Weil jeder Atemzug ein Wunder ist - Roswitha Jerusel - E-Book

Weil jeder Atemzug ein Wunder ist E-Book

Roswitha Jerusel

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Beschreibung

Eine gesunde, sportliche Frau kann nicht mehr wie gewohnt atmen. Die niederschmetternde Diagnose: Lungenfibrose. Unheilbar. Ohne Spenderlunge keine Überlebenschance. Dann geht alles bergab: Sie wird frühverrentet, muss ihren Beruf aufgeben, den sie liebt. Nichts ist mehr, wie sie es geplant hatte, ihr Leben hängt plötzlich an einem seidenen Faden. Der einzige Ausweg ist eine Organspende, eine Lungentransplantation, und die Chance darauf - mitten in der Corona-Pandemie - ist mehr als gering. Dennoch weigert sich Roswitha Jerusel, die Hoffnung aufzugeben. Ihr Wunsch an Gott: Einmal wieder tief und befreit Luft holen können. Und das Wunder geschieht tatsächlich … Die Biografie einer Frau, die völlig unerwartet ein neues Leben geschenkt bekam. Und ein leuchtendes Hoffnungsbuch. Voller Wertschätzung weitet es den Blick für die kleinen, scheinbar selbstverständlichen Dinge im Leben - die letztendlich oft das größte Glück beinhalten.

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Für Mama und meine Organspenderin

Inhalt

Prolog

1 Beginn der Katastrophe

2 Corona-Zwangsrente

3 Lockdown-Beginn

4 Bewegungspläne mit Kurzatmigkeit

5 Atem-Alltag neu lernen

6 Pandemieflucht auf die Insel

7 Kleine himmlische Wunder

8 Föhrien-Ende

9 Ein letzter medizinischer Heilversuch

10 Bewegungsressourcen mit Atemnot

11 Trauerfeier-Rezept

12 Hotspots

13 Leben auf der Intensivstation quergedacht

14 Die Samuel-Koch-Brille

15 Kira atmet sich himmelwärts

16 Flockdown im Lockdown

17 Atemloses Alleinsein

18 Im Wartezimmer der Organempfänger

19 #AlleNochGanzDicht!?

20 Pollenalarm

21 Flausen im Kopf

22 Gang in den Transplantations-Tunnel

23 Das Geschenk der himmlischen Lunge

24 IMC – Immer mehr Covid-Patienten

25 Reha-Klinik

26 Mit der neuen Lunge atmen lernen

27 O du fröhliche ...!

28 Testtage nach den Festtagen – positiv ist relativ

29 Training im Alleingang

30 Zurück im neuen Leben 2.0

31 Weiterleben lernen mit Corona

Danke

Anhang

Glossar

Literatur

Prolog

„Ihre Lunge ist völlig kaputt! Ich weiß, Sie können nichts dafür, dass Sie so krank sind! Es ist einfach Ihr Schicksal!“

Die erfahrene Krankenschwester fasst zusammen, was ich schon längst weiß. Sie hat 15 Jahre im Transplantations-Team der Uniklinik mitgearbeitet und muss wissen, wovon sie spricht. Es ist Januar 2021, und ich liege auf der Intensivstation. Die Schwester will mir vermutlich Mut machen, denn sie fährt fort: „Wegen der Corona-Pandemie hatten wir im letzten Jahr nur wenige Lungen-Transplantationen. Wir gehen jetzt mal davon aus, dass im Frühling wieder Motorrad gefahren wird, die Menschen dann wieder mehr zum Arzt gehen und sich gegen Covid impfen lassen und bald auch wieder in den Urlaub gefahren werden darf. Dann haben Sie vielleicht größere Chancen, eine neue Lunge zu bekommen!“

Hoffnungsvolle und zugleich ernüchternde Aussichten für das gerade begonnene zweite Jahr der Corona-Pandemie! Als ich aus der Uniklinik entlassen werde, verabschiedet die Schwester sich von mir mit den Worten: „Machen Sie sich einfach noch eine gute Zeit zu Hause und hören Sie auf, im Internet herumzusuchen und darüber nachzugrübeln, was alles passieren könnte. Versuchen Sie, die Leitsymptome der Krankheit in den Griff zu bekommen!“ Damit meint sie die starken Hustenattacken und die damit verbundene massive Atemnot.

Gut gemeinter Tipp eines erfahrenen Pflegeprofis! Ich frage mich, wie ich das machen soll?! Denn meine Hustenanfälle kann ich nur schwer vermeiden und unterdrücken. Wer aber stark und ausdauernd husten muss, kann in dieser Zeit nicht atmen und hat dann massive Atemnot.

Und dann stürmen die vielen Fragen meiner Gedankenäffchen auf mich ein.

Ist ein Erstickungstod wirklich so grausam, wie ich es mir vorstelle und ausmale?

Hat eine Lungentransplantation langfristig gesehen wirklich Sinn? Oder würde ich die Fibrose nur gegen andere schwerwiegende chronische Erkrankungen eintauschen, die nach einer Organtransplantation bewältigt werden müssen?

Wird es in der Corona-Pandemie überhaupt noch genügend transplantationsfähige Organe geben? Es gab doch schon vor Corona viel zu wenig Spenderorgane in Deutschland! Wie kann ich meiner kranken Lunge trotz der unheilbaren Prognose maximale Unterstützung geben, sodass sie möglichst lange die Sauerstoffversorgung meines Körpers bewältigen kann?

Und wie kann ich meinen Angehörigen den Umgang mit mir und der weiter zunehmenden Atemnot erträglich machen? Sie sind ja schon seit ein paar Jahren in der „Zuschauerrolle“ und können mir nicht wirklich helfen, wenn ich akute Luftnot habe.

Manchen Menschen wurde vielleicht erst durch Corona bewusst, wie wichtig und schön es ist, wenn man unbeschwert atmen kann. Unser Leben beginnt und endet mit einem einzigen Atemzug. Die Zeit des unbeschwerten Atmens ist für mich vorbei.

Ich habe mich über viele Jahre mit Lungenerkrankungen beschäftigt und diese Themen unterrichtet. Ich weiß, dass die Lungenfibrose die Betroffenen über Monate und Jahre hinweg langsam ersticken lässt. Ich bin mir ebenso darüber im Klaren, dass die Therapie der Wahl letztendlich nur eine beidseitige Lungentransplantation sein kann.

Meine letzte Unterrichtseinheit zur Thematik „Atmung und Erkrankungen der Lunge“ fand im Januar 2020 im Rahmen der Ausbildung für Pflegefachkräfte statt. Das war kurz vor Beginn der Pandemie. Ich war als Pädagogin im Gesundheitswesen tätig. Mein primäres Anliegen im Unterrichtsgespräch mit den Auszubildenden und Studierenden war es neben der Vermittlung von pflegewissenschaftlichem Fachwissen, dass die jungen Menschen lernten, besonders ihre eigenen Fragen im Umgang mit kranken Menschen präzise zu formulieren, da „patientenzentrierte Kommunikation“ eine Schlüsselqualifikation, also einen wesentlichen Bestandteil des Berufes darstellt.

Ein übergeordneter Fokus des Ausbildungsziels war für mich daher immer, die Erlebensdimension von schwer erkrankten Menschen aufzuzeigen. Meine Studierenden sollten lernen, vorausschauend mitzudenken, um daraus fachbezogenes pflegerisches Handeln ableiten zu können. Dass sie möglichst viele Fachbücher lasen, hatte für mich nicht oberste Priorität. In meinem Unterricht wurden viele relevante Themen nebenbei im Dialog behandelt, wenn sie „obenauf“ lagen, z. B. das Erleben von Atemnot aus der Perspektive der Betroffenen. Oder die Frage, welche professionelle Unterstützung pneumologische Patienten tatsächlich benötigen, um ihre Erkrankung in ihre persönliche Biografie zu integrieren und mit allen Veränderungen weiterleben zu lernen.

Ein weiteres wichtiges Thema war die Frage, wie man am Ende eines jeden individuellen Krankheitsverlaufes auch einen selbstbestimmten Sterbeprozess palliativ gestalten kann. Menschen, die in Gesundheitsberufen tätig sind, gelangen immer wieder an die Grenze, an der man allein aus menschlicher Kraft nichts mehr für den Patienten tun kann. Mir ist es jedenfalls im beruflichen Alltag auf der Intensivstation immer wieder so ergangen. In solchen Situationen kann es hilfreich sein, wenn man gelernt hat, unlösbare Situationen innerlich abzugeben.

Deshalb kam ich neben dem sichtbaren, materiellen und messbaren Wissen aus der Welt der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen häufig auch auf die Phänomene aus der unsichtbaren Welt zu sprechen. Immer wieder stand in unseren Unterrichtsdialogen das Thema Spiritualität (Spiritual Care) in schwierigen Situationen mit Patienten auf der Agenda.

Ich persönlich glaube an Fügungen im Leben, die von einer höheren Ebene kommen. Ich merke immer wieder, dass mir der „Architekt“ im Himmel, der sich unsere wundervolle Welt ausgedacht hat, jeden Tag unsichtbare Kraftpakete zufließen lässt. Wenn ich ihn darum bitte, spüre und erfahre ich diese Kraft.

Das war bei mir nicht immer so. Viele Jahre habe ich an der Existenz einer höheren Kraft im Leben gezweifelt. Der Glaube an eine höhere Instanz im Universum erschien mir angsteinflößend, abstrakt und altertümlich verstaubt. Und nach wie vor stehe ich der Institution Kirche und manchen Vertretern des „theologischen Bodenpersonals“ in Anbetracht der vielen Skandale, die immer wieder passier(t)en, sehr kritisch gegenüber. Trotz alledem hat sich aufgrund vieler wundersamer Begebenheiten im Laufe meines Lebens und trotz weiter bestehender Zweifel meine Beziehung zum „Lebensarchitekten“ langsam in einen tiefen Glauben verwandelt, der mir mittlerweile bei so vielen kleinen Alltagsproblemen, aber auch schwierigen Entscheidungen eine unglaublich hilfreiche Stütze ist. Aber später mehr dazu.

Jahrelang habe ich das Thema Lungenerkrankungen in meiner beruflichen Praxis unterrichtet und bin mit der Thematik „Lungentransplantation“ (LTX) in seiner ganzen Tragweite in Berührung gekommen. Immer war für mich völlig klar gewesen: Diese letzte Option einer möglichen Therapie würde für mich persönlich niemals infrage kommen. Nie im Leben würde ich dieser martialischen Operation und all den damit verbundenen Risiken freiwillig zustimmen! Eine Ironie des Schicksals! Und dann kam alles doch ganz anders.

1 Beginn der Katastrophe

August 2016

Die Katastrophe beginnt im Sommer 2016. Als wir aus dem Familienurlaub nach Hause kommen, steht unser Keller unter Wasser. Ein Dichtungsring der Zentralheizung ist porös und undicht geworden. So stellt es jedenfalls der Heizungsbauer fest. Unverzüglich wird der Wasserschaden von einer Fachfirma über Wochen getrocknet. Literweise Wasser werden täglich in mehreren Behältern der Trocknungsgeräte angesaugt und in Auffangbehältern gesammelt.

Im Januar 2017, etwa drei Monate nach Beendigung der Trocknungsarbeiten, bemerke ich beim Skifahren, dass ich das Tempo der anderen in der Skigruppe auf der Piste nicht mehr mithalten kann. Bislang konnte ich eigentlich immer in einem moderaten Tempo jeden Hang hinunterfahren. In diesem Skiurlaub muss ich nach ein paar Schwüngen immer wieder anhalten und schnappe nach Luft. Immer wieder habe ich zwischendurch heftige Hustenattacken, und ich nehme bei mir selbst leise, knisternde Atemgeräusche wahr. Vielleicht liegt es daran, dass ich bald 50 werde, denke ich noch. Deshalb werde ich vielleicht von Jahr zu Jahr ein bisschen langsamer und brauche immer mal wieder eine Pause.

Ein paar Wochen später, im März 2017, kann ich schon nicht mehr wirklich joggen. Immer wieder muss ich stehen bleiben und huste mir die Lunge aus dem Leib. Mein Gedanke ist, dass die Ursache vielleicht die sein kann, dass ich Allergikerin bin und gerade der Pollenflug beginnt. Da ich keine Risikofaktoren und immer gesund gelebt habe und sportlich unterwegs bin, nehme ich an, dass es sich bei den Symptomen lediglich um allergische Reaktionen handelt. In den vergangenen 20 Jahren war ich eigentlich immer gesund und hatte nur selten Erkältungen. Regelmäßiger Ausdauersport im Wald, Saunabesuche und entsprechend gesunde Ernährung hatten mich lange Zeit vor Virusgrippen bewahrt.

Dennoch vereinbare ich einen Termin bei meinem Lungenfacharzt. Dieser stellt fest, dass ich nur noch eine Lungenfunktion von 52 Prozent habe! Auf meinen Wunsch hin werde ich unverzüglich in die Uniklinik überwiesen. Dort stellen mich die Mediziner diagnostisch auf den Kopf. Sie finden heraus, dass ich hochallergisch auf Schimmelpilze reagier, und vermuten zunächst eine allergisch bedingte Entzündung der Lungenbläschen, möglicherweise durch die Pilzsporen verursacht, die sich bei der Schimmelpilzsanierung in unserem gesamten Wohnhaus verbreitet haben können. Letztendlich medizinisch „beweisen“ lässt sich die Ursache meiner Erkrankung jedoch nicht.

Trotz monatelanger hoch dosierter Kortison- und Immunsuppressiva-Therapie lassen sich die Entzündungsprozesse in meiner Lunge im weiteren Verlauf leider nicht stoppen. Die CT-Bilder zeigen, dass das Lungengewebe sich aufgrund der allergischen Reaktionen Stück für Stück in Narbengewebe umwandelt. Das hat zur Folge, dass ich viel huste, der Gasaustausch im Körper immer schlechter funktioniert und ich zunehmend Atembeschwerden bei Belastung habe. Eine Zellprobenentnahme von Lungengewebe, um diese Vermutung zu bestätigen, ist nicht möglich, weil während der Lungenspiegelung meine Sauerstoffsättigung zu stark abfällt. Die Ärzte befürchten, dass ich darunter möglicherweise beatmungspflichtig werden würde.

Nachdem die diagnostischen Untersuchungen abgeschlossen und ausgewertet sind, nimmt sich der behandelnde Professor Zeit für ein ausführliches Gespräch mit mir. Er teilt mir mit, dass ich eine lebensbedrohliche Lungenerkrankung habe. Er vermutet eine Lungenfibrosierung, die in der Endphase letztlich nur mit einer Lungentransplantation therapiert werden könne. Als ich ihn frage, was denn nun die wirkliche Ursache meiner Erkrankung ist, antwortet er. „Es gibt über 150 verschiedene Formen von Fibrose. Viele davon sind nicht exakt zu diagnostizieren und entstehen völlig unverschuldet, wie bei Ihnen. Diese Erkrankung ist Ihr Schicksal, und Sie können nichts dafür. Und wir Ärzte können letztlich nicht beweisen, dass es an den Schimmelpilzen durch den Wasserschaden in Ihrem Haus liegt. Es tut mir sehr leid!“

In den nächsten drei Jahren folgen medikamentöse Heilversuche. Trotz aller medizinischen Bemühungen schreitet die Erkrankung jedoch kontinuierlich voran. Die CT-Bilder deuten im weiteren Krankheitsverlauf auf eine spezifische Form der Lungenfibrose, eine „Pleuroparenchymale Fibroelastose“ (PPFE) hin. Da ich mich mit Atemwegserkrankungen berufsbedingt intensiv beschäftigt habe, kann ich in etwa erahnen, was auf mich zukommen wird. Es bedeutet, dass ein langsamer Erstickungsprozess gestaltet und durchlebt werden muss. Dass sich dies alles so schnell entwickeln kann und dann ausgerechnet bei mir, hätte ich nie für möglich gehalten. Vergeblich suche ich in dieser Zeit nach qualitativen Studien oder Erfahrungsberichten, die sich mit dem Erleben des drohenden Erstickungstodes beschäftigen oder damit, welche Bewältigungsstrategien von Betroffenen diesbezüglich existieren. Wenn ich dieses Szenario im Detail durchdenke, fühle ich mich ohnmächtig und hilflos dem Schicksal ausgeliefert.

In dieser Zeit werde ich von meiner Familie gefragt: Wie fühlt es sich eigentlich an, mit Lungenfibrose zu atmen?

Es lässt sich vielleicht so beschreiben: Die Fibrose-Atmung fühlt sich so an, als wenn dein Brustkorb von außen wie von einem Metallkorsett von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Monat zu Monat langsam immer enger zusammengeschraubt wird und dich beim Gehen ein dickes Stahlseil permanent nach hinten zurückzieht. Ein tiefes Einatmen funktioniert nicht mehr, sondern es ist nur noch ein schnelles, oberflächliches Atmen möglich. Und jeden Morgen hast du das Gefühl, dass jemand eine Tube Klebstoff oder Tapetenkleister in deinen Bronchien verteilt hat, den du mühevoll über den gesamten Tag hinweg immer wieder abhusten musst. Das bedeutet permanente, extreme Anstrengung aller Atemmuskeln bis hin zur völligen Erschöpfung. All das ist verbunden mit ständig auftretenden Hustenattacken und chronischer Atemnot. Deshalb sind eng anliegende Kleidungsstücke häufig nicht (er-)tragbar (Thermounterwäsche, BH etc.).

Atemnot verursacht keine Schmerzen. Sie verursacht existenzielle Ängste.

Die Symptome der Fibrose entwickeln sich quasi von innen heraus, d. h. durch die Umstrukturierung von Lungengewebe in Binde- und Narbengewebe. Diese Erkrankung ist bislang nicht heilbar. Bei einigen Betroffenen kann manchmal die fortschreitende Entwicklung zumindest gestoppt werden. Wenn dies nicht gelingt, nimmt der Krankheitsprozess einen unwiderruflich fortschreitenden Verlauf bis hin zum Tod.

Dies ist meine Geschichte, mein Erleben der Fibrose-Erkrankung und der darin begründeten Atemnot. Zu Beginn der Erkrankung bin ich sehr verzweifelt. Ich frage mich immer wieder, warum ausgerechnet ich davon betroffen bin? Hätte ich früher reagieren oder mich anders verhalten können? Obwohl ich aufgrund meines Berufes vieles über Lungenerkrankungen gelernt habe, war mir nicht wirklich klar, wie schnell Lungengewebe untergehen kann. Neben vielen medizinischen Fragen und Entscheidungen, welcher nächste Schritt zu tun ist, stelle ich mir auch grundsätzliche Fragen: Was ist meine Aufgabe angesichts dieser Erkrankung? Soll ich daraus vielleicht etwas lernen? Und wenn ja, was? Aus vergangenen Erlebnissen habe ich erfahren, dass in jedem schlimmen Ereignis in meinem Leben für mich immer auch eine Aufgabe, ein tieferer Sinn und somit ein Segen gesteckt hat. Es lag jedoch jedes Mal an mir, diesen Sinn, diese Aufgabe entdecken zu wollen.

Hier geht es um eine innere Entscheidung, die ich aktiv treffen kann. Den Sinn, das Gute und was sonst noch mit dem Erleben des schlimmen Ereignisses verbunden ist, kann ich wahrnehmen und verstehen lernen, wenn ich mich dafür entscheide. Erst wenn das (vielleicht ansatzweise) geschehen ist, kann ich die segensreiche Erfahrung an andere Menschen weitergeben. Ich kann anderen – wenn gewünscht – von meinen Erfahrungen erzählen und ihnen vielleicht auch damit ein bisschen Unterstützung geben. Die einzelnen Schritte auf diesem Weg muss jedoch jeder für sich selbst (durch)leben. Auf diese Weise kann sich aus schicksalhaften Erlebnissen etwas Hilfreiches entwickeln, ein Segen für die Betroffenen und auch für andere.

In diesen Wochen bin ich trotz der Verzweiflung auch immer wieder zuversichtlich. Ich weiß durch die Rückschau auf mein Leben, dass mir in anderen schlimmen Situationen immer wieder vom Himmel her Unterstützung zugeflossen ist. Ich bin nachdenklich und schicke meine Verzweiflung immer wieder himmelwärts. Ich möchte verstehen lernen, warum mich dieses Schicksal getroffen hat, und warte auf eine Antwort.

2 Corona-Zwangsrente

Februar 2020

Ein Bundeswehrflugzeug bringt mehr als 100 Deutsche zurück aus Wuhan. Zwei der Rückkehrer tragen das Coronavirus im Körper. Die neue Lungenkrankheit aus China wird von der WHO „Covid-19“ (coronavirus disease 2019) genannt. Das Virus, das die Krankheit auslöst, heißt „SARS-CoV-2“ (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2).

Während die Welt nach Antworten auf die Ursache der Pandemie sucht, ergreift die Lungenfibrose in meinem Körper von Woche zu Woche immer mehr Besitz von mir. Mit dem Beginn der Corona-Krise muss ich zum eigenen Schutz in „Frührente“ gehen. Mein kalendarisches Alter beträgt 52 Jahre; ich fühle mich allerdings häufig wie 23. Ich bin noch viel zu jung, um meinen Beruf endgültig an den Nagel zu hängen. Dennoch ist der tägliche Kontakt mit erkälteten Kollegen, Schülern, Studierenden und deren Begleitung im Klinikum durch die keimbelasteten Aerosole einfach zu gefährlich für meine kranke Lunge. Das stundenlange Sprechen im Unterricht, teilweise in stickigen Räumen mit Klimaanlagen, ist zunehmend viel zu anstrengend für Atmung und Stimme. Eine Zeit lang gelingt es mir noch, meine körperlichen Defizite mit verschiedenen Unterrichtsmethoden zu kompensieren. So mache ich zum Beispiel methodisch gern „Unterricht mal andersrum“. Das bedeutet, dass die Auszubildenden die Lehrer sind und ich mich selbst in die Schülerrolle hineinbegebe. Sie müssen auf diese Weise mehr „vorausdenken“ und eigene Fragen formulieren. Ich kann bei dieser Unterrichtsmethode verbal „chillen“ und muss lediglich mitdenken und das Unterrichtsgeschehen „moderieren“. Wann immer das Wetter gut ist und das Thema es zulässt, nutze ich den „grünen Klassenraum“, um besser atmen zu können. Mit einem entsprechend vorbereiteten Skript lässt sich wunderbar ein interessanter Unterricht im Park auf mitgebrachten Sitzsäcken und Liegedecken gestalten!

Meine Arbeit in der pflegerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung habe ich wirklich über alles geliebt. Immer wieder haben die Auszubildenden mich im Unterricht gefragt, ob ich ihnen nicht eine veranschaulichende „Story“ aus meinem Berufsleben zum jeweiligen Thema erzählen kann. Da man als Pädagogin auch immer ein bisschen „exhibitionistisch“ unterwegs ist, fügte ich gern zu Lernzwecken Erlebnisse aus meiner eigenen Berufspraxis mit Patienten und Kollegen ein, an denen ich selbst meine Erfahrungen gemacht und vieles gelernt habe. Es waren zum Teil witzige, aber auch zutiefst berührende Beispiele.

Jetzt, aus der Perspektive einer unheilbar kranken Patientin, hätte ich noch ganz andere pädagogisch sinnvolle Ideen und Fallbeispiele für einen wirklich spannenden und praxisnahen Unterricht. Sehr gern würde ich jetzt einige dieser Erfahrungen in meinen Unterricht integrieren und sie mit Schülern und Studierenden besprechen. Denn in pädagogischen Studien ist belegt, dass das Lernen am Fallbeispiel häufig viel interessanter, effektiver und vom Ergebnis nachhaltiger ist, weil man sich später im beruflichen Alltag an die „Geschichten“ (in denen oft unterschiedliche Umgehens- und Entscheidungsmöglichkeiten impliziert sind) immer wieder erinnert. Ich habe deshalb diesem Buch einige didaktisch aufbereitete Fallbeispiele angefügt. In meiner Ausbildung in den 80er-Jahren habe ich viele unnötige Dinge lernen müssen. Etwa wie viele Kompressen bei einer Blinddarm-OP, bei einem Kaiserschnitt oder einer Rachenmandelentfernung auf den OP-Tisch gehören. Gemerkt habe ich mir das alles nicht. Was ich aber immer im Gedächtnis behalten habe, ist ein Ausspruch unserer damaligen Schulschwester: „Eines sollten Sie nie vergessen: Bitte behalten Sie die stillen Patienten im Blick, wann immer Sie ein Krankenzimmer betreten. Ich meine damit die, die nichts mehr sagen können. Diese Menschen brauchen wirklich Ihre professionelle Pflege! Die lauten Patienten haben im Laufe ihres Lebens gelernt, ihre Bedürfnisse zu äußern und auch entsprechend durchzusetzen!“ Und sie erzählte uns eine Geschichte aus ihrer beruflichen Tätigkeit, die ich bis heute nie vergessen habe.

Seitdem habe ich auf die stillen Menschen immer mein besonderes Augenmerk gehabt. Und zwar nicht nur auf die Patienten der Intensivstationen, sondern später auch auf die stillen Schüler und Studierenden, die mir als Lehrerin in der Bildungseinrichtung anvertraut wurden. Aufgrund der Lungenerkrankung werde ich nun meine Unterrichtstätigkeit leider nicht mehr weiterführen können. Es ist für mich ein wirklich krasser, viel zu früher Abschied von all den Menschen und vor allem von meinem Traumberuf. Ich erlebe ein Wechselbad der Gefühle, dies alles nun von jetzt auf gleich aufgeben zu müssen. Damit ich nicht komplett innerlich zusammenbreche und verzweifele, beschließe ich, dass ich mich ab sofort auf die Dinge konzentriere, die ich noch eigenständig tun und umsetzen kann. Da ich schon seit meiner Teenagerzeit in meinem Tagebuchkalender kurz dokumentiere, was jeden Tag in meinem Leben passiert, beschließe ich, die Erfahrungen und Erlebnisse in dieser besonderen Zeit der Pandemie festzuhalten. Und zwar so, wie ich sie jetzt aus der Patientenperspektive heraus erlebe und wahrnehme.

3 Lockdown-Beginn

Anfang März 2020

Deutschland erlebt die ersten rigiden Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie. Ich bin gesundheitlich angeschlagen und seit zwei Wochen stark erkältet. Ich habe mir wahrscheinlich während der Abnahme des praktischen Examens eine Grippe zugezogen, da zurzeit viele Patienten mit Lungenentzündung im Klinikum liegen und auch die Schüler immer wieder erkältet sind. Mit Inhalieren, Medikamenten und diversen Erkältungstees kann ich mich tagsüber soeben gesundheitlich über Wasser halten. Es wird bekannt, dass auch die Ausbildungsinstitute demnächst schließen sollen, und ich ahne, dass dies die letzten Arbeitstage in meinem Leben sein werden.

Bereits vor zwei Wochen hat die Rentenversicherung mir aufgrund meiner unheilbaren Prognose ein Schreiben über eine unbefristete Erwerbsminderungsrente zugesendet. Dieser soll ich laut Rentenberater unbedingt zustimmen, da nicht klar ist, wie lange ich den beruflichen Anforderungen noch entsprechen kann. Das Infektionsrisiko im Rahmen meiner Unterrichtstätigkeit ist nun mit den zusätzlichen Covidviren viel zu hoch.

Vom Kopf her ist mir dies alles klar. Aber von meinem Gefühl her zerbricht mir fast mein Herz. Denn mein Beruf ist für mich kein „Job“, sondern eher eine „Berufung“, und ich liebe ihn über alles. Schon mit sechs Jahren stand für mich fest, dass ich einmal Krankenschwester werden möchte. Meine Eltern schenkten mir damals zum Geburtstag einen Arztkoffer. Aber ich wollte schon damals den Pflegeberuf erlernen.

Ich finde, dass man in kaum einem anderen Beruf dem Menschen in einer existenziellen und lebensbedrohlichen Situation so nahe sein kann wie in dem einer (Intensiv-)Krankenschwester. Dies habe ich besonders in der Weaning-Phase von Patienten, der Entwöhnungsphase von der Beatmungsmaschine, erlebt. Für mich besteht der Mensch nicht nur aus einem Körper, sondern er hat auch einen Geist und eine Seele. Diese drei Komponenten des Körper-Geist-Seele-Komplexes sind, ähnlich wie bei einem Mobile, permanent in Bewegung und können immer wieder in ein Ungleichgewicht geraten, vor allem im Rahmen von Erkrankungen. Die drei Komponenten müssen dann immer wieder zielgerichtet gestützt und in Balance gebracht werden. Dies zu erkennen und dabei im Team mitzuwirken, dass Schwerstkranke wieder gesund werden, hat mir immer viel Freude gemacht.

Im Laufe der Jahre auf der Intensivstation merkte ich jedoch, dass ich meinen Traumberuf am Krankenbett nicht bis zu meiner Rente ausüben kann. Die Probleme in den Gesundheitseinrichtungen (Personalmangel, Überstunden, Hektik) und die immer adipöser werdenden Patienten (Rückenprobleme) setzten mir immer mehr zu. Deshalb absolvierte ich neben meiner Arbeit auf der Intensivstation an der Abendschule das Abitur. Ich wollte gern im Rahmen eines Studiums lernen, die Probleme des Gesundheitswesens wissenschaftlich fundiert zu untersuchen, um Veränderungen bewirken zu können. Deshalb schrieb ich mich im ersten Studiengang der Pflegewissenschaft an der Hochschule in Darmstadt ein.

Es war eine ganz besondere Zeit, in den Vorlesungsveranstaltungen die Gedanken der damals ersten Pflegeprofessorinnen Deutschlands zu hören und die Studieninhalte als Studentin auch selbst mitgestalten zu können. Das dort erlernte Wissen hat mir in meiner weiteren beruflichen Arbeit sehr geholfen. Vor allem, als ich Jahre später mit der Masterthesis beschäftigt war. Nachdem ich unsere tumorkranke Mutter über zwölf Jahre hinweg in ihrem Krankheitsprozess zu Hause begleitet hatte, wollte ich gern diese Zeit der Sterbebegleitung mit anderen Studierenden wissenschaftlich reflektieren. Mein beruflicher Plan kurz vor der Diagnose meiner Krankheit war eigentlich der gewesen, im Rahmen einer Dissertationsarbeit weiterführende Untersuchungen über das Erleben von Menschen mit Tracheostoma im häuslichen Setting anzustellen.

Dies alles ist nun nicht mehr möglich. Ich werde vom Schicksal komplett ausgebremst und fühle mich für ein „Rentnerdasein“ noch viel zu jung und vor allem auch noch gar nicht krank genug. Ich bin hin- und hergerissen. Da eine Art „Zwischenlösung“ (Homeoffice-Zeiten) im Rahmen eines Arbeitsvertrags vonseiten des Arbeitgebers nicht möglich ist, stimme ich schließlich schweren Herzens einer „Zwangsrente“ zu.

In Frührente gehen zu müssen, ist für mich eine besondere Herausforderung. Ebenso auch die Reaktionen meiner Kollegen, die um meine Diagnose wussten. Wie krank ich mittlerweile bin, war einigen wohl doch nicht so klar. Offensichtlich ist es mir gelungen, meine Krankheitssymptome über drei Jahre selbst vor Gesundheitsfachkräften erfolgreich zu verbergen.

Dieses Phänomen des Versteckens und der Scham bei akuter Atemnot wird in einigen Fachbüchern beschrieben. Kein Betroffener möchte sich gern (öffentlich) eingestehen, dass er nicht mehr leistungsfähig ist und schnell „aus der Puste“ kommt. Die Betroffenen spüren die chronisch zunehmende Atemnot und ahnen, dass diese unweigerlich zu einer Einschränkung des autonomen Handelns und somit zur Abhängigkeit von anderen Menschen führen wird. Mir ist bewusst, dass im späten Verlauf der Erkrankung die Abhängigkeit von Hilfsmitteln (Sauerstoffgerät, nichtinvasive Beatmung, Rollator und Rollstuhl) auf mich zukommt. Für die Betroffenen entsteht dadurch ein enormer Organisationsaufwand. Sauerstoffflaschen müssen zeitnah aufgefüllt werden, die notwendigen Hilfsmittel beantragt und Medikamente bestellt und abgeholt werden. Durch diese Faktoren kann eine Vielzahl von psychomentalen Belastungen bei den Patienten entstehen.

Aufgrund dieser vorausschauenden Gedanken in Bezug auf den bevorstehenden Krankheitsverlauf und aus „lungentechnischen Verbergungsgründen“ hatte ich es mir z. B. zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen in der Nähe der Schule auf einem Wanderparkplatz zu parken. So konnte ich den 15-minütigen Weg zur Arbeit nutzen, um unterwegs die Lunge freizuatmen und vor dem Unterricht die Bronchien effektiv abzuhusten. Es konnte dann vorkommen, dass ich schwer atmend und noch hustend im Lehrerzimmer ankam. Die Kollegen fragten mich dann schon hin und wieder, ob ich erkältet sei. In der Alltagsgeschäftigkeit habe ich meinen Husten immer mit meiner Stauballergie, dem Zigarettenqualm vor dem Schuleingang oder dem zu stark aufgelegten Parfüm von Schülern begründet. Meistens beruhigte sich meine Lunge ja schnell wieder, wenn ich mich körperlich nicht so stark anstrengen musste.

Dennoch gab es immer wieder Situationen, in denen die Kollegen hätten merken können, dass ich Probleme hatte, konditionell mitzukommen. Zum Beispiel, wenn ich als Einzige den Aufzug zur Mensa im 3. Stock benutzen musste, weil ich die Treppen nicht mehr im gleichen Tempo wie die Kollegen hochlaufen konnte. Beim Besuch im Fitnessstudio mit Kollegen konnte ich meine Defizite noch einigermaßen verbergen, indem ich weniger Kilos an den Geräten einstellte. Es war mir wichtig, durch den Kraft- und Ausdauersport die Sauerstoff-Diffusion so gut wie möglich zu unterstützen, um meine Lunge möglichst lange dehnungsfähig zu halten. Dass trotz meiner Anstrengungen meine Leistungsfähigkeit immer mehr abnahm, die Walking-Runden im Wald immer kleiner und kürzer wurden, haben eigentlich nur meine Familie und engsten Freunde im Laufe der Zeit gemerkt. Auch dass meine Hustenattacken immer stärker wurden.

Aufgrund der pandemiebedingten Schließung des Bildungszentrums ist ein persönlicher Abschied von den Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, nicht mehr möglich. Anstelle einer sonst im Kollegium üblichen kleinen Abschiedsfeier gibt es in Absprache mit meinem Chef lediglich eine persönliche Handy-Sprachnachricht von mir, die er den Arbeitskollegen, Schülern und Studierenden im Rahmen einer Besprechung abspielt. Es folgen danach noch ein paar WhatsApps und Telefonate mit der einen oder anderen Kollegin, mit einigen Schülern und Studierenden, was tröstlich für mich ist. Ob sich diese Kontakte halten lassen, wenn klar ist, dass man sich wahrscheinlich nie wieder sehen oder zusammenarbeiten wird? Das macht mich traurig, und ich rechne innerlich nicht damit. Der innere Abschied von meiner Arbeit und den Menschen fällt mir unendlich schwer.

In meiner Vorstellung ist das Leben vergleichbar mit einer Zugfahrt. Es steigen immer wieder Menschen ein, die ein Stück im selben Abteil mit mir durch mein Leben fahren. Viele steigen irgendwann unterwegs wieder aus, und es bleiben nur ein paar Menschen auf der gesamten Strecke in meinem Abteil sitzen. Manche Menschen, die während der Elternzeit für eine befristete Zeit beruflich auf einem „Nebengleis“ stehen, wissen vielleicht, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Arbeit (plötzlich doch) von jemand anderem weitergeführt werden kann und letztendlich jeder ad hoc ersetzbar ist. Aber diesmal ist es anders, denn ich habe den Eindruck, dass in dieser atemlosen pandemischen Zeit die Zugfahrt viel rasanter vonstattengeht!

Es ist für mich auch interessant zu beobachten, wie die einzelnen Menschen auf diese neue Situation in meinem Leben (Krankheit und Frührente) in Kombination mit dem Pandemiebeginn reagieren. Einige sind so sehr und intensiv mit sich selbst beschäftigt, dass sie sehr schnell aus meinem Leben verschwinden. Täglich müssen sie sich mit den pandemiebedingten Herausforderungen auseinandersetzen, die sich neben ihren beruflichen Anforderungen und schulpflichtigen Kindern zu Hause auftürmen. Jeder ist durch die täglich neuen Nachrichten und Veränderungen durch Corona verunsichert und auch überfordert. Die einen mehr, andere weniger. Das, was gestern noch so wichtig und unvorstellbar war, hat nun heute keine Bedeutung mehr.

Ich bin allerdings auch positiv überrascht, welche Kontakte sich plötzlich wieder entwickeln. Etwa zu Heike, mit der ich vor 26 Jahren meinen ersten Geburtsvorbereitungskurs besucht habe. Jahrelang haben wir uns gegenseitig lediglich Weihnachtskarten geschrieben und es nie geschafft, uns tatsächlich noch einmal zu treffen. Der Kontakt mit ihr tut mir jetzt so gut, und ich erinnere mich sehr gern an meine Studentenzeit und die Ausflüge mit ihr und unseren Kindern.

In den ersten Wochen meiner Rentenzeit weiß ich nicht, was ich mit der vielen „Freizeit“ anfangen soll. Ich entrümpele systematisch mein Arbeitszimmer, checke einen Raum nach dem anderen in unserem Haus und sortiere jahrelang gehütete, aber überflüssige Dinge aus und verschenke alles.

Ich beginne jeden einzelnen Tag mit der Kraft, die mir jeden Tag neu vom „Himmelsarchitekten“ gegeben wird. Das ist für mich auch so ein „himmlisches Geheimnis“. Jeder Mensch bekommt täglich exakt so viel Kraft von ihm geschenkt, um durch einen einzigen Tag hindurchzukommen. Es gibt von ihm nicht mehr und auch nicht weniger Kraft, und darauf konzentriere ich mich. Ich frage mich, was jetzt meine Aufgaben und Ziele sein sollen. Was stelle ich mit der vielen Zeit an, die ich zum ersten Mal in meinem Leben habe und die dennoch aufgrund der infausten Prognose zeitlich begrenzt ist? Ich frage Gott immer wieder: Wie wird es mit mir nun weitergehen? Irgendwie habe ich trotz allem Schweren das Gefühl, dass er für mich da ist. Ich habe den starken inneren Eindruck, dass er jeden, der mir am Herzen liegt, an seiner Hand führt und ich immer genügend Luft zum Atmen haben werde. Das allein genügt mir und lässt mich weiter innerlich ruhig bleiben.

4 Bewegungspläne mit Kurzatmigkeit

Ende März 2020

Die meisten sportlichen Aktivitäten meines Lebens habe ich bislang zusammen mit meiner Freundin Kirsten unternommen. Wir beide haben in 40 Jahren so ziemlich alles gemeinsam erlebt, was einem mit der besten Freundin so passieren kann. Gemeinsam haben wir die wilde Teennagerzeit durchgestanden, unsere Hochzeiten mit unseren Prinzen gefeiert und uns während der Schwangerschaften, der „Kinderaufzuchtphasen“ und auch in Sterbebegleitungszeiten unserer (Groß-)Eltern immer gegenseitig unterstützt. Wir sind gegenseitig Patentanten unserer Mädels.

Kirsten ist eine starke Persönlichkeit und verfügt über viele Charaktereigenschaften, die für mich immer auch richtungsweisend gewesen und unglaublich stützend sind. Am meisten schätze ich ihre loyale Art im Umgang mit Menschen und ihren besonderen Humor. Oft genügt ein Blick von ihr, und ich fühle mich komplett verstanden. Ebenso legendär sind ihre Bastelgeschenke und geistreichen Karten und Briefe, die ich seit Jahren aufhebe und die mittlerweile kistenweise auf unserem Speicher stehen. Als unsere Mutter starb, hat mich Kirstens Mama Ingrid als „Ersatz-Mami“ adoptiert. Die Freundschaft mit Kirsten über so viele Jahre ist für mich ein ganz besonderes Geschenk und kann einfach kein Zufall sein.

Neben all dem normalen Wahnsinn des Lebens waren Sport und Bewegung schon immer unsere gemeinsame Leidenschaft. Regelmäßig verabredeten wir uns schon als Jugendliche in der Natur zum Joggen oder zum Schwimmen in irgendwelchen Waldweihern oder später auch im Meer. Als wir älter wurden, haben wir die Joggingschuhe gegen Walkingstöcke ausgetauscht. Wir sind Wald-Freundinnen, die die Bewegung draußen regelmäßig brauchen, damit unsere Seelen durchatmen können.

Das Skifahren gehört ebenfalls zu unserer großen Leidenschaft. Zu unserem Glück haben wir beide Männer geheiratet, die dem Skivirus ebenso verfallen sind wie wir. Gemeinsam gehen wir gern auf die Piste und fahren seit Jahren zusammen in den Skiurlaub.

In diesem Jahr müssen wir nun aufgrund meiner Erkrankung, der akuten Grippe und der aktuellen Corona-Nachrichten aus Ischgl leider absagen. Ich liege mit einer Influenza-Grippe fest im Bett und habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich nicht mehr in der Lage bin, allein richtig abzuhusten. Das Sekret sitzt so fest in den Bronchien, dass ich nicht ausreichend Luft bekomme und befürchte, daran zu ersticken. Es gelingt mir schließlich mithilfe von angeordneten „Mukoviszidose-Medikamenten“ und Dauerinhalation, die heftige Influenza-Grippe ohne Krankenhausaufenthalt in den Griff zu bekommen. Dennoch merke ich, dass sich meine Lungenfunktion weiter zunehmend verschlechtert hat. Man nennt das in der Fachsprache auch „Exazerbation“, d. h. eine deutliche Verschlechterung einer schon bestehenden Grunderkrankung, z. B. durch zusätzliche Infekte.

Es dauert Wochen, bis ich wieder langsam das Lungen-Konditionstraining im Wald mit meiner Freundin aufnehmen kann. Bislang sah meine Woche sportlich gesehen folgendermaßen aus: zweimal pro Woche Walking (1,5 bis 2 Stunden), einmal pro Woche Fitnessstudio (2 Stunden) und einmal pro Woche Schwimm-Konditionstraining (1 Stunde). Da mittlerweile pandemiebedingt sämtliche Schwimmbäder und Fitnessstudios geschlossen sind, muss ich mir einen neuen wöchentlichen Bewegungsplan überlegen.

Ich teste neue Möglichkeiten der Bewegung, die auch mit weniger Atemluft für mich sinnvoll sind, und schaffe mir ein E-Bike an. Dieser Entschluss hat wirklich einige Zeit in meinem Kopf reifen müssen. Bislang hatte ich mich immer dagegen gewehrt, weil Pedelecs für mich quasi „Mofas ohne Lärm“ sind. Wirkliches Konditionstraining gelingt für mein Verständnis eigentlich nur in Verbindung mit richtiger Anstrengung und Schweiß. Mittlerweile aber merke ich jedoch, dass auch Fahrradfahren mit dem Mountainbike nicht mehr möglich ist. Die Berge sind einfach zu steil und für meine Lunge jetzt viel zu anstrengend. Mit dem E-Bike kann ich nun ausgedehntere Fahrradtouren machen und neue Waldwege erkunden, da ich den Radius um ein erhebliches Maß steigern kann. Momentan sind für mich etwa 90 Minuten Bewegung dreimal pro Woche entweder auf dem E-Bike oder zu Fuß noch möglich.

Aufgrund der plötzlichen Berentung muss ich mich an den Umgang mit dem Faktor Zeit ganz neu gewöhnen. Die ersten Wochen fühlen sich noch wie ein normaler Urlaub an. Ich muss mich jetzt nicht mehr ständig innerlich abhetzen, um in minimaler Zeit möglichst viele Dinge nebenbei noch zu erledigen. Ich kann nun ganz in Ruhe eine Aufgabe nach der anderen angehen und dabei gelassen bleiben, weil morgen ja auch noch ein Tag ist, an dem ich das wegarbeiten kann, was ich vielleicht heute nicht geschafft habe, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich nach so vielen Jahren permanenter Zeitknappheit und Aneinanderreihung von Terminen. Vom Lebenstempo 200 km/h bin ich nun komplett ausgebremst und habe jetzt quasi jeden Tag „frei“.

Ich merke auch, dass dieser neue Umgang mit Zeit meinem Körper guttut. Nebenberuflich begleite ich zunächst noch die Bachelorarbeiten der Studierenden und unterstütze die ehemaligen Kollegen im Bildungsinstitut beim Online-Unterricht. Aber auch diese Tätigkeit muss ich nach kurzer Zeit im April aus arbeitsrechtlichen Gründen loslassen. Ich hatte beruflich als Pflegepädagogin noch so viele Ideen! Was hätte es mir doch Spaß gemacht, mit meiner jungen und begabten Kollegin Laura ein Online-Ausbildungskonzept zu erarbeiten!

Ich lerne langsam, mit der hinzugewonnenen Lebenszeit umzugehen und meine Situation anzunehmen. Es ist eine ambivalente Zeit, und mit meiner inneren Verfassung steht und fällt natürlich auch die Stimmung in unserer Familie. Besonders dann, wenn ich über den Verlust meiner Gesundheit und Berufstätigkeit sehr traurig bin.

Jeden Tag bemühe ich mich, die schönen kleinen Dinge im Leben wahrzunehmen, mich darüber zu freuen und sie zu genießen. Dabei ist es mir besonders wichtig, dass ich meiner Erkrankung wirklich nur so viel Platz einräume wie unbedingt nötig. Ich konzentriere mich jetzt nur noch auf das, was lungenbedingt noch geht – und nicht darauf, was ich alles nicht mehr schaffe. Diese innere Haltung lässt mich nicht auf eine Großbaustelle schauen, sondern eröffnet immer wieder neue Perspektiven.