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In diesem Buch wird die Geschichte einer großen jüdischen Familie erzählt. Dabei handelt es sich um meine Verwandten väterlicherseits. Diese Menschen hatten ein schweres, oft sogar tragisches Schicksal: Sie erlebten zwei Weltkriege, drei Revolutionen, den Bürgerkrieg in Russland, die Nachkriegszerstörung, die Jahre des stalinistischen Terrors, die antisemitische Hysterie in der Sowjetunion und vieles mehr. Um ein authentisches Bild zu schaffen und das Schicksal meiner Verwandten nachzuverfolgen, musste ich private Archive, die teils auf wundersame Weise erhalten geblieben waren, sowie staatliche Archive verschiedener Länder sichten. Bei diesen Recherchen erhielt ich unschätzbare Hilfe von meinem Großneffen Sergej Zair-Bek und seiner Ehefrau Olga Varshaver. Es gelang ihnen, Dutzende engagierte Menschen für diese Arbeit zu gewinnen: Archivare, Historiker sowie Mitarbeiter gemeinnütziger Organisationen und Stiftungen. Die Recherchen dauerten mehrere Jahre und führten mich in Städte wie Šiauliai und Irkutsk, Moskau und St. Petersburg, Baku und Nischni Nowgorod, Berlin und New York, Vilnius und Charkiw, Kapstadt und Riga sowie viele weitere Orte. Große Unterstützung erhielt ich auch durch die Erinnerungen und Fotoarchive meiner Cousinen Dara Perfitt aus Maine in den USA und Noemi Segal aus Israel, die leider kürzlich verstorben ist. Die Suche ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Es gibt noch viele Geheimnisse, aber wir hoffen, auch diese zu lüften. Allen, die mir bei diesen Nachforschungen geholfen haben, gilt mein tief empfundener Dank.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
© 2025 Yakub Zair-Bek
Homepage: https://bote-ol.de
Coverdesign, Satz & Layout: Pavel Goldvarg
Lektorat: Timur Zair-Bek
Herausgeber: Liberale Jüdische Gemeinde Oldenburg e.V., Homepage: https://ljgo.de/
Covergrafik: aus persönlichem Archiv des Autors
ISBN
Softcover978-3-384-40823-5
Hardcover978-3-384-40824-2
E-Book978-3-384-40825-9
Druck und Verbreitung im Auftrag des Herausgebers: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany.
Das Werk ist einschließlich seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, postalisch über den Herausgeber zu erreichen unter: Liberale Jüdische Gemeinde Oldenburg e.V., Justus-von-Liebig-Str. 9, 26133 Oldenburg, Germany.
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Inhaltsverzeichnis
Weltgeschichte einer jüdischen Familie
Autor: Yakub Zair-Bek
Das Vorwort des Autors
Kapitel 1: Von Postavy nach Kholmogory
Kapitel 2: Kontaktieren Sie Markus Zaks
Kapitel 3: Lust auf einen Ortswechsel?
Kapitel 4: Mit Montessori durchs Leben
Kapitel 5: Geheimnisvolle Metamorphose
Kapitel 6: „Garun rannte schneller als ein Reh …“
Kapitel 7: „Wir haben diesen Tag so gut wie möglich näher gebracht …“
Kapitel 8: „Marquise“
Kapitel 9: „Verliebe dich nicht in deine Cousine!“
Kapitel 10: Der orthodoxe Izya
Kapitel 11: „Vom Winde verweht…“
Kapitel 12: „Keine Spur bleibt…“
Kapitel 13: Mulya
Kapitel 14: „Zur höchsten Strafe…“
Kapitel 15: Die unerschütterliche Noemi
Kapitel 16: „Gardemarine, vorwärts!“
Kapitel 17: „Es werden Enkel kommen, und alles wird von vorn beginnen…“
Kapitel 18: Unvergehender Groll
Kapitel 19: Woher kommt diese Familiensaga?
Kapitel 20: Abschluss der Familiensaga
Epilog
Geboren 1938 in Kamyshin (heute Oblast‘ Volgograd, Russland). Alumnus der Nationalen Technischen Universität Kharkiv (Abschlussjahrgang 1960). Doktoringenieur. Bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Dozent an der Polytechnischen Universität Kharkiv.
In Deutschland seit 1995:
Seit 1997 Herausgeber der zweisprachigen Zeitung „Der Bote“ der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg.
Seit 1996 regelmäßige Veröffentlichungen in russischer Sprache in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Israel, in den USA, in Russland sowie in anderen Ländern, darunter in den Periodika „Yevreyskaya Panorama“, „Russkiy Berlin“ sowie „Evropa-Ekspress“ (alles Deutschland), „Sekret“, „Vremya-Novosti“ (beide Israel), „Moya Amerika“
(USA), auf isrageo.com etc.
Preisträger des internationalen Wettbewerbs „Silver Duke 2015“ (Odessa, Ukraine).
Gewinner des „Writers’ Union of North America Beryl Nugget Award 2021, (New York City, USA).
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In diesem Buch wird die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt. Es handelt sich dabei um meine Verwandten väterlicherseits. Sie alle hatten keine geraden Lebensläufe, viele erlebten schwere Schicksalsschläge, einige starben eines gewaltsamen Todes. Im Zarenreich Russland und in der Sowjetunion waren sie Zeitzeugen von zwei Weltkriegen, von drei Revolutionen und vom russländischen Bürgerkrieg. Sie waren von den Zerstörungen und Hungersnöten während und im Anschluss an die besagten Konflikte, von mörderischen Säuberungen des stalinistischen Terrors, von antisemitischer Diskriminierung und desgleichen mehr oftmals direkt betroffen.
Um ein nicht nur interessantes, sondern auch möglichst sachliches Werk zu verfassen und die Lebensläufe meiner Verwandten väterlicherseits möglichst gründlich erforschen zu können, musste ich nicht nur private, teils auf wundersame Weise erhalten gebliebene Archive durchsehen und exzerpieren, sondern auch mit den staatlichen Archiven in mehreren Ländern zusammenarbeiten. Wirklich riesig war bei diesen Recherchen die Unterstützung von meinem Großneffen Sergei Zair-Bek und von seiner Ehefrau Olga Varshaver, die es hinbekommen haben Dutzende von Menschen in verschiedenen Ländern - Archivare, Historiker, Mitarbeiter von gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen - in die Arbeit am vorliegenden Werk einzubinden. Die Recherchen haben mehrere Jahre in Anspruch genommen und fanden in Šiauliai und Irkutsk, in Moskau und St. Petersburg, in Baku und Nischni Nowgorod, in Berlin und New York City, in Vilnius und Kharkiv, in Kapstadt und Riga sowie in weiteren Städten statt. Große Unterstützung erhielt ich auch in Form der erzählten, ausführlichen Erinnerungen sowie durch die Bereitstellung der Fotos aus den persönlichen Archiven von meinen Cousinen Dara Perfitt (State of Maine, USA) und Noemi Segal (zuletzt Israel). Die Recherchen sind noch nicht gänzlich abgeschlossen und weiterhin gibt es ungeklärte, teilweise gezielt kaschierte Abschnitte in den Lebensläufen von einigen von meinen Verwandten väterlicherseits, doch hoffe ich, dass auch diese Geheimnisse in der Zukunft geklärt werden können. Allen, die mir bei den umfänglichen und langwierigen Recherchen geholfen hatten gilt mein ganz herzlicher Dank.
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Viele der Juden, welche aus den Nachfolgestaaten der UdSSR einst ausgewandert waren oder weiterhin dort leben, kennen manchmal gar nicht und häufig nur recht wenig die Geschichte der eigenen Familie. Heute meist sehr betagte, postsowjetische Juden verbrachten den Großteil ihres Lebens in einem unfreien Land, in welchem nicht zuletzt die Geschichte der russländischen und später der sowjetischen Juden teilweise ignoriert, teilweise gar geklittert wurde. Daher ist es umso wichtiger die Familiengeschichten dieser Menschen zu erforschen, die ermittelten Erkenntnisse zur Niederschrift zu bringen und dadurch auch die Übertragung dieser Geschichten von älteren Generationen an die Nachfolgegenerationen zumindest nachträglich zu gewährleisten. Eröffnen möchte ich dieses Werk mit der Schilderung der Geschichte meiner Verwandten väterlicherseits im Russländischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts.
Der Sennaya-Platz in St. Petersburg
Beginnen werde ich mit meinem Urgroßvater und meiner Urgroßmutter väterlicherseits. In der Stadt Postavy, vor 1917 im Herzen der sogenannten Ansiedlungsrayon des Russländischen Reiches und heute im Nordwesten von Belarus, unweit der Grenze zu Litauen gelegen, lebte Mitte des 19. Jahrhunderts die jüdische Familie des Schmiedes Alexander (Zender) Zeiber (1818-1911). Verheiratet mit der Hebamme Dorothy (Dora) Schneider-Zeiber (1827–1901), wurde Zender 16-mal Vater. Allerdings starben sieben seiner Kinder bereits im Säuglingsalter.
Alexander und Dorothy Zeiber
Ganze 10 Jahre lang mussten alle Juden von Postavy, einschließlich der Familie Zeiber, weit im Norden Russlands im Ort Kholmogory in der Provinz Arkhangelsk leben. Diese Verbannung war die Strafe dafür, dass die Juden von Postavy sich einst der Forderung der Beamten widersetzt hatten, ihre Söhne für den Wehrdienst in der zaristischen Armee freizustellen. In Kholmogory wurde 1867 der Sohn Semyon (Shimon) geboren.
Obwohl sie nach dem Ablauf von 10 Jahren nach Postavy zurückkehren durften, verbrachte die Familie Zeiber aus vielfältigen Gründen 14 Jahre in Kholmogory. Dennoch kehrten sie in ihre belarussisch-litauische Heimat aus der Verbannung zurück, allerdings nicht nach Postavy, sondern nach Shavli (heute Šiauliai, Litauen). Dort heiratete im Jahre 1895 Semyon Zeiber die Pere (Paulina) Zaks, die 1872 in Šiauliai geboren wurde.
Semyon Zeiber (1867-1941) und Paulina Zeiber (1872-1941), meine Großeltern
Es lohnt sich an dieser Stelle die Familie der Braut Pera etwas näher vorzustellen, denn bestanden auch viele Jahre nach der besagten Hochzeit 1895 vielfältige Kontakte zwischen mehreren Mitgliedern der beiden Familien Zeiber und Zaks.
In der Familie des aus Šiauliai stammenden Mehlhändlers Itzhak (Itsik) Zaks und seiner Frau Raine, welche ihrerseits aus Liepāja (heute in Lettland) stammte und eine Näherin war, gab es drei Söhne – Markus (Max), Borukh (Boris) und Sima (Simon, in einigen Dokumenten auch Sine genannt) sowie die Tochter Pere (Paulina).
Markus Zaks
Markus Zaks, der älteste der Söhne, kam auf der Suche nach einem besseren Leben zunächst nach Rīga und anschließend nach St. Petersburg. In Šiauliai soll er ein überaus wissbegieriger und gelehriger junger Mann gewesen sein, studierte zunächst an einer Jeschiwa-Hochschule Tora und Talmud, entschied sich aber für einen anderen Lebensweg und verließ seine Heimatstadt. In Rīga lernte er die Rabbinertochter namens Rakhel kennen und heiratete sie später, trotz des Widerstandes ihres Vaters. 1882 zog das junge Ehepaar ins Städtchen Sestroretsk, ungefähr 30 Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum von St. Petersburg entfernt. Sestroretsk war im späten 19. Jahrhundert noch nicht der gefragte klimatische und balneologische Kurort vor den Stadttoren von St. Petersburg, sondern glich der Ort damals eher einem Dorf, wie man es den Fotos aus jener Zeit entnimmt.
Sestroretsk Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Ehepaar Zaks hatte zwei Kinder. Der Sohn Samuel wurde 1883 geboren, später folgte die Tochter Tsiporah. Anfangs musste die junge Familie in Sestroretsk im Keller von einem Gebäude leben und im Zimmer nebenan lagerte eine Kauffrau Fässer mit dem Hering, sodass der unangenehme Fischgeruch in der engen, unterirdischen Bleibe von Markus und Paulina allgegenwärtig war. Diese schwierigen Startvoraussetzungen des Lebens in der Hauptstadtregion hinderten den Markus allerdings nicht davon ab erfolgreiche Geschäfte zu machen und bereits 1887 wurde der Name Zaks unter den Namen der St. Petersburger Kaufleute erwähnt. Bis dahin konnte er nämlich seine eigene Werkstatt eröffnen und spezialisierte sich auf die Herstellung der Korsette.
In den Folgejahren gelang es dem unternehmungslustigen und energischen Markus Zaks zu expandieren, die ursprünglich kleine Korsettwerkstatt in eine Bandagen- und Miederwarenfabrik umzuwandeln und sein eigenes Geschäft in St. Petersburg zu eröffnen. Das Familienunternehmen perspektivisch leiten sollten sein Schwager Semyon und seine Schwester Paulina. Zur Aneignung der einschlägigen Kenntnisse und Fertigkeiten wurden die beiden nach Samara geschickt und erlernten dort die Herstellung der Korsette sowie der Prothesen und die Anfertigung von verschiedenen anderen, medizinischen Geräten. Während die Eheleute Zeiber in Samara lebten, wurde 1896 ihre Tochter Rakhel (Raya) geboren. 1897 zogen sie schließlich in die Hauptstadtregion nach Sestroretsk um, wo 1898 mein Vater Solomon (Monya) Zeiber das Licht der Welt erblickte.
Mein Vater Monya Zeiber im Alter von zwei Jahren
Dank der Recherche in den Adressbüchern „Ves‘ Peterburg“, welche vor 1917 in St. Petersburg und seinen Vororten das Pendant von heutigen „Gelben Seiten“ waren, konnten wir Informationen über die Vertreter der Familien Zaks und Zeiber ermitteln. Diese Recherche war überaus informativ und ermöglichte es nicht nur die Umzüge von beiden Familien innerhalb der Stadt an der Newa nachzuverfolgen, sondern auch ein wenig über die Änderungen des Lebensstandards der Mitglieder der beiden Familien sowie über die Entwicklung ihres Unternehmens zu erfahren. Fast 40 Jahre lang, 1893 bis 1931, als im Leningrader Telefonbuch zum letzten Mal der Name Zaks erwähnt wurde, bestand ein reger Austausch zwischen den Mitgliedern der beiden Familien.
In der Anlage zum unveröffentlichten, zugleich sehr interessanten Aufsatz – Übersetzung aus dem Russischen – „Die Familie Zeiber-Zaks in St. Petersburg“ von Sergei Zair-Bek findet man den Stadtplan von St. Petersburg, auf welchem alle ermittelten Wohnsitze und Geschäftsstandorte mit einem Bezug zu den Familien Zeiber und Zaks markiert sind. Die meisten Adressen in den prestigeträchtigen, teuren Gegenden im Stadtzentrum verweisen auf den hohen Lebensstandard der beiden Familien. An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert wohnten in diesen Stadtbezirken zahlreich die Fabrikbesitzer, vermögende Kaufleute sowie wohlhabende Ladenbesitzer.
Meinen jüdischen Großeltern und anderen Verwandten väterlicherseits, welche den Sprung aus dem ärmlichen Ansiedlungsrayon nach St. Petersburg wagten, gelang es somit in der russländischen Hauptstadt nicht nur einfach Fuß zu fassen, sondern sogar innerhalb von einer Generation zu wohlhabenden und angesehenen Bürgern von St. Petersburg aufzusteigen.
1895 bis 1909 wohnte die Familie Zaks in der Gorokhovaya-Straße 29 recht komfortabel, doch auch ohne allzu großen Luxus. Nicht immer wurde dieses Haus in den Adressbüchern als die Wohnadresse der Familie erwähnt. Seit 1903 wird diese Anschrift in den Anzeigen der Korsette- und Bandagenfabrik Zaks angegeben, zusammen mit einem Geschäft, welches sich ebenfalls in der Gorokhovaya-Straße befand, allerdings im Gebäude mit der Hausnummer 24, am gegenüberliegenden Ufer des Katharinenkanals (heute Griboyedov-Kanal).
Die Gorokhovaya-Straße in St. Petersburg
St. Petersburg, Katharinenkanal
In der Gorokhovaya-Straße 29 befand sich im 19. Jahrhundert die Fabrik für Orden und Abzeichen von D. Osipov, die 1856 gegründet wurde. Im selben Haus befand sich auch eine der Bäckereien des Unternehmers D. Filippov. Die Firma von Filippov konnte übrigens den Herausforderungen der sowjetischen Ära und der Planwirtschaft erfolgreich trotzen und existiert bis heute.
In direkter Nachbarschaft zu diesen Unternehmen befand sich die Werkstatt für die Bandagen und orthopädische Hilfsmittel von Markus Zaks. In der Werkstatt wurden medizinische Bandagen, Krücken, Prothesen und Bandagen hergestellt, die vor allem für die Versorgung von Militärkrankenhäusern und Hospitälern bestimmt waren.
Im Verzeichnis von „Ves‘ Peterburg“ aus dem Jahre 1902 wird unter der Adresse Gorokhovaya-Straße 29 auch das Einzelhandelsgeschäft der Fabrik genannt. Ob es nur ein Fehler war oder ob Markus 1902 in diesem Haus tatsächlich die Produkte seiner Fabrik verkaufte, ist nicht bekannt. Die Antwort können nur die damaligen Hausbücher geben, sofern sie erhalten sind. Seit 1899 befand sich im Haus in der Gorokhovaya-Straße 24 das Einzelhandelsgeschäft der Fabrik von Markus Zaks. Im selben Haus gab es seit 1904 die Werkstatt für Korsette von Pere Zeiber. Dieses Geschäft existierte bis zur Oktoberrevolution 1917 und war ein Teil des gemeinsamen Geschäftes der Familien Zaks und Zeiber.
Im Dezember 2004 organisierte das Staatliche Museum für die Geschichte von St. Petersburg die Ausstellung mit dem schlichten Titel „Korsett“. Zu den drei ausgestellten Korsetten aus dem frühen 20. Jahrhundert gehörte auch ein, von der Orthopädie- und Bandagenfabrik von Markus Zaks hergestelltes Bauchpolster.
Aus dem Ausstellungskatalog, verfasst von Yulia Demidenko, welche eine Kunsthistorikerin sowie die stellvertretende Direktorin für die wissenschaftliche Arbeit des Staatlichen Museums für die Geschichte von St. Petersburg ist geht hervor, dass zum Herstellungssortiment der Fabrik von Markus Zaks die Augen-, Ohren-, Arm- und Beinbinden, die Krücken und auch die Menstruationsbeutel gehörten. Wenig später erweiterten die „künstlichen Arme und Beine“, also die Prothesen sowie hygienische und gewöhnliche Korsette „nach den neuesten Modellen der vorzüglichsten Häuser von Paris“ das Unternehmenssortiment.
Werbeplakat der Firma von Markus Zaks
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Im ersten Kapitel habe ich erwähnt, dass sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Gorokhovaya-Straße 24 das Einzelhandelsgeschäft der Firma von Markus Zaks befand, seit 1904 mit der Werkstatt für Korsette von Paulina Zeiber. Das zentrale Geschäft des Unternehmens wurde 1906 von Markus Zaks in einem anderen Teil von St. Petersburg, im Hause Litejny-Prospekt Nr. 45 – seit Generationen eine der prestigeträchtigsten Straßen der Stadt – eröffnet.
St. Petersburg, Litejny-Prospekt
Es ist nicht auszuschließen, dass die Pere (Paulina) Zeiber im Rahmen der Expansion des Familienunternehmens eine wichtige Rolle gespielt hatte. Intelligent und proaktiv, unternehmungslustig und geschäftstüchtig, zugleich mit dem ausgezeichneten Geschmack und dem Sinn für die Schönheit gesegnet, trug Paulina zur ständigen Aktualisierung und Erweiterung der Produktpalette des Unternehmens bei. Dank ihrer Einbindung begann die Fabrik mit der Produktion von verschiedenen Gattungen der Korsette, von Damenhygieneartikeln und auch von „Bruststützen“. Markus Zaks hatte sicherlich keine falsche Entscheidung getroffen, als er sich dazu entschlossen hatte seine Schwester an den Geschicken des Familienunternehmens zu beteiligen.
Paulina Zeiber
Durch die Ausweitung der Produktion entwickelte sich Markus Zaks zu einem bedeutenden Hersteller der figurformenden Unterwäsche im Russländischen Reich. Seine Firma stellte für die Frauen nicht nur „die neuesten Modelle der vorzüglichsten Häuser von Paris“ her, sondern auch die Unterwäsche, welche sowohl die Figur betonte als auch den damals höchsten Anforderungen bzgl. der Frauenhygiene und der Frauengesundheit entsprach. Hierbei handelte es sich um die modernisierten Korsette, welche einerseits die Körperhaltung unterstützen, zugleich aber die Brust nicht zusammendrückten, die Knochen nicht verformten und mit den Spitzen- und Seidenbändern verziert waren. Angeboten wurden u. a. die Korsette für die Leibesübungen, die Korsette aus Gummi, die elastischen Strickkorsette und vieles mehr. Das Unternehmen von Markus Zaks war die erste medizinische Wäschefabrik im Russländischen Reich, deren Sortiment die elastischen Strümpfe gegen die Krampfadern, die Bauchpolster für die Hernien, verschiedene medizinische Fixiermittel, die Bandagen, welche bei Kopfverletzungen verwendet wurden und weitere Produkte umfasste.
Werbeplakate für die Korsette von Markus Zaks (frühes 20. Jahrhundert)
Die Dessous waren vor allem bei den wohlhabenden Einwohnerinnen von St. Petersburg gefragt, so dass vonseiten des Unternehmens maximale Seriosität erwartet und erbracht wurde. Das Augenmerk von Markus Zaks galt auch den Werbemaßnahmen und scheute er hierfür keine Kosten, was zahlreiche Werbeplakate in den zeitgenössischen, einschlägigen Magazinen bezeugen. „Möchten Sie das Erfolgsgeheimnis der Schönheit und Anmut der Form erfahren? Kontaktieren Sie Markus Zaks!“, stand in einer von solchen Anzeigen.
Werbeplakat für die Korsette von Markus Zaks (frühes 20. Jahrhundert)
Die Gründer des Familienunternehmens: Paulina Zeiber, Semyon Zeiber, Markus Zaks
Die bereits erwähnte Kunsthistorikerin Demidenko ergänzt unser Wissen über die Werbepolitik des Unternehmens von Markus Zaks wie folgt:
„In den Katalogen von Kaufhäusern und folgend auch in den Preislisten und Anzeigen der Dessous-Läden und Werkstätten, sowohl der gewöhnlichen, als auch derjenigen, welche sich beispielsweise auf die Produktion von medizinischer und formgebender Kleidung spezialisiert hatten, wie insbesondere das Unternehmen von Markus Zaks in St. Petersburg, gab es viele Zeichnungen der Korsette und Halbkorsette, der Bauchhosen und der Gamaschen, der Nachthemden und der Hemden für die Sonnenbäder, der Pantalons für verschiedene Anlässe, der neumodischen BHs etc. Stets waren es nur Zeichnungen, mal detailreich und stilvoll, mal eher primitiv, nie aber richtige Fotografien. Das graphische Maßhalten bei der Herstellung der Werbeblätter schützte die Privatsphäre der Frauen und animierte zugleich die Fantasien der Männer.“
Für die Gestaltung der meisten Werbeplakate der Firma von Markus Zaks war übrigens der junge Künstler und Grafiker Sergei Lodygin (1892-1948) – eine prägende Gestalt des Jugendstils im späten Zarenreich – zuständig.
Izya Zeiber erzählte seiner Tochter Dara, dass seine Mutter, Paulina im frühen 20. Jahrhundert ziemlich oft nach Westeuropa, vor allem nach Paris reiste, um sich über die neuesten Trends in der Welt des Designs und der Herstellung von Damenunterwäsche gründlich informieren zu können. Anscheinend war sie auch diejenige Person, welche die Ideen für die Herstellung von mehreren neuen Arten der Korsette und Bruststützen nach Russland brachte, deren Vertrieb die Bekanntheit der Firma Zaks in St. Petersburg weiter steigerte und das Unternehmen zum Damenunterwäschelieferanten des kaiserlichen Hofes aufsteigen ließ. Wir konnten allerdings keine schriftlichen Bestätigungen dafür finden. Mittelbar belegt werden aber diese Geschäftsbeziehungen der Firma Zaks zum kaiserlichen Hof sehr wohl, nämlich durch die Erinnerungen von Paulinas Verwandten, insbesondere von ihrer Enkeltochter Noemi Segal. Einer Familienerzählung zufolge soll der Kaiser Nikolaus II. während des Ersten Weltkriegs den Markus Zaks für seinen Beitrag bei der Entwicklung von speziellen Prothesen für verstümmelte Soldaten ausgezeichnet haben.
Die Korsette wurden damals übrigens nicht nur von den Frauen, sondern auch von Männern getragen, um kräftig gebaute Herren schlanker wirken zu lassen. Das Werk von Markus Zaks arbeitete somit auf Hochtouren und wurden die Produktionsmengen und das Warenangebot Jahr für Jahr erweitert. Symbolisch für diesen wirtschaftlichen Höhenflug des Unternehmens war die Wahl des Hauses Nr. 45 am Litejny-Prospekt zum Firmengeschäftsort. Dieses Haus wurde nach dem Entwurf des berühmten St. Petersburger Architekten A.Pel erbaut. Das lange, fünfstöckige Gebäude mit den Ausgängen zum Litejny-Prospekt und zur Belinsky-Straße (ehemals Simeonovskaya-Straße) wurde mehrmals umgebaut und erweitert, wodurch es sein heutiges Aussehen erhielt.
St. Petersburg, Litejny-Prospekt 45
St. Petersburg, Litejny-Prospekt 43 und 45
Wie in vielen anderen Häusern am prestigeträchtigen Litejny-Prospekt,wohnten auch im Hause Nr. 45 vor der Oktoberrevolution berühmte Persönlichkeiten, darunter der Geograph Grigorij Grumm-Grzhimailo, der Opernsänger Fyodor Shalyapin und der Herausgeber sowie Kunstkritiker Sergei Diaghilev. Vor 1917 gab es in dem Haus auch ein angesehenes Restaurant, in welchem sich viele Kulturschaffende regelmäßig trafen. Ich konnte zwar keine Fotos des Hauses Nr. 45 am Litejny-Prospekt mit dem Schaufenster des Ladens von Markus Zaks finden, dennoch gelang es mir ein Foto aus der Zeit vor 1917 zu entdecken, auf welchem die Fassaden der Häuser Nr. 43 und 45 zu sehen sind. So gewinnt man zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, wie die unteren Stockwerke der besagten Gebäude, samt sich darin befindlicher Geschäfte und gastronomischer Einrichtungen, einst aussahen.