschaft Bitterfeld von meiner Großmutter übernommen und damit blieb natürlich der Bahnhof und mit ihm die Eisenbahn im Focus der Familie, zumal in dem von uns Kindern. Für meine drei Vettern, die ja mit ihren Eltern im Bahnhofsgebäude lebten und für mich war der Bahnhof, waren die Bahnsteige mit den Zügen und vor allem den z. T. aus unserer Kindersicht riesigen Dampflokomotiven so eine Art Spielplatz. Hier kamen Züge aus Leipzig und aus Berlin, aus Halle an der Saale und aus Magdeburg an und fuhren zu Orten, an die ich mich nicht mehr erinnere und deren Namen mir damals auch ganz sicher nichts gesagt haben.
… die Orte des ersten Erinnerns …
Bitterfeld war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Bahnstation. Schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts voll elektrifiziert (gleich nach dem Krieg waren die Masten und die Fahrdrähte allerdings abmontiert und in die damalige UdSSR gebracht worden), kreuzten sich hier die Bahnlinien München/ Leipzig/Dessau/Magdeburg und Frankfurt a. Main/Erfurt/Halle a. d. Saale/Berlin. Die riesigen Braunkohlenfunde in der Region Bitterfeld, die darauf folgende Ansiedlung der Chemie-Industrie (IG-Farben in Bitterfeld selbst), einer Filmfabrik (Agfa/Filmfabrik in Wolfen) und die Gründung der AEG durch den Vater des späteren deutschen Außenministers, Walter Rathenau, ebenfalls in Wolfen, lassen erkennen, wie wichtig damals die Bahn mit ihrem Güterverkehr hier gewesen ist. Die Verbindungen mit bzw. zu den erwähnten großen deutschen Städten machen aber auch die damalige Bedeutung der Bahn für den Personenverkehr deutlich.
Im Mai 1943 kam ich in Leipzig in einer Privatklinik zur Welt. Wenige Tage nach meiner Geburt wurde diese ausgebombt und meine Mutter ging zu ihrer Familie in Leipzig; mein Vater war an der Ostfront. Da meine Großmutter jedoch in Bitterfeld durch Beziehungen eine sehr geräumige Wohnung gefunden und diese auch aus ihren Beständen sehr schön möbliert hatte, zogen wir umgehend nach Bitterfeld. Dort wurde ich dann auch in der evangelischen Stadtkirche getauft, der Kirche, in deren Sakristei – so eine mündliche ungesicherte Überlieferung – der Leichnam von Dr. Martin Luther knapp 400 Jahre vorher aufgebahrt wurde, als man ihn von seinem Sterbeort Eisleben nach Wittenberg überführte und für eine Nacht ein „Domizil“ benötigte.
Noch aus der Zeit, in der in Deutschland Kaiser, Könige und sonstige adlige Herrscher das Sagen hatten, gab es im Bitterfelder Bahnhof, der ja, wie erläutert, ein größerer Umsteigebahnhof war, noch ein „Fürstenzimmer“. Dieses war edel möbliert und irgendwie Ehrfurcht einflößend. Hier hatten die jeweiligen „Potentaten“, so sie mit der Eisenbahn auf Reisen gingen, Station gemacht, wenn sie, was von ihnen sicherlich als Zumutung empfunden wurde, umsteigen mussten. Somit hatte dieses „Fürstenzimmer“ natürlich einen direkten Zugang zum Bahnsteig bzw. zu den Gleisen. Nach dem Ersten Weltkrieg pachteten, wie schon erwähnt, meine Großeltern Herold die Bitterfelder Bahnhofswirtschaft und mit dieser auch das erwähnte Fürstenzimmer. Hier tafelten dann die „Herrscher“ der Bitterfelder Großindustrie und die, die sich im Bitterfelder Großbürgertum zwischen den zwei Weltkriegen etwas Besonderes wähnten. Dass dies alles auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben ist, war toll für uns Kinder. Wir konnten von dieser nun allerdings doch etwas antiquiert wirkenden und kaum noch benutzten Pracht aus den Bahnbetrieb in unmittelbarer Nähe beobachten und erleben. Sicher nicht ganz ungefährlich, denn wenn uns mein Onkel draußen bei den Gleisen erwischte, hat es so manche Ohrfeige gegeben. Trotzdem, die Faszination, das Besondere blieb. Insbesondere für mich war dies eine Faszination, die mein Interesse für die Menschen und die Industrie, in der diese arbeiteten, aber eben auch und vor allem für die Eisenbahn weckte.
Aber auch der andere Familienzweig wirkte auf meine Bewusstseinsbildung ein, wenn auch sicher nicht so direkt erkennbar. Der Vater meiner Mutter war der einzige Großelternteil, den ich bewusst erlebt und damit natürlich auch über alles geliebt habe. Ende der 1940er Jahre war er, geb. 1875, schon ein älterer Herr; mit „Kaiser-Wilhelm-Bart“, notabene. Er lebte in Leipzig, wo ich ja, wie gesagt, selbst auch geboren bin und besuchte uns – soweit ich mich erinnern kann – eigentlich recht regelmäßig in Bitterfeld; natürlich mit der Eisenbahn vom Leipziger Hauptbahnhof aus. Deshalb fuhren wir, meine Mutter und ich, die wir ihn natürlich vom Bahnhof abgeholt hatten, mit der Taxe, oder wie man damals dort sagte, der „Droschke“, der einzigen übrigens in Bitterfeld, zu uns nach Hause. Ich erinnere mich gut daran, dass er, der kaum noch Haupthaar hatte und deshalb immer am Kopf fror, oft mit Hut, - seiner „Erbse“ – bei uns in der Küche saß und sich mit „Oma“ Gassner unterhielt. Diese alte Dame war mit ihrer Nichte als Vertriebene 1946 bei uns als Untermieterin einquartiert worden. Sie wurde mir eine richtige Oma und ihre Nichte eine „Tante“. Beide kamen aus Hermannstadt in Siebenbürgen (Rumänien); sie wurden uns ganz liebe Mitbewohner. Mitte Februar erhielten wir in Berlin von dieser „Tante Gassner“ einen Brief. Dieser begann mit den Worten: „Meine liebe Frau Herold, mein lieber Herr Herold, mein liebes Thomaschen!“ Sie fährt dann später fort: „7 Jahre haben uns manches Schöne und Schwere zusammen erleben lassen, mir von der ersten Stunde an, das Gefühl einer herzlichen Aufnahme in Ihren Haushalt und Ihre Familie zuteilwerden lassen. Von ganzem Herzen möchte ich Ihnen für all das und alles, was sich gar nicht in Worten ausdrücken lässt, danken. Möge Ihnen alles das jetzt Segen bringen!“ Ein Dokument, das mich ein Stück weit stolz auf meine Eltern macht, dessen Inhalt aber sicher auch auf Gegenseitigkeit beruhte! Da beide ihr Zimmer neben meinem hatten, haben wir uns abends, wenn ich ins Bett musste, per Klopfzeichen immer eine „gute Nacht“ gewünscht.
… und letztlich der Opa?
Dieser Opa, dessen Frage bei seinem Eintreffen immer war: „Lebt denn die alte „Kasstner“ noch?“ – hatte eine ganz eigene Vita hinter sich. Er war gelernter Bäckermeister, konnte aber diesen Beruf nicht ausüben, da ihm die Hitze in der Backstube gesundheitlich zu schaffen machte. Also sattelte er um. Neuer Beruf: Eisenbahner! Den hat er dann bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1940 ausgeübt, zuletzt als Lademeister der Deutschen Reichsbahn am Bayerischen Bahnhof in Leipzig; und diese Jahre haben ihn geprägt! So erzählte er mir dann immer, wenn ich morgens zu ihm ins Bett „krabbeln“ durfte, von den langen Güterzügen, den Rangier- und Ladearbeiten und natürlich von seiner eigenen Wichtigkeit im Rahmen dieser Arbeiten. Und er erklärte mir, wie die einzelnen Güterwagen bezeichnet werden: Der „Rungenwagen“ ist mir hier besonders in Erinnerung geblieben!
Aber noch etwas, das ich allerdings erst sehr viel später erfahren habe, machte seine Vita aus: Er war, im Rahmen der damaligen Möglichkeiten, „reiselustig“! 1897 wurde das deutsche Kaiserreich sogenannte Schutzmacht der in China gelegenen Provinz Kiautschou mit Tsingtao als Hauptstadt, dem heutigen Qingdao in der VR China. Bereits 1860 war die preußische Expeditionsflotte in die Kiautschou-Bucht eingelaufen. Schon ein Jahr später wurde ein preußisch-chinesischer Handelsvertrag unterzeichnet. Ferdinand Freiherr von Richthofen und der kaiserliche Admiral von Tirpitz, Chef des ostasiatischen Geschwaders, erkundeten die Region und empfahlen diese Bucht als möglichen Flottenstützpunkt. Die Ermordung zweier deutscher Missionare gab der kaiserlichen Flotte den Vorwand, die Bucht anzugreifen und dann kampflos zu besetzen. 1898 pachtete das deutsche Kaiserreich die Bucht auf 99 Jahre von der chinesischen Regierung. Nicht zuletzt aus Gründen der Flottenpropaganda legte das Kaiserreich großen Wert auf die wirtschaftliche und später auch kulturelle Entwicklung dieser Region. Als Ergebnis hatte Tsingtao schon bald 200.000 Einwohner, einen Naturhafen, Trinkwasseranlagen, die berühmte Brauerei (Tsingtao-Bier, gebraut nach deutschem Reinheitsgebot), seit 1909 eine Universität und war an das Telegrafen- und Eisenbahnnetz angeschlossen. So war die Kiautschou-Bucht aus Deutschland ab 1904, nach Fertigstellung der Bahnlinie Tsingtao (Qingdao) – Tsinan (Jinan), über die Transsibirische Eisenbahn und deren Abzweig nach Peking direkt auf der Schiene zu erreichen. Deutschland suchte denn auch schon bald sogenannte „Freiwillige“, die – ausgebildet als Handwerker – nach Tsingtao gehen wollten. Mein Großvater, als junger Mann Soldat im kaiserlichen Heer, meldete sich für dieses Abenteuer. Er hatte in Magdeburg als Trommler in einem Musikcorps gedient und hätte als gelernter Bäcker wohl gute Chancen gehabt, genommen zu werden. Aber seine Eltern – damals galt ein solches Wort offenbar noch mehr als heute – ließen das nicht zu, und so blieb er der Heimat erhalten. Die Kolonie selbst ging nach einem mit Hilfe der Briten ausgeführten Angriff der Japaner bereits 1914 an Japan verloren. Die deutsche Bevölkerung, Soldaten, aber auch die Zivilisten gingen in japanische Gefangenschaft. Das Gebiet blieb bis 1922 unter japanischer Verwaltung. Bier wurde nach deutschem Reinheitsgebot weiter gebraut, was auch heute, 2013 immer noch der Fall ist – jetzt in der Verantwortung der VR China. Da ich die Produktion in den Jahren 2004 und 2006 vor Ort kennen gelernt habe, kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es vorzüglich schmeckt! Viele deutsche Handwerker, die noch heute in Japan gutes Geld verdienen und hoch geachtet sind, haben ihre Wurzeln in jener Zeit, in der ihre Vorfahren in japanischer Kriegsgefangenschaft nach Japan kamen.
Die Reiseziele meines Großvaters wurden nach dieser elterlichen Intervention bescheidener! 1940 sollte die Sommer-Olympiade in Tokio stattfinden. Da seine Tochter Hedi bereits seit 1928 in Japan lebte, beabsichtigte er, sie aus diesem Anlass zu besuchen. Als 1939 jedoch der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden diese olympischen Spiele abgesagt; im klassischen Griechenland der Antike mussten während einer Olympiade die Waffen schweigen, in der Neuzeit ist dies leider genau umgekehrt! Somit war abermals ein Anlauf dieses trefflichen Mannes, in die große weite Welt zu reisen, gescheitert. Als der Krieg 1945 dann endlich mit all seinen schrecklichen Folgen zu Ende ging, war an Reisen erst einmal nicht mehr zu denken; auch wussten er und der Rest der Familie ja nicht, wo der japanische Teil der Familie nach all den Kriegswirren geblieben war! Ab 1947 wurde dann Berlin, wo seine älteste Tochter mit ihrer Familie lebte, eines der Reiseziele. Aber es gab natürlich so manche Anlässe, die ihn auch in das näher gelegene Bitterfeld und damit zu uns „trieben“. Der Opa war hier immer ein gern gesehener „Gast“!
So war es damals z.B. üblich – und in der „DDR“ war das noch bis zu deren Ende, also bis 1990 so – dass Kohle, die man bestellt hatte (schlechte Braunkohle und Braunkohlenbriketts), wenn man sie überhaupt bekam, in der Regel einfach vor die Haustür gekippt wurde. Opa kam dann, schleppte die Kohle in den Keller und hat die Briketts geschichtet. Dabei habe ich ihm natürlich „geholfen“!
Noch schöner war es allerdings, wenn er etwa vier Wochen vor Weihnachten kam, um Weihnachtsstollen zu backen; schließlich war er ja gelernter Bäckermeister! Mein Vater, der beruflich viel in Westberlin zu tun hatte, brachte die notwendigsten Zutaten wie z.B. Rosinen, Mandeln, oft auch Butter und Mehl, vor allem aber auch Hefe mit, denn all das gab es in der „DDR“ nicht oder nur inoffiziell, d h. „unter der Hand“. Dann ging Opa ans Werk: In der Küche wurde der Herd ordentlich eingeheizt, damit über Nacht all diese Zutaten schön durchgewärmt waren. Am nächsten Tag ging es mit dem Herstellen der Christstollen los, und das Ergebnis brachten wir dann zum Bäcker Kauert, der, nicht weit von uns entfernt, die Stollen für uns gebacken hat.
Manchmal kam Opa aber auch nur, um uns mal wieder zu sehen. Das war für mich am schönsten, da ich ihn dann so richtig „für mich“ hatte, und ihn über alles, was mit der Eisenbahn zusammenhing, ausquetschen konnte.
So wird es niemanden wundern, dass ich mir nichts sehnlicher als eine Spielzeugeisenbahn wünschte. Die Mutter des besten Schulfreundes meines Vaters, („Tante“) Martha Balthasar, schenkte mir eine solche zum Geburtstag; sie hatte einmal einem ihrer Söhne, die beide im Krieg gefallen sind, gehört. Zu welchem Geburtstag weiß ich nicht mehr. Aber es war eine große Holzeisenbahn mit Lokomotive und vier Wagen, darunter (natürlich) auch ein Rungenwagen! Später, 1950 oder 1951 erhielt ich dann zu Weihnachten eine elektrische Eisenbahn von meinen Eltern; ohne Lokomotive, da es die damals in der „DDR“ nicht gab. Das Attribut „elektrisch“ war also eher theoretischer Natur!
Aber: Auch die Vorfahren „spielen“ mit
Denkt man über die Generation der Großeltern und deren Einfluss auf einen selbst nach, dann ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Neugier darauf, wer denn da vorher noch so alles gewesen sein mag. Was ich weiß, will ich deshalb hier in der gebotenen Kürze niederschreiben:
Die Vorfahren Herold
Mein Großvater väterlicherseits, Otto Paul Herold, wurde am 21. Mai 1867 in Unterteutschenthal bei Halle/Saale als Sohn von Franz Christian Herold (dort Hofmeister) und Dorothea Christiane, geb. Weiße, geboren und evangelisch getauft. Dieser Franz (Friedrich?) Christian Herold wurde seinerseits am 24. Dezember 1830 zu Lüttchendorf als Sohn des Tobias Herhold (dort Handarbeiter) und der Dorothea Henriette, geb. Kunze, geboren und ebenfalls evangelisch getauft. Die Mutter meines Großvaters, Marie (?) Dorothea Weiße, ihrerseits wurde am 19. März 1836 in Hedersleben als Tochter des Johann Gottfried Weiße (Handarbeiter) und dessen Frau, Marie Dorothee, geb. Heyden, geboren und natürlich auch evangelisch getauft. Ich kann also die männliche Linie Herold bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen und stelle dabei fest, dass der Name ursprünglich ganz offenbar Herhold geschrieben wurde und das mittlere „h“ auf dem Weg ins 20. Jahrhundert verloren gegangen ist. Soviel erst einmal zu den Her(h)olds, es sei denn der Chronist jener Jahre hat einen Schreibfehler begangen.
Meine Großmutter väterlicherseits, Emilie Marie, war eine geb. Schumann. Aus den alten Registern ist die Schreibweise ihres Mädchennamens so zu entnehmen, ob sie richtig ist, weiß ich nicht. Geboren wurde sie am 6. August 1875 in Mochenwangen/Oberschwaben als Tochter von Ernst Friedrich Theodor Schumann (Großmaschinenführer, Werksleiter), seinerseits geboren am 5. Dezember 1844 in Somsdorf, über Tharandt und dort römisch-katholisch getauft. Ihre Mutter, dessen Frau, war Pauline Maier, geb. am 27. August 1851 in Rottenburg und dort ebenfalls römisch-katholisch getauft. Der Vater des Theodor Schumann (er war dessen sechstes Kind!) war Christian Gottlob Schumann, Häusler und Stuhlmachermeister in Somsdorf. Seine Mutter war Johanna Christiana, geb. Zimmer aus Dorfhain. Somit sind meine vier Vorfahren väterlicherseits bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dokumentiert, auch wenn mir nicht immer die konkreten Jahreszahlen bekannt sind.
Die Vorfahren Wekel
Einige der Vorfahren lassen sich bis 1803 zurückverfolgen und auch belegen. Ein Ururgroßvater von mir, der Arbeitsmann Henning (?) Wekel wurde am 12. Dezember 1805 geboren und verstarb am 15. September 1888, also im sog. „Drei-Kaiser-Jahr“. Eine Ururgroßmutter aus der anderen Linie, Dorothee Johanna Lange, erblickte bereits 1803 das Licht der Welt. Wann sie verstorben ist, ist unbekannt. Immerhin ist damit belegt, dass identifizierte Vorfahren zu Zeiten des großen Umbruchs in Europa, also in der napoleonischen Zeit, gelebt haben. Ob sie an den Kriegen, die Napoleon geführt hat, beteiligt waren, und vor allem auf welcher Seite, ist ebenfalls unbekannt.
Mein Großvater mütterlicherseits, Hermann Wekel, wurde am 9. Januar 1875 in Giersleben als fünftes Kind der Dorothea Christiane, geb. Binnemann und des Bäckermeisters Wilhelm Wekel, seines Zeichens Pächter des Gemeindebackhauses, geboren und verstarb am 10. April 1953 in Leipzig. Er hatte zwei Brüder, Karl und Friedrich, sowie zwei Schwestern, Dorothee und Johanna. Seine Frau war Hedwig, geb. Lange, geboren am 14. Februar 1877 in Ermsleben. Sie hatte drei Geschwister: Anna, Karl (meine Mutter: „Küsschenkarli“) und Paul, deren nähere Daten ich ebenfalls nicht kenne. Der Vater dieser vier Kinder, August Lange hatte eine Ziegelei in Ermsleben. Er verstarb schon früh; seine Frau heiratete erneut und zwar einen Kurverwalter aus Bad Nauheim. Mehr ist leider nicht bekannt.
Und natürlich die Eltern
Meine Mutter wurde am 29. Juni 1916 in Leipzig geboren. Sie war das letzte von fünf Kindern – ein Fünf-Mädel-Haus! Von ihren vier Geschwistern werde ich in anderem Zusammenhang berichten. Sie ging zur Volksschule und dann zur einjährigen Handelsschule. Anschließend machte sie eine Lehre als Verkäuferin und war zuletzt bis zu meiner Geburt im Mai 1943 als Leiterin der Kinderabteilung in einem führenden Leipziger Damen- und Herrenmode- und Wäschegeschäft tätig. Hier lernte sie auch meinen Vater kennen. Verstorben ist meine Mutter am 8. Mai 1990 in Bielefeld.
Mein Vater hatte, geboren am 26. April 1913 in Zörbig – also noch in Friedenszeiten – nach seiner Schulzeit in Bitterfeld die Handelshochschule in Leipzig besucht. Er absolvierte, worüber noch zu berichten sein wird, in Heilbronn ein Praktikum bei einem in den 30er Jahren dort führenden Herrenausstatter; dies sollte die Vorbereitung für die Eröffnung eines eigenen Textileinzelhandelsgeschäftes sein, das ihm meine Großmutter als Erbe eröffnen wollte. Die Arbeit in Leipzig sollte diese Vorbereitung auf die Selbstständigkeit abrunden. Verstorben ist mein Vater am 17. September 2004 in Paderborn.
Geheiratet haben meine Eltern im August 1942. Keines meiner beiden Elternteile hat nach dem Krieg im erlernten Beruf gearbeitet. Meine Mutter hat dies sehr lange noch bedauert, sah ihre Hauptaufgabe, nachdem wir in Heilbronn angekommen waren, jedoch darin, mir bei der Integration in diese „fremde“ Welt zu helfen, also so weit möglich, immer für mich da zu sein. Als dies gelungen war, hatte sie den Anschluss in Ihrem Beruf verloren. Wenn ich es mir heute, auch vor dem aktuellen Hintergrund der „modernen“ Familienpolitik so richtig überlege, muss ich ihr wirklich für diese Einstellung sehr dankbar sein. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wäre ich in dieser schwierigen Zeit vollkommen auf mich alleine gestellt gewesen. Auch finanziell war diese Entscheidung sicher ein großes Opfer, mussten meine Eltern doch damals für mich auf dem Gymnasium Schulgeld bezahlen, und die Schulbücher waren bestimmt auch nicht billig! Das Gehalt, das mein Vater bekam, war sehr bescheiden, aber irgendwie ging es. Er war ein tüchtiger Mann, der die Dinge, die er vor dem Krieg in seiner Ausbildung gelernt hatte – nicht zuletzt die Sprachen – in seiner Tätigkeit als kaufmännischer Mitarbeiter und später als Exportleiter seines Arbeitgebers gewinnbringend anwenden konnte.
Geschwister habe ich nicht. Diese Tatsache habe ich immer sehr bedauert, bekam ich doch in Heilbronn Kontakt zu Familien, die teils recht kinderreich waren. Ich weiß, dass auch meine Mutter gern noch ein oder zwei weitere Kinder gehabt hätte. Dass ich im Krieg, und zwar zu Beginn seiner schlimmsten Phase zur Welt kam, ist ganz sicher der Liebe meiner Eltern zueinander geschuldet. Dass ich der einzige Sprössling meiner Eltern blieb, dagegen wohl eher der Ratio und der Disziplin meines Vaters. Seine Sorge war, dass die Familie dann schlicht und einfach in der „DDR“ an gesellschaftlichen, später dann in der neuen Heimat an finanziellen Problemen hätte scheitern können. Nun, wir waren trotzdem eine, wenn auch kleine, so doch glückliche Familie!
Der entscheidende Schritt
Dies alles blieb dann, samt den Erinnerungen, in Bitterfeld zurück, als meine Eltern Weihnachten 1952 die „DDR“ verließen. Sie taten dies aus diversen, noch zu besprechenden Gründen, vor allem aber auch meinetwegen. Ich sollte, wohl wegen guter Leistungen in der Volksschule, von Staats wegen auf irgend so eine geheimnisvolle „Eliteschule“ in die damalige UdSSR (Moskau oder Leningrad, wie das in jenen Tagen noch hieß) geschickt werden. Das allerdings entsprach nicht den Vorstellungen meiner Eltern vom „Werdegang“ ihres Sprösslings. So fuhren wir am 2. Weihnachtsfeiertag 1952 ganz offiziell mit dem Zug zu einem Weihnachtsbesuch bei meiner Tante nach Westberlin. Auch mir hatte man das so erzählt. Gott sei Dank waren die „Grenzorgane“ der „DDR“ bei uns nicht misstrauisch genug! Im Bahnhof Berlin-Friedrichsstraße sind wir in die U-Bahn Richtung Seestraße umgestiegen. Nach vier oder fünf Stationen mussten die deutlich sichtbar bewaffneten „Grenzer“, wie sie abfällig genannt wurden (es waren übrigens meist Frauen) dann aussteigen (ich glaube es war die Station „Reinickendorfer Str.“, später Walter Ulbricht-Stadion“), und wir kamen wohlbehalten in der Kameruner Straße 10 in Westberlin an! Warum meine Eltern, die mich bei der Berliner Tante Irma, älteste Schwester meiner Mutter und deren Familie, zurückließen, dann noch einmal alleine nach Bitterfeld gefahren und sich so dieser riesigen Gefahr, entdeckt zu werden, ein weiteres Mal ausgesetzt haben, weiß ich nicht. Vermutlich haben sie noch Dinge geholt, von denen sie glaubten, dass wir sie später unbedingt benötigen würden. Diese Bücher und Bilder, aber auch Porzellan brachten sie natürlich nicht mit nach Berlin, sondern lagerten es in Bitterfeld bei der besten Freundin meiner Mutter, die absolut vertrauenswürdig war, ein. Mit viel Glück, so die Hoffnung damals, würde man sie dann später in den „Westen“ nachholen können. Betrachte ich heute unsere Wände und die Bibliothek, so sehe ich dort wunderbare Bilder (Originale) und herrliche Folianten, sowie diverses altes Meisner Porzellan, die das Risiko ganz sicher nicht wert waren, für deren Erhalt ich aber bis heute sehr, sehr dankbar bin! Ein risikoreiches Unterfangen war das damals in jenen letzten Tagen des Dezember 1952 aber auf jeden Fall! Gott sei Dank ging es gut, meine Eltern kamen wieder zurück und ließen sich mit mir als politische Flüchtlinge registrieren; ein aufwändiges Verfahren! Es dauerte bis zur Anerkennung fast drei Monate und bescherte mir somit auch eine für mich wichtige Schulzeit in Westberlin.
Schlimm war dabei vor allem, dass ich meinen Opa nicht würde wiedersehen können. Die politischen Verhältnisse, die ich natürlich damals noch nicht verstand, ließen das ja nicht zu! Die Tatsache an sich, nicht die Umstände, die dazu führten, machte mich traurig. Zu allem Unglück ist Opa dann im April 1953, wir waren gerade in Heilbronn angekommen, im Alter von 78 Jahren verstorben. In fremder Umgebung, (noch) ohne Freunde, mit Eltern, die, vor allem meine Mutter, auch ziemlich unglücklich waren, umgeben von Menschen, die zwar Deutsch, dies aber für uns nahezu unverständlich, nämlich in der schwäbischen Version, sprachen – in diese Situation hinein kam die Nachricht vom Tod des von mir so sehr geliebten Großvaters. Das war schon heftig! Vielleicht haben sich die Erinnerungen an ihn auch deshalb so intensiv eingeprägt!
Aber auch Heilbronn hatte natürlich einen Bahnhof, zerstört zwar, aber betriebsbereit. Und auch hier fuhren Züge mit großen Dampflokomotiven! Aber die Ziele: Nicht Leipzig, Berlin, Halle a. d. Saale oder Magdeburg, nein hier waren es Stuttgart, Bietigheim, Neckarelz, manchmal sogar Heidelberg oder auch Würzburg – alles Namen, die mir überhaupt noch nichts sagten, und die mir auf diese Weise deutlich machten, dass ich hier halt fremd war und noch viel zu lernen hatte! Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, habe ich mich oft an diesem Bahnhof „herumgetrieben“. Ich wollte einfach nur Lokomotiven sehen, ich wollte wissen, wohin die Züge fuhren! Vielleicht war es aber auch die Sehnsucht, mit so einem Zug doch irgendwann wieder nach Hause zu können. Schon Weihnachten 1954 haben mir dann meine Eltern erneut eine elektrische Eisenbahn geschenkt, dieses Mal eine mit Lokomotive! In der Bundesrepublik Deutschland gab es nämlich so etwas bereits wieder. Ich war glücklich! Für mich verwirklichte sich damit ein Traum, für meine Eltern war es sicher ein großes finanzielles Opfer.
Von der Eisenbahn zum Flugzeug
Ganz unversehens waren allerdings auch Flugzeuge in mein Blickfeld gekommen. Westberlin war ja von der „Sowjetzone“, sprich der „DDR“, umgeben, und als politischer Flüchtling konnte man also nur durch einen der drei Luftkorridore (Berlin – Stuttgart, Berlin – Frankfurt a. M. oder Berlin – Hannover) in die Bundesrepublik gelangen. Man musste somit ausgeflogen werden. Wenige Monate vor dem 17. Juni 1953, gab es den gewaltigsten Flüchtlingsstrom von Ost- nach Westdeutschland überhaupt, und wir mitten drin! Die meisten Menschen flüchteten über Berlin, da hier die von den Alliierten kontrollierten Notaufnahmeverfahren, sprich die Anerkennung als politischer Flüchtling, vorgenommen wurden. Von hier aus wurde auch gesteuert, welchen neuen Wohnort, sprich welche neue „Heimat“ man erst einmal in der noch jungen Bundesrepublik zu akzeptieren hatte. Derartige Regulierungen waren nötig, waren doch die großen Städte nahezu alle noch völlig zerstört, ohne intakte Infrastruktur, und überall gab es noch – eine meist sehr hohe – Arbeitslosigkeit.
Flüchtling unter Flüchtlingen
Verfolge ich heute, im Sommer 2015, die Diskussion um die Anerkennung von Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten, aber eben auch vom Balkan, dann werde ich immer wieder an die damalige Zeit erinnert. Die Fakten sind ganz sicher nicht vergleichbar, aber erneut befinden sich Menschen auf der Flucht, lassen Familienmitglieder, Hab und Gut und sei es noch so wertvoll oder bescheiden, aber vor allem auch ihre Heimat zurück. Aus welchen Gründen auch immer sie um Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung nachsuchen, es handelt sich immer um Menschen! Wir sind damals innerhalb unseres eigenen Landes geflohen, willkommen waren wir deshalb noch lange nicht! Gerade wenn es um menschliche Schicksale geht, sollte man eigenes Erleben nicht vergessen!
Diese Menschenmassen, auf „Durchreise“ in Berlin, machten es notwendig, dass neben der üblichen Praxis des Ausfliegens mit kleinen, d.h. „normalen“ Flugzeugen (Convair „Metropolitan“ oder auch Douglas „DC 3“ und „DC 4“) gerade zu „unserer“ Zeit erstmals von den Amerikanern eine Lockheed „Super-Constellation“ eingesetzt wurde. Sie benötigte, wegen ihrer (1953) unglaublichen Größe, eine Sondergenehmigung, um in Berlin-Tempelhof, dem mitten in der Stadt gelegenen Flughafen, landen zu dürfen. Unvorstellbare 100 Menschen würde sie mit einem Flug transportieren können! Und mit einer dieser Maschinen wurden wir kurz vor Ostern 1953 nach Frankfurt a. M. ausgeflogen. An den Flug selbst kann ich mich kaum noch erinnern, aber die aus meiner damaligen Kindersicht unglaublichen Menschenmassen die auf dem Vorfeld des Flugplatzes standen („angetreten“ waren), und darauf warteten, ausgeflogen zu werden, die beeindruckten mich schon und sind bis heute unvergessen!
Unvergessen ist auch das Flüchtlingslager in der Volkmarstraße in Berlin. Wir hatten ja von Ende Dezember 1952 bis Mitte März 1953 mit der ältesten Schwester meiner Mutter, Irma, in deren Wohnung mit ihrer Familie auf ca. 65 qm zusammengelebt. Eine Zeit der Einschränkungen für alle, aber – zumindest in der Erinnerung – eine schöne Zeit. Und nun das Flüchtlingslager in der Volkmarstraße! Ob es eine ehemalige Kaserne, Schule, Fabrik oder was auch immer war, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe es, damals fast 10jährig, doch in nachhaltiger Erinnerung behalten! Es war, zumindest für uns, aber sicher auch für viele andere „Insassen“ ganz, ganz furchtbar. Bestimmt so um die 100 Menschen in einem Raum, verteilt auf Etagenbetten, sehr begrenzte sanitäre Anlagen, und an „Privatsphäre“ war überhaupt nicht zu denken. Obwohl wir hier nur zwei Tage bleiben mussten, hat sich auch diese Situation tief in mein Gedächtnis eingebrannt! Auch hieran muss ich immer wieder denken, wenn im Fernsehen die Bilder von den Flüchtlingsunterkünften unserer Tage gezeigt werden!
Bitterfelder Erinnerungen
Dieser, aus heutiger Sicht relativ kurze Aufenthalt in Berlin, stellt doch eine Zäsur in meinem noch jungen Dasein dar. Damit verbunden stellt sich dann die Frage, was mir eigentlich aus meiner Bitterfelder Zeit in Erinnerung geblieben ist.
Ganz sicher der Kindergarten. Der war nicht weit von unserer Wohnung. Trotzdem brachte mich meine Mutter in der ersten Zeit morgens dorthin. Spielsachen gab es dort nur wenig; deshalb habe ich oft – vermutlich unter den kritischen Blicken meiner Mutter – eigenes Spielzeug mitgenommen. Von meinem Vater hatte ich noch aus seiner Kindheit kleine Zäune, Kühe und anderes bäuerliches Getier aus Zinn, was ich mir immer einpackte und womit wir im Sandkasten wunderbar spielen konnten; die schon erwähnten Zinnsoldaten durfte ich natürlich nicht mitnehmen! Kein Wunder, dass immer mehr von diesen kleinen Teilen „verloren“ gingen. Wie der Ablauf im Kindergarten war, wie viele „Tanten“ wir dort hatten und ob ich da den ganzen Tag war und deshalb auch mittags etwas zu essen bekam, das weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich mich recht besinne, habe ich mich auf die Stunden mit den anderen Kindern immer gefreut.
Nicht zu vergessen ist hier auch unsere Wohnung. Wir hatten ein Bad mit Toilette, eine große Küche, ein Wohn- und ein Schlafzimmer, sowie ein Kinder- und ein Gästezimmer; in letzterem wohnten dann die Untermieterinnen Gassner. An diese große und für die damaligen Verhältnisse sicher sehr komfortable Wohnung (Fläminger Ufer 14) kann ich mich gut erinnern. Wir hatten schöne, offenbar wertvolle Möbel, in zwei der vier Zimmer standen große, sogenannte Berliner Kachelöfen, und im Umfeld wohnten viele Kinder. Man hatte also immer Spielkameraden, wenngleich der eine oder andere Kontakt meinen Eltern – wie ich später erfuhr – aus politischen Gründen – nicht so recht war. Gut befreundet war ich mit Jürgen Ließ. Wir gingen zusammen zur Schule, und er hatte einen älteren Bruder (Peter) und vor allem eine Eisenbahn mit der Spur 0 mit einer von einem Uhrwerk angetriebenen Lokomotive – stark!!!
Dann sind die neben meinen Eltern wichtigsten Bezugspersonen Tante Grete und Onkel Org zu nennen. Sie gaben mir – ich ging schon zur Schule – wenn meine Mutter mit meinem Vater manchmal nach Berlin fuhr, ein Zuhause, auf das ich mich jedes Mal riesig gefreut habe. Wenn ich bedenke, dass die schreckliche Zeit der Judenverfolgung gerade mal fünf, sechs Jahre zurück lag – wovon ich natürlich damals keine Ahnung hatte – , dann muss ich schon dankbar sein, dass sie mit mir so fröhlich sein konnten.
Auch unsere Besuche bei unserem Hausarzt, Dr. Balthasar, sind mir in guter Erinnerung. Hier beeindruckte mich vor allem die Bibliothek: Endlose Reihen von Büchern an den Wänden bis unter die Decke, ein Flügel sowie ein Cello mit Notenständer und Noten, ein Erker mit einer gemütlichen Sitzgruppe usw. Die Verbindung zu diesem alt eingesessenen Bitterfelder Ehepaar rührte daher, dass mein Vater mit dessen beiden Söhnen gut befreundet war. Der ältere von den beiden war Arzt geworden und ist in den letzten Kriegstagen in einem Krankenhaus in Magdeburg bei einem Großangriff ums Leben gekommen. Der jüngere und eigentliche Freund (auch Klassenkamerad) meines Vaters, „Mätzchen“ Balthasar war Musiker (Dirigent und Cellist) und ist im Krieg in Russland gefallen; ein schreckliches Schicksal für die Eltern! „Tante“ Balthasar, wie ich die alte Dame nannte, stammte aus einem unglaublich vermögenden Haus: Ihr Vater, ein Herr Steuer, hatte in Bitterfeld die Tongruben und später Braunkohle auf seinen Grundstücken entdeckt. Dies war auch die „energetische“ Basis dafür, dass sich in Bitterfeld die IG Farben, einer der größten Chemiekonzerne der damaligen Welt, angesiedelt hat. Martha Balthasar ist später in der „DDR“, der Logik des Systems folgend, völlig verarmt verstorben.
Ja, und dann hatte meine Mutter eine Putzfrau. Zu der war sie durch einen puren Zufall gekommen. Diese gute Frau, geb. am 27. März 1908 in Czenowith, der damaligen Sowjetunion, war auf der Flucht aus Schlesien mit ihrem durch Kriegseinwirkung behinderten Mann in Bitterfeld gelandet. Unterwegs hatten sie vier (!) Kinder zurücklassen müssen; eines nach dem anderen war ihnen auf der Flucht entkräftet gestorben! Wie mir später erzählt wurde, kam sie einmal bei uns vorbei und fragte, ob sie sich nicht ein wenig Geld verdienen könne, womit auch immer. Diese gute Seele, sie hieß Maria Morhard, kam dann jeden Freitag zu uns, und hatte mich schon bald in ihr Herz geschlossen; wen wundert’s vor dem Hintergrund des eigenen Schicksals! So hatte ich z.B. eine Leidenschaft: Ich sammelte (damals noch leere) Flaschen. Wenn es des Guten zu viel wurde, und meine Mutter das „Gerümpel“ in den Abfalleimer tat, hat Frau Morhard die Flaschen freitags wieder herausgeholt, sauber gemacht und erneut in meinen Schrank gestellt. So ging das oft wochenlang hin und her und prägt sich einem Kind halt ein. Wenn ich Frau Morhard besuchte, sie wohnte ganz in der Nähe meines Kindergartens, dann traf ich dort auch ihren behinderten Mann; welche Behinderung er hatte, weiß ich nicht mehr – auf jeden Fall gab er mir immer Weizenkörner zu knabbern. Heute ist mir bewusst, dass ich diesen armen Leuten, die ich selbst ja auch sehr mochte, damals sehr, sehr viel bedeutet habe. Wie ich inzwischen weiß, sind ihr Mann Wenzel 1964 und sie selbst 1984 verstorben.
Bei alldem muss man feststellen, dass es uns finanziell offenbar doch einigermaßen gut ging. So erinnere ich mich, dass wir auch schon von Bitterfeld aus in den Urlaub gefahren sind. Ziele waren zuerst die Dübener Heide und Bad Friedrichroda, dann zweimal Bad Kösen an der Saale mit der berühmten „Rudelsburg“ („An der Saale hellem Strande stehen Burgen, stolz und kühn, …“), Rathen an der Elbe (Elbsandstein-Gebirge) und der Scharmützelsee bei Berlin. Wie wir jeweils an diese Orte gekommen sind, ist mir heute nicht mehr bewusst; nur an den Scharmützelsee sind wir mit einem Auto der Agfa mit Fahrer und einer Kollegin meines Vaters gefahren. Warum? Ich weiß es nicht! An diese Ferienaufenthalte, auf die ich mich immer sehr gefreut habe, kann ich mich sehr gut erinnern, und auch daran, dass wir, zumindest in die Dübener Heide und nach Friedrichroda noch Mehl und Kartoffeln als Beitrag zur Verpflegung mitgenommen haben. Beides erhielten wir vom Cousin meiner Mutter aus Altenweddingen bei Magdeburg. So kann ich mich an den einen oder anderen Besuch dieser Verwandten meiner Mutter gut erinnern; sie kamen mit einem Opel aus der Vorkriegszeit: Tante Trude („Trudchen“), Onkel Thilo und deren Töchter Rita und Elisabeth. Diese beiden Mädels waren vermutlich Jahrgang 1935/37. Durch unsere Flucht aus der „DDR“ haben wir sie dann aus den Augen verloren. Für sie wäre es ja in der Tat auch lebensgefährlich gewesen, mit „Republikflüchtlingen“, die wir aus Sicht der dortigen Machthaber ja waren, Kontakt zu haben.
Herold, Herold & Co. in Berlin
Doch nun zurück in das Jahr 1953 und damit nach Berlin. Dort vertraten nicht nur wir in jenen Tagen die Herold‘sche Sippe. Im gleichen Zug mit uns von Bitterfeld nach Berlin –wenn auch in einem anderen Waggon – war Onkel Hans vom Bahnhof mit Tante Irene, seiner Frau, und den drei schon erwähnten Söhnen. Auch er war offenbar in politische Schwierigkeiten mit dem neuen Regime geraten. Soviel ich weiß, war er während der Nazizeit nicht zuletzt auch wegen seines jüdischen Schwagers, meinem Onkel Org, wohl erpressbar gewesen. Ergebnisse dieser Situation, wie auch immer sie gewesen sein mögen, fielen dann zum Kriegsende irgendwie den sowjetischen Machthabern in die Hände, bzw. wurden diesen zugetragen. Damit war er im Rahmen der Machtausübung der örtlichen sowjetischen Militärs auch wieder erpressbar. Als dieses „Spiel“ unerträglich wurde, machte auch er sich mit seiner Familie auf den Weg in den Westen, nicht ahnend, dass auch die amerikanischen Besatzungsbehörden all diese Probleme kannten. Er wohnte mit seiner Familie, bis zur Anerkennung als politischer Flüchtling – es dauerte bei ihnen aus den eben geschildeten Gründen noch länger als bei uns – bei Freunden aus Vorkriegstagen ebenfalls in Westberlin. Wir haben sie in dieser Zeit allerdings kaum gesehen. Hierbei ist noch zu erwähnen, dass bei Abschluss des für meinen Vater und uns bis Ende Januar 1953 völlig problemlos verlaufenden Aufnahmeverfahrens, die Namensgleichheit der beiden im Verfahren befindlichen „Herolde“ auffiel und sich mein Vater plötzlich ganz neuen Fragestellungen und einer Wiederaufnahme seines eigenen Verfahrens gegenüber sah. Ergebnis: Wir mussten bis Ende März in Berlin bleiben! Mein Onkel musste mit seiner Familie noch ein oder zwei Monate länger dort bleiben, bis sich die gegen ihn geäußerten „Verdachtsmomente“ offenbar als haltlos herausstellten – Gott sei Dank!
Anders Tante Grete und Onkel Org. Eine der älteren Schwestern meines Vaters, meine Lieblingstante Grete, war, wie schon erwähnt, mit einem aus Bitterfeld stammenden Juden verheiratet. Sie haben in der Zeit von 1933 bis 1945 schlimme und schlimmste Dinge erlebt. Jetzt war Onkel Org als Repräsentant der VEB Chemie (oder so ähnlich, auf jeden Fall der ehemaligen IG Farben) in Ostberlin tätig. Er wohnte mit seiner Frau in der Nähe vom Alexanderplatz. Eines Tages, es muss im Januar 1953 gewesen sein, meldete die Bild-Zeitung: „Stalin verfolgt die Juden in der UdSSR!“. Nach alldem, was sie wenige Jahre zuvor im eigenen Land erlebt hatten, bekam Tante Grete Panik; immerhin lebten sie ja im sowjetisch besetzten Teil Berlins! Eines Tages standen sie in der Kameruner Straße vor der Tür und erklärten, nicht mehr zurück zu können. Sie wurden in der Nachbarschaft bei Freunden meiner Tante untergebracht. Deren Mann, mein Onkel Rudi, hat das Risiko auf sich genommen und ist dann immer wieder in ihre Wohnung nach Ostberlin gefahren, um wenigstens das Nötigste heraus zu holen. Wie er das gemacht hat, ist mir bis heute ein Rätsel; er hat auch nie darüber gesprochen! Noch heute, bald 60 Jahre nach diesen Ereignissen, haben wir in Paderborn einen Schrankkoffer stehen, der Tante Grete und Onkel Org gehörte, und den sie in den 1930er Jahren für ihre Ausreise erst nach Shanghai und dann nach Santiago de Chile vorbereitet hatten. Wie dieses Teil unbemerkt (?) über die schwer gesicherte Grenze gelangen konnte, ich weiß es nicht!
Ja, und meine Patentante, Tante Lia, die älteste Schwester meines Vaters mit ihrem Mann, Onkel Alfred? Auch sie mussten, nachdem alle Herolds und auch ihre eigene Tochter nach deren Abitur aus Bitterfeld weggegangen waren, d.h. „Republikflucht“ begangen hatten, dort schnellst möglich verschwinden, denn zu jener Zeit drohte in der „DDR“ – zumal, wenn man vorher so eng beieinander gewohnt hatte – so eine Art „Sippenhaft“! Dieser Onkel hatte außerdem noch das „Problem“, dass er Offizier (Major?) im Dritten Reich gewesen ist. Ob er auch (aktives?) Mitglied der NSDAP war, weiß ich nicht. Aus mündlichen, eher spöttischen als klagenden Berichten unserer jüdischen Verwandtschaft, die nach England entkommen war, weiß ich, dass er oft, wenn sich die Familie im Bahnhof bei der Oma Herold versammelt hatte, nicht dabei war, weil er an irgendeiner Straßenecke „kochende Volksseele“ spielte. Auch sie fanden Unterschlupf bei Freunden in Westberlin. Ihre Tochter war inzwischen in München untergekommen, wohin sie dann später auch ausgereist sind.
Das meiste, wovon ich hier berichte, habe ich mit meinen damals knapp 10 Jahren sicher nur mehr oder weniger unbewusst wahrgenommen. Vieles kann ich auch nur aus Erzählungen späterer Jahre rekonstruieren. Manches ist aber auch ganz konkret haften geblieben: So die geradezu unglaubliche Hilfsbereitschaft der Menschen in der damaligen Zeit, in der nämlich niemand, wirklich niemand so richtig wusste, wie er den nächsten Tag würde gestalten können; und dann das Schicksal von Tante Grete und Onkel Org, die schon nach wenigen Jahren erneut wegen der jüdischen Wurzeln meines Onkels ihre Heimat verlassen mussten!
Auf dem Weg nach Heilbronn
Inzwischen war es ja nun schon fast Ende März 1953. Tante Grete und Onkel Org (über Wesel und Herne nach Wanne-Eickel), sowie die älteste Schwester meines Vaters mit ihrem Mann (nach München) hatten Westberlin schon verlassen können. Nun also waren auch wir an der Reihe. Spät abends wurden wir dann im Lager an der Volkmarstr., in dem wir uns schon zwei Tage zuvor hatten einfinden müssen, plötzlich zum Abflug aufgerufen. Wir warteten im Freien mit unserem wenigen Gepäck auf die Busse. Als diese nach Stunden dann schließlich kamen, wurden wir auf das Vorfeld des Flughafens Tempelhof „gekarrt“. Dort warteten wir erneut. So wurden wir Zeuge, wie das, zumindest aus meiner damaligen Kindersicht, riesige Flugzeug, von dem ich bereits berichtet habe, erstmals im Morgengrauen in Berlin landete und direkt vor uns zum Stehen kam. Ob ich angesichts dieses technischen Wunders Angst hatte, einzusteigen, weiß ich nicht mehr. Auch an den Flug selbst kann ich mich kaum erinnern. Vermutlich habe ich geschlafen. Sicher hat mich das „Rumpeln“ beim Aufsetzen in „Frankfurt–Rhein-Main“ wieder aufgeweckt, denn an genau diesen Schriftzug am Flughafengebäude kann ich mich erinnern, als ob es gestern gewesen wäre.
Und dann ging es wieder weiter, und zwar erneut in ein Flüchtlings(-aufnahme)-Lager. Dieses war in Stuttgart-Stammheim. Auch an die Reise dorthin kann ich mich nicht mehr erinnern. An das Lager ebenfalls nur noch schwach. Immerhin war es das spätere Hochsicherheitsgefängnis, in dem die „Köpfe“ der Baader-Meinhof-Bande einsaßen, die sich hier, nach einem missglückten Anschlag ihrer Gesinnungsgenossen auf ein Lufthansa-Flugzeug in Mogadischu, das Leben genommen haben. Die Gebäude, in denen wir untergebracht waren und in denen all dieses Jahrzehnte später geschah, sind inzwischen abgerissen worden.
Mein Vater wollte mit uns schnellstmöglich aus dieser Umgebung heraus. Da er eine Zusage für einen Arbeitsplatz in Heilbronn hatte und offenbar auch noch über etwas Geld und die notwendige Hartnäckigkeit verfügte, gelang ihm dies auch. Zuerst besuchten wir mit ihm in Ludwigsburg zwei ältere unverheiratete Schwestern (die „Damen Ölschläger“, wie mein Vater immer sagte), in deren Haus in der Heilbronner Moltkestraße er vor dem Krieg eine „Junggesellenbude“ bewohnt hatte. Deren Ludwigsburger Haus war noch intakt, da die Briten aus „dynastischen“ Gründen Ludwigsburg nicht bombardiert hatten.
Anders Heilbronn! Am 4. Dezember 1944 versank das „Rothenburg am Neckar“, wie es liebevoll genannt wurde, zu nahezu 90 Prozent in Schutt und Asche; damit natürlich auch das Haus der „Damen Ölschläger“. An dieses zerstörte Heilbronn, in dem noch mit Trümmerloren der Schutt weggeräumt wurde, kann ich mich sehr gut erinnern; auch an die Ruine des Ölschläger’schen Hauses!
Von seinen früheren „Wirtinnen“ erfuhr nun mein Vater, dass in Heilbronn noch die Familie Keller existiere. Frau Keller, das Marrile, wie sie von ihrer Familie liebevoll genannt wurde, konnte sich noch gut und offenbar sehr positiv an meinen Vater erinnern, denn sie machte vor dem Krieg bei den Ölschlägers sauber. Gegen Ende der 1930er Jahre (1938?) war mein Vater erstmals nach Heilbronn gekommen, um im „Wäschehaus Palm“ ein Volontariat zu absolvieren, und zwar gemeinsam mit Rolf Palm, dem damaligen Junior des Hauses, hat er dies wohl mit großem Vergnügen getan, wollte ihm doch seine Mutter als Erbe ein ähnliches Geschäft kaufen oder einrichten. An Krieg und vor allem an die verheerenden Folgen dachte ja bei solchen Plänen noch niemand! Nun stand er ca. 15 Jahre später wieder in Heilbronn, dieses Mal mit Frau und Kind! An ein eigenes Geschäft war überhaupt nicht mehr zu denken.
Trotzdem gab es eben auch Glück im Unglück: Mein Vater hatte Arbeit! Was heute oft übersehen wird, wenn es darum geht, die damalige Zeit und deren Schwierigkeiten zu beurteilen: 15, ja 20 Prozent Arbeitslosigkeit waren keine Seltenheit! Warum also hatte ausgerechnet mein Vater Arbeit? Und das auch noch in Heilbronn, der Stadt, der immer, auch während des Krieges, sein Denken galt, und die nun so schwer zerstört war? Nun, das ist schnell erklärt: Nach seiner Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Bad Kreuznach (Ende 1945), und einem „Zwischenspiel“ als eine Art Rechtspfleger beim Amtsgericht Bitterfeld, fand mein Vater, der ja eine kaufmännische Ausbildung hatte, Arbeit als kaufmännischer Angestellter im Einkauf bei der Agfa in Wolfen. Diese Filmfabrik war sofort nach der Besetzung durch sowjetische Soldaten in eine russische Aktiengesellschaft umgewandelt worden. Da mein Vater fließend Englisch und Französisch sprach, wurde er vom russischen Generaldirektor der Agfa erst hin und wieder, später wöchentlich einmal, nach Westberlin geschickt, um dort produktionsnotwendige Güter, vor allem aber Fotogelatine, einzukaufen.
Von dieser Reisetätigkeit hatte auch die Familie in Bitterfeld viele Vorteile. So brachte uns mein Vater z.B. Kaffee und andere Köstlichkeiten, die in der „DDR“ nicht zu haben waren, mit. Die noch nicht gerösteten Kaffeebohnen brachte meine Mutter dann zu der etwas außerhalb wohnenden Frau Panisch, die ihn für uns geröstet und gemahlen hat und dafür natürlich ihren Anteil erhielt. Bei uns im Haus wäre das Rösten wegen des dabei entstehenden intensiven Duftes nicht möglich gewesen. Wir wären sicher von irgendeinem der sozialistischen Zukunft der „DDR“ verpflichteten Staatsbürger „nach oben“ gemeldet worden.
Aber auch so entstand durch diese (für uns „Versorgungs-) Reisen das gravierende Problem, dass mein Vater, bedingt durch sein berufliches Aufgabengebiet, ins Visier des damaligen DDR-Staats-schutzes – später „Stasi“ genannt – geriet, ohne es selbst zu merken. Das war nicht ungefährlich, denn immer wieder hörte man von nächtlichen Verhaftungen. Deshalb stellte meine Mutter nachts immer eine große hölzerne Bockleiter vor die Tür, damit man hörte, wenn diese aufgebrochen wurde. Dies geschah, durchgeführt von den Männern in den langen schwarzen Ledermänteln, damals sehr häufig! Es war eine sehr unruhige und nahezu rechtlose Zeit. Die besagte Bockleiter war auch Gegenstand des „Inventarverzeichnisses“ das die Bitterfelder Behörden Anfang 1953 über unsere „Hinterlassenschaften“ in der Wohnung am Fläminger Ufer aufstellen ließen, nachdem bekannt geworden war, dass Herolds „Republikflucht“ begangen hatten. Ich habe es nach der Wende in den Akten des Landratsamtes gefunden.
So war es von großem Glück, dass mein Vater außer zu einem französischen Hersteller von Fotogelatine, ich glaube es war die französische Firma „Rousselot“, auf diese Weise auch zu dem Heilbronner Unternehmen, das Fotogelatine herstellte, „Koepff & Söhne“, Kontakt bekam. Als er unter der Hand von den politischen Problemen hörte, die sich da offenbar über ihm zusammenbrauten, ein Kollege mit entsprechenden Vollmachten im Verkauf der Agfa schon verhaftet worden war und zeitgleich meine weitere schulische Ausbildung in der UdSSR anstand, berichtete er von diesen Schwierigkeiten dem Heilbronner Inhaber von Koepff & Söhne, Herrn Dr. Kinkel, der ihm daraufhin sofort einen Arbeitsplatz in seinem Unternehmen in Heilbronn anbot.
Erste Freunde
So landeten wir schließlich Ende März 1953 arm, aber frei in Heilbronn. Ohne Möbel und sonstiges Hab und Gut, hauptsächlich mit etwas Wäsche und immer weniger werdendem Geld versorgt. Wir hatten halt schon eine sehr ungewisse Zukunft vor uns! Aber: Wir, d.h. mein Vater kannte das vorhin schon erwähnte „Marrile“; Frau Keller, die mit ihrem Mann, dem „Heiner“ im Keller eines vollständig ausgebombten Hauses in der Heilbronner Bahnhofstraße lebte. Diese Bekannten meines Vaters aus Vorkriegstagen waren für unsere kleine Familie ein wahrer Glücksfall – mehr wert als alles, was man sich damals sonst wünschen konnte! So fanden wir, nach dem wir ein oder zwei Nächte im Central-Hotel gegenüber dem Heilbronner Hauptbahnhof gewohnt hatten, erst einmal eine Bleibe im Keller bei Kellers und dann für Gott sei Dank nur wenige Tage bei einer entsetzlich bösen Frau in der Neckarsulmer Straße. Bei Kellers lernten wir deren Tochter Eva mit Familie (Hans und Sohn Dieter), also Seufferts, kennen. Die boten uns, obwohl wir ihnen völlig unbekannt waren, sofort an, mit in ihre kleine Dreizimmerwohnung in der Paulinenstraße zu ziehen. „Chapeau“ würde man heute sagen!!! Sogar über Ostern, als sie zu Verwandten aufs Land fuhren, bekamen wir den Schlüssel für die Wohnung, um dort mit Werblowskis, den jüdischen, inzwischen in London lebenden Verwandten, zusammentreffen zu können. Wen wundert es, dass wir über all die Jahrzehnte wirklich gute und aus unserer Sicht vor allem dankbare Freunde geblieben sind?
Wie uns Werblowskis damals in Heilbronn gefunden haben, weiß ich nicht. Erstmals hatte ich sie irgendwann zwischen 1948 und 1952 in Westberlin kennen gelernt. Frau Werblowski, Tante Liese (Alice), war eine Schwester von Onkel Org. Ihr war es 1939 mit ihrer Familie, d.h. Onkel Hermann und den beiden Töchtern Ruth und Ilse (Ille), noch gelungen, Deutschland zu verlassen. Sie wollten eigentlich in die USA, sind dann jedoch, da der Zweite Weltkrieg ausbrach, in England hängen geblieben, weil Onkel Hermann, geb. am 11. Juni 1889, auf der Isle of Man interniert worden war.
Zurück nach Heilbronn: Bei Seufferts, blieben wir so ca. zwei Wochen und zogen dann weiter, unters Dach eines Hauses in Heilbronn-Sontheim, wo die Mäuse auf den Tischen tanzten. Hier „feierten“ wir dann den 40. Geburtstag meines Vaters und meinen 10. Geburtstag. In Erinnerung sind mir diese beiden Geburtstage auch, weil sie mit gewissen „Merkmalen“ versehen sind: Meine Mutter kaufte für meinen Vater als Geburtstagsgeschenk eine Flasche Wein. Während sie bezahlte, sollte ich die Flasche halten. Ich tat dies am Flaschenhals und sie rutschte mir prompt durch das Papier und fiel auf den Boden. Kaputt!!! Eine neue konnte meine Mutter nicht kaufen; ich glaube, wir beide, vor allem aber ich, waren völlig aufgelöst!
Ich aß und esse heute noch gern „Wackelpeter“ Da Eva Seuffert dies damals schon wusste, hat sie mir zum 10. Geburtstag einen Kuchen gebacken und diesen mit kleinen Figuren aus Wackelpeterpudding verziert! Das waren so die großen Schmerzen und kleinen Freuden der damaligen Zeit.
Bevor ich mich der weiteren Entwicklung in Heilbronn zuwende, gilt es über einen anderen Zufall zu berichten, der mir in Erinnerung geblieben ist. Hans Seuffert hatte einen Vetter, der einen Garn- und Tuchgroßhandel führte und damit offenbar schon damals gutes Geld verdiente. Dieser wiederum hatte einen Sohn Hans, der, man glaubt es kaum, damals schon eine elektrische Eisenbahn von Märklin sein eigen nannte! Eine mit Landschaft, Häusern, und mehreren von tollen Dampflokomotiven gezogenen Zügen; kurz, so richtig schön und Sehnsüchte weckend. Dieser Hans wohnte im gleichen Haus wie Seufferts, und so konnte ich mir oft meinen heimlichen Traum anschauen, manchmal sogar damit spielen.
Die zweite Heimat
Dann brach nach einiger Zeit, es muss so kurz nach meinem 10. Geburtstag gewesen sein, das Glück erneut über uns herein: Wir bekamen eine Wohnung! Diese lag in der Kernerstraße, einer guten Heilbronner Wohngegend. Sie gehörte Herrn Dr. Kinkel, und er bot sie uns an, als eine Mitarbeiterin des Unternehmens pensioniert wurde und dort auszog. Wir mussten die Wohnung zwar mit zwei Untermieterinnen, Frau Blümelhuber und Frl. Ost teilen, hatten kein Bad und alle zusammen nur eine Toilette, aber es ging, wie auch immer. Hier hatten wir dann auch unseren ersten Besuch. Tante Grete kam zu uns. Sie war in den Tagen um den 17. Juni 1953, als in der „DDR“ der große Volksaufstand ausbrach, bei uns und glaubte, dass sie schon bald würde nach Bitterfeld zurückkehren können. Ein ganz großer Irrtum, wie sich schnell herausstellte. Die Arbeiter der Kombinate in Bitterfeld und Wolfen, aber auch die an der Stalin-Allee in Ostberlin waren wegen unerträglich erhöhter Arbeitsnormen auf die Straßen gegangen. Dem Hilferuf der Ulbricht-Regierung in Ostberlin folgte die Sowjetunion und ließ Panzer rollen; rollen gegen die Arbeiter in der „DDR“ und an die Sektorengrenze in Berlin. Es fielen Schüsse, es gab Tote und die Arbeiter mussten vor dieser nackten Gewalt wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Dies war nach dem Krieg der erste Protest in einem Satelliten-Staat der Sowjetunion; Warschau, Ungarn und die Tschechoslowakei sollten folgen. Später in diesem Jahr, nämlich so ungefähr Ende August 1953, tauchte dann, wie ein Wunder, Tante Hedi, eine ältere Schwester meiner Mutter, auf. Sie war bereits 1928 nach Japan ausgewandert. Dort hatte sie den Professor für klassisches Cello-Spiel geheiratet, den sie aus Leipzig kannte. Mit ihm und ihren drei Kindern hat sie einen großen Teil des Bürgerkrieges in China miterlebt, da ihr Mann in den 1930er Jahren eine Professur an der Universität Nanjing angetreten hatte und ab 1940 eine Aufgabe in der Mandschurei übertragen bekam. Sie blieb einige Zeit bei uns und sollte für mich der wesentliche Anstoß des späteren Interesses an der großen, weiten Welt sein. Später werde ich auf diese bemerkenswerte Frau und deren Familie zurückkommen.
Dann, 1953, erlebten wir das erste Weihnachtsfest in der Fremde; so haben wir das damals ganz sicher noch empfunden. Ich bekam eine Schul-(Akten-)Tasche geschenkt und vor allem feierten wir es wieder in einer „eigenen“ Wohnung. Als Frau Blümelhuber, mit der wir immer freundschaftlich verbunden blieben, in Richtung Sontheim eine nette Neubauwohnung bezog, dies muss so im Jahr 1955 gewesen sein, bekam ich dann auch endlich wieder ein eigenes Zimmer!
Inzwischen war ja mit mir auch viel geschehen! Gleich, nachdem wir in Heilbronn angekommen waren, meldete mich mein Vater im Robert-Mayer-Gymnasium an, das damals noch „Oberschule“ hieß und naturwissenschaftlich orientiert war. Hatte doch mein Lehrer in Berlin, Herr Fütterer, verkündet, dass ich eine große mathematische Zukunft vor mir hätte. Man sieht: Auch Pädagogen können irren!
Da das Schuljahr in Heilbronn bereits kurz nach Ostern begonnen hatte, wurde ich (ganz alleine!) zu einer außerordentlichen Aufnahmeprüfung zugelassen. Ich erinnere mich, dass da eigentlich nur schwäbisch gesprochen und ich – vermutlich völlig verschüchtert – vor allem in „Heimatkunde“ geprüft wurde! Nun, dies war ja vielleicht auch mehr ein Härte- als ein Wissenstest, denn ich habe, trotz allem, bestanden!