Wechsel der Tonart - Felizitas Peters - E-Book

Wechsel der Tonart E-Book

Felizitas Peters

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Neun Autorinnen haben sich durch ihre Erinnerung an ikonische Songs inspirieren lassen und 36 Episoden geschrieben über Momente, in denen ihr Leben eine neue Wendung bekam und über die Themen, die das Leben treiben: Es geht um Freiheit, Liebe, Abenteuer und Frieden, der heute weniger selbstverständlich ist, als er es lange zu sein schien. Wir wollen damit der jüngeren Generation von Frauen – und Männern! – ermutigende Einblicke geben, in das, was ihre Vorgängergeneration geprägt hat. Sie alle kennen Frauen als Mütter, Großmütter, Tanten, Freundinnen, die in ihrer zweiten oder dritten Lebenshälfte souverän ihr Leben meistern. Sodass es aus heutiger Sicht scheinen kann, als sei diese Sicherheit das Ergebnis eines behüteten Lebens in stabilen Umständen. Wer liest, mit welchen Themen wir kämpften, gewinnt vielleicht Zuversicht für das Bewältigen der eigenen Herausforderungen – seien sie auch noch so bedrohlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 272

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Felizitas Peters (Hg.)

Wechsel der Tonart

Friederike Lydia Ahrens, Marion Diehr, Kirsten Eckmann, Manon Haccius, Karin Harries-Hedder, Christiane Maria Luti, Felizitas Peters (Hg.), Ursula Striepe, Petra Thelen

Wechsel der Tonart

Lebenswendepunkte

Die Erzählungen in diesem Band sind, inspiriert durch persönliche Erlebnisse, in literarischer Freiheit verfasst.

© 2025 Felizitas Peters

Lektorat, Korrektorat: Dr. Manon Haccius

Covergestaltung, Produktion: Albrecht Q, Hamburg

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

ISBN

 

Softcover

978-3-384-56712-3

Hardcover

978-3-384-56713-0

e-Book

978-3-384-56714-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Kontaktadresse nach EU-Produktionssicherheitsverordnung: [email protected]

In liebevollem Andenken an Renate Haußmann.

Du hast so Vieles angestoßen und so viele Menschen tief berührt.

Vorwort

Nach dem viel zu frühen Tod von Renate Haußmann 2022, kurz nach Vollendung der Kurzgeschichten-Sammlung „Die Erbinnen“, haben wir beschlossen, die von ihr begonnene Reihe geschriebener biografischer Prosa und Poesie fortzusetzen. Warum? Zum einen weil wir glauben, dass biografisches Erinnern gerade jetzt besonders wichtig wird. Vorgetäuschten Realitäten, die aus Milliarden von Erinnerungsschnipseln durch Künstliche Intelligenzen zu scheinbar realen Geschehnissen zusammengesetzt wurden, stellen wir das selbst Erlebte gegenüber. Wir nehmen uns dabei die Freiheit, eigene Schwerpunkte zu setzen, Erlebtes literarisch zu transformieren und dabei Zusammenhänge zu betonen.

Wir wollen außerdem der Generation junger Frauen – und Männer! – die nach uns kommen, einen ermutigenden Einblick geben in das, was ihre Vorgängergeneration geprägt hat. Sie alle kennen Frauen als Mütter, Großmütter, Tanten, Schwestern oder Freundinnen, die in ihrer zweiten oder dritten Lebenshälfte souverän ihr Leben meistern. Sodass es oft scheinen mag, als sei diese Sicherheit das Ergebnis eines behüteten Lebens in stabilen Umständen. Wer hier liest, mit welchen Themen wir kämpften, gewinnt vielleicht Zuversicht für die eigenen Herausforderungen – seien sie auch noch so bedrohlich.

Musik stärkt und begleitet unser Leben. Ikonische Liedzeilen sangen wir schon, als wir sie vor Jahrzehnten hörten. Und noch heute summen wir sie mit, denn manche Lieder sind unsterblich. In dem vorliegenden Band haben sich neun Autorinnen durch die Erinnerung an Songtexte inspirieren lassen und in Dreiergespannen Geschichten geschrieben über die Themen, die unser Leben treiben und es immer wieder an Wendepunkte heranführen: Über die Freiheit, über Liebe und Abenteuer und über den Frieden, der heute bedrohter ist, als er es lange war. Oft haben unsere Wendepunkte dazu geführt, dass wir die Tonart wechselten, doch zusammen ergaben sie die Melodie und den Rhythmus unseres Lebens. So wie die nächsten Generationen ihre Melodien schreiben werden. Wir wünschen uns, dass sie durch diese Geschichten gestärkt und mutig an ihre eigenen Tonartwechsel herangehen.

Felizitas Peters

Sommer 2025

Freiheit

„Me and Bobby McGee“ Janis Joplin 1969

Wann ist man frei?

Manon Haccius

„Ich bin privilegiert!“ Larissa staunt. Sie nimmt an einem Seminar über das Thema Diskriminierung teil. Noch einmal geht sie die Liste durch. Bei fast allen Punkten steht sie ohne Wenn und Aber auf der privilegierten Seite. Das alles hatte sie bisher einfach für selbstverständlich gehalten. Sie wird nachdenklich. Wenn, mit Janis Joplin gesprochen, Freiheit bedeutet, dass man nichts mehr zu verlieren hat, dann ist sie von diesem Punkt weit, sehr weit entfernt.

Worum geht es? Sie ist Weiß, nicht Schwarz oder Person of Color. Sie gehört keiner Minderheit an, ist nicht eingewandert oder Kind von Einwanderern, sondern hier geboren, in einem der reichsten Länder der Erde, das Teil der Ersten Welt ist. Die sozialen, wirtschaftlichen und politisch-rechtlichen Verhältnisse sind stabil. Ja, im Elternhaus wurde Leistung gefordert, vielleicht gelegentlich härter als ihr lieb war. Sie durfte studieren. Das hatte ihre Mutter beim Vater durchgesetzt, damit die Tochter später einmal wirtschaftlich sicher auf eigenen Füßen stehen konnte.

Larissa übt einen selbstgewählten und ordentlich bezahlten Beruf aus, führt ein selbstbestimmtes Leben. Das sind tatsächlich eine Menge Privilegien. Nur in einem einzigen Bereich steht Larissa nicht auf der privilegierten Seite. Vielmehr zählt sie zu der Hälfte der Menschheit, die es etwas weniger gut getroffen hat. Denn sie ist eine Frau, kein Mann. Larissa erinnert sich an den gedichteten Seufzer der Annette von Droste-Hülshoff: „Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur, so würde der Himmel mir raten“ (aus dem Gedicht „Am Turme“ von 1842). Das Gedicht spricht Larissa auch heute noch an. Ein Mann wollte sie zwar nie sein. Aber etwas selbstverständlicher, mit etwas weniger Kämpfen wäre sie ihren Weg, insbesondere den beruflichen gerne gegangen.

Ihre Mutter taugte als Rollenvorbild nur bedingt. Sie hatte jung geheiratet, das erste Kind – Larissa – mit 23 bekommen. Sie war eine hübsche, lebenslustige und humorvolle, den Menschen zugewandte Frau, auch eine liebe Mutter, die sich gerne um ihre Kinder kümmerte. Aber ihr Mann ließ sie seine intellektuelle Überlegenheit immer spüren und wusste alles besser, auch in den klassischen Domänen der Hausfrau. Das nagte an ihrem Selbstbewusstsein und zermahlte es in den sechs Jahrzehnten des Ehelebens allmählich. Larissa wollte so nicht leben. Irgendwann hatte sie das ihrer Mutter in einem Streit an den Kopf geworfen. Die kränkte das tief, verstanden hat sie es nie, Larissa wohl auch immer nachgetragen. Sie seufzte; mit der Mutter konnte sie darüber nicht mehr sprechen; sie war vor einigen Jahren verstorben

Das Lebensmodell verschiedener Tanten fand Larissa als Mädchen auch nicht erstrebenswert. Sie war verunsichert, weil der Vater sich abfällig äußerte, wenn eine von ihnen berufstätig und etwas selbstbewusster war. Auch diese Tanten ordneten sich ihren Ehemännern unter. Larissa fragte sich gelegentlich, ob das gerechtfertigt sei; denn „Helden“ sah sie in ihnen nicht. Dass Recht und Gesetz bei einer Eheschließung in den 1950ern und 60ern diese Unterordnung absicherten, lernte Larissa erst viel später, als die Situation schon anders war und der Ehemann nicht mehr einfach den Arbeitsvertrag seiner Frau kündigen konnte, weil er meinte, sie vernachlässige ihre Pflichten als Haus- und Ehefrau.

Dass er über ihr Einkommen verfügen durfte, war ein sehr wirksames Instrument, um Gehorsam einzufordern. Denn wenn die Ehefrau auf Geld in nennenswerter Höhe keinen Zugriff hatte, wie sollte sie dann über den Ausbruch aus einer als zu eng empfundenen, patriarchalen Ehe auch nur nachdenken?

Lieb, hübsch, charmant, so hatte eine Frau, ein Mädchen zu sein. Man sollte der Umwelt angenehm sein und gefallen. Darüber hatte Larissa sich schon als Vierjährige geärgert, sie wollte nicht immer „nett“ sein müssen. Zu den gerne erzählten Familienanekdoten gehörte die Szene, in der Larissa bei einer Begegnung mit Bekannten die Arme hinter den Rücken nahm und grimmig verkündete: „Ich sage nur den Leuten guten Tag, die ich mag.“ Ihre kleine Schwester erkannte umgehend ihre Chance, war reizend und erntete freundlichste Aufmerksamkeit. Und Larissa gab klein bei.

Es ärgerte sie als Kind und auch später noch, wenn sie, was öfters vorkam, ernst in die Gegend schaute, weil sie über etwas nachdachte und dann gefragt wurde, warum sie so böse gucke. Böse? Der Vorwurf kränkte sie. Böse bedeutete doch, dass man etwas Verbotenes vorhatte oder schlechte Absichten hegte. Oder vielleicht, dass man über irgendetwas grollte. Sie war sich aber keiner Schuld bewusst, heckte nichts aus und hatte nichts Unerlaubtes getan. Und bis eben hatte sie sich auch über nichts geärgert. Was für ein Verständnis von „böse“ war das, wenn sie doch nur ernst guckte? „Ernst“ wurde mit „böse“ gleichgesetzt. Aus der Falle kam sie nicht heraus. Wenn sie die gestellte Frage beantwortete, war sie wieder böse. Das ärgerte sie erst recht. Um das auszudrücken, fehlten ihr als Kind aber die Worte. Viele Jahre später verhielt sich die kleine Tochter ihrer Schwester genauso; mit gerunzelter Stirne sah sie etwas oder jemanden intensiv an und dachte darüber nach. Zum Glück durfte sie es; denn ihre Mutter erinnerte sich noch gut an Larissa als Kind.

Immer nett sein müssen, das war das eine, was Larissa nicht wollte; denn es war anstrengend. Es zog ihre Energien ab vom Nachdenken über das, was ihr gerade eine Frage war. Stattdessen sollte sie sich bemühen, bei anderen Menschen einen „netten“ Eindruck zu hinterlassen. Hübsch sein und äußerlich gefallen sollen, das war das andere, was Larissa ärgerte. Sie war ein groß gewachsenes Mädchen und fiel dadurch überall auf, fühlte sich exponiert. Kleidung „von der Stange“ passte nie richtig und sie fühlte sich oft nicht wohl in den Sachen. Besonders anmutig bewegte sie sich auch nicht. Wenn ein junger Hund etwas tapsig unterwegs ist, finden die Menschen das charmant. Aber für ein Mädchen gilt das nicht. Die Erwartung, hübsch und anmutig aufzutreten, überforderte Larissa. Es kostete sie Kraft und – das war wirklich unfair – sie konnte dabei nicht gewinnen. Ihre Unsicherheit war gleich zu erkennen, auch wenn sie sie hinter einer mürrischen, abweisenden Fassade zu verstecken suchte. Bei einem Jungen hätte das vermutlich niemanden gestört; als Mädchen kämpfte sie mit diesen Erwartungen, denen sie nicht gerecht wurde. Im Teenageralter schaltete sie um auf abgetragene Jeans, einen Uralt-Parka aus dem Army-Shop, selbstgestrickte Pullis sowie, anstelle von Damenblusen, umgenähte alte Oberhemden des Vaters, bei denen wenigstens die Ärmel lang genug, die Schultern breit genug waren. Diese Kluft fiel damals zum Glück nicht allzu sehr aus dem Rahmen, weil viele – Jungs und Mädchen – ähnlich herumliefen.

Im Clinch lagen die Rollenerwartungen des Vaters an seine Tochter als heranwachsende Frau einerseits und an ihre schulischen Leistungen andererseits. Letztere sollten gut, ja sehr gut sein. Unweigerlich brachte das eine gewisse Blaustrümpfigkeit mit sich, die seiner Vorstellung wohl kaum entsprach. Mit sehr guten Leistungen in der Schule erkaufte Larissa sich Spielraum; gute Noten wurden zu ihrer Rüstung. Der Vater ließ sie fortan mit schulischen Themen in Ruhe. Sie fand sich zwar weder hübsch noch anmutig und war ungelenk im Smalltalk. Aber sie brachte die geforderten Leistungen. Die wurden in Zahlen ausgedrückt. So war ihre Performance messbar und nicht mehr subjektiven väterlichen Urteilen unterworfen.

Die Ruhe war trügerisch. Sobald es auf das Abitur zuging, stellte sich die Frage des Danach. Larissa fühlte sich wieder überfordert, konnte sich nicht entscheiden. Studieren oder irgendeine Ausbildung? In welchem Fachgebiet? Das Thema quälte sie. Und es wurde immer drängender. Denn was dem Vater vorschwebte, das entsetzte sie: Ein Jahr Hauswirtschaftsschule nach dem Abitur irgendwo in der ländlichen Einöde und das Berufsziel Sekretärin, Chefsekretärin am besten. Gute Sekretärinnen würden immer gebraucht, das sei ein sehr gut bezahlter Frauenberuf. Zuverlässig und schnell sei sie ja.

Larissa wollte das auf keinen Fall. Es hätte wieder Unterordnung bedeutet, bloße Zuarbeit, zweite Reihe, ausgerichtet auf die Anforderungen des jeweiligen Chefs, der natürlich ein Mann sein würde. Und sie würde sich adrett kleiden und immer freundlich sein müssen. Nein, sie wollte sich mit Fachthemen beschäftigen. Glücklicherweise senkte der Gesetzgeber das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre ab. Larissa musste den väterlichen Vorgaben nicht folgen. Sie würde studieren.

Mit der Wahl des Studienfachs tat sie sich schwer. Was sie nicht wollte, war klar. Jura zum Beispiel, denn ihr Vater war Jurist. Aber sich in Freiheit für etwas entscheiden, das sie wirklich wollte? Unendlich schwer war das. Larissa schalt sich selbst. Jetzt hatte sie die Freiheit und schaffte es nicht, sie auch zu nutzen. Zum Glück entpuppte sich das unter vielen Zweifeln gewählte Fach als interessant. Das Studium bereitete ihr Freude und erweiterte den Horizont. Der Berufseinstieg folgte lückenlos auf das Diplom – alle Schritte, vor denen sie große Sorgen gehabt hatte, waren schließlich gut bewältigt. Sie verdiente ihr eigenes Geld, war unabhängig.

Anfangs machte der Beruf Larissa riesengroßen Spaß. Die Branche, in die sie eingestiegen war, entwickelte sich gut, lag im Zeitgeist vorne. Als Frau fühlte sie sich nicht diskriminiert und lernte viel Neues in kurzer Zeit. Das ging so lange gut, bis sie für das Empfinden ihres Chefs zu eigenständig wurde. Larissa verstand die Ursachen der sich entwickelnden und immer mehr eskalierenden Streitereien nicht, sie erkannte nicht, woran es lag. Sie machte ihren Job doch ordentlich, schnell und zuverlässig und inhaltlich im besten Sinne des gemeinsam Gewollten. Was war es nur, das ihrem Chef nicht passte? Es dauerte Jahre, bis sie irgendwann verstand, was damals passiert war. Der Chef hatte von der deutlich jüngeren Frau erwartet, dass sie ihn im Rampenlicht glänzen ließ und sich selbst im Hintergrund hielt. Stattdessen baute sie ihre Reputation in der kleinen Branche rasch auf und machte sich einen Namen, als Nebenprodukt guter Arbeit, nicht als aktiv verfolgtes Ziel. Irgendwann, als auch Schlichtungsgespräche mit dem Chef nicht fruchteten, entschloss sie sich zu gehen.

Der neue Job begeisterte sie. Das Unternehmen, in das sie gewechselt war, wuchs rasch. Eigenes Denken war gefragt, selbstständiges Arbeiten wurde wertgeschätzt, Tempo war willkommen, notwendige Abstimmungen verliefen schnell und unproblematisch. Ihre Präzision und gelegentliche Strenge passten gut zu der ihr übertragenen Funktion. Aufatmen, eintauchen in die Aufgaben, ein enormes Pensum umsetzen – viele Jahre lang ging das gut. Irgendwann allerdings merkte Larissa, dass sie Vorschläge zwar noch äußern, aber nicht mehr umsetzen konnte. Ohne dass es je klar gesagt worden war, bekam ein Kollege die Zuständigkeit für Themen, die bis dahin ihre gewesen waren. War sie wieder zu selbstbewusst geworden? Hatte sie – was einige Kollegen bewunderten – einmal zu viel ihre Meinung gesagt? Hatte sie Projektideen kritisiert, die der Geschäftsführung am Herzen lagen? Sie wusste es nicht. Zentimeterweise wurde sie aus dem zentralen Fahrwasser geschoben. Sollte sie dagegen ankämpfen?

Larissa war jetzt eine gestandene Senior Managerin. Immer noch fiel es ihr gelegentlich schwer, verbindlich und nicht nur klar, strukturiert und sachbetont zu sein. Sie hatte mit den fachlichen Leistungen über die Jahre ja auch Erfolge und Anerkennung gewonnen. Vielleicht fehlte es neu dazugekommenen Kollegen im gewachsenen sozialen Gefüge des Unternehmens bei Larissa an etwas, das sie in ihrem Leben nie in den Vordergrund gestellt hatte? Noch immer fand sie es etwas anstrengend, erst einmal nett sein zu müssen, besonders wenn fachliche Themen gerade sehr fordernd waren. War das vielleicht so, weil sie bei ihrer Mutter beobachtet hatte, dass sie, die so gerne freundlich auf ihre Umgebung zuging, letztlich damit in ihrem Leben als Ehe- und Hausfrau so wenig hatte punkten können? Larissa, inzwischen gelassener geworden, hätte das gerne einmal mit ihrer Mutter besprochen – aber leider ging das ja nicht mehr.

Schließlich gab sie sich einen Ruck, untersagte sich jegliches Opfergefühl und wendete den Blick entschieden nach vorne. Ihr Team, so überlegte sie, war kompetent und zuverlässig, erledigte seine Arbeiten bestens und zunehmend selbstständig. Es würde auch ohne Larissa gehen. Also reduzierte sie schrittweise ihre Arbeitszeit, baute ihren Stellvertreter gezielt zu ihrem Nachfolger auf und verteilte ihre verbliebenen Spezialthemen an die Mitarbeiterinnen. Das funktionierte glatt und ruckelfrei. Mit 63 Jahren ging sie in den Ruhestand – erleichtert, selbstbestimmt und freiwillig.

Mit 63 beginnen die Jahre der Freiheit, heißt es. Na dann los!

Ein unerwartetes Geschenk – alles ist möglich

Marion Diehr

Vor zwei Stunden, als die Sonne es noch nicht über den Grat geschafft hatte und die Schneelandschaft mit blauem Licht überzog, war die Langlaufgruppe aufgebrochen und hatte Ina zurückgelassen. Sie wäre gern in die verschneite Winterlandschaft hinausgegangen. Vom Flurfenster aus beobachtete sie, wie die anderen im Gänsemarsch einer hinter dem anderen über den zugefrorenen See marschierten. Wie sehr hatten sie und ihr Mann Rob sich auf diesen Urlaub gefreut. Sie beide genossen es, sich draußen in der Natur zu bewegen.

Nachdem die kleine Gruppe der Skiwanderer am anderen Ende des Sees hinter einem Felsenhang verschwunden war, duschte sie, was unendlich lange dauerte, denn ihr rechter Arm hing nur schlaff herunter und war zu nichts zu gebrauchen. Außerdem durfte ihr Verband nicht nass werden. Sie konnte sich nicht allein die Haare waschen. Auch das Zähneputzen mit der linken Hand war nicht einfach gewesen. Aber irgendwann hatte sie es sogar geschafft, sich frische Sachen anzuziehen. Ein Skiunfall am zweiten Reisetag war eigentlich der Klassiker. Nur, dass ausgerechnet ihr so etwas passieren würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Zum Überfluss, wie um sie zu verhöhnen, schien die Sonne auf die verzauberte Welt des verschneiten Nationalparks. Der Wetterbericht prognostizierte eine stabile Hochdrucklage für die nächsten zwei Wochen und sie war für den Rest ihres Urlaubs ans Haus gefesselt. Ina seufzte.

Allerdings war der Abschied von den anderen ihr heute Morgen schon leichter gefallen als am Vortag und es kam ihr in den Sinn, dass sie das gar nicht so schlimm fand, im Haus zu bleiben, wie anfangs gedacht. Wie bereits am ersten Tag nach dem Unfall waren alle Mitreisenden nach dem Frühstück ausgeflogen. Auch heute gehörte das leere Haus ihr und sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie musste nicht hechelnd im Grätenschritt den Berg hinauf oder sich auf wackligen Skiern hinunterstürzen. Sie musste weder sich noch den anderen beweisen, wie fit sie war. Mal ganz was Neues. Dann, so ab drei Uhr nachmittags, wenn allmählich die Langeweile kam, würden die ersten Skiwanderer zurückkehren und ihr von ihren Erlebnissen erzählen. Dazu könnten sie gemeinsam Waffeln mit heißer Blaubeersoße essen.

All das hatte so begonnen: Ina hatte die Überfahrt mit der Fähre über die Ostsee bei schönem Wetter sehr genossen. Sie fand es cool, mit dem Schiff in den Winterurlaub zu reisen, das machte nicht jeder. Dann hatte die Skihütte in Bessheim sie mit Sonnenschein und einer glitzernden Bergwelt empfangen. Obwohl sie nicht trainiert hatte, war sie bei der ersten Tagestour gut mitgekommen, die Mitreisenden waren nett und die Landschaft überwältigend. Aber die anderen waren deutlich schneller und Ina hatte bemerkt, dass sie in dieser Gruppe nicht zu den starken Läuferinnen gehörte und sie sich deutlich anstrengen musste, um mithalten zu können. Außerdem war durch die Sonneneinstrahlung bei Minustemperaturen der Schnee verharscht und sehr hart. Am zweiten Tag führte die Route über einen Hügel, den sie in einem langen mühsamen Aufstieg erklommen hatten. Die Luft war klar und schneidend. Sie war die letzte in der Gruppe. Vor Ina lag ein steiler ausgefahrener Abhang, von der Loipe war nichts mehr zu sehen und der Schnee war angetaut und wieder überfroren. Genau genommen war es spiegelglatt. Alle anderen waren den Hang schon hinuntergefahren. Ina konnte sie als kleine bewegliche Spielzeugfiguren in der Ferne erkennen. Die Gruppe war zu weit weg, um sich bemerkbar zu machen. Sie würde sich beeilen müssen, um sie einzuholen. Kurz überlegte Ina, ob sie die Skier abschnallen und zu Fuß nach unten gehen sollte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und dachte nach. Aber dann würde der Abstand zwischen ihr und den anderen noch größer werden. Das wollte sie auf keinen Fall. Also rutschte sie vorsichtig an die Kante und versuchte, sich langsam im Schneepflug nach unten rutschen zu lassen. Aber der Hang lag in der Sonne und auf der Oberfläche hatte sich ein dünner Wasserfilm gebildet. Kaum war Ina gestartet, da hatte sie schon die Kontrolle über ihre Ski verloren und war, ehe sie sich versah, in eine alte Spur geraten, die ihre Talfahrt rasch beschleunigte. Ihr Körper wurde stocksteif. Es fehlte ihr an Technik und Selbstvertrauen, um die Talfahrt zu steuern. Vergeblich versuchte sie, das Gewicht auf einen der Ski zu verlagern und sich so irgendwie quer zum Hügel zu stellen. So viel zum Thema Telemarkschwung. Vorsichtig schaute Ina nach vorn, aber das Ende des Hügels war noch lange nicht in Sicht. „Huh, wie schrecklich.“ Fieberhaft hatte sie überlegt, sich fallenzulassen, um so die wilde Fahrt zu stoppen. Aber bei diesem Tempo schien ihr das unmöglich. „Durchhalten! Augen zu und durch!“ befahl sie sich, und so nahm die Katastrophe ihren Lauf. Spätestens jetzt bereute sie, die Skier nicht abgeschnallt zu haben. Ina ging in die Hocke, um sich von dort seitlich auf die vereiste Fläche fallen zu lassen und so die Kontrolle wiederzuerlangen. Doch damit erreichte sie genau das Gegenteil. Ihre Abfahrt wurde noch schneller. Weit und breit war niemand, der ihr helfen könnte, kein Gebüsch, das sie hätte aufhalten können. In ihrer Not rammte Ina zum Bremsen den rechten Skistock mit aller Kraft in den Untergrund. Jetzt stellten sich die Ski quer, drehten sich abrupt nach rechts und brachten Ina vollends aus dem Gleichgewicht. Sie stürzte und rutschte weiter talwärts. Nach einer langen Schrecksekunde fand sie sich am unteren Rand des Abhangs, wo ein Schneehügel sie abgefangen hatte. Erleichtert hob sie den Kopf. Ihre Nase, auf der zu ihrer Überraschung noch immer ihre Brille saß, tat höllisch weh. Mit Mühe schaffte Ina es, sich auf ihre Knie zu setzen und atmete tief ein. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Volltreffer auf ihrer Nase gelandet. In ihrem Inneren klopfte das Herz wie wild. Außen umfing sie eine friedliche Stille.

Ina versuchte, das Geschehene zu rekapitulieren, doch ein paar Augenblicke fehlten in ihrer Erinnerung. Nur langsam beruhigte sich ihr Puls und Ina versuchte aufzustehen, aber ohne Erfolg. Ihr rechter Arm tat nicht, was sie wollte, im Gegenteil: Er tat gar nichts. Sie gab den Befehl den Arm zu heben und nichts geschah. Es war so, als würden die Muskeln ihr den Gehorsam verweigern. Sie konnte sich weder an ihrem Stock hochziehen noch aufstützen. Noch hatte Ina nicht begriffen, was mit ihr passiert war. Noch zögerte sie um Hilfe zu rufen. Wie peinlich. Doch was blieb ihr anderes übrig?

Etwa eine Dreiviertelstunde später, als sie auf dem Anhänger eines Schneemobils sitzend über die schneebedeckten Weiden gezogen wurde, fühlte sie kein Bedauern und keinen Schmerz. Ihre Nase hatte sich wieder beruhigt. Rob und einer der Gruppenleiter, Stefan, brachten sie nach Lillehammer ins Krankenhaus. Nach stundenlanger Wartezeit und einer dreistündigen Autofahrt waren sie am späten Abend wieder zurück im Hotel, ausgestattet mit einer Röntgenaufnahme und Schmerzmitteln. Das Röntgenbild ließ keinen Zweifel aufkommen, Inas Oberarm war gebrochen, eine Sehne vom Gelenkkopf abgerissen.

Nach durchwachter Nacht, ihren rechten Arm in einer Schlinge, saß Ina am Morgen nach dem Unfall mit den anderen am Frühstückstisch und versuchte ein Ei zu köpfen. Es ging nicht. Sie war wütend auf sich selbst. Immer wieder rutschte ihr der Eierbecher weg. Die in der Nähe Sitzenden eilten zur Hilfe, brachten ihr Dinge vom Buffet, einer hielt ihr den Eierbecher fest, damit sie das Ei auslöffeln konnte, ihr Mann schmierte ihr Brote und alle wollten noch mal ihre Geschichte hören. Die ihr entgegengebrachte Aufmerksamkeit irritierte sie, andererseits genoss sie es im Mittelpunkt zu stehen. Jemand spendierte ihr eine gehortete Orange, jemand anderes eine Tüte mit Gummibärchen. Sie schaute in die Runde. „Daran könnte ich mich glatt gewöhnen. Da muss ich mir den Arm brechen, um zuzulassen, dass andere nett zu mir sind“, dachte Ina. „Verrückte Welt!“ Dann wurde das Geschirr abgeräumt und der Frühstücksraum leerte sich. Rob stand zögernd an der anderen Seite des Tisches: „Hast du Schmerzen? Soll ich dir noch deine Tabletten bringen?“, fragte er. Sie nickt mit dem Kopf. Die Ärztin im Krankenhaus hatte sie davor gewarnt, die Schmerzmittel abzusetzen. Durch die Schmerzvermeidung würden sich Fehlhaltungen einstellen, die man nur schwer wieder loswürde. Ina hatte beschlossen, sich daran zu halten. Rob, in Skischuhen, tätschelte ihre gesunde Hand. Sie grinste. „Du kannst ja schon wieder lächeln. Ist doch nochmal glimpflich abgegangen“, sagte Rob. „Na, du hast gut reden“, erwiderte Ina. In dem Moment hasste sie sich dafür, dass sie sich selbst ausgeknockt hatte. Eine der zufällig mitreisenden Ärztinnen, eine Spezialistin für Schulteroperationen, kam noch mal herein und erklärte ihr, sie dürfe den Arm ruhig bewegen. Sie solle vorsichtig pendeln, denn die Durchblutung sei gut für den Heilungsprozess. Ina schaute sie ungläubig an. „Okay. Danke für den Tipp“, sagte sie. Sie würde alles tun, um möglichst schnell wieder gesund zu werden. Mittlerweile sammelten sich die ersten vor der Haustür. Bald würden sie zu ihrer Tagestour aufbrechen und Ina allein zurücklassen. An diesem ersten Tag nach dem Sturz hatte sie sich noch gefragt, wie sie den Tag nur herumkriegen sollte und die weiteren Tage, die noch folgen würden? Schweißtröpfchen hatten sich auf ihrer Oberlippe gebildet. Es war viel zu warm in diesem Hotel.

Mühsam hatte sie geduscht und war wieder nach unten gegangen. Mit einem Buch unter dem Arm und mit einer Kaffeetasse hatte sie das Foyer und die Aufenthaltsräume durchstreift. Weit entfernt, aus den Wirtschaftsräumen hörte man nur das Klappern von Töpfen und Pfannen. Wehmütig hatte sie auf die die Eingangstür geblickt und sich selbst leidgetan. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ob sie wohl draußen sitzen könnte? Aber mit dem Verband konnte sie nicht mal ihre Skijacke überziehen. Bei Minus 10°Celsius war das trotz Sonnenschein wohl keine Option. Sie hatte sich für das Kaminzimmer entschieden, in das durch die vielen Fenster die Sonne hereinschien. Während sie noch überlegt hatte, auf welchem der roten Sessel sie sich niederlassen sollte, nahm sie im linken Augenwinkel eine Bewegung wahr. Eine stattliche, um nicht zu sagen dicke, rotbraune Katze kam majestätisch durch das Foyer geschritten und folgte Ina ins Kaminzimmer. Sie ließ sich auf einer der breiten Fensterbänke in der Sonne nieder, und sie hatte mit halbgeschlossenen Augen zu Ina hinübergesehen, so als wollte sie sagen: „Ich sage nur den Leuten guten Tag, die ich mag.“ Ina schien es, als wäre der Katze ein bisschen Gesellschaft durchaus angenehm und als wollte die Katze ihr sagen, dass man bei diesen Außentemperaturen besser im Haus aufgehoben sei. „Dann will ich mich auch ein bisschen ausruhen“, dachte Ina. Sie ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen, öffnete ab und zu die Augen und schaute hinaus in die Winterlandschaft. Nach einer Weile sprang die Katze auf ihren Schoß und kuschelte sich ein. Ina schloss die Augen, spürte wie die Vibrationen des schnurrenden Tieres sich auf ihren Körper übertrugen. Ab und an hatte die Katze den Kopf kurz angehoben und Ina träge angeschaut, so als wollte sie sagen: „Hast du’s nun endlich begriffen?“ Dann ließ das Tier den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Ina legte ihren Kopf zurück auf die Sessellehne und schloss sie ebenfalls. Die Sonne färbte das Innere ihrer Augenlider rot. Im Geiste sagte sie sich: „Niemand will was von dir, nicht einmal du selbst. Du bist frei.“

Zwei Wochen später, am Ende ihres Urlaubs, holte ihre Freundin Christine sie vom Flughafen ab.

„Schön, dass du wieder da bist “, sagte sie. „So erholt wie nach diesem Urlaub habe ich dich lange nicht mehr gesehen!“

Mut tut gut

Ursula Striepe

Karins Blick richtet sich auf ihren Comic-Jahreskalender, der in der Küche zwischen Tür und Fenster an der Wand hängt. Heute ist der 31. Juli. Wie nach Bestätigung suchend, ob wirklich Sommer ist, schaut sie kurz hinaus auf üppiges Grün und zum blauen Himmel hinauf. „Morgen ist der Tag der Entscheidung“, flüstert sie. Sie hebt das Juliblatt des Kalenders an und liest erneut den Witz des Folgemonats. Jedes Mal, wenn sie dies tut, fühlt es sich an, als hätte sie heimlich in das nächste Türchen des Adventskalenders gelugt. „9.30 Uhr Amt“ steht im Kästchen vom 1. August. Morgen wird sie entscheiden, wie ihr Leben weitergeht, wird es entscheiden müssen. Doch eigentlich weiß sie es schon.

Nach zwei Jahren voller Leben und Licht, Vielfalt, Farben und neuen Impulsen, richten sich ihre inneren Widerstände auf wie die Stacheln eines Igels bei Gefahr. Soll sie zurückgehen in graue, verstaubte Büros mit abgestandener Luft? Zurück zu frustrierten, freudlosen Kollegen, die nur noch stumpfsinnig und mechanisch ihre wenige Arbeit verrichten, ohne wirklich Befriedigung daran zu haben? Zu Menschen, deren Gedanken Auswege aus der Enge suchen, aber keine finden, denn sie irren wie durch Gitterstäbe eines Gefängnisfensters, um einen Blick auf die Welt zu erhaschen. Ihre Gespräche drehen sich ums Essen, um das, was in der Zeitung steht und um die freie Wirtschaft, die unübersichtlich und bedrohlich erscheint. Dann bestätigen sie sich gegenseitig alles richtig gemacht zu haben, schieben weiter ihre Karteikarten auf den Tischen hin und her und bleiben auf ihren Beamtenstühlen sitzen. Soll sie zurück und sich wieder an einen Schreibtisch setzen und so tun, als hätte sie zu tun, obwohl nichts zu tun ist? Will sie sich wieder dieser Unterforderung aussetzen, die schon einmal zu einer Depression führte, zugunsten eines vermeintlich sicheren Arbeitsplatzes bis hin zur Rente, von der sie noch gefühlt Lichtjahre entfernt ist?

Karin lässt das Kalenderblatt wieder los, dessen untere linke Ecke abgegriffen ist und sich nach oben wölbt. Bestimmt hundert Mal hat sie es in den letzten Monaten angehoben und sich vergewissert, dass der erste August unaufhörlich näher rückt. Sie stützt sich auf die Arbeitsplatte und schaut wieder durchs Fenster zum strahlenden Himmel hinauf, der alles überspannt. „Ich kann nicht zurück in dieses alte Leben.“

Ihre Mutter hat dafür Verständnis oder zumindest tut sie so, um es sich mit ihrem einzigen Kind nicht zu verderben. Bestimmt wird sie sie auch weiterhin unterstützen. Ihre Großeltern werden sicher die Köpfe schütteln.

„Den Beamtenstatus aufgeben! Kind, hast du dir das auch gut überlegt?“, werden sie mahnen. „Wovon willst du denn leben? Arbeitslosengeld gibt es nicht. Du kannst nur Sozialhilfe beantragen!“

Das stimmt, wenn sie keine Arbeit finden würde, aber Karin ist sicher, dass sie etwas findet. Und wozu hat sie dann ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht, wenn sie wieder zurückgeht? Um nichts damit anzufangen? Studieren möchte sie, etwas lernen und Arbeit finden, die ihr gefällt, die ihr Spaß macht und sie bereichert. Sie will nicht enden wie die Kolleginnen, die offenbar felsenfest daran glauben, dass ihre sämtliche Kleidung eingelaufen ist und deshalb nicht mehr passt. Ihr Entschluss morgen zu kündigen ist eigentlich schon gefallen und verfestigt sich jetzt, wo ihr all das durch den Kopf geht.

„Und das Auto? Kannst du es behalten? Sonst kannst du uns ja gar nicht mehr besuchen kommen!“ Panik wird sich bei diesem Gedanken in der Stimme der Großmutter breitmachen.

Vorerst wird Karin den kleinen Opel Kadett weiter fahren. Ihre Mutter bot ihr an Steuern und Versicherung für ein weiteres Jahr zu übernehmen.

„Ja, da bleibt alles beim Alten.“, kann sie ihre Oma beruhigen.

„Und wo willst du wohnen?“, werden die Großeltern fragen.

Zu Recht, daran hatte sie bisher noch gar nicht gedacht. Die Wohnung darf sie nicht behalten. Dieses Haus ist nur für Beamte. Innerhalb eines Vierteljahres muss sie etwas Neues gefunden haben. Karin bleibt auch bei diesem Gedanken optimistisch. Es wird sich schon etwas ergeben.

„Außerdem kenne ich eine Menge Leute und habe gute Freunde. Sicher kann ich notfalls irgendwo unterschlüpfen.“

Sie öffnet eine Tür ihres Sideboards aus Kiefernholzfurnier, das ihre Mutter ihr schenkte, als sie hier eine eigene Wohnung bezog. Anfangs war das Haus ein Wohnheim für minderjährige und junge weibliche Angestellte des Amtes und kostengünstig gewesen. Eine Zweizimmerwohnung für vier Mädchen. Möbliert: Tische, Stühle, Betten, Schränke aus dunkelbraunem Furnierholz, über jedem Bett eine große Pinnwand für Poster und das, was Jugendliche sich eben so aufhängen. Die Wände durften nicht beschädigt werden. Es gab Anwesenheitskontrollen. Um 22.00 Uhr hatte man im Haus zu sein, am besten im Bett. Mit einer beantragten Sondergenehmigung für „Ausgang“ durfte man bis 23.00 Uhr wegbleiben. Außer man war volljährig, dann hatte man ja auch Spät- und Nachtdienst. „Herrenbesuch“ musste grundsätzlich angemeldet werden, Übernachtungen waren verboten. Jeden Abend ging eine Aufsicht mit einer Kontrollliste zum Abhaken durch die Flure. Sie hatte Schlüssel für alle Räume. Das Heim wurde Ende der 70er Jahre aufgelöst und man konnte sich auf eine Wohnung bewerben. Seitdem wohnt Karin hier im 12. Stockwerk. Ihr Blick schweift über die Dächer und Grünflächen der Stadt. „Den Ausblick werde ich vermissen“, denkt sie.

Dann zieht sie einen Ordner aus einem Regalfach hervor, auf dessen Rücken „Papiere“ steht und sucht das heraus, was sie morgen brauchen wird. Sie steckt die benötigten Unterlagen in eine Klarsichthülle und schiebt den Ordner zurück in das Sideboard. Mit einem leisen Klacken schließt sie die Tür. Morgen wird sie ein neues Leben beginnen. Ein leichter, freudiger Schauer durchläuft ihren Körper bei diesem Gedanken. Die Sonne scheint. Der Himmel ist klar.

„Ich bin jung. Ich vertraue auf mein Glück. Was habe ich schon zu verlieren? Ich kann nur gewinnen.“ Ein warmes Gefühl der Zuversicht breitet sich in ihr aus und sie ist sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie fühlt sich auf einmal sorglos.

Am nächsten Morgen betritt sie die kargen, sterilen Flure der Behörde. Kaltes Neonlicht spiegelt sich in den auf Hochglanz polierten Linoleumböden. Jeder ihrer Schritte hallt laut und erbarmungslos wieder. Die Wände sind bis auf halber Höhe mit harten, pickeligen, graugrün überlackierten Strukturen bedeckt, die man ungern ein zweites Mal berührt. „Nie wieder will ich hierher zurück.“, schreit es in ihr. „Nie wieder!“ Sie klopft an eine Tür. Nach einer Weile wird diese knarrend geöffnet. Ein unscheinbarer, älterer Beamter, den sie als genauso stumpf empfindet wie das Ambiente seines Büros, bittet sie herein und nimmt die Unterlagen mit der Kündigung entgegen. Er liest alles durch, blättert eine gefühlte Ewigkeit in einem verstaubten Ordner und schaut Karin schließlich mit seinen wässrigen Augen durchdringend an.

„Haben Sie sich das auch gründlich überlegt?“ Die Frage war zu erwarten.

„Ja.“, antwortet sie mit sicherer Stimme.

Er senkt den Kopf und sagt: „Sie sind ja mutig.“

„Perfekte Welle“ Juli 2004

Eine Reise, die ist lustig, die ist schön!

Friederike Lydia Ahrens