Von einem kleinen Zettel, der in einem Herrenhemd um die halbe Welt reiste und unser Leben für immer veränderte - Claudia Klütsch - E-Book

Von einem kleinen Zettel, der in einem Herrenhemd um die halbe Welt reiste und unser Leben für immer veränderte E-Book

Claudia Klütsch

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Beschreibung

Kleiner Zettel, große Botschaft – wie ein Geschenk aus dem Supermarkt unser Leben veränderte ...

Als Claudia Klütsch ein neues Oberhemd ihres Ehemanns aus der Verpackung zieht, fällt ein Zettel heraus. Es ist der Hilferuf eines Arbeiters aus der Textilfabrik in Bangladesch, in der das Hemd hergestellt wurde. Das Ehepaar versucht monatelang herauszufinden, was und wer genau hinter dieser Nachricht steckt. Schließlich fliegen sie selbst nach Bangladesch, um den Verfasser zu finden.
Die beiden erleben eine Reise ins Ungewisse, die sie mit vielen Eindrücken und Einsichten nach Deutschland zurückkehren lässt. Und mit neu gewonnen Freundschaften, die bis heute währen.

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Buch

Als Claudia Klütsch ein neues Oberhemd ihres Ehemanns aus der Verpackung zieht, fällt ein Zettel heraus. Es ist der Hilferuf eines Arbeiters aus der Textilfabrik in Bangladesch, in der das Hemd hergestellt wurde. Das Ehepaar versucht monatelang herauszufinden, was und wer genau hinter dieser Nachricht steckt. Schließlich fliegen sie selbst nach Bangladesch, um den Verfasser zu finden.

Die beiden erleben eine Reise ins Ungewisse, die sie mit vielen Eindrücken und Einsichten nach Deutschland zurückkehren lässt. Und mit neu gewonnenen Freundschaften, die bis heute währen. 2018, fast dreizehn Jahre später, besuchen Claudia und Martin Klütsch ihre Freunde in Bangladesch erneut und erfahren, welch großen Unterschied ein kleines bisschen Menschlichkeit machen kann.

Die Autoren

Claudia Klütsch wurde 1965 in Wesseling in der Nähe von Köln geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Die gelernte Arzthelferin ist Mutter von vier Kindern und unterstützt seit drei Jahren als Inklusionskraft Kinder in ihrem schulischen Alltag. Als Claudia Klütsch 2005 ein ungewöhnlicher Hilferuf aus Bangladesch erreichte und sie beschloss zu helfen, begann für sie und ihre Familie eines der größten Abenteuer ihres Lebens.

Dirk Höner ist Journalist. Nach Stationen beim WDR und als Autor bei TV-Produktionen arbeitet er seit 2004 als Redakteur bei stern TV. Dirk Höner lernte die Familie Klütsch 2005 kennen, als diese nach dem Verfasser des Hilferufs im Hemd suchte, und begleitete sie auf ihren beiden Reisen nach Bangladesch.

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CLAUDIA KLÜTSCH

DIRK HÖNER

Von einem kleinen Zettel,

der in einem Herrenhemd

um die halbe Welt reiste

und unser Leben für immer veränderte

Eine wahre Freundschaftsgeschichte

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

© 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Fotos: © Claudia Klütsch/privat

WR · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23077-7V001

www.blanvalet.de

Für Martinund Raquibul/Martin

Inhalt

Vorwort

1 Die Geburtstagsüberraschung

Der langweiligste Geburtstag im Leben meines Mannes – denkste!

2 Kontakt zu einer anderen Welt

Der Beginn einer Brieffreundschaft. Bargeld lacht, aber in diesem Fall nur ein Mal

3 Gazi verliert seine Arbeit

Unsere Hilfe endet in einem Desaster. Hilflosigkeit macht sich breit

4 Der erste Flug meines Lebens

Eine Chance – und ein spontaner Entschluss

5 Eine neue Kultur und gleich ein Schock

Das Abenteuer beginnt. Aber: Nach der Ankunft wollen wir sofort wieder zurück

6 Dhaka

Von Männern, die Händchen halten, glücklichen Rikschafahrern und einer Baustelle, auf der Menschen wie Sklaven arbeiten

7 Eine Tankstelle, ein Schiff, eine Brücke

Autoschüttler, Fähren, die nicht fahren, und kreative Jobfinder. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus

8 Das Baby

Eine Frau will mir ihr Kind schenken

9 Ankunft bei Gazi

Paradiesische Landschaften und ein Fernseher als Statussymbol

10 Gazis Sippe

Eine ganz normale Familie in Bangladesch. Wir sind die Attraktion des Dorfes

11 Drei Zimmer, keine Küche, kein Bad

So sieht also eine Wellblechhütte von innen aus

12 Raija

Gazis Frau bekommt ein Baby. Die einzige Vorsorgeuntersuchung – die Hand der werdenden Mutter auf dem eigenen Bauch

13 Das Finanzielle

Unsere Entscheidung zu helfen steht fest. Jeder Abschied fällt schwer – dieser besonders

14 Die Schweizer Botschaft

Dekadenz und eine ekelhafte Erfahrung. Wir sind weit entfernt von »Alle Menschen sind gleich«

15 Wasserflaschen im Kelleraufgang

Unser Leben verändert sich – jedenfalls in unserem Kopf

16 Geburtshilfe am Telefon

Wie viel ist das Leben eines Kindes wert? In diesem Fall: 500 Dollar

17 Ein monatliches Ritual

Die Jahre vergehen. Wir stellen unsere Zahlungen ein. Der Kontakt bleibt

18 Like like like

Gazi entdeckt Facebook und wird noch einmal Vater

19 Die Rückkehr

Nach zwölf Jahren besuchen wir Gazi erneut. Wir gehen auf die Suche nach bengalischen Tigern

20 Die Kleiderfabrik

Joballtag in Dhaka

21 Eine »Villa« im Dschungel

Was man sich mit ein paar Euro pro Monat in Bangladesch aufbauen kann

22 Die Klauen des Tigers

Mehr Natur, als uns lieb ist. Tränen lügen nicht

23 Abschied – für immer?

Gazi isst Pizza, zum ersten Mal in seinem Leben. Das »Bis bald« fällt schwer

Nachwort

Danksagung

Bildteil

Vorwort

Diese unsere Geschichte klingt wie ein Märchen, aber sie ist wahr.

Es ist inzwischen mehr als zwölf Jahre her, dass wir den einundvierzigsten Geburtstag meines Mannes Martin feierten. Der Einundvierzigste ist in der Regel kein besonderer Ehrentag. Man ist weder jung noch alt. Es ist auch kein runder Geburtstag. Trotzdem hat sich dieses Datum in unser Gedächtnis eingebrannt und wird uns immer unvergesslich bleiben.

Wir, das sind die Klütschs aus Wesseling bei Köln. Wir sind eine ganz normale Familie. Doppelhaushälfte, hundertzwanzig Quadratmeter Wohnfläche, schöner kleiner Garten. An dem Sichtschutzzaun aus Holz, der unser Grundstück von dem unserer Nachbarn trennt, steht eine Hollywoodschaukel. Daneben halten wir drei putzige Kaninchen in einem Gehege.

Unsere Freunde beschreiben uns als sozial und hilfsbereit, aber nicht in einem Maße, dass unser eigenes Glück zu kurz käme. Wir sind Mitglieder bei den Johannitern, ansonsten waren wir in unserem Leben, was das Thema »die Welt verbessern« angeht, eher unauffällig.

Mein Mann Martin und ich haben vier Kinder: drei Mädchen, einen Jungen. Wir haben uns immer eine große Familie gewünscht. Sie ist für uns der Mittelpunkt des Lebens.

Die Kinder sind der Hauptgrund, warum wir bisher nicht viel in der Welt herumgekommen sind. Europa hatten wir bis vor wenigen Jahren noch nie verlassen. In den Urlaub geht es für uns meistens an die Nordsee. Das heißt nicht, dass uns andere Kulturen nicht interessierten, ganz im Gegenteil. Aber wenn man vier Kinder großzieht und zudem berufstätig ist, so wie wir, dreht sich fast alles darum, den Alltag zeitlich und finanziell zu stemmen.

Man mag uns naiv oder ignorant schimpfen, aber woher unsere Kleidung kommt und wer sie fertigt, darüber hatten wir uns vor dem einundvierzigsten Geburtstag von Martin herzlich wenig Gedanken gemacht. Dieser Tag aber hat unser Leben auf eine Weise durcheinandergewirbelt wie nichts zuvor. Und das allein durch die fixe Idee von Gazi, einem jungen Mann aus Bangladesch. Einem Arbeiter in einer Kleiderfabrik.

In den letzten Jahren haben wir viel über die zweifelhafte Art und Weise erfahren, wie der Großteil unserer Kleidung hergestellt wird. Um das gleich vorweg zu sagen: Wir haben auch keine Patentlösung für die Probleme, die es ohne Zweifel in der Bekleidungsindustrie gibt. Daher können und wollen wir auch keine Ratschläge für die nächste Shoppingtour an irgendwen erteilen.

Unsere Kleidung wird von Menschen hergestellt, die sich im Grunde vom Leben das Gleiche erhoffen wie wir:

Gesundheit, ein Dach über dem Kopf, eine Familie und eine gute Zukunft für die Kinder. Das mag banal klingen, aber wer einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wie hart diese Menschen für einen Euro pro Tag arbeiten müssen, für den werden die eigenen Probleme plötzlich winzig klein.

Wir als Einzelne können an den Verhältnissen nur wenig ändern. Und wer jetzt denkt, gar keine Kleidung aus diesen Teilen der Welt mehr zu kaufen wäre eine Lösung: Arbeitnehmer in Bangladesch erzählten uns, sie seien von uns Kunden abhängig.

Dieses Buch will kein erhobener Zeigefinger in Richtung derer sein, die ihre Kleidung in Billigläden kaufen.

Ich möchte vielmehr von unvergesslichen Begegnungen erzählen, von tränenreichen und glückseligen Momenten, die unsere Familie auf eine sehr besondere Art bereichert haben – aber auch von Zweifeln, Unverständnis und Enttäuschungen, die wir mit Gazi und den Seinen erlebten.

Die Welt der Menschen in Bangladesch mag oft ganz anders aussehen als unsere. Aber sie fühlen, leiden und empfinden Freude genauso wie jeder andere auch. Diese Erkenntnis hat uns mit Glück erfüllt, zeigt sie doch, dass es viel einfacher ist, zwischen fremden Kulturen Nähe herzustellen, als es auf den ersten Blick scheint. Sie gibt Hoffnung, dass die Welt in Zukunft ein friedlicherer Ort sein kann.

Der Journalist Dirk Höner hat uns geholfen, unsere Reisen nach Bangladesch zu organisieren, und hat uns auf diesen begleitet. Auch bei dem vorliegenden Buch hat er uns geholfen, Gazis und unsere Geschichte zu erzählen. Da, wo mir manchmal die Worte fehlten, half er mir, sie zu finden, und schrieb sie für mich auf.

1 Die Geburtstagsüberraschung

Noch fünfundzwanzig Kilometer, dann sind wir in Gazis Dorf, sagte unser Fahrer.

Es war heiß auf der Rückbank des hellblauen Toyota-Vans. Martin fächerte sich durch schnelles, rhythmisches Vor- und Zurückziehen seines obersten Hemdknopfes etwas Luft zu. Wer sagt, dass mein Mann dick ist, hat nicht unrecht. Er schwitzte, mehr als wir alle.

Die Luft draußen war schwül, roch aber angenehm würzig, hier, kurz vor den Sundarbans im Süden von Bangladesch. Reife Mangos hingen an den Bäumen, Landarbeiter ernteten Zuckerrohr. Ein Blick nach vorn zeigte mir: Die rote Lehmstraße, auf der wir mit vierzig Stundenkilometern dahinzuckelten, würde sich noch ein ganzes Stück weiter durch die subtropischen Wälder winden. Die Landschaft sah aus, als hätte jemand die Bilder zu der Internet-Suche »Exotischer Golf von Bengalen« kurzerhand zum Leben erweckt.

»Herrje, ist das schön. Hier könnte ich meine Rente verbringen«, sagte ich zu meinem Mann.

»Wär mir zu heiß«, erwiderte er. »Aber ich komme dich besuchen.«

Ansonsten redeten wir nicht viel während der Fahrt. Wie auch? Die Schlaglöcher sorgten für eine beständige Geräuschkulisse. Die Bleche der Türen klapperten oder quietschten, manchmal auch beides gleichzeitig.

Der Blick in die südasiatische Ebene entschädigte aber für vieles. Ich zeigte mit dem Finger nach rechts, als wir einen Mann mit zerfledderten Badelatschen überholten, der eine alte Karre zog. »Schau mal, Martin, der transportiert Kokosnüsse.«

Der Gegensatz zu der molochartigen Großstadt Dhaka, in der wir vor einigen Tagen die Reise unseres Lebens begannen, könnte kaum größer sein. Dort sahen wir zum ersten Mal, was es heißt, in Armut zu leben.

Ein Bild habe ich bis heute nicht vergessen. Auf einer Straßenbrücke saß ein Mann. Ihm fehlte der rechte Arm. Wir fuhren an ihm vorbei, und ich konnte nicht erkennen, ob er bettelte oder warum er dort saß. Sein Gesicht war schmutzig, der Blick leer. In dem Moment registrierte ich ihn bloß und war durch die vielen Eindrücke rundherum unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Am Abend aber, als ich im Bett lag, fiel mir die Szene wieder ein. Hatte der Mann ein Zuhause? Wovon lebte er? Woher bekam er etwas zu essen? Saß er immer noch auf der Brücke? Warum gerade an dieser vielbefahrenen Straße? Wir hatten bis dahin schon einige verzweifelte Menschen gesehen, aber dieser in dreckige Lumpen gekleidete Mann versinnbildlichte für mich das Elend in dieser Stadt wie kein anderer.

Martin wusste genau, was ich dachte, als der Mann mit der Karre voller Kokosnüsse hinter uns zurückfiel. »Wir können nicht alle retten«, sagte er, pragmatisch wie immer. »Wir sind hier, um Gazi zu finden und ihn bei Bedarf zu unterstützen. Wir dürfen uns nicht übernehmen.«

Auch die anderen Städte, durch die wir bisher gefahren waren, hatten alles andere als einladend gewirkt. Dreck, Plastikmüll und PET-Flaschen bestimmten das Straßenbild. Ganze Müllhaufen schienen neben den Häusern emporzuwachsen. Aus den Auspuffen der unzähligen Tuktuks quoll blauer Qualm. Es stank an vielen Orten fürchterlich. Die schlechte Luft und der Müll waren aber nur Begleitumstände eines viel größeren Übels, das wir mit ansehen mussten: An den Hauptstraßen in den Ballungsräumen lagen immer wieder Menschen reglos auf den Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen oder am Straßenrand. Einfach so, als wären sie gerade eingeschlafen.

Unser Fahrer erklärte uns, dass viele hier Angst hätten, sich um Unfallopfer zu kümmern. Die Polizei könnte annehmen, dass der Helfende etwas mit dem Unglück zu tun habe. Ob also jemand auf dem Bürgersteig schläft oder ob es sich um einen Verletzten handelt, der womöglich sogar im Sterben liegt, ändert für die Passanten nichts: Sie scheren sich nicht darum. In solchen Situationen nicht vor Verzweiflung zu weinen fiel mir schwer.

Meine vier Kinder haben mir mal den Spitznamen Mutter Teresa gegeben – weil ich mich häufig um Hilfsbedürftige aus der Nachbarschaft kümmere. Schon mehrmals schleppten sie befreundete Teenager an, die zu Hause rausgeschmissen worden waren. Meistens ließ ich sie einige Tage bei uns übernachten und besorgte ihnen dann eine neue Bleibe über das Jugendamt, oder ich versuchte die Wogen im Streit mit ihren Eltern wieder zu glätten.

Auch Tiere sind es aus meiner Sicht wert, gerettet zu werden: Einmal ließ ich Martin keine Ruhe, bis er eine aus dem Nest gefallene Waldschnepfe zu einer Tierstation brachte, damit sie dort aufgepäppelt wurde – allerdings erst, nachdem ich sie selbst einige Tage lang durchgefüttert hatte.

Aber in den Städten Bangladeschs gab es so viel Elend, dass ich mich als Einzelne völlig überfordert fühlte. Ich mag den Vergleich nicht besonders, aber er traf unseren Eindruck ganz gut: Ein Menschenleben zählt in Bangladesch offenbar weniger als anderswo.

Ich versuchte mich damit zu trösten, dass wir hergekommen waren, um einer Familie gezielt zu helfen.

Hier, auf dem Land, schien es den Menschen besser zu gehen als in den Städten. Die schrecklichen Zustände waren scheinbar weit weg.

Wir hielten noch einmal an. Links von uns reichten Palmen Dutzende Meter hoch in den Himmel, flankiert von Farnen und dichten, mir bis dahin unbekannten Sträuchern. Der Regenwald wirkte undurchdringlich. Man kann sich leicht vorstellen, dass es stimmt, was im Reiseführer steht: dass es nicht weit von hier noch bengalische Tiger gibt. Viele dieser anmutigen Tiere seien es aber nicht mehr, sagte unser Fahrer.

Spektakulärer Regenwald hin oder her – mein Mann sah nicht glücklich aus. Er wirkte angestrengt und kniff die müden Augen zusammen.

»Ist es noch weit?«, fragte ich unseren Fahrer.

»Nicht mehr weit«, lautete seine wenig aussagekräftige Antwort, die wir heute schon einige Male gehört hatten. Wir saßen bereits seit zwei Stunden in dieser Blechkiste ohne Klimaanlage. Dabei war die Lehmpiste ohne Zweifel eine der besseren Straßen.

Die Impressionen dieser Reise waren voller Gegensätze: auf eine Art wunderschön, was die Freundlichkeit der Leute und die Vegetation betraf. Im nächsten Moment aber wäre ich am liebsten davongelaufen, bei all dem Elend, das uns begegnete.

Wo hatte ich uns da nur hineinmanövriert? Mich durchzuckte einen Augenblick lang Reue, gefolgt von Selbstzweifeln. Ich war die treibende Kraft hinter dieser Reise. Was, wenn wir am Ende nur Enttäuschungen mit nach Hause brächten?

Zum Glück hatten wir vorher lange genug über alles gesprochen und waren uns einig: Wenn wir nicht versuchten, Gazi zu finden, und es uns gelänge, uns selbst ein Bild von seinen Lebensverhältnissen zu machen, würden wir das irgendwann bereuen.

Rechts der Straße, etwas tiefer gelegen, sah ich eine Reihe quadratischer, künstlich angelegter Teiche. Eine Zuchtfarm für Riesenkrebse. Ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, hockte im Gras. Ein Mann, vermutlich sein Vater, schaute ihm zu und lehrte ihn den Umgang mit dem Fang. Neben den beiden stand ein alter geflochtener Korb. Der Junge hatte einige der Schalentiere gefangen und bewahrte sie darin auf. Bevor er sie nach und nach in den eimergroßen Bambuskorb fallen ließ, stellte er den linken Fuß auf die handtellergroßen Körper der Krebse. Gleichzeitig wickelte er dicke grüne Halme einer Wasserpflanze um die Scheren, um die Tiere kampfunfähig zu machen. Ab und zu erwischten sie ihn doch. Der Junge blutete leicht am rechten Daumen, sein Vater schimpfte.

Ich schaute neugierig in den Korb, ob sich seine Arbeit heute schon gelohnt hatte. Viele Krebse waren es noch nicht. Der Junge sah aber nicht so aus, als ob ihm das etwas ausmachte. Vielmehr schien er etwas nervös zu sein.

»Weil ihr Weiße seid, ist er aufgeregt«, erklärte unser Fahrer. Viele Europäer habe er in seinem Leben noch nicht zu Gesicht bekommen. Tiger ja, Weiße nein.

Der Junge sah gesund aus, der nackte Oberkörper war drahtig. Er trug eine kurze Sporthose. Das Wappen eines Fußballvereins, laut Martin des FC Barcelona, war darauf zu erkennen. »Wahrscheinlich arbeitet seine Mutter in einer der Fabriken in der nächsten Stadt, wo solche Hosen genäht werden«, flüsterte ich Martin zu. Wir hatten in den letzten Monaten viel über die Bedingungen in den unzähligen Textilfabriken hier gelesen: Es sind fast immer Frauen, die an den Maschinen sitzen und bis zur Erschöpfung ihrer monotonen Arbeit nachgehen. Die Männer erhalten häufig Aufseher-Jobs. Wer nicht zur Schule gegangen ist, und das gilt für zig Millionen in Bangladesch, und dazu keine Beziehungen hat, kann vielleicht Rikschafahrer in einer der größeren Städte werden, für ein paar Cent pro Fahrt. Oder Erntehelfer. Eine größere Auswahl haben die meisten nicht.

Mein Mann verdient in Deutschland nicht viel mehr als einen Durchschnittslohn, aber sein Nettogehalt ist trotzdem über hundertmal so hoch wie das eines Fahrers einer Rikscha in diesem Land.

Jedes Mal, wenn wir, so wie jetzt bei der Krebszucht, die Menschen bei ihren Tätigkeiten beobachteten, wurden wir gleichzeitig von den Einheimischen gemustert. Blonde, halblange Locken, wie ich sie trage, haben viele Bangladescher noch nie aus der Nähe gesehen, und dazu unsere helle Haut. Die gegenseitige Zuguckerei führte häufig zu kuriosen Situationen. Die Arbeiter stellten ihre Tätigkeit ein, um uns anzuschauen, während wir sie ansahen. Dann passierte meistens nicht mehr viel. Ich überlegte, ob es so etwas auch auf unserem Wochenmarkt zu Hause in unserem Städtchen geben könnte, wenn Fremde dort auftauchten. Ich denke, eher nicht.

Bei einer der vergangenen Fahrpausen waren wir wieder einmal innerhalb von Minuten umringt von einer Schar Kinder, die uns anfassen wollten und sich sehr über uns amüsierten. Es war nicht besonders unangenehm, jedoch forderten die außergewöhnlichen Eindrücke uns sowieso schon so stark, dass wir uns vorgenommen hatten, erst einmal nur noch an abgelegeneren Orten wie diesem hier zu pausieren.

Ich drückte den Rücken durch, spürte an meinem Puls, wie meine Anspannung stieg. Martin und ich standen knapp achttausend Kilometer entfernt von zu Hause an einer Landstraße der Provinz Bagerhat in Bangladesch. Bevor wir uns verabschiedeten, blickte ich ein letztes Mal in den halb vollen Korb mit Krebsen. In weniger als einer Stunde sollten wir den Mann treffen, der unser Leben gehörig durcheinandergewirbelt hatte.

S

Der 20. Oktober 2005, der einundvierzigste Geburtstag meines Mannes Martin, war ein Donnerstag. Seinen Ehrentag wollte er dieses Mal nicht groß feiern.

»Meine Güte«, hatte er gesagt, »das ist doch kein besonderes Ereignis.«

Am Morgen hatten wir den Tisch gar nicht erst feierlich gedeckt. Es gab ein einfaches Frühstück, ein paar Geburtstagskerzen, mehr nicht.

Martin fängt jeden Morgen um sechs Uhr an zu arbeiten. Normalerweise stehen die Kinder nicht so früh auf. An Papas Geburtstag machten die vier eine Ausnahme und gratulierten ihm. Stephanie war damals fünf Jahre alt, Fabian sechs, Judith zwölf und Christina, die Älteste, siebzehn. Die drei Jüngsten übergaben ihrem Vater beim Frühstück selbst gemalte Bilder. An den vergangenen Geburtstagen hatte Martin von ihnen häufig Gutscheine bekommen, zum Autowaschen etwa. Diesen und auch die meisten anderen haben sie aber bis heute nicht eingelöst, wie das nun mal so ist.

Martin ging um kurz vor sechs aus dem Haus.

Nur ein paar Minuten von unserem Haus entfernt ragen riesige Stahl- und Betonsilos in die Luft. Hunderte Meter lange Röhren umrandeten den Industriekomplex – ein großes Chemiewerk, einer der größten Arbeitgeber der Region. Allein sechstausend Arbeitsplätze hat die Firma in unserer Stadt geschaffen.

Martin ist gelernter Rollladen- und Jalousiebauer. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er aber nun schon in dem Werk als Logistiker. Er ist ein Mensch, der seine Gefühle nicht immer und zu jeder Zeit preisgibt. Er hat einen trockenen Humor. Überschwängliche Sentimentalitäten zählen nicht zu seinem Repertoire.

»Bei Papa kommen die Stärke und die Liebe von innen«, hat Steffi, unsere Jüngste, einmal gesagt. Da ist viel Wahres dran.

Ich hingegen bin eher extrovertiert und spontan. Wäre ich mit mir selbst verheiratet, würde ich mich nach einem halben Jahr wohl wieder von mir scheiden lassen. Mir würde es selbst auf den Keks gehen, dass ich ständig neue Einfälle habe, egal, ob es darum geht, die Möbel von einem Augenblick auf den anderen umzustellen oder irgendeiner armen Seele das Leben leichter zu machen. Wenn ich von etwas überzeugt bin, ziehe ich es durch. Stillstand und Langeweile sind nicht mein Ding. Martin trägt das meistens ruhig mit.

Früher war ich Arzthelferin. Seit unserem dritten Kind arbeite ich nur noch halbtags, als Schulbegleiterin im Fachbereich Inklusion. Anderthalb Jobs, das reicht uns zum Leben. Klar, reich wären wir schon gern. Aber wichtiger waren uns immer die Familie und unsere Freunde.

Wir verzichten auf vieles, wie Reisen oder groß essen gehen, aber an einem sparen wir nie: dem Karneval! Seit zweiundzwanzig Jahren nähen wir die Kostüme für unseren jährlichen Karnevalsumzug in unserem Ort selbst. Wir nennen uns »die Uhus« – eine Abkürzung für »die Unter-Hundertjährigen«. Anfangs wollten wir uns eigentlich »die Bivis« nennen, also die Bis-Vierzigjährigen. Einer von unseren Freunden war damals aber schon über der Altersgrenze, und so haben wir einen Namen gewählt, den wir in näherer Zukunft nicht ändern müssen.

Christina und ich übergaben unsere Geschenke an besagtem Donnerstag erst am Nachmittag, als Martin von der Arbeit zurückgekehrt war. Bis dahin war ich auch dazu gekommen, den Tisch feierlicher zu schmücken. Ein paar Girlanden, ein Geburtstagskuchen.

In den letzten Jahren hatte ich meinem Mann gern CDs geschenkt, Peter Maffay zum Beispiel oder Bryan Adams. In diesem Jahr gab es von mir eine silberne Uhr. Ich hatte Glück, sie passte. Christina hatte noch überlegt, Papa ein Bild von Michael Schumacher oder eine rote Ferrari-Kappe seines Idols zu schenken. 2005, lange vor seinem schweren Skiunfall, war Michael Schumacher der Sport-Superstar in Deutschland. Martin war und ist ein Riesenfan von ihm. Schumachers Heimatstadt Kerpen liegt nur eine halbe Autostunde von unserem Wohnort entfernt. Bei uns lief jedes Formel-1-Rennen im Fernsehen.

Am Ende wurde nichts aus der Idee mit der Kappe. Auch ein Parfum, wie im letzten Jahr, lag nicht auf dem Gabentisch. Warum Christina in diesem Jahr in einem Großmarkt in der Nähe ein Doppelpack Oberhemden gekauft hatte, weiß sie selbst nicht mehr. 7,99 Euro kosteten die beiden Kleidungsstücke zusammen. Eines war ein schlichtes marineblaues Hemd. Das andere, ein hellblaues mit weißen Streifen, sollte uns noch lange beschäftigen. Beide Hemden waren Größe XXL. Sie warteten wie ein kleiner, seiner Entdeckung harrender Schatz gut geschützt in Zellophanfolie in unserem Esszimmer darauf, ausgepackt zu werden. Wie hätten wir ahnen sollen, was sich, gut versteckt, noch darin befand?!

Das kleine Paket hatte eine lange Reise hinter sich. Sie begann in einer Kleiderfabrik im Süden Dhakas, der Hauptstadt von Bangladesch, vermutlich rund zwei bis drei Monate zuvor. Die Hemden landeten zunächst in Pappkartons, diese auf einem LKW, der sie zum Frachthafen von Chittagong fuhr, einer Küstenstadt des Landes.

Dort wurden die Hemden zusammen mit zigtausend weiteren in einen gut zwölf Meter langen Überseecontainer geladen, der dann mit Zwischenstopp in Singapur seine wochenlange Fahrt über den Indischen Ozean, das Mittelmeer, den östlichen Atlantik bis in die Nordsee antrat. In Rotterdam oder Hamburg wurden die Hemden entladen. In einem LKW folgte wohl der letzte Teil der Reise, vermutlich bis zum Verteilzentrum in Hamm in Westfalen und von dort zu unserem Großmarkt in einem Vorort von Köln.

Niemand wusste während dieser Zeit, dass mit dem Hemd ein Hoffnungsschimmer um die halbe Welt geschickt worden war.

Niemand, bis auf den Arbeiter, der eine Nachricht darin versteckt hatte.

Später am Nachmittag des Geburtstags kamen einige Gäste zu Besuch, rund zwanzig Leute. Das ist für unsere Verhältnisse der kleine Kreis. Abends gab es für alle einfache Küche, Kartoffelsalat mit Würstchen. Es war ein netter Abend ohne besondere Vorkommnisse. Martin und ich gingen, wie jeden Abend, zur selben Zeit ins Bett.

»Schlaf gut, Schatz«, war das Letzte, was ich an diesem Abend von ihm hörte. Das war’s mit dem einundvierzigsten Geburtstag – dachten wir, drei Tage lang. So lange rührten weder mein Mann noch ich das letzte Geschenk für ihn an.

Am Sonntag darauf fand ich endlich etwas Zeit.

ENDE DER LESEPROBE