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Wendeleben ist eine amüsante und kurzweilige Autobiografie über ein verrücktes Leben von West nach Ost, Ost nach West und noch einmal von West nach Ost, um schließlich doch im Westen zu landen. Teil 1 - Von West nach Ost 1940 - 19880 Bereits seinen Eltern lag das Unstete im Blut. Beide in München geboren, wollten sie nach dem Krieg erst nach Australien auswandern, entschieden sich aber dann doch - für die DDR! Für Frank, Jahrgang 62, in Dresden aufgewachsen, setzte sich das Unstete fort. Laufend wechselnde Arbeitsstellen, Frauengeschichten, eine geplatzte SED-Kandidatur, Schatzi, zwei Kinder, abenteuerliche Urlaubsreisen und nicht zuletzt einige Umzüge mit spektakulären Wohnungsübernahmen, wie sie in der DDR der 80er Jahre nicht alltäglich waren, sorgten in den Jahren bis 1988 immer wieder für neue Abenteuer und Wenden. Bis dato sind 6 Teile geplant: Wendeleben Teil 1 - Von West nach Ost 1940 – 1989 Wendeleben Teil 2 - Zwischen den Welten 1989 Die Flucht mit zwei kleinen Kindern Wendeleben Teil 3 - Wilde Jahre im Westen 1989 - 1993 Die ersten Jahre in Bayern Wendeleben Teil 4 - Zurück im wilden Osten 1993 - 2001 Zurück nach Dresden Wendeleben Teil 5 - Wieder im Westen 2001 - 2016 Zurück in den Westen, in den Norden, nach Hamburg Wendeleben Teil 6 - Die Facetta AG 2002 - 2016 Erlebnisse, Erfahrungen und Anekdoten von der Arbeit bei der Facetta AG
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung standen, haben wir das Maximale in unserem Leben erlebt!
Inhaltsübersicht - Teil 1 bis 6
Vorwort
40er Jahre bis 1962 - Vor dem Anfang
1962 bis 1979 - Franks Heimat heißt Schule
1979 - Zwischenzeit
1979 bis 1981 - Lehrjahre sind Herrenjahre
1981 - 1985 - Das erste Mal oder alles das erste Mal?
1985 - Anzeigenzeit oder wie vier Zeilen ein Leben verändern
1986 - Das Ultimatum - Erst Hochzeit dann Kind
1987 - 1988 - Keine Ruhe vor dem Sturm
Nachtrag
Bis dato sind 6 Teile geplant:
Wendeleben 1- Von West nach Ost 1940-1988
Wendeleben 2 - Zwischen den Welten 1989
Die Flucht mit Schatzi und zwei kleinen Kindern
Wendeleben 3 - Wilde Jahre im Westen 1990-1993
Die ersten Jahre in Bayern
Wendeleben 4 - Zurück im wilden Osten 1993-2001
Zurück nach Dresden
Wendeleben 5 - Wieder im Westen 2001-2016
Zurück in den Westen, in den Norden, nach Hamburg
Wendeleben 6 - Die Facetta AG 2002-2016
Geschichten von der Arbeit bei der Facetta AG
Für alle, die es etwas genauer wissen wollen, gibt es hier eine kurze Zusammenfassung der Bände:
Frank´s Vater Max, 1921 in München geboren, hatte schon ein sehr bewegtes Leben. Zuerst kam die Zeit im Krieg, die Kriegsverletzung, das Zusammenkommen mit seiner Hilde. Dann plante er die Auswanderung nach Australien in den 50er Jahren. Durch Hildes Vater sind sie dann doch in Wismar hängen- geblieben, aber nicht lange, dann ging es weiter über Sangerhausen nach Dresden. Zwischendurch wurde Hilde bei einem Besuch in München verhaftet, später aber wieder freigelassen. Der Westen wollte Max unbedingt wieder zurück haben.
In Sangerhausen kam Frank 1962 zur Welt.
In einer Dresdner Schule aufgewachsen - bot dies alleine schon genügend Abenteuerpotential für ihn.
Anfang der 1980er hatte Frank dann die ersten Berührungen mit dem anderen Geschlecht. Es kam ein Kind, eine erste Trennung, wechselnde Arbeitsstellen. Eine geplatzte Kandidatur für die SED gehörte ebenfalls in die Zeit bis 1989 wie zahllose Frauengeschichten, Schatzi, zwei Kinder, abenteuerliche Urlaubsreisen und nicht zuletzt einige Umzüge, verbunden mit haarsträubenden Wohnungsübernahmen, wie sie in der DDR nicht alltäglich waren.
1989 wurde Urlaub in Ungarn am Plattensee gemacht. Kaum zurück in Dresden, entschied er sich zur abenteuerlichen, 4 Tage andauernde Flucht mit seinem Bruder, seiner Frau und den beiden kleinen Kindern in die BRD. Das Auffanglager in Augsburg, das Heimweh, die Weiterverlegung nach Senden, die Arbeitssuche - das war eine sehr aufregende Zeit. Nach 2 Monaten gab es endlich eine eigene Wohnung und schließlich den ersten Job bei Wüstenrot - nur einige Stationen innerhalb von vier Monaten!
Es folgten die ersten Erfahrungen im Westen, Vergleiche zur DDR und der erste Einkauf in einem Einkaufszentrum.
Auf den ersten Reisen erlebten sie als unbedarfte Ostdeutsche die ersten Abenteuer in der weiten Welt. Dann zog die Familie um.
Frank kaufte bei Aldi ein und verkaufte die Waren im Osten. Dabei hatte er eine bessere Waffe als der ABV.
Einen Rechtsanwalt begleitete er in ein billiges tschechisches Bordell.
Eine Videothek wurde gegründet und eingerichtet, ein Autohandel aufgezogen, Grundstücke gehandelt und schließlich von der Treuhand, ohne eine Mark in der Tasche, zwei erstklassige Gastronomieobjekte im Osten gekauft. Die Zeit reichte auch noch für ein Immobilienbüro und Hausverwaltungen.
Dann nahm sich sein Bruder das Leben, Frank verlor seinen Führerschein, musste vor Gericht und schließlich zog die ganze Familie 1993 wieder nach Dresden.
Jahre als Projektentwickler bei einer Wohnungsbaufirma folgten, bevor Frank und Gabi 1997 ohne Eigenkapital, nur mit einem Dispo - Kredit ausgestattet, einen Weinladen eröffneten.
Bis 2001 unternahmen sie viele Spanien-Einkaufs-Reisen und importierten vieles aus Spanien, von Konserven über Wurst und Schinken bis Wein. Der Wohnwagen wurde bis zum Achsbruch überladen, dann gab es ein Wohnmobil für 90.000 DM. In Spielcasinos sollten die Schulden kleiner werden, doch dann waren an einem Abend 20.000 DM weg.
Schließlich erfuhr Frank von Lustreisen eines Bankvorstandes und plötzlich gab es einen Kredit, aber zu spät. Innerhalb von wenigen Wochen wurde der Laden abgewickelt und die Familie zog nach Hamburg. sieben Jahre Privatinsolvenz und die ersten weiten Flugreisen folgten. Er arbeitete als Lagerleiter in Hamburg, musste dabei aber sehr „flexibel“ mit der Ware umgehen.
Mit 40 erstmals 3 Monate arbeitslos zu sein, veränderte Frank. Diverse kurze Jobs folgten, schließlich erhielt er von einer Zeitarbeitsfirma ein Angebot bei der „Facetta AG“. Für 8,25 € Stundenlohn sollte er dort anfangen. Nach nur neun Monaten fand sein Abteilungsleiter, dass er hier mal „einen frischen Wind“ gebrauchen könnte und Frank wurde fest übernommen. Im Laufe der Jahre weitete der Wind sich allerdings zum Sturm aus, in dem Frank fast umgekommen wäre.
Bei der Facetta AG erlebte er alles, was immer über die DDR und die Stasi erzählt wurde, nur eben 20 Jahre nach dem Mauerfall. Er wurde bespitzelt, ausgegrenzt, gedemütigt. Die Jahre bei der Firma waren die Zeit der größten Veränderung seiner selbst. Es waren aber auch die Jahre der schönsten und abenteuerlichsten Reisen in alle Welt - von Australien, Albanien, Istanbul, Afrika, Asien, Mauritius bis Amerika, wo er seine Gabi nach 27 Jahren Ehe in Las Vegas noch einmal heiratete!
Nun ist er zum ersten Mal Opa geworden, hat bei der Firma endlich (noch nicht immer) die nötige Gelassenheit (und einen Chef der seine Talente einzusetzen weiß) gefunden und freut sich auf das, was noch kommt.
Ein passendes Vorwort für dieses Buch zu schreiben, fand ich fast schwerer, als das gesamte Buch selbst. Denn eigentlich hatte ich/wir ein ganz normales Leben, nur eben mit vielen "Wenden"! Bestimmt gibt es viele, die noch mehr und noch spektakulärere Erlebnisse aufweisen können, aber unsere habe ich eben aufgeschrieben!
Wüsstest du, lieber Leser, nicht auch gern was Deine Eltern oder Großeltern erlebt, wie sie gelebt, wie sie gedacht und sich gefühlt haben? Leider hatte ich keine Zeit mehr, diese Fragen meinen Eltern zu stellen. Damals habe ich mich noch nicht dafür interessiert. Heute jedoch, da ich selber Opa bin, wüsste ich es schon gerne und würde dies auch gerne an meine Enkel weitergeben.
Außerdem habe ich, durch das Schreiben, viel über mich selber erfahren.
Warum schreibt Mann als "Otto - Normalo" mit etwas über 50 ein Buch über sein Leben?
Ich musste lange überlegen, um die richtige Reihenfolge der Antworten zusammen zu bekommen. Außerdem hat sich diese verändert. Schon das alleine ist spannend zu sehen: wie das Leben die Prioritäten anpasst!
Eigentlich wollte ich das Buch mal für mich schreiben, da ich mein Leben und das gemeinsame mit Schatzi, als sehr abwechslungsreich bezeichnen würde. Schon nach den ersten Seiten merkte ich, wie mich das Schreiben veränderte. Ich fing endlich an zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Auch wenn es nun (fast) zu spät ist, sich selber komplett zu ändern, halfen mir die Erkenntnisse, etwas ruhiger und gelassener zu werden.
Dann kam Max auf die Welt, also Maximilian Frank, um genau zu sein. Unser erstes Enkelkind! In diesem Moment überlegte ich, ob es nicht schön wäre, wenn Max und dessen Kinder und Enkelkinder mal lesen könnten, was ihre Vorfahren so erlebt und vor allem, wie sie gelebt haben. Ich jedenfalls würde sehr viel darum geben, zu erfahren, wie und was meine Eltern genau erlebten - gerade in der Zeit zwischen 1940 und 1970! Leider kenne ich das Meiste nur vom Hörensagen oder aus Zeitungsartikeln und wie viel Wahrheitsgehalt diese bergen … na ja!
Da bin ich auch schon beim dritten Grund, der aber jetzt, Ende 2016, wieder einmal zum Hauptgrund geworden ist:
Die Wiedervereinigung Deutschlands gehört schon seit mehr als 25 Jahren der Vergangenheit an und trotzdem beschäftigt sie die Menschen noch immer.
Tatsächlich begegnen mir immer noch Leute, die zur Wendezeit Kinder oder Jugendliche waren, im Westen der Republik geboren wurden und aufgewachsen sind, mir aber heute erzählen, wie furchtbar das Leben vor ´89 in der DDR war. Dabei unterlegen sie ihr „Wissen“ mit Sätzen wie: „…was man so gelesen hat!“, „… was man so gehört hat!“ oder „… so wurde es doch berichtet!“
Deshalb soll es dieses Buch geben - ein Buch über ein Leben zwischen den Welten. Ein Leben, in dem in erster Linie die Menschen selber ihr Schicksal in der Hand halten, unabhängig von Wetter, Politik, Gesellschaft oder Wohnort.
Viele fragten uns, wo unsere Heimat ist. Für uns ist das eine merkwürdige Frage. Als wir in Dresden lebten, war dann Bayern unsere Heimat? Als wir in Bayern lebten, war dann Dresden unsere Heimat? Oder als wir dann wieder in Dresden lebten, war es vielleicht doch unsere bayrische Heimat? Und wie ist es, seit wir in Hamburg leben? Ist jetzt Dresden oder Bayern unsere Heimat?
Heimat ist für uns dort, wo wir leben, uns wohlfühlen, unsere Lieben um uns haben und das Abenteuer Leben genießen!
Anfang Dezember 1962 konnte sich der Winter im Harzer Vorland noch nicht so recht entscheiden. Die Bäume hatten ihr Laub fast vollständig verloren und die Felder rund um Sangerhausen waren triefend nass vom starken Regen der letzten Wochen. Seit einigen Tagen allerdings sanken die Temperaturen und eine dünne Eisschicht legte sich über Wälder und Felder. Die Landschaft und die Menschen bereiteten sich auf den Winter vor. Hier, nicht weit vom Kyffhäuser entfernt, wo die Ausläufer des Harzes noch zu sehen und zu spüren waren, zog der Winter meist erst spät ein. Doch wenn sich die Kälte und der Schnee einmal niedergelegt hatten, dann hielten sie sich oft bis weit in das Frühjahr hinein.
Hochschwanger mit dem 5. Kind saß Hilde in dem kleinen Häuschen am Rande von Sangerhausen und dachte zurück an die Zeit, als sie ihren Mann Max kennenlernte und was sie seitdem alles erlebt hatten. Sie hoffte, dass die Zeiten, nun, da sie noch einmal ein Kind erwarteten, ruhiger werden würden. Schließlich war sie schon 36 und sie war es leid, so durch die Welt zu ziehen. Aber Max sorgte seit ihrer ersten Begegnung nicht nur für unterhaltsame Stunden.
Ihre Gedanken gingen zurück in jene Zeit kurz nach dem Krieg. Damals, es war Anfang 1947. Vor wenigen Tagen hatte sie ihren 22. Geburtstag im Kreise der Familie gefeiert. Nur ihre Mutter konnte nicht dabei sein. Sie lag wegen einer Blinddarmentzündung seit drei Wochen im Krankenhaus.
Endlich jedoch war es soweit und Hilde durfte ihre Mutter besuchen. Mehr als eine Stunde schwatzten sie miteinander und Hilde berichtete ihr den neuesten Tratsch aus der Nachbarschaft. Als die Besuchszeit zu Ende war, verabschiedete Hilde sich von ihrer Mutter und versprach, bald wiederzukommen. Dass es bereits morgen sein würde, ahnten beide noch nicht.
Hilde verließ das Zimmer der Mutter, ging über den steril weiß gefliesten Flur dem Ausgang des Krankenhauses entgegen, als ihr ein junger Mann in einer verschlissenen Wehrmachtsuniform ohne Abzeichen und Schiffchen auf dem Kopf entgegen kam.
Er trug einen Verband über dem rechten Auge, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Unwillkürlich blieb Hilde stehen und sah ihn an. Er war circa 1,80 m groß, schlank, braungebrannt und hatte so ein schelmisches Lächeln im Gesicht. Als er sie dann mit einer Mischung aus südtiroler und bayrischem Dialekt ansprach, war es sofort um sie geschehen. Was Max damals zu ihr sagte, weiß sie nicht mehr. Eins weiß sie aber noch genau, er zog sie mit seiner humorvollen, draufgängerischen Art und seiner Ausstrahlung sofort in seinen Bahn. Auch wenn sie ahnte, dass sie nicht die Erste war, die seinem Charme erlegen war, konnte sie nicht anders und sie verabredeten sich gleich für den nächsten Tag erneut.
In den nächsten Tagen setzte sie alles daran, ihre Mutter im Krankenhaus so oft es ging zu besuchen. Ihr Vater wunderte sich, dass die Besuche nun immer länger dauerten, aber er dachte sich nichts dabei. Hilde hingegen staunte über ihren Vater, war er es doch, der sonst misstrauisch jeden ihrer Schritte beobachtete. Zum Glück war es diesmal anders.
Hilde lächelte bei dem Gedanken, wie sie nur kurz bei ihrer Mutter vorbei schaute und schon nach wenigen Minuten wieder verschwand, um sich den wirklich interessanten Dingen des Lebens zu widmen. Und von diesen kannte Max einige!
In den ersten Tagen ihres Kennenlernens erzählte er ihr unzählige Geschichten aus dem Krieg. Für ihn war der Krieg kein Krieg, für ihn war es mehr und anders. Aus seinem Mund klang der Krieg wie ein großes Abenteuer. Hilde erinnerte sich noch gut an seine Schilderungen, wie er, gerade 20, 1941 zur Wehrmacht eingezogen und der 1. Fallschirmjäger Division zugeteilt wurde. Mit dieser ging es dann auch gleich an die Ostfront. Der erste Einsatz dauerte allerdings nur wenige Monate und Max überstand alles ohne Blessuren. Im Sommer '42 wurden Teile der Division dann nach Frankreich verlegt. Für Max war dies die beste Zeit und nach eigenem Bekunden die unterhaltsamste obendrein. Er und seine Kameraden waren in keinerlei Kampfhandlungen verwickelt und so lebten sie wirklich wie Gott in Frankreich. Max erzählte von dem herrlichen Land, den freundlichen Menschen, dem guten Wein und dem Schampus, der in Strömen floss. Nur von den Erlebnissen mit den hübschen Französinnen erzählte er ihr nichts.
1943 wurde seine Abteilung dann nach Italien verlegt. Auch dort tat er alles, um das gute Leben weiterzuführen. Er verkaufte deutsche Gewehre an die Italiener, um sie ihnen später wieder abzunehmen und an die deutschen Truppen "zurück zu geben"!
Doch das süße Leben fand ein jähes Ende, als er nach Monte Cassino verlegt wurde. Bei den Erinnerungen an diesen Ort gerieten Max's Erzählungen ins Stocken und es gab einen großen Zeitsprung bis 1946. Wie er die schweren Gefechte überstand und warum er noch einmal an die Ostfront kam, dort in Gefangenschaft geriet und schließlich nach Kriegsende wieder im Dienstrang eines Obergefreiten bei seinen Fallschirmjägern als Kraftfahrer in Nordafrika landete, blieb sein Geheimnis.
Max erzählte vom Krieg immer, als wäre es ein riesiger, großer Abenteuerspielplatz gewesen. Selbst seine Erzählungen, wie es in Nordafrika zu seiner Verwundung beim Minen-such-und-räum-Kommando kam, hatte wenig Erschreckendes.
Und diese Geschichte hatte Hilde schon so oft gehört, dass sie manchmal schon glaubte, selbst dabei gewesen zu sein.
Es war ein heißer Tag im Norden Afrikas. In dem kleinen Ort Marsa Matruh direkt an Ägyptens Küste sollte der kleine Trupp, dieser bestand aus dem Leutnant und 7 Soldaten, einen Strandweg nach Minen absuchen und entsprechend räumen. Der Tag war noch jung. Wie so oft hatten sie kaum etwas zum Frühstück gehabt und Leutnant Gustl, der Oberste Herr des MSR Kommandos, hatte bis in die frühen Morgenstunden mit Seinesgleichen gezecht. Obergefreiter Max hatte als Kraftfahrer und Organisationstalent mehrere Sonderaufgaben in der Truppe, dazu gehörten unter anderem das Beschaffen von Alkohol und der Abtransport der Minen. Er verstand es sogar, hier am Rande der Wüste einige Ausrüstungsgegenstände der Wehrmacht in Alkohol umzusetzen. So hatten der Leutnant und seine Gesellen immer Nachschub. Doch an diesem Tag wendete sich das Schicksal gegen Leutnant Gustl.
Schon seit Tagen blickte er zu tief ins Glas und immer öfter verschwamm die Wüste mit seiner fränkischen Heimat. Dies waren natürlich keine guten Voraussetzungen für den obersten Landminen - Entschärfer in Marsa Matruh. Schließlich brauchte er einen klaren Kopf und eine ruhige Hand, galt es doch, die Minen freizulegen und zu entschärfen. Wie schon in den Tagen zuvor ging Leutnant Gustl an diesem Morgen benebelt vom Alkohol mit seinem Trupp zur Minenräumung in Richtung Meer. Am Strandweg angekommen, schickte er seine Leute aus, um Minen aufzuspüren. Er selbst setzte sich mit Max, seinem Fahrer, in den Schatten und trank mit ihm einen Schluck. Nach wenigen Minuten rief einer der Soldaten nach Leutnant Gustl. Max und der Leutnant gingen zu ihm. Der Soldat hatte doch tatsächlich eine Anti-Tank Mine entdeckt. Der Leutnant rief seine Mannen zusammen und begann, die Mine freizulegen. Doch heute war es wie verhext, der Zünder war nicht zu erreichen und die Mine lag festgeklemmt zwischen einigen Steinen.
Der Leutnant schimpfte und fluchte. Schließlich verlor er die Geduld und wies Max an, ihm die Spitzhacke vom LKW zu bringen. Max folgte dem Befehl, während sich Unruhe in der Truppe verbreitete. Einer der Soldaten bot dem Leutnant seine Hilfe an, doch dieser war schon so in Rage, dass er ungeduldig nach Max und der Spitzhacke rief.
Als dieser wieder zurück am Ort des Geschehens war, traten die Soldaten einen Schritt zurück, der Leutnant befahl ihnen, genau zuzusehen, wie er mit sicherer Hand und einem gezielten Hieb die Mine freilegen würde.
Da Max nur der Kraftfahrer war, wollte er wieder weggehen, blieb jedoch schräg hinter dem Leutnant stehen und sah ihm über die Schulter. Die nächsten Sekunden liefen wie in Zeitlupe vor seinen Augen ab. Er sah, wie der Leutnant die Spitzhacke anhob, die Soldaten verzogen ihre Gesichter, einige schlossen die Augen, der Leutnant holte aus und kam leicht ins Schwanken. In diesem Moment wollte er die Aktion abbrechen, aber es war zu spät. Die Spitzhacke hatte schon zu viel Schwung. Max sah noch, wie sich die Gesichter einiger Soldaten vor Schrecken und Entsetzen weiteten, dann sauste die Spitzhacke in Richtung Boden. Im nächsten Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall und der Leutnant war verschwunden. Sand und Steine spritzen auf. Max spürte die Druckwelle gleichzeitig mit dem Schmerz in seinen Augen. Dann wurde es dunkel um ihn!
Später im Krankenhaus erfuhr er, dass Gustl von den Ärzten nicht mehr hätte zusammengesetzt werden können und drei weitere Soldaten durch Splitter tödlich verletzt wurden oder wie Max sich ausdrückte: "... sie durften die Heimreise liegend antreten." Max selbst hatte Sand und Splitterteile in die Augen bekommen.
Nach einer Erstversorgung in Ägypten wurde er bereits wenige Tage später nach Deutschland ausgeflogen. Sein Sehvermögen war vorerst im schönen Marsa Matruh am Strand geblieben.
Doch wie so oft, hatte Max wieder einmal Glück. Nach wenigen Wochen kehrte sein Augenlicht langsam zurück und als er Hilde auf dem Krankenhausflur in München sah, war sein Blick schon wieder auf das Wesentliche geschärft.
Ja, das war typisch für Max, immer alles lustig sehen und schon verliert es seinen Schrecken. Für andere wäre das Erlebte traumatisch gewesen, für Max war es ein Abenteuer unter vielen!
Plötzlich spürte Hilde die ersten Wehen und das wurde auch Zeit, sie war doch schon eine Woche über dem Termin. Sie würde froh sein, wenn das Kind endlich auf der Welt war. Diese fünfte Schwangerschaft war die schwerste und das im wörtlichen Sinne. Sie wusste, dass es nicht gleich bei den ersten Wehen losging und so blieb sie vorerst noch in ihrem Sessel sitzen, lauschte den anderen Kindern, die im Nachbarzimmer spielten und stritten. So plötzlich die erste Wehe kam, war sie auch wieder abgeklungen und so konnte Hilde weiter ihren Erinnerungen nachhängen.
1947 war das erste von vielen turbulenten gemeinsamen Jahren. Kurz nachdem sie Max kennengelernt hatte, erlag sie ihm und seinen Avancen. Sie beschlossen zu heiraten. Wenige Monate später wurde Max aus dem Krankenhaus entlassen und bereits am 03.10.1947 heirateten sie in München standes-amtlich.
Hildes Eltern hatten in den letzten Monaten ihren Geburtsort München verlassen und waren mit 3 ihrer Kinder nach Wismar gezogen. Nur Hilde war in München bei ihrem Max geblieben.
Um allen gerecht zu werden, sollte die kirchliche Trauung im Kreise ihrer Familie an der Ostseeküste vollzogen werden. Aufgrund eines Missverständnisses war diese auf den 04.10.1947 im 700 km entfernten Wismar festgelegt worden.
Max wäre nicht Max, wenn er seine Ideen nicht auch zeitnah und praxisorientiert umgesetzt hätte. Kurz nach der Trauung in München setzten sich beide auf's Motorrad und fuhren in Richtung Norden. Es wurde eine wirklich abenteuerliche Fahrt quer durch zwei Besatzungszonen, quer durch das Nachkriegsdeutschland von 1947.
Wenn Hilde daran zurückdachte, musste sie einerseits lächeln und andererseits verzog sie das Gesicht vor Schmerz. Was es für ein frisch vermähltes Paar nur zwei Jahre nach Kriegsende bedeutete, auf einem DKW - Motorrad von München nach Wismar quer durch Deutschland zu fahren, hätte sie nie gedacht. Aber ihr Max war eben ein Draufgänger und mit ihm meisterte sie auch dieses Abenteuer!
Erschöpft aber glücklich heirateten sie nur einen Tag später in der katholischen St. Laurentius Kirche in Wismar. Hildes Eltern waren überglücklich, ihre Tochter für ein paar Tage bei sich zu haben und so feierten sie gemeinsam ausgelassen mit der ganzen Familie.
Damit nicht zu viel Ruhe einkehrte, drängte Max wenige Tage später, wieder zurück nach München zu fahren, schließlich hatten beide dort eine gemeinsame Wohnung und ihre Arbeit.
Hilde spürte die zweite leichte Wehe und verzog angestrengt das Gesicht. Es war so schön, in alten Erinnerungen zu schwelgen, drängten diese doch die Schmerzen der bevor- stehenden Geburt in den Hintergrund.
Bei dem Gedanken an die Geburt erinnerte sie sich an den 19. April 1949. An diesem Tag hielt nicht nur der Frühling Einzug in München, auch ihr erstes Kind hielt Einzug auf dieser Welt und Max war sehr stolz. Hilde gebar ihm einen gesunden Sohn - Peter. Damals war die Freude groß.
Max hatte seit Januar des Jahres wieder eine feste Arbeit als Polier und Schleifer und in Schwabing hatten sie eine neue Wohnung beziehen können. Bereits ein Jahr später schien das Glück perfekt. Im August 1950 kam ihr zweites Kind - Christa - zur Welt. Hilde fühlte sich angekommen. Was wollte sie mehr? Sie hatte einen Mann, der gut für alle sorgte, sie hatte zwei gesunde Kinder, beide hatten Arbeit und sie wohnten in einer großzügigen, hellen Wohnung in München. Aber Max hatte noch nicht genug, weder von der Arbeit noch von Kindern. Zwar wurde er gegen Ende des Jahres '53 arbeitslos, doch fand er schon wenige Monate später eine neue Anstellung als Kraftfahrer bei der Firma Steinjäger in München. Fast gleichzeitig mit der neuen Arbeit wurde das dritte Kind geboren - Ute erblickte im Juni '54 das Licht der Welt.
Und dann? Tja! Und dann gab es auch damals schon Menschen, die dachten, "Goodbye Deutschland". Nur wurden sie seinerzeit nicht von einem Kamerateam begleitet.
Max und Hilde, wobei die Initiative eindeutig von Max ausging, beschlossen Mitte der 50er Jahre, Deutschland den Rücken zu kehren. Hilde war sich bei den Gedanken an diese Zeit nicht mehr sicher, waren es die Arbeitsaussichten, waren es Max's Geschäfte oder pure Abenteuerlust, die ihn und damit auch Hilde und die Kinder in das ferne Australien lockten.
Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem. Auf jeden Fall beschlossen sie, nach der Geburt von Ute Deutschland in Richtung Australien zu verlassen. Papiere wurden beantragt, eine Schiffsüberfahrt von Hamburg nach Melbourne organisiert und dann reisten sie mit ihren Kindern nach Hamburg. Die Zeit im Auswandererlager auf der Veddel empfand Hilde schier unerträglich - die Enge, die hygienischen Zustände, die vielen Menschen, einfach alles, und so war sie sichtlich erleichtert, als eines Tages ihr Vater aus Wismar anreiste und eine gute Nachricht für die ganze Familie im Gepäck hatte. Hildes Vater berichtete aufgeregt, dass er eine Arbeitsstelle beim VEB Alubau und Metallveredlung Wismar für Max gefunden hatte. Dort könne er als Metallzieher sofort anfangen. Außerdem stellte der Betrieb eine Wohnung für die ganze Familie zur Verfügung. Hilde fiel ein Stein vom Herzen, war sie doch ihrer Heimat Deutschland mehr verbunden, als der Abenteuerlust von Max. Ein fremdes Land, eine fremde Kultur und eine völlig fremde Sprache, das alles waren Dinge, die Hilde eher abschreckten als anzogen. Aber ihrem Max zuliebe wäre sie mit um die halbe Welt gezogen.
Dann ging alles ganz schnell. Binnen weniger Stunden hatte die Familie all ihre Sachen zusammengepackt. Gemeinsam mit ihrem Vater fuhren alle mit dem Zug nach Wismar. Dort begann Max Anfang April 1956 seine Arbeit als Metallzieher.
Allerdings dauerte es nur 2 Monate, bis er diese Arbeit wieder aufgab. Doch Max wäre eben nicht Max, wenn es nicht gleich weiter gegangen wäre. Bereits im Juni wechselte er zum VEB Kraftverkehr Wismar als Treckerfahrer. Warum er noch im selben Monat zum Steingutwerk Torgau, welches fast 400 km von Wismar entfernt lag und am Ende des selben Monats wieder als Metallschleifer beim VEB Alubau anfing, blieb sein Geheimnis.
Ungeachtet der vielen Arbeitswechsel lebten sich alle gut in Wismar ein. Hilde genoss die Nähe zu ihrer Familie und selbst Max schien endlich sesshaft zu werden. Mitte 1956 stellte Hilde fest, dass sie zum vierten Mal schwanger war.
Im Februar '57 sollte es so weit sein, die Geburt ihres 4. Kindes stand bevor. Es war ein nasskalter, ungemütlicher Februar und dann am 11. und 12. des Monats überschlugen sich die Ereignisse. Und es waren nicht die ständigen Arbeitswechsel von Max, welche an diesen Tagen einiges durcheinander wirbelten.
Wieder lief eine Welle des Schmerzes durch Hilde, als sie sich in ihrem Sessel zurück lehnte und tief durchatmete. Es war merkwürdig, hochschwanger mit dem fünften Kind zu sein und an die vergangene Schwangerschaft zu denken. Doch es tat ihr gut, ihre Gedanken zurück gehen zu lassen, zu jenem kalten 11. Februar 1957.
Auch damals saß sie hochschwanger in einem Sessel am Ofen und zählte bereits die Zeit zwischen den Wehen. Peter, damals gerade 8 und seine Schwester Christa, sie wurde in diesem Jahr 7 Jahre alt, spielten mit ihrer kleinen Schwester Ute im Nebenzimmer. Die Kleine war kaum 5 Jahre alt, konnte aber mit ihren beiden großen Geschwistern gut mithalten, was Lautstärke und Temperament betrafen. Am Abend wurden die Wehen immer heftiger. Zum Glück würde Max jeden Augenblick von der Arbeit nach Hause kommen. Dann war sie nicht mehr allein mit den Kindern.
Tatsächlich aber dauerte es noch fast eine Stunde, bevor Max mit einer kleinen Bierfahne zu Hause eintraf. Hilde machte ihm heftige Vorwürfe, warum er sie so lange alleine ließ. Mitten in der Aufregung spürte sie, dass es los ging und sie schickte Max ins Schlafzimmer, um die gepackte Tasche fürs Krankenhaus zu holen. Dann zogen sie sich an, gaben Peter und Christa noch Anweisungen, was in den nächsten Stunden zu tun sei, dass sie schön auf Ute aufpassen sollten, und machten sich auf den Weg zur nahe gelegenen Bushaltestelle, um von dort ins Krankenhaus zu fahren.
Kaum waren sie aus dem Haus, als ein Streit zwischen Christa und Peter ausbrach. Worum es zuerst ging, ließ sich später nicht mehr feststellen. Es endete damit, dass Peter behauptete, ein brennendes Streichholz durch die Gardinen stecken zu können, schließlich wären diese nicht so engmaschig. Christa hielt dagegen, das Streichholz würde niemals brennend durch passen. Gerade als Peter das erste Streichholz entzündete, erreichten Max und Hilde die Bushaltestelle. Es waren nur noch wenige Minuten, bis der Bus kommen würde.
Dann kam der Bus, Hilde und Max stiegen ein, Hilde setzte sich ans Fenster, Max nahm neben ihr Platz und der Bus fuhr los. Seine Fahrstrecke führte unmittelbar an der Familienwohnung vorbei. In dieser versuchten Peter und Christa gerade, ein brennendes Streichholz durch die Wohnzimmergardine zu fädeln. Hilde presste beide Hände auf ihren Bauch, atmete ruhig und zählte die Pausen zwischen den Wehen. Dabei sah sie nach draußen, sah die Häuser an sich vorbei ziehen und überlegte noch, ob die Kinder zu Hause schön spielten.
Schon von weitem sah sie plötzlich Feuer aus einem der oberen Fenster eines Hauses lodern. Im selben Moment, als Hilde Max auf das Feuer in dem Haus aufmerksam machte, bemerkte Max die entgegenkommende Feuerwehr. Max dachte noch, was da wohl wieder passiert sei, als Hilde aufschrie, auf das Fenster zeigte, aus dem nun heller Rauch quoll und Flammen schlugen und meinte, dass genau diese Fenster zu ihrer Wohnung gehörten. Max sah verdutzt an der Hausfassade empor, als im selben Moment der Bus stoppte, um der Feuerwehr Platz zu machen. Max und Hilde sprangen aus dem Bus und stürzten zum Haus. Unten vorm Eingang standen die Kinder, Christa hielt die weinende Ute an der Hand und Peter stand einfach nur mit weit aufgerissenen Augen da.
Die Feuerwehrleute rannten die Treppen hoch und löschten den Wohnzimmerbrand binnen weniger Minuten. Als Max noch mit der Feuerwehr und der Polizei sprach, fragte Hilde Peter und Christa, was passiert sei. Stockend, halb weinend und kleinlaut erzählte Christa von der Wette und wie Peter dann tatsächlich ein brennendes Streichholz durch die Gardine steckte. Beim ersten Mal ging auch alles noch gut. Doch als Peter das Streichholz beim zweiten Mal langsam durch die Gardine stecken wollte und dann auch noch hängenblieb, war es geschehen. Schnell hätten die Gardinen Feuer gefangen und sie seien alle drei zum Nachbarn gerannt. Zum Glück wohnte in der Nachbarwohnung ein Behördenmitarbeiter und dieser hatte ein Telefon. Ein größerer Schaden konnte nur vermieden werden, weil der Nachbar sofort die Feuerwehr rief und diese nur wenige hundert Meter entfernt stationiert war.
Die Wehen waren Hilde für's Erste vergangen und so konnten alle wieder zurück in die Wohnung.
Zum Glück war nur die Wohnstube in Mitleidenschaft gezogen worden. Gemeinsam mit ihrer Schwester machte sich Hilde noch am Abend und in der Nacht daran, die Wohnung aufzuräumen. Doch in der Nacht begannen die Wehen erneut. Diesmal erklärte sich Hildes Schwester bereit, einige Stunden auf die Kinder aufzupassen. Und so machte sich Hilde gemeinsam mit Max am Morgen des 12.02.1957 erneut auf den Weg zum Krankenhaus.
Als sie im Bus saßen, blickten beide gespannt an den Häuserfronten entlang und suchten nach Feuer oder anderen Auffälligkeiten. Doch, außer zweier mit Ruß geschwärzter Fensterrahmen, sahen sie nichts und gelangten ohne Zwischenfälle ins Krankenhaus, wo Hilde noch am selben Mittag ihr 4. Kind - Jürgen - zur Welt brachte. Auch dieses Kind war gesund und munter, was beide Eltern sichtlich mit Stolz erfüllte.
Doch auch dieses vierte Kind konnte Max nicht an einer Arbeitsstelle oder gar an einem Ort festhalten. Nach nur wenigen Jahren an der Ostseeküste wurde es ihm dort zu eng und zu langweilig. Seine unstete Art zogen ihn, Hilde und die nunmehr 4 Kinder weiter nach Süden, genauer gesagt nach Sangerhausen in den Harz.
Dort begann Max im August '58 als Fördermann über Tage im VEB Kupferbergbau Niederröblingen. Immerhin hielt es ihn hier sage und schreibe 17 Monate. Dann wechselte er zum VEB Mansfeld Kombinat "Wilhelm Pieck", um dort ganze 4 Monate als Zimmermann zu arbeiten. Ab Mai 1960 arbeitete er bei der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft - kurz LPG - "Thomas Münzer" in Sangerhausen als Viehpfleger. Durch seine freundliche, offene Art und durch sein Organisationstalent schaffte er es binnen weniger Monate, LPG Mitglied zu werden.
Bei dem Gedanken an die ersten Jahre hier in Sangerhausen schoss Hilde das Blut in den Kopf. Sie verband mit dieser Zeit auch eine Reise nach München. Wenn die Erinnerungen an diese Tage wieder hochkamen, lief es ihr noch immer kalt den Rücken runter.
An die Mauer, die Monate später gebaut werden sollte, war noch nicht zu denken, als Hilde gemeinsam mit ihrer Tochter Ute einige Tage bei ihrer Schwägerin Marie in München verbringen wollte. Marie vergötterte die kleine Ute und hätte sie am Liebsten für immer bei sich behalten. Ute war ebenfalls sehr gerne bei ihrer Tante Marie, da sie bei dieser stets im Mittelpunkt stand und entsprechend verwöhnt wurde.
Im Sommer 1960 stieg Hilde mit Ute in Sangerhausen in den Zug und fuhr nach München. Am Hauptbahnhof wurden sie schon von Tante Marie erwartet. Diese umarmte Hilde kurz und dann begrüßte sie Ute überschwänglich, küsste und herzte diese, bis es Ute zu viel wurde und sie beinahe anfing zu weinen. Als die drei wenig später an Marie's Wohnung anlangten, wartete dort bereits die Polizei. Ohne viele Worte wurde Hilde verhaftet und Ute verblieb vorerst in der Obhut ihrer Tante.
Kaum war Hilde auf dem Polizeirevier, wurde ihr mitgeteilt, dass die bayrische Kriminalpolizei einige Fragen zu ihrem Mann Max und dessen Geschäften hatte. Hilde wurde daraufhin in einen kleinen Raum geführt, in dem sie bereits von zwei Beamten erwartet wurde. Das erste Verhör dauerte mehrere Stunden. In diesem ging es nur um allgemeine Fragen - wo sie in München gewohnt hatten, wohin und warum sie dann weggezogen waren und was sie und Max heute machten. Hildes Proteste gegen die Verhaftung und ihre Bitte, sie zu ihrer Tochter zu lassen, wurden ignoriert. Die Nacht verbrachte sie in einer kleinen Zelle im Polizeirevier. Am nächsten Tag geschah nichts, weder wurde sie zum Verhör geholt, noch durfte sie zu Ute oder gar nach Hause gehen.
Am dritten Tag wurde sie erneut zum Verhör geholt. Noch immer sagte man ihr nicht, warum sie festgehalten wurde. Wieder begannen die Fragen nach dem woher, wohin und was Max derzeit machte. Gegen Abend wurde Hilde aufgefordert, einen Brief an Max zu schreiben. Sie sollte schreiben, dass sie in München bleibt und Max mit den anderen Kindern nachkommen solle. Hilde war entsetzt und weigerte sich, auch nur eine Zeile zu schreiben. Wieder forderte sie die Beamten auf, sie gehen zu lassen. Doch die bayrische Kripo erhöhte ihren Druck auf Hilde und fing nun sogar an zu drohen. Man würde ihr Ute nicht wiedergeben und sie stattdessen bei ihrer Tante Marie lassen. Max und die anderen Kinder würde sie nie wieder sehen. Hilde war entsetzt und fühlte sich völlig hilflos, zumal sie noch immer nicht wusste, warum man sie in München festhielt.
Max, der in Sangerhausen saß und nicht ahnte, welches Drama sich in München abspielte, wunderte sich nur, dass Hilde sich nicht meldete. Normalerweise wollte sie sich einmal telefonisch auf seiner Arbeit melden. Als er am vierten Tag noch immer keine Nachricht von Hilde und Ute hatte, versuchte er, seine Schwester in München zu erreichen. Aber es gab keine Verbindung und so konnte er nur warten.
In München begann der vierte Tag wie der dritte, mit Verhören und der Forderung, Max einen Brief zu schreiben und ihn so zu einer Reise nach München zu bewegen. Hilde weigerte sich noch immer, doch lange würde sie dem Druck nicht mehr standhalten.
Am fünften Tag, Hilde hatte in der Nacht keine Ruhe gefunden, nahm sie sich vor, den Brief endlich zu schreiben und dem Ganzen so ein Ende zu setzen. Die ersten drei Stunden des Verhörs hielt sie noch durch, dann kurz vor Mittag brach sie zusammen und versprach, den Brief zu schreiben. Endlich war der Druck weg, die Beamten waren zufrieden, versprachen ihr ein richtiges Mittagessen und danach sollte sie den Brief schreiben.
Hilde genoss das Mittagessen, seit Tagen wieder etwas Warmes zu bekommen, war sehr angenehm. Ansonsten gab es nur Brot, Käse, Wurst und Wasser. Nun hatte sie einen herrlichen Schweinsbraten mit Klößen. Gierig verschlang sie die Mahlzeit und überlegte sich, wie sie den Brief für die Kripo schreiben und für Max gleichzeitig eine Botschaft verstecken könnte.
Nach dem Mittag fühlte sich Hilde gut und mit einer Idee im Kopf machte sie sich daran, den Brief zu schreiben. Als sie am späten Nachmittag fertig war und den Brief einem der Kripobeamten gegeben hatte, lächelte dieser selbstzufrieden. Dann las er ihn und Hilde sah mit Entsetzen, wie sein Lächeln langsam verging und einem eiskalten Grinsen Platz machte. Als der Beamte den Brief zu Ende gelesen hatte, sagte er kein Wort. Wütend zerriss er den Brief in tausend Stücke und meinte, Hilde solle einen neuen schreiben. Einen ohne merkwürdige Andeutungen, dass hier in München sehr schlechtes Wetter sei und ihm hier ein Sturm entgegen wehen könnte. Auch solle sie weglassen, dass sie seit Tagen das Haus nicht verlassen konnte, weil täglich Bekannte von Marie vorbei schauten!
Er erwarte heute noch einen neuen Brief und bevor dieser nicht vorlag, würde sie nicht in ihre Zelle zurück gebracht werden, und wenn es die ganze Nacht dauern würde, er hätte Zeit.
Wieder grübelte Hilde, warum in Gottes Namen die Münchner Kripo Max unbedingt und auf diese Art und Weise nach München holen wollte, doch so sehr sie auch nachdachte, sie fand keine Erklärung.
Nachdem Max seine Schwester nicht erreichen konnte, machte er sich ernsthaft Sorgen und ging in Sangerhausen zur Polizei und meldete Hilde und Ute in München vermisst!
Hilde saß über einem leeren Blatt Papier und überlegte schon seit Stunden, wie und was sie Max schreiben sollte. Inzwischen hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Nach einem Blick aus dem Fenster ahnte sie, dass es schon später Abend sein musste und sie wollte zu ihrer Tochter zurück, als plötzlich die Tür aufflog und die beiden Vernehmungsbeamten eintraten. Mit hochroten Köpfen bauten sie sich vor Hilde auf. Ihre Mienen ließen nichts Gutes erwarten. Dann erklärten sie ihr, sie solle ihre Sachen nehmen und ihnen folgen. Hilde wollte wissen, was los war und wohin man sie bringen würden, doch keiner der Kripobeamten sagte ein Wort.
Vor dem Polizeirevier stand ein Auto mit laufendem Motor bereit. Als einer ihrer Begleiter die Tür öffnete, sah Hilde Ute im Wageninneren. Ute stürzte aus dem Auto auf ihre Mutter zu und beide umarmten und herzten sich. Es war ein tränenreiches Wiedersehen nach 5 Tagen. Hilde und Ute wurden von den Kripoleuten ins Wageninnere zurückgedrängt. Ohne ein weiteres Wort schlossen sie die Tür und gingen zurück ins Polizeirevier. Hilde blickte sich in dem kleinen Wagen um und sah zwei Männer auf den vorderen Sitzen. Mit heiserer Stimme und noch immer unter Tränen fragte Hilde, was nun mit ihnen geschehen würde. Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihr um, lächelte sie freundlich an und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, sie würden sie jetzt zum Münchner Hauptbahnhof bringen und in einen Zug zurück in die Ostzone setzen.
Hilde konnte es kaum fassen, alles erschien ihr plötzlich so unwirklich und surrealistisch. Zeitweise glaubte sie sich in einem schlechten Krimi. Noch immer konnte sie nicht glauben, was jetzt geschah. Sie nahm Ute in die Arme und drückte sie fest an sich. Leise flüsterte sie ihr ins Ohr, dass alles gut werden würde.
Und tatsächlich wurde alles gut. Die Männer fuhren sie ohne weitere Worte zum Münchner Hauptbahnhof, dort übergab man sie dem Zugpersonal und wenig später setzte sich der Zug mit Hilde und Ute in Bewegung.
An der Ostgrenze stiegen zwei Männer zu und kamen zu Hilde und Ute. Ohne sich vorzustellen, fragten sie Hilde, was geschehen war. Mit wenigen Worten fasste sie die Ereignisse der letzten Tage zusammen.
Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, verließen beide Männer kurz das Zugabteil und unterhielten sich im Gang. Nach wenigen Minuten kam einer der Beiden zurück, verabschiedete sich und beide Männer verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.
In der Zwischenzeit hatte auch Max von zwei Herren in langen dunklen Mänteln Besuch bekommen. Diese hatten ihm lediglich mitgeteilt, wann und wo er Frau und Kind wieder in Empfang nehmen könnte.
Nachdem er seine Hilde und Ute am Bahnhof in Sangerhausen in Empfang nahm, wurde es erneut ein tränenreiches Wieder- sehen.
Zu Hause angekommen, wollte Max wissen, was geschehen war. Hilde hingegen wollte von Max ebenfalls etwas wissen. Sie fragte ihn die ganze Nacht aus, doch von Max gab es keine Erklärung, warum die Münchner Kripo ihn unbedingt wieder in München haben wollte. Wie nicht anders zu erwarten, wusste Max von nichts und konnte sich auch überhaupt nicht vorstellen, warum die Münchner solche Sehnsucht nach ihm hatten. Hilde brachte kein Wort aus ihm heraus, er wusch seine Hände in Unschuld.
In den nächsten Tagen wurde Hilde wiederholt von zwei Männern in billigen Anzügen und langen Mänteln abgeholt und in die Bezirksstadt gebracht. Dort musste sie diversen Leuten Rede und Antwort stehen. Alle wollten genau wissen was, warum, wieso, weshalb und, und, und!
Als Hilde dann in einigen Zeitungen Artikel zu ihrer Verhaftung fand, staunte sie nicht schlecht und musste sogar ein wenig lächeln. Die Medien der Ostzone hatte die Verhaftung von Hilde zu ihren Zwecken umgedeutet und plötzlich wurde da eine aufrechte Sozialistin vom kapitalistischen Klassenfeind gefangen gehalten. Weiter schrieben die Zeitungen, dass Hilde unter Drohungen und durch Kindesentzug zu einer zwangsweisen Übersiedlung in den Westen gezwungen werden sollte. Als Hilde die Artikel las, fand sie schon, dass viel Wahres drin steckte. Aber andererseits waren es doch wohl eher andere Gründe, warum sie Max nach München locken sollte. Welche, das sollte sie nie erfahren, darum dreht sich bis heute eines der größten Familiengeheimnisse!
In Folge dieser Ereignisse traten Hilde und Max noch vor dem Mauerbau der SED bei. Max hatte schnell erkannt, dass es durchaus Vorteile haben konnte, dieser anzugehören und Hilde stand wegen ihrer Erlebnisse bei den Genossen hoch im Kurs.
Plötzlich bahnte sich die nächste Wehe ihren Weg durch Hildes Körper. Sie hatte das Gefühl, dass die Geburt nun bald losging. Und so rief sie nach Christa. Trotz ihrer erst 12 Jahre war sie das vernünftigste der vier Kinder. Hilde schickte sie los, den Vater von der LPG und die Hebamme zu holen.
Sie hoffte, da ihr 5. Kind nun bald zu Welt kommen sollte, dass Max endlich seinen Weg und seinen Beruf gefunden hätte. Allerdings sollte Max seine Berufung noch nicht endgültig gefunden haben, doch das ahnte Hilde zu diesem Zeitpunkt nicht.
Als Max endlich kam, war die Hebamme schon seit Stunden bei Hilde. Die Geburt dauerte die ganze Nacht. Nicht nur Max, auch die Kinder konnten kaum schlafen. Dann, am 02. Dezember 1962 gegen 8 Uhr morgens war es so weit, ein kräftiger Schrei hallte durch das kleine Haus.
Nur wenige Minuten nach der Geburt durften Max und die Kinder zur Mutter und dem neuen Geschwisterchen. Alle waren sehr gespannt, Max wünschte sich ein Mädchen, Hilde und die Kinder lieber einen Jungen. Und Hildes Wunsch wurde erhört, es war ein Junge und die Eltern gaben ihm den Namen Frank - der Freie. Als alle um den Neugeborenen standen und ihn ansahen, war die Enttäuschung trotzdem groß und Ute, die Mittlere der nun 5 Geschwister, fasste es in Worte: "Iiiihhhh ist der hässlich, der ist ja ganz lila!"
Damit war der Grundstein für ein tolles, abwechslungsreiches und abenteuerliches Leben gelegt!
Die erste Bemerkung seiner Schwester hörte Frank nicht bewusst, aber er nahm sie wahr. Ihre Worte sollten ihn ein Leben lang verfolgen und schließlich fast 24 Jahre später einholen.
Wie für die meisten Babys waren auch für Frank die ersten Monate sehr entspannt. Mutter Hilde, Vater Max und die 4 Geschwister kümmerten sich rührend um den Kleinen. Die lila Farbe verging mit der Zeit, nur schöner wurde er nicht, wobei - Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Nach eigenem Bekunden wurde er nie eine Schönheit, er strahlte eher von innen - und das bis heute!
Hilde hatte sich so sehr gewünscht, dass Max endlich mit seiner Arbeit bei der LPG zufrieden sei und sie in dem kleinen Häuschen in Sangerhausen ein schönes und geruhsames Leben führen könnten. Ihre Hoffnung wurde im Spätherbst 1963 von Max zunichte gemacht. Die LPG und vor allem deren Vorsitzender funktionierten einfach nicht so, wie Max es sich vorstellte, und wie es wirtschaftlich bestimmt auch gut gewesen wäre. Es kam, wie es kommen musste. Max hörte bei der LPG auf und brach den Kontakt zu dessen Vorsitzenden ab. Er verließ die LPG binnen Stunden und nahm wenige Tage später eine Stelle bei der Deutschen Reichsbahn an. Er wurde Mitarbeiter in einem Stellwerk.
Monate später, es musste Anfang 1964 gewesen sein, gab es in Zusammenhang mit genau diesem Stellwerk in der Nähe von Sangerhausen einen schweren Zugunfall. Nur wenige Wochen später verließen Max und seine Familie ihr kleines Haus und zogen weiter. Was genau damals passierte, ist nicht überliefert und so kann nur gemutmaßt werden, ob Max etwas mit dem Unfall zu tun hatte oder nicht.
Für Max war der Zeitpunkt gekommen, wieder in eine Großstadt zu ziehen. Sein München fehlte ihm sehr, doch dahin konnte er derzeit nicht zurück. Allerdings gab es in der damaligen DDR nicht sehr viele Städte, die dem Namen Großstadt annähernd gerecht wurden. Für Max kamen nur Leipzig oder Dresden in Frage und da er aus seiner Zeit bei der LPG einen Bekannten hatte, der ihm nur eine Arbeit in Dresden verschaffen konnte, entschied sich Max für Dresden. Hilde brauchte Max nicht lange zu überreden. Auch ihr war es im kleinen Sangerhausen zu eng geworden. Außerdem hatte sich Max in den letzten Jahren immer gut um sie und die Kinder gekümmert. Das würde sich kaum ändern, im Gegenteil - in der Stadt hatte er noch mehr Möglichkeiten, obwohl es ihnen auf dem Land und trotz der mageren Zeiten nie an etwas fehlte. Ihr Max war eben ein Organisator vorm Herrn!
Der Bekannte hatte Max eine Anstellung als Hausmeister in einer Schule vermittelt. Hilde wurde ebenfalls von der Stadt als Reinigungskraft an derselben Schule in der Inneren Neustadt eingestellt.
Einige Jahre, nachdem sie gemeinsam mit den Kindern die Hausmeisterwohnung in der Schule bezogen hatten, sorgte Ute für ein heißes Erlebnis und Frank´s übergroße Liebe für den Tod eines geliebten Familienmitgliedes!
Es war Anfang des Jahres 1966, Max und Hilde hatten sich sehr gut in der neuen Umgebung zurechtgefunden und beide schienen ihre Berufung als Hausmeister gefunden zu haben. Max war für das Handwerkliche zuständig und Hilde avancierte zur heimlichen "Schullenkerin". Sie vermittelte zwischen den Lehrern, lud ab und an zu Kaffee und Kuchen ein und hielt so die Informationsfäden fest in ihren Händen.