Wenn alte Scheunen brennen - Paula Henkels - E-Book

Wenn alte Scheunen brennen E-Book

Paula Henkels

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Beschreibung

Lena hatte ihrem Vater auf dem Sterbebett versprochen, sein Haus niemals in fremde Hände zu geben. Doch dann lernt sie Malec kennen und lieben, bis er seinen wahren Charakter offenbart. Außer ihrer Tochter ahnt niemand in der Familie, welchen Demütigungen und Qualen Lena in dieser Beziehung ausgesetzt ist. In einem zweifelhaften Testament kurz vor ihrem plötzlichen Tod vererbt sie Malec ihr Elternhaus. Ein aufreibender Kampf der Familie entbrennt, Malec der Urkundenfälschung, wenn nicht gar des Mordes zu überführen und um das Erbe, das niemals in fremde Hände geraten sollte. Doch Menschen, die sich einmal Freunde genannt haben, unfähige Rechtsanwälte und eine Justiz, in der es keine Gerechtigkeit zu geben scheint, wollen ihre verzweifelten Bemühungen, dem letzten Wunsch des Vaters gerecht zu werden, unbedingt vereiteln.

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EPUB
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Seitenzahl: 721

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Paula Henkels

Wenn alte Scheunen brennen

Roman

Copyright: © 2015 Paula Henkels

Lektorat: Christine Hochberger - www.www.buchreif.de

Umschlaggestaltung & Satz: Erik Kinting - www.buchlektorat.net

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist Zufall und keinesfalls beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Karl

Lena

Gregor

Papa

Unsere Oma

Familienbande

Gregor und ich

Aus dem Leben gerissen

Malec

Acht Jahre später

Sechster Sinn

Dunkle Zeiten

Unfassbar

Alles schwer zu begreifen

Besuch bei Margot

Ute

Lenkt & Partner

Henny

Schlag auf Schlag

Wichtige Erkenntnisse

Alltäglicher Wahnsinn

Frau Kraft

Wahnsinn ohne Ende

Eine Riesenklatsche

Wichtige Gespräche

Eine aufregende Zeit

Erste Gerichtsverhandlung

Unser Leben ist eine Achterbahn

Zwei glückliche Monate

Die Wirklichkeit hat uns wieder

Ärgerliche Nachrichten

Neue Hoffnung

Geheimniskrämerei

Trügerische Ruhe

Dornige Wege

Ski Heil

Skandalös

Frohe Erwartung

Licht am Ende des Tunnels?

Einspruch

Blanker Horror

Eine schwere Endscheidung

Karl

In Gedanken versunken stand ich am Küchenfenster unserer Wohnung in Frankfurt. Dicke, tanzende Schneeflocken rieselten auf die kahle Trauerweide und bedeckten die Wiese in dem kleinen, im Frost erstarrten Garten. Es fehlten nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Doch statt einer besonderen Vorfreude erfüllte mich Trauer. Ich vermisste meine Freunde, die ich in der alten Heimat hatte zurücklassen müssen. Wie konnten meine Eltern mir nur so etwas zumuten? Jetzt stand ich hier – einsam und verlassen – in einer fremden Stadt, ohne Freunde. Ich glaubte, dass keiner unglücklicher sein konnte als ich.

Etwas ließ meinen Blick in den Nachbargarten schweifen. Ein junger Mann stand dort auf der Terrasse. Er war nicht übermäßig groß, hatte aber sehr breite Schultern, einen Bauchansatz und seine Arme vor der Brust verschränkt.

Seine Kleidung bestand aus schwarzen Röhrenjeans, einem anthrazitfarbenen Rolli und einem seltsamen Sakko. In meinem alten Freundeskreis trug man solche Altmännersachen nicht. Die Krönung war der Jägerhut auf seinem Kopf, unter dem ein paar dunkle Haare hervorkamen. So was Bescheuertes hatte ich noch nie gesehen. Ich fand den Anblick derart komisch, dass ich spontan lachen musste. Hätte mir einer gesagt, dass ich mit dieser Gestalt, die dort im Schneetreiben auf der Terrasse stand, einmal vor den Altar treten würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Der Traumprinz meiner jugendlichen Vorstellungen war zwar dunkelhaarig, aber groß und schlank mit tief dunkelbraunen Augen. Schließlich war ich selbst schon reichlich pummelig, da musste es mein Traummann nicht auch noch sein.

Sechs Wochen später kannte ich seinen Namen. Den hatte ich von seiner Mutter erfahren. Immer wenn Frau Sommer bei uns einkaufte, hielten wir ein kleines Schwätzchen. Dabei hatte sie mir einmal, als ich sie an der Obst- und Gemüsetheke bediente, erzählt, dass ihre Tochter Lena mit ihren achtzehn Jahren älter sei als ich. Und dass sie außerdem einen zwanzigjährigen Sohn namens Karl hätte.

Wie konnte man sein Kind nur Karl nennen? Altbackener ging es nicht.

Ich hatte immer davon geträumt, nach Beendigung der Schule Säuglingspflegerin zu werden. Pech war, dass zum Zeitpunkt der Schulentlassung, Ostern 1964, in Wiesbaden eine Verkäuferin im elterlichen Lebensmittelmarkt gekündigt hatte. Als Ersatz wurde ich auserkoren, zumal ein Lehrling Kosten ersparte. Mein Protest stieß auf taube Ohren. »Wenn du in einigen Jahren eigene Kinder bekommst, hast du deinen Traumberuf«, sagte Mutter nur.

Ich hatte mich gefügt, wie es damals als Vierzehnjährige üblich war. Trotzdem konnte ich meine Traurigkeit darüber, lange Zeit nicht ablegen.

Die freien Nachmittage im ersten Halbjahr meiner Lehre verbrachte ich als Babysitter.

In der oberen Wohnung von Karls Elternhaus wohnte seine Cousine mit Mann und Baby. Dieses Baby habe ich so oft ich konnte, spazieren gefahren.

Eines Tages fuhr Karl mit seinem VW-Käfer neben mir her. Er drehte das Fenster herunter und sprach mich an. »Hallo, Süße! Ist es bei der Kälte nicht besser, mit mir im warmen Auto zu sitzen, statt einen Kinderwagen zu schieben?«

»Meinst du mich?«, fragte ich mich umblickend, vermutlich tomatenrot im Gesicht.

»Ja, oder ist sonst noch jemand da«, fragte er grinsend. »Wenn du Paula heißt und die Tochter unserer neuen Nachbarn bist, meine ich dich. Ich fände es toll, wenn wir uns kennenlernen würden! Du doch sicher auch. Obwohl ich seinen Namen kannte, fragte ich ihn mit flatterndem Herzen, nicht Herr meiner Stimme, nach seinem Namen. Woher wusste er, dass ich Paula hieß und wieso meinte er, ich wollte ihn kennenlernen?

»Dass du Paula heißt, hat mir meine Mutter verraten. Sie hat mir auch erzählt, was du für ein liebes, nettes fünfzehnjähriges Mädchen bist. Nachdem ich dich gesehen hatte, dachte ich, die Kleine mit den dunklen, halblangen Haaren und den tollen grünen Augen muss ich unbedingt kennenlernen. Ehrlich gesagt habe ich gehofft, dass es dir genauso ginge.

Mit klopfendem Herzen verabredete ich mit ihm, dass er bei meinem nächsten Babyausflug mitkommen solle.

Je öfter Karl mich auf meinen Spaziergängen mit dem Kind begleitete, desto häufiger klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Schon nach kurzer Zeit sagte ein Gefühl in mir, dass der Knabe weder lächerlich, zu klein noch zu dick war.

Im Gegenteil, er hatte sogar die dunkelbraunen Augen, wie der Traumprinz in meinen Vorstellungen. Obendrein schien er nicht nur nett zu sein, sondern auch ausgesprochen witzig. Bereits nach kurzer Zeit tummelten sich Legionen von Schmetterlingen in meinem Bauch.

Zu meinem fünfzehnten Geburtstag im Januar bekam ich einen Tanzkurs geschenkt. Karl fuhr mich zu den letzten Tanzstunden und holte mich auch wieder ab. Zum Leidwesen meiner Eltern schleppte ich ihn mit zum Abschlussball.

Obwohl ich leidenschaftlich gerne tanzte, schwang ich auf diesem ersten Ball in meinem Leben kein einziges Mal das Tanzbein. Mein Tanzschulpartner war untröstlich darüber. Meine Eltern verstanden die Welt nicht mehr. Was ich mir damals dabei gedacht hatte, ist mir heute vollkommen schleierhaft.

Vielleicht wollte ich verhindern, dass Karl eifersüchtig wurde. Oder hatte er mich darum gebeten, nur mit ihm, dem Eintänzer von der Backstube zu tanzen, und sich dann nicht getraut, mit mir auf die Tanzfläche zu gehen? Ich weiß es nicht mehr. Jahre später haben wir Tanzkurse besucht und kurz vor unserer Hochzeit sogar Einzelunterricht genommen. Hat es geholfen? Nein! Hundert pro war dieses Abschlussballerlebnis ein Grund, warum meine Eltern meine erste Liebe sehr kritisch sahen. Sie versuchten, mir einzureden, dass ich zu jung für eine feste Beziehung sei und ein Mann, der noch nicht mal tanzen könne, wäre nicht der Richtige für mich. Aber als pubertierende, auf Wolke sieben schwebende Fünfzehnjährige, kannte das Glück mit diesem fünf Jahre älteren Freund wenig Grenzen. Verbote und Vereinbarungen, die zu meinem Schutz eingeführt worden waren, hielt ich selten ein. Wenn ich mal einen Abend zu Hause bleiben sollte, fand ich immer wieder einen Weg, mich doch mit Karl zu treffen. Dadurch gab es einige Jahre viel Aufregung in der Familie.

Je länger wir zusammen waren, umso mehr Selbstbewusstsein entwickelte ich. An meinem achtzehnten Geburtstag verlobten wir uns, und kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag heirateten wir, was natürlich nur mit der Einverständniserklärung meiner Eltern möglich war. Damals war man ja erst mit einundzwanzig mündig.

Lena

Fast zeitgleich mit Karl hatte ich seine Schwester Lena kennengelernt. Sie war im Gegenteil zu mir aufgeschlossen, unglaublich lustig und unterhaltsam. Wir beide mochten uns von Anfang an gut leiden.

Lena war etwas kleiner als ich, schätzungsweise eins sechzig und schlank. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der kleinen, schmalen Nase wurde von ihren dunkelblauen Augen beherrscht. Wenn sie über etwas lachte, was sehr oft vorkam, bildeten sich in ihren Wangen lustige Grübchen. Ihr mittelblond meliertes Haar fiel ihr dicht und lockig auf die Schultern. Den Pony zierte eine circa fünf Zentimeter breite, fast weiße Strähne. Ich hegte immer den Verdacht, dass sie sich diese Strähne wasserstoffblond färbte. Lena behauptete, das wäre ihre Naturfarbe. Sie arbeitete als Beamtin in einer Verwaltung im sozialen Bereich.

Als wir uns kennengelernt hatten, war Lena solo. Das hieß bei ihr jedoch nicht, dass sie allein war. Sie hatte immer und jederzeit einen ganzen Tross Freundinnen, Freunde und Bekannte um sich herum.

Immer dabei war ihre beste Freundin Henny. Die beiden waren seit der Realschulzeit unzertrennlich. Henny, die mit Nachnamen Kickmeier hieß, wurde von Lena mit dem Spitznamen Kiki versehen.

Wie oft Lena sich mit mehreren Leuten gleichzeitig verabredete, konnte man kaum zählen. Aber wer war nicht da, wenn diese zum verabredeten Zeitpunkt aufkreuzten? Lena! Aber so war sie, und keiner regte sich darüber auf.

Als Karl im April 1966 für achtzehn Monate zur Bundeswehr musste, fühlte ich mich sehr einsam. Lena schleppte mich deshalb zu allen Unternehmungen mit.

Während dieser Zeit habe ich sogar vierzehn Tage bei ihr geschlafen. Der Grund dafür war die geplante Reise ihrer Eltern. Weil Lena keinen Urlaub bekam, musste sie das erste Mal allein zu Hause bleiben. Einerseits fand sie das toll, andererseits hatte sie Bammel, allein im Haus wohnen zu müssen. Deshalb hatte sie mich gefragt, ob ich bei ihr übernachten würde. Das fand ich natürlich grandios. Die Frage war aber, ob meine Eltern ihre Erlaubnis dazu geben würden. Aber mit vereinten Kräften und der Hilfe von Karls Eltern haben wir es geschafft, ihnen ihre Zustimmung abzuschwatzen. Sollte Karl zum Wochenendurlaub kommen, müsste ich natürlich während dieser Zeit zu Hause schlafen.

Jeden Abend war das Haus voll Besuch. Ich weiß nicht, wo die Leute alle herkamen. Wir sangen zu Lenas Gitarrenspiel die Mundorgel rauf und runter. Wenn uns der Hunger überfiel, hatten wir kein Problem damit, uns auch noch spät abends einen Topf Nudeln zu kochen.

Es war eine tolle Zeit. Lena und ich verstanden uns prächtig. Lena wurde für mich wie eine Schwester. Ihr ging es wohl genauso.

Ich erinnere mich noch gut an eine gemeinsame Fahrt nach Herzogenrath, um die Verwandtschaft zu besuchen.

Lena hatte sich gerade eine gebrauchte Isetta von ihrem selbst verdienten Geld gekauft. Es muss Januar oder Februar gewesen sein, da es saukalt war. Unterwegs bemerkten wir, dass die Heizung der Isetta nicht funktionierte. Da damals das Autobahnnetz noch nicht so weit ausgebaut war wie heute, mussten wir durch viele Dörfer und über Landstraßen kutschieren. Die Fahrt dauerte über zwei Stunden.

Jedenfalls wurde Lenas rechter Fuß, mit dem sie ja ständig Gas geben musste, trotz ihrer Stiefel immer kälter. Ich hatte noch keinen Führerschein, um sie ablösen zu können. Deshalb überlegten wir, wie sie zumindest vorübergehend ihrem Fuß wieder etwas Leben einhauchen konnte. Der Vorteil für uns bestand darin, dass wir ohne eine trennende Mittelkonsole sehr eng nebeneinandersaßen. So beschlossen wir unter viel Gelächter, dass ich mit meinem linken Fuß Gas geben sollte, während Lena lenken und die Kupplung betätigen wollte. Das war eine Riesengaudi.

Ein paar Wochen später schafften wir es, mit fünf Personen in diese Isetta einzusteigen. Wir hatten uns mit mehreren Bekannten einschließlich Kiki, die wie immer dabei war, in unserer Stammkneipe getroffen. Plötzlich kam einer auf die Idee, in eine andere Kneipe zu ziehen. Lena, die nichts getrunken hatte, wollte mit mir im Auto dorthin fahren. Der Rest der Truppe sollte zu Fuß gehen. Als wir beide einstiegen, kam einer auf die glorreiche Idee, dass, wenn wir es geschickt anstellten, alle fünf in das Auto passten.

Tatsächlich, es funktionierte. Sogar die Türe ließ sich schließen. Ich weiß noch, dass mindestens zwei quer hinter der einzigen vorderen Sitzbank, die dieses Auto aufzuweisen hatte, lagen. Also müssen wir vorn mit drei Personen gesessen haben. Das alles unter unglaublichem Gelächter. Zum Glück hat uns niemand dabei erwischt.

Das sind Erlebnisse, die mir keiner nehmen kann. Jeden Spaß, jede Schandtat, jeden Blödsinn mitmachen, das war Lena. Und ich mittendrin.

Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass unser gutes Verhältnis einmal Risse bekommen könnte.

Gregor

Noch während Karls Bundeswehrzeit hatte Lena auf einem Fest der Verwaltung Gregor kennengelernt. Karl hat ihn von Anfang an Schorsch genannt. Gregor war groß und stämmig. Seine hellbraunen, welligen Haare trug er kurz geschnitten. Er hatte einen Schnauzbart, graublaue Augen, eine markante Nase und seine vollen Lippen untermalten den Eindruck eines guten Kumpels. Er wirkte irgendwie wie ein großer lieber Teddy. Lustig war, dass er Lena mit diesem Kosenamen ansprach, was überhaupt nicht zu ihr passte.

Als sie ihn uns vorstellte, beschlossen wir, zwecks besseren Kennenlernens am darauffolgenden Wochenende gemeinsam einen Zug durch die Kneipen der Stadt zu unternehmen. Wir trafen uns in einem Brauhaus zum Essen, um die nötige Grundlage für unser späteres Saufgelage zu schaffen. Als es ans Bezahlen ging, stellte Gregor fest, dass er vor lauter Aufregung über unser Treffen seine Geldbörse zu Hause vergessen hatte. Er schämte sich dermaßen, dass er Schweißausbrüche bekam. Wir haben uns köstlich über ihn amüsiert. Karl hat ihm dann genug Geld geliehen, damit Gregor nicht nur seine Zeche im Brauhaus, sondern auch unseren geplanten Zug durch die Kneipen der Stadt für sich und Lena finanzieren konnte.

Am nächsten Tag kam Gregor sehr früh zu Karl, um ihm das vorgestreckte Geld zurückzugeben.

Jahre später haben wir noch oft über diesen Abend erzählt und gelacht. Gregor gestand uns, wie furchtbar er das empfunden hatte, das erste Mal mit einem Mädchen auszugehen, dabei die liebe Verwandtschaft kennenzulernen und dann kein Geld dabeizuhaben. Er hätte immer nur gedacht, was wir wohl von ihm dachten, er war schließlich kein Nasshauer. Wie peinlich. Etwas Peinlicheres hätte er in seinem Leben nie mehr erlebt.

Gregor und Lena heirateten im Dezember 1969. Karl und ich im Januar 1970.

Alles schien schön und gut in unserem Leben zu laufen. Nie gab es Streit mit unseren Müttern und Geschwistern sowie deren Ehemännern. Ohne Sorgen konnten wir in unsere Zukunft blicken. Niemals hätten wir uns vorstellen können, welch ein Chaos am 4. Oktober 2003 über uns hereinbrechen würde.

Papa

Mein Schwiegervater war 1942 schwer verwundet ohne seinen linken Arm und mit durchschossener rechter Hand aus Stalingrad zurückgekommen.

Dadurch waren ihm alle Träume genommen worden. Seinen Beruf als Metzgermeister hatte er nicht mehr ausüben können. Wie auch? Mit nur noch einer übrig gebliebenen dazu kaputten Hand hätte er weder Schweinehälften zerteilen noch am Kutter das Fleisch verwursten können.

Depressionen, ein langer Lazarettaufenthalt und Arbeitslosigkeit waren die Folge seiner achtzigprozentigen Kriegsverletzungen. Trotz aller Widrigkeiten hatten meine Schwiegereltern im Januar 1943 geheiratet. 1945 wurde Sohn Karl geboren, 1947 Tochter Lena.

In der Zeit zwischen den beiden Geburten bekam mein Schwiegervater endlich als kriegsversehrter Soldat bei der städtischen Verwaltung in der Postverteilungsstelle eine Arbeit. Obwohl er froh war, wieder arbeiten zu können, war der Lohn recht kläglich und meine Schwiegermutter musste trotz der Kinder mitarbeiten, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aber seinen größten Traum hatte mein Schwiegervater nie aufgegeben: ein eigenes Haus, in dem er mit seiner Familie leben wollte.

Mit der Zeit wurde seine Arbeit besser bezahlt und sein Lebenshunger stieg. Als sich dann die Möglichkeit bot, die Kriegsrente auszahlen zu lassen, ergriff er diese Chance. Damit hatte er den Grundstein für seinen Traum gelegt. Ende 1951 wurde mit dem Bau des Hauses auf dem Wendelsweg begonnen.

Trotz seiner schweren Verletzungen hat mein Schwiegervater in jeder freien Minute im Rahmen seiner Möglichkeiten beim Bau mitgeholfen. Aus Kostengründen wurden Trümmersteine gekauft. Bevor mit dem Bau des Kellers begonnen werden konnte, mussten diese Steine alle erst abgeklopft werden.

Im August 1952 war das Haus so gut wie fertiggestellt. Die Familie war noch ohne Fußbodenbelag ins eigene Heim gezogen. Trotz aller Schwere und Entbehrungen während dieser Zeit, oder gerade deshalb, war dieses Haus für meinen Schwiegervater sein größter Stolz.

Papa war ein großer Familienmensch, was ich noch lange Jahre an der Seite meines Mannes erlebt habe. Bei einem gemeinsamen Urlaub 1972 in Spanien konnte er sein Glück kaum fassen, als er erfuhr, dass er Großvater werden sollte.

Vor Freude und zur Belohnung hatte er uns alle während dieses Urlaubs zu einem gemeinsamen Abendessen am Strand eingeladen. Nach einer leckeren Paella und reichlich rotem Wein legte er uns ans Herz, dass es sein größter Wunsch sei, das Elternhaus immer in der Familie zu halten. Darin sollten seine Enkelkinder später wohnen.

Karl, Lena, Gregor und ich schworen es ihm hoch und heilig.

Hatte er gefühlt, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, als er uns dieses Ehrenwort abnahm? Nutzte er deshalb das traute Familienessen, um uns bei Paella und Rotwein diesen Schwur abzunehmen? Es musste so gewesen sein. Er verstarb für uns alle unfassbar drei Tage später im Mai 1972 in einer Klinik in Tarragona.

Für uns war sein Tod ein Desaster. Am Tag seiner Beerdigung schworen wir uns noch einmal, seinen letzten Wunsch niemals zu brechen.

Unsere Oma

Als unsere Tochter Sandra am 10. Oktober 1972 geboren wurde, war unser Glück perfekt.

Nachdem Karl Ende 1973 seine Meisterprüfung im Bäckerhandwerk bestanden hatte und ich mir als Verkäuferin das nötige Fachwissen in einer Bäckerei angeeignet hatte, fassten wir den Entschluss, uns selbstständig zu machen. Nach langem Suchen, übernahmen wir Mitte 1974 eine kleine aber feine alteingesessene Bäckerei, die uns nicht nur Backstube und ein Ladengeschäft bot, sondern zusätzlich eine große Wohnung mit Garten.

Sandra war inzwischen zweieinhalb Jahre. Meine Schwiegermutter kam jeden Morgen zu uns, um Sandra zu betreuen, damit ich den Laden und Karl die Backstube schmeißen konnte. Wir hatten in unserem Garten eine Schaukel aufgestellt, auf der sich unsere Tochter von ihrer Oma, stundenlang schaukeln ließ. Dabei hatten die beiden den größten Spaß. Wenn unser Kind nicht mehr schaukeln wollte, ging Oma mit ihr zum nahe gelegenen Spielplatz.

Es gab von Omas Seite keinen Wunsch, der Sandra nicht erfüllt wurde. Dadurch hatten wir natürlich kein einfaches Kind.

Als Sandra drei Jahre alt war, brachte meine Schwiegermutter sie jeden Morgen in den Kindergarten und holte sie mittags wieder ab. In der Zwischenzeit half sie mir im Geschäft, spülte Bleche oder brachte die leeren Brotkörbe in die Backstube. Wenn Karl und ich am Wochenende ausgehen wollten, schlief unser Kind bei Oma, die sich dafür extra ein Kinderbett angeschafft hatte. Dieses Bettchen ließ sich wie eine Wiege schaukeln und wurde in Omas Schlafzimmer neben ihrem Bett platziert. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass meine Schwiegermutter, unsere sehr unruhige Tochter immer wieder in den Schlaf schaukelte.

Mir war aufgefallen, dass Sandra in der Nacht immer unruhig schlief und weinte, wenn sie zuvor bei Oma geschlafen hatte. Sprach ich meine Schwiegermutter darauf an, bekam ich zur Antwort, dass Sandra bei ihr wunderbar schlummern würde. Gut, dass ich damals nicht wusste, dass unserer Tochter nur das Schaukeln gefehlt hatte, sonst hätte ich sicher darauf verzichtet, sorglos Einladungen anzunehmen oder öfter mal mit Freunden feiern zu gehen.

Aber abgesehen davon war Omas unermüdlicher Einsatz phänomenal! Wer besaß schon solche Möglichkeiten, immer und jederzeit eine Oma als Babysitter zu haben?

Dadurch hatten wir aber ein reichlich verwöhntes Kind, das natürlich absolut auf seine Oma fixiert war. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders.

Dass unsere Oma ihre ganze Zeit und Liebe unserem Kind schenkte, war nur möglich, weil mein Schwiegervater fünf Monate vor Sandras Geburt während unseres Familienurlaubs in Spanien an einem Herzinfarkt verstorben war.

Der Tod meines Schwiegervaters nach über dreißig glücklichen Ehejahren hatte unsere Oma vollkommen aus der Bahn geworfen. Erst durch die Geburt und die anschließende Betreuung unserer Tochter war sie langsam aber sicher wieder ins Leben zurückgekehrt.

Im Juni 1976 kam René auf die Welt. Für beide Kinder war meine Schwiegermutter die liebste und verständnisvollste Oma, die sie sich nur wünschen konnten.

Auch ich hätte mir bis auf wenige Ausnahmen keine bessere Schwiegermutter wünschen können. Weil sie immer und jederzeit für uns und unsere Kinder da war, wurde sie später liebevoll unsere Oma genannt. Diesen Namen hatten ihr ihre Enkelkinder gegeben. Sandra und René liebten meine Schwiegermutter immer sehr viel mehr als meine Eltern.

Anfang 1977 teilte meine Schwiegermutter ihren Besitz unter ihren Kindern auf. Zu ihrer Sicherheit wurde für meine Schwiegermutter ein lebenslanges, unentgeltliches Wohnrecht im Elternhaus eingetragen. Zwei Jahre später tauschte sie mit Lena und Gregor die Wohnung. Meine Schwiegermutter zog in die obere, Lena und Gregor in die untere Etage. Zuvor vereinbarten sie, dass unsere Oma zu jeder Zeit runterkommen konnte. Einerseits damit sie nicht allein war und andererseits, um im Sommer weiterhin ihren tollen Blumengarten, den sie so sehr liebte, genießen zu können. Deshalb war der Wohnungswechsel kein Problem für sie.

Gern nutzte sie zwischendurch auch ihre schöne große Terrasse, die auf dem Dach der neu gebauten Garage entstanden war. Wenn das Wetter nicht gut war und sie nicht freiwillig nach unten kam, holten Lena und Gregor sie. Für die beiden war das normal. Unsere Oma durfte sogar ihre alte Wohnung, ohne zu klingeln oder zu klopfen, mit ihrem eigenen Schlüssel öffnen und betreten. Das war für ihre Kinder selbstverständlich.

Familienbande

Nach der Geburt von René musste ich nicht mehr den ganzen Tag hinter der Theke stehen. Das eröffnete mir die Möglichkeit, seine Erziehung, selbst zu übernehmen. Jeder wusste, dass ich, und nur ich bestimmte, was mit René gemacht wurde. Wenn ich mich recht erinnere, hat unser Sohn, solang er klein war, nie bei meiner Schwiegermutter geschlafen. Meine Entscheidung war nicht gegen unsere Oma gerichtet, dazu mochte ich sie zu gern. Ich wollte nur kein zweites verzogenes Kind haben.

Eins reichte mir vollkommen.

1985 haben wir den sechs Monate alten Chrissi adoptiert. Dieser niedliche kleine Wicht war ein genauso liebes und pflegeleichtes Kind wie René. Dummerweise habe ich jahrelang jedem, der es hören wollte, gesagt, dass Jungen viel leichter zu erziehen wären als Mädchen. Welch blöde Denkweise! Heute weiß ich es besser. Heute weiß ich auch, dass durch diese selten dämliche Hypothese unsere Sandra immer eifersüchtig auf ihre Brüder war.

Ich glaube auch, nein, ich weiß, dass meine Schwiegermutter stolz auf ihren Sohn, auf mich und unsere Kinder war. Aus unserer anfangs kleinen aber feinen Bäckerei war inzwischen ein Betrieb mit fünf Filialen geworden. Als wir obendrein 1992 ein Haus gebaut haben, kannte ihr Stolz auf uns keine Grenzen.

Selbst wenn Karl und seine Mutter, solang ich zurückdenken kann, ein Herz und eine Seele waren, liebte sie ihre Tochter genauso wie ihren Sohn. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Vielleicht sogar mit einer noch größeren Liebe. Unsere Oma wollte nach meiner Erinnerung ihre Tochter immer nur beschützen. Sie war ständig besorgt um Lena. Ich glaube, Lena ist immer ihr kleines Mädchen geblieben. Auf kleine Mädchen musste man aufpassen. Ihr Sohn war groß und stark und konnte sich wehren.

Als ich Lena kennenlernte, habe ich oft die Sorgen um das flügge gewordene Mädchen miterlebt. Wenn Lena allein unterwegs war und unsere Oma mal wieder von ihrer Angst und Sorge überfallen wurde, rief sie bei allen Freundinnen ihrer Tochter an, bis sie fündig geworden war. Nur um sie dann zu fragen: »Was machst du? Geht es dir gut? Wann kommst du nach Hause?« Lena war oft wütend über die Kontrollsucht ihrer Mutter. So jedenfalls nannte sie deren ständige Hinterhertelefoniererei.

Erst als Lena Gregor kennengelernt hatte, beruhigte sich die Lage.

Einige Jahre nach dem Tod meines Schwiegervaters entwickelten sich bei meiner Schwiegermutter alte aber auch immer mehr neue Ängste. Es war dann nicht mehr nur die Angst um ihre Tochter, hinzu kam die Angst, allein im Haus zu sein, die Angst vor Einbrechern und vor allen unbekannten Geräuschen. Das ging zum Teil so weit, dass meine Schwägerin und mein Schwager, falls sie unterwegs waren, früher als geplant nach Hause kommen mussten.

Gregor glättete mit seiner Gelassenheit immer die Wogen. Erst beruhigte er seine wütende Frau, dann die aufgelöste Oma.

Ab und an warf uns Lena vor, dass wir uns nie um die Mutter kümmern würden. Wir müssten auch nie Festlichkeiten früher verlassen, weil Oma mal wieder Angst hatte, wenn an der Haustüre geklopft und geklingelt wurde, oder weil ein Gewitter kam.

»Mama hat nie bei uns angerufen«, verteidigte sich Karl, als Lena ihm Jahre später, sein angebliches Desinteresse vorwarf. »Glaubst du vielleicht, ich hätte mich nicht gekümmert, wenn sie sich bei uns gemeldet hätte? Du hättest uns auch früher darüber informieren können, anstatt uns das vorzuwerfen.«

Heute kann ich mir vorstellen, wie schrecklich diese Kontrollsucht und das ständige Hinterhertelefonieren all die Jahre für Lena gewesen sein mussten. Hatte sie deshalb trotz äußerlicher Ausgelassenheit und Lebenslust kein Selbstbewusstsein?

Die folgenden fast drei Jahre waren wunderschön. Es gab gemeinsame Urlaube, wir waren im gleichen Kegel- und Schützenverein und hatten viele gemeinsame Freunde, mit denen wir unsere Freizeit verbrachten.

Gregor und ich

Mit Beginn unserer Selbstständigkeit mussten Karl und ich viele dieser Freizeitvergnügungen einschränken. Das gefiel nicht allen Freunden. Es gab auch Neider. Verständnis für unsere Situation brachte nur unsere Familie auf.

Der Ausbau unserer Firma nahm uns sehr in Anspruch und ließ in den ersten drei Jahren keinen Urlaub zu.

Als wir endlich unseren ersten Urlaub planen konnten, stellte sich die Frage, wer während dieser Zeit das Geld aus den einzelnen Filialen holt, wer die Kassenabrechnung macht und wer die Einnahmen zur Bank bringt?

Gregor bot sofort seine Hilfe an. Er fuhr während unseres Urlaubs abends die Filialen ab, um die Tageseinnahmen abzuholen. Darüber hinaus machte er die gesamte Kassenabrechnung und brachte am nächsten Morgen das Geld zur Bank.

Gregor war für uns der vertrauenswürdigste, anständigste und ehrlichste Mensch, den wir uns denken konnten.

Auch unsere Kinder waren von ihrem Onkel Gregor immer angetan. Sie fühlten sich bei Onkel und Tante wie zu Hause. Ich hatte das Gefühl, dass Gregor, der mit Lena leider keine eigenen Kinder hatte, unsere als seine Ersatzkinder ansah.

Während einer Fahrt nach Norddeich, wo wir kurz zuvor eine Ferienwohnung gekauft hatten, war Gregor mein Begleiter. Ich wollte dort alles vorbereiten und fertigmachen, damit wir unseren ersten Urlaub in der Wohnung verbringen konnten.

Eigentlich sollte Lena mit mir fahren, weil Karl nicht konnte. Doch kurz bevor wir aufbrechen wollten, rief Lena an. »Macht es dir etwas aus, wenn Gregor an meiner Stelle mitfährt. Mir ist leider ein wichtiger Termin dazwischengekommen?«

»Nein, das macht mir nichts aus. Bewältigt Gregor denn den ganzen Tag?«, wollte ich wissen, da er gerade den ersten Bypass bekommen hatte und noch krankgeschrieben war.

»Da brauchst du dir keine Sorgen machen, Gregor ist wieder fit, zu fit! Außerdem freut er sich, mal wieder rauszukommen.«

»Okay, dann bin ich in ungefähr einer Stunde bei euch und hole ihn ab. Sag ihm, dass ich mich freue, dass er mit mir fahren will.«

Gregor war am Ende die bessere Wahl. Sonst hätte ich für einige Aufgaben sicher einen Handwerker bestellen müssen. Während ich alles putzte, brachte Gregor die Gardinenleisten an und hängte die mitgebrachten Gardinen und Bilder auf. Zum Schluss reparierte er den Schaden am Balkon der Wohnung.

Auf der Rückfahrt stellten wir fest, dass wir nichts gegessen und getrunken hatten. Also hielten wir an der nächsten Autobahnraststätte. Dort schlugen wir uns erst mal den Bauch voll. Weil Gregor damals seinen Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer in Flensburg liegen hatte, musste ich fahren und er konnte unbesorgt einige Bierchen trinken.

»Wir beide waren heute den ganzen Tag allein. Was hätten wir alles anstellen können?«, sagte er, als wir wieder auf der Autobahn waren. »Wann kriegen wir so eine Gelegenheit noch mal? Vielleicht müssen wir das demnächst, wenn Lena wieder mal nicht zu Hause ist, nachholen. Wir zwei, das wär doch was. Meinst du nicht auch?«

Ich wusste erst gar nicht, was ich darauf antworten sollte.

»Gregor, du weißt, wie sehr ich dich mag«, sagte ich schließlich, »aber stell dir vor, welches Chaos das gäbe, wenn wir das, was du möchtest, in die Tat umsetzen würden. Lass uns weiter so gute Freunde sein, wie wir es immer waren. Das möchte ich nicht verlieren.«

»Du hast ja recht, aber trotzdem ist der Gedanke sehr verführerisch«, antwortete er sehr zerknirscht.

In all den Jahren habe ich oft und gerne mit Gregor geflirtet, genau wie er mit mir. Wir verstanden uns blendend. Gregor war außerdem ein super Tänzer. Er tanzte so gerne wie ich. Das haben wir oft und ausgiebig genossen. Seine Lena war derselbe Tanzmuffel wie ihr Bruder. Ohne meinen Schwager hätte ich auf so manchen Tanz verzichten müssen.

Es war schön, wenn Gregor mich beim Blues ganz nah an sich zog, aber noch schöner war, mit ihm bei den Klängen eines Buggys über die Tanzfläche zu wirbeln.

Unterm Strich hatten Gregor und ich immer eine besondere Verbindung zueinander. Wir mochten uns sehr, er mich sicher etwas mehr, als es hätte sein sollen. Dennoch ist keiner von uns dem anderen jemals zu nahegetreten, auch wenn es manchmal zwischen uns geknistert hat. Wenn er mit mir flirtete, wusste ich, dass er einiges getrunken hatte. Im nüchternen Zustand zeigte er selten diesen Mut. Ich habe oft gedacht, Gregor hätte eine leidenschaftlichere, anschmiegsamere Frau verdient.

Lena hatte sich mit den Jahren verändert. Sie war nicht mehr locker und aufgeschlossen. Sie wirkte prüde, manchmal sogar Gregor gegenüber abweisend.

Dennoch bin ich der Überzeugung, dass Gregor seine Frau geliebt hat. Aber ob seine Liebe von ihr erwidert wurde, daran hatte er wohl starke Zweifel. Ich glaube sogar, dass sein Alkoholkonsum höher wurde, nachdem ihm das aufgefallen war.

Nachdem Lena ihr gemeinsames Kind im dritten Monat verloren hatte, ging die Ehe mehr und mehr in die Brüche. Vielleicht waren die dreißig Aufbauspritzen schuld, die Lena sich in einer gemeinsamen Kur mit ihrer Arbeitskollegin Margot hatte spritzen lassen, dass sie das Kind verlor. Es wurde nie herausgefunden, aber wahrscheinlich auch nie untersucht. Keiner konnte so viel Unvernunft verstehen. Das war wohl auch einer der Gründe, warum Gregor davon träumte, mit mir zusammen zu sein.

Aus dem Leben gerissen

Keiner von uns hätte jemals damit gerechnet, dass Gregor vier Tage nach seiner zweiten Bypass-OP sterben würde. Zumal die Ärzte beteuert hatten, dass die Operation ohne Komplikationen verlaufen sei. Es ging ihm nach einer anfänglich kritischen Phase jeden Tag besser und besser. Deshalb sollte er in den nächsten Tagen entlassen werden.

Was Karl und ich damals weder ahnten noch wussten, war, dass Lena und Gregor schon seit geraumer Zeit an einem endgültigen Wendepunkt ihrer Ehe angekommen waren. Wie schlimm die Situation zwischen ihnen war, haben wir erst später erfahren. Wir wussten zwar, dass Lena nicht ertragen konnte, wenn Gregor zu viel Alkohol trank, aber das er das täglich machte und dabei ihr gegenüber ausfallend wurde und randalierte, wussten wir bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir hätten es ihm auch nie zugetraut. Für uns war Gregor immer der beste Schwager, den wir uns nur wünschen konnten.

Karl und ich saßen mit Oma auf der Terrasse, als Lena kam und sich zu uns setzte. Sie erzählte uns, dass sie direkt nach Büroschluss zur Uniklinik gefahren sei, um Gregor zu besuchen. Weil sie aber keinen Parkplatz gefunden hatte, war sie noch eine Weile lustlos und vergeblich herumgekurvt. Daraufhin entschloss sie sich, wieder nach Hause zu fahren und Gregor nur anzurufen.

Bei ihrem Anruf hatte sich Gregor gar nicht gut angehört.

»Ich bin ziemlich schwach und fühle mich elend und schlapp. Mir macht die brütende Hitze zu schaffen«, hatte er ihr auf die Frage nach seinem Wohlbefinden geantwortet.

Von seiner Antwort nun doch etwas aufgeschreckt hatte Lena ihm von ihrer vergeblichen Parkplatzsuche berichtet und angeboten, doch noch zu kommen.

»Nein, nein«, hatte er Lena beruhigt. »Das ist nicht nötig. So schlecht geht es mir nun auch wieder nicht. Wenn ich geschlafen habe, ist es morgen sicher wieder besser. Mach dir keine Sorgen, es ist alles halb so wild.«

Lena überlegte noch eine geraume Zeit hin und her, ob sie nicht doch noch mal zu Gregor fahren sollte, entschied sich dann aber für einen Besuch am nächsten Tag.

Am nächsten Morgen im Büro, es war der 24. Mai 1994, bekam ich gegen zehn Uhr einen Anruf von Lenas Arbeitsplatz. Ich sollte so schnell wie möglich dorthin kommen und mit ihr zum Arzt fahren. Lena wäre zusammengebrochen, wollte aber keinen Krankenwagen. Sie wollte, dass ich mit ihr zum Arzt fahre.

»Warum ist sie zusammengebrochen? Was ist passiert?«

»Ihre Schwägerin hat gerade im Krankenhaus angerufen. Dort hat man ihr gesagt, dass Gregor in der Nacht verstorben sei.«

Diese Nachricht kam wie durch dichten Nebel bei mir an. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Nackenhaare sträubten. Mit dem Gedanken, dass man mit solchen Äußerungen keinen Spaß macht, wurde mir bewusst, dass das Gehörte Realität war. Ich war geschockt, fassungslos und entsetzt. Als ich das Gefühl hatte, wieder sprechen zu können, was sicher einige Sekunden gedauert hat, sagte ich: »Ich informiere meinen Mann und fahre dann los.«

Karl war genauso fassungslos wie ich.

Da wir nicht beide gleichzeitig aus der Firma konnten, bat er mich, ihn anzurufen, sobald ich Näheres wüsste. Zwischenzeitlich wollte er seiner Mutter diese schreckliche Nachricht überbringen.

Und jetzt soll Gregor tot sein? Ich konnte es nicht fassen. Es war ihm doch schon wieder besser gegangen. Gregor war viel zu jung zum Sterben. Das durfte doch überhaupt nicht wahr sein. In meinem Kopf hämmerte es. Das ist endgültig! Nie mehr wirst du seine Stimme hören. Nie mehr sein Lächeln sehen. Und nie mehr wird er mit dir übers Parkett wirbeln. Tränen liefen mir unaufhaltsam über die Wangen.

Nachdem ich einen Parkplatz gefunden hatte, blieb ich eine Weile wie erstarrt in meinem Auto sitzen. Bevor ich Lena gegenübertreten konnte, um ihr beizustehen, musste ich erst mal meine eigenen Gefühle unter Kontrolle bringen.

Was für eine unglaubliche Tragödie.

Ich versuchte, mich einigermaßen zu beruhigen und machte mich auf den Weg zu Lenas Büro.

Ich fand meine Schwägerin vollkommen außer sich, in Tränen aufgelöst und gänzlich verstört an ihrem Schreibtisch. Ihre Arbeitskollegin und ich verfrachteten sie in mein Auto, damit ich meine immer noch schluchzende Schwägerin zu ihrem Hausarzt bringen konnte.

Nicht nur Lena, sondern auch Gregor war sein Patient gewesen. Sie duzten sich sogar mit dem Doktor. Das hatte sich so ergeben, weil sie in den teilweise selben Vereinen waren.

Den ganzen Weg über wiederholte sie von Weinkrämpfen geschüttelt, ständig die gleichen Worte: »Warum, warum, warum, bin ich nicht noch mal zu ihm gefahren?«

Nachdem wir schließlich in der Praxis ankamen und ich der Sprechstundenhilfe in kurzen Worten das Geschehene erklärt hatte, führte sie uns in einen kleinen Raum, wo wir ungestört auf den Doktor warten konnten.

Dort berichtete Lena mir, immer noch von Weinkrämpfen geschüttelt: »Ich habe so schlecht geschlafen diese Nacht, dass ich schon um sieben Uhr ins Büro gefahren bin. Ich habe bereits in der Nacht und den ganzen Morgen so ein komisches Gefühl verspürt und gehofft, dass mit Gregor alles in Ordnung war. Aber dann beruhigte ich mich und redete mir ein, wenn was wäre, würde das Krankenhaus mich anrufen.

Um neun Uhr habe ich zum ersten Mal vergeblich versucht, Gregor zu erreichen. Nach zwei weiteren Versuchen habe ich auf der Station angerufen. Dort hat man mich mit der Stationsärztin verbunden und die hat mir mitgeteilt, dass Gregor in der Nacht verstorben sei. Paula kannst du dir so was Abartiges vorstellen?«

Ich nahm sie in meine Arme. »Es tut mir so leid, es tut mir so fürchterlich leid.« Inzwischen war auch ich in Tränen aufgelöst.

Warum wurde Lena vom Krankenhaus nicht angerufen? Und was hieß in der Nacht verstorben? Was hatte das zu bedeuten? Gab es vielleicht wichtige Gründe, die man verschleiern wollte? Mir ging durch den Kopf, dass die Zeitungen von verseuchten Blutkonserven in der Klinik berichtet hatten. Hatte Gregor vielleicht bei seiner OP auch eine Bluttransfusion aus einer verseuchten Blutkonserve erhalten? War es ihm deshalb nicht so gut gegangen?

Ich wusste es nicht und wollte Lena in ihrem Zustand auch nicht danach fragen. Aber ich nahm mir vor, dieses Thema später noch mal anzusprechen.

Ihr Zustand verschlechterte sich so sehr, dass ich Angst hatte, sie könnte in Ohnmacht fallen. Dieser Situation war ich nicht gewachsen. Deshalb rief ich verzweifelt nach der Sprechstundenhilfe und bat diese eindringlich, dem Doktor zu sagen, dass er auf der Stelle kommen sollte.

»So«, blaffte er Lena an, als er ins Behandlungszimmer kam. »Jetzt stell dich nicht so an und reiß dich mal zusammen. Mit deinem Theater kannst du auch nichts mehr ändern. Davon wird Gregor nicht mehr lebendig.«

Ich war fassungslos. »Warum gehen Sie so mit ihr um, geben Sie ihr lieber eine Beruhigungsspritze. Sehen Sie nicht, wie schlecht es ihr geht?«

»Das ist nicht nötig, das geht wieder vorbei, das ist zum größten Teil Hysterie«, sagte er, nachdem er Lenas Blutdruck gemessen hatte. »Sie kann zu Hause ihre Medikamente nehmen, das reicht.«

Ich war entsetzt, über seine Reaktion, konnte mir keinen Reim darauf machen und dieses in meinen Augen unsensible Verhalten Lena gegenüber in keiner Weise verstehen. Ich empfand es in jeder Hinsicht als unterlassene Hilfeleistung.

Wie konnte er sich erlauben, so mit ihr umzugehen? Es war doch unübersehbar, wie schlecht es ihr ging. Und welche Medikamente sollte sie für so einen Zustand zu Hause haben? Ich hätte ihn schütteln können, so wütend war ich.

Mein Zorn war immer noch nicht verraucht, als wir im Elternhaus ankamen.

Ich rief Karl an, um ihn zu informieren. Er versprach, so schnell wie möglich zu kommen.

Nachdem Lena ein Medikament eingenommen hatte, hatte sie sich kurze Zeit später den Umständen entsprechend wieder einigermaßen gefangen. Sie war zwar immer noch wie versteinert, weinte aber nicht mehr ununterbrochen. Es schien tatsächlich, als zeigten die unglaubliche, schroffe Art der Behandlung und das Medikament ihre Wirkung.

Später erfuhr ich, dass der Doktor zu diesem Zeitpunkt meine Schwägerin schon lang mit Psychopharmaka behandelt hatte. Das war wohl der Alkoholerkrankung von Gregor, den Trennungsabsichten sowie den ständigen, nervenaufreibenden Kämpfen und den wüstesten Beschimpfungen untereinander geschuldet. Der Arzt war über alles bestens informiert.

Von dieser Seite betrachtet, war seine Behandlungsart eher verständlich.

Nach und nach versammelte sich die Familie in Lenas Wohnung, um ihr beizustehen. Meine Schwiegermutter weinte und konnte nicht fassen, was passiert war. Als Ute, ihre Pflegetochter kam, flossen erneut heiße Tränen.

Danach saß Lena wie erstarrt in ihrem Sessel und war wieder kaum ansprechbar.

Sie überließ Karl und mir alle Formalitäten, die erledigt werden mussten. Selbst als der Mann vom Beerdigungsinstitut und später der Pastor kamen, wollte sie mit keinem sprechen und keine Entscheidungen treffen.

»Ich kann nicht, macht ihr das«, war das Einzige, was sie sagte.

Am Nachmittag gesellten sich Lenas Freundin Kiki und Margot mit ihrem Mann dazu. Lena hatte Margot während ihrer Ausbildung kennengelernt. Auch die Freundinnen Waltraut, Margret, Daggi und Rosi kamen, um Lena Trost zu spenden.

Alle waren entsetzt, dass Gregor so plötzlich verstorben war.

Trotz guten Zuredens war Lena nicht beizubringen, von Gregor Abschied zu nehmen. Das verstand ich nicht.

Wir bearbeiteten die Totenbriefe und brachten alle benötigten Unterlagen zum Beerdigungsinstitut.

Am späten Nachmittag, als alles erledigt war, erzählte Lena uns, immer wieder in Tränen ausbrechend, von ihrem schlechten Gewissen.

Sie sprach über die vielen unnötigen Auseinandersetzungen der letzten Wochen und Monate. Dass Gregor in dem Glauben hatte sterben müssen, aus der ehelichen Wohnung rauszufliegen. Es belastete sie sehr, dass sie am Abend vor seinem Tod nicht doch noch einmal zu ihm gefahren war. Außerdem machte sie sich Sorgen, dass das Geld für den laufenden Kredit des Garagenanbaus nicht reichen könnte.

»Du bekommt doch von Gregor die Rente und hast dein eigenes Gehalt«, erklärte ihr Karl. »Sein Haus erbst du auch. Du musst dir doch keine Sorgen machen, ob du genug Geld hast. Auch wenn kein Testament da ist, bist du Gregors Erbin. Solltest du mit deinem Geld nicht auskommen, kannst du natürlich auf uns zählen.«

»Wieso habt ihr eigentlich kein Testament gemacht?«, konnte ich mir nicht verkneifen, zu fragen. »Wollte Gregor das nicht?«

»Doch, Gregor wollte das, aber irgendwie hat er es wieder aufgeschoben. Ich habe ihn auch nicht daran erinnert. Wer denkt denn mit 46 Jahren ans Sterben?«

Nach einer Weile brachen wir auf, brachten die Totenbriefe zur Post und fuhren nach Hause.

Was war das für eine seltsame Ehe, wo der eine nicht wusste, was der andere tat. Bei Karl und mir wäre so was undenkbar.

Am Abend sprach ich mit Karl noch mal über die mysteriösen Umstände von Gregors Tod. »Was, wenn Gregor an einer verseuchten Blutkonserve gestorben wäre? Wenn sich das beweisen ließe, könnte man sicher Schmerzensgeld herausschlagen.«

»Dafür müsste Gregor aber obduziert werden«, sagte Karl.

Noch vor der Beerdigung erzählte ich Lena von meinem Verdacht bezüglich der verseuchten Blutkonserven. Vorsichtig wies ich sie darauf hin, dass es vielleicht nicht verkehrt wäre, Gregor untersuchen zu lassen, ob sein plötzlicher, unerwarteter Tod eventuell damit im Zusammenhang stehen könnte.

»Nein, nein, das mach ich nicht, und ich will auch nicht mehr darüber sprechen«, war Lenas unmissverständliche Antwort.

Einige Tage später folgte der schreckliche Tag der Beerdigung. Dazu wurden die Sippschaft von der holländischen Grenze und die Verwandten von der Mosel erwartet. Gregor war bei der Familie sehr beliebt gewesen. Alle waren bestürzt über seinen unerwarteten Tod. Für Lena war die Beerdigung eine einzige Tortur. Kein tröstendes Wort, jede noch so gut gemeinte Anteilnahme, konnten ihre Tränen trocknen. Aber auch die schlimmsten Tage im Leben enden einmal.

Ein paar Tage später beantragte ich mit Lena die Witwenrente. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie lang es gedauert hat, bis sie auch Zugriff auf das von Gregor geerbte Haus hatte. Dass sie davon an Gregors Mutter einen Teil abgeben musste, war Gregors Schuld. Weil er kein Testament zu Lenas Gunsten hinterlassen hatte, stand seiner Mutter ein Teil seines Erbes zu. Dennoch musste Lena keine finanzielle Not leiden.

Nach Gregors Tod war Lena lang krankgeschrieben. Damit das Alleinsein für sie erträglicher war, hielten sich Oma, unsere Sandra und Ute ständig bei ihr auf. Henny kam jeden Abend nach Büroschluss für etliche Stunden zu ihr.

René, Karl und ich kamen sporadisch dazu. Lenas Freunde und Bekannte besuchten sie auch hin und wieder. Wir richteten es so ein, dass sie in der schweren Zeit, bis auf wenige Stunden in der Nacht, nicht allein war.

Trotzdem schien das alles nicht zu reichen.

Ich konnte sie nicht davon überzeugen, unsere gemeinsam gebuchte Reha nach Bayern anzutreten. Obwohl wir beide diese Reise lang vor Gregors Tod geplant hatten.

Wir hatten uns so darauf gefreut, einmal gemeinsam Kururlaub zu machen. Wie oft hatten wir uns das schon vorgenommen, und wie oft war etwas dazwischengekommen. Und nun schon wieder.

Ich bin schließlich reichlich frustriert allein gefahren.

Als ich wieder zu Hause war, erzählte uns meine Schwiegermutter im Vertrauen, dass Gregor und Lena seit der Fehlgeburt jegliche Gemeinsamkeiten verloren hatten. Seit dieser Zeit hatte wohl jeder seine eigene Suppe gekocht.

Dass es so schlimm um die beiden gestanden hatte, erschütterte uns sehr. Aber dadurch wurde mir auch klar, warum der eine nicht gewusst hatte, was der andere getan hatte.

An ihrem folgenden Geburtstag und dem von Oma, am ersten Weihnachtsfest, an Ostern oder an den sonstigen Festen danach war Lena allein und ohne Gregor.

Das waren die Tage, an denen sie immer unglaublich weinte.

Auch wenn man es sich in solch schicksalsgebeutelten Zeiten nicht vorstellen konnte, lief die Zeit dennoch weiter.

Aber auf welche Weise die Zeit weiterlaufen sollte, hatten wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

Malec

Im Oktober 95, ein gutes Jahr nach Gregors Tod, ließ sich meine Schwägerin von einigen Frauen aus dem Heimatverein, mit denen sie sehr gut befreundet war, überreden, mit ihnen eine Woche nach Mallorca zu fliegen.

Als sie von dort zurückkam, schien es ihr besser zu gehen. Sie machte nicht mehr den tieftraurigen, verlassenen Eindruck, den sie seit Gregors plötzlichem Tod ständig mit sich herumgetragen hatte. Sie berichtete sogar ganz euphorisch, dass es sehr schön gewesen und sie froh sei, mitgefahren zu sein.

Unsere Oma erzählte uns kurz danach, wie immer unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass Lena im Urlaub jemanden kennengelernt hatte.

Dieser besagte Jemand war wohl eine Woche nach Lenas Rückkehr von Mallorca in einem alten Transporter aus Olpe in Arbeitskleidung unerwartet bei ihr aufgekreuzt. Angeblich hatte er für seinen Chef einen Auftrag in unserer Heimatstadt gehabt. Am Ende seines Besuches hatte er sich dann doch als selbstständiger Unternehmer geoutet. Lenas Adresse hatte er sich auf Mallorca von den Freundinnen erfragt, weil sie ihm diese nicht gegeben hatte. Da er fünfzehn Jahre jünger als Lena war, hatte sie sich sehr zurückgehalten. Andererseits war sie sehr von ihm angetan, weil er groß, schlank und blond war. Und er hatte ihr wohl unglaublich den Hof gemacht in diesen paar Tagen auf Mallorca. Das hatte sie ihrer Schulfreundin Henny erzählt, wie diese mir später berichtete. Nach dem ersten Besuch gingen wohl täglich einige Telefongespräche hin und her.

Dann kam er jedes Wochenende. Die ersten Wochenenden schlief er im Hotel. Ich glaube, für meine Schwägerin war es das Wichtigste, dass er angeblich nie Alkohol trank, was ich im Hinblick auf Gregors Alkoholkrankheit absolut verstehen konnte.

Die Buschtrommeln klapperten hervorragend. Obwohl wir offiziell noch nichts wussten, waren wir bestens informiert.

Mitte November war ich mit Lena zu einem Einkaufstrip unterwegs, als sie mir endlich erzählte, dass sie im Urlaub einen netten Mann kennengelernt hatte. Ich reagierte natürlich vollkommen überrascht, schließlich wollte ich unsere Informanten und vor allen Dingen unsere Oma nicht in die Pfanne hauen.

»Ich mag ihn sehr«, sagte sie. »Stell dir vor, er ist selbstständig und hat eine große, gut gehende Firma im Metallbaugewerbe. Er fährt einen tollen Mercedes Sportwagen. Das Auto ist ein Oldtimer und einen zweiten Oldtimer hat er bei sich zu Hause stehen. Vor Kurzem hat er sich zwei Eigentumswohnungen gekauft. Er ist witzig und ausgesprochen charmant. Aber für mich ist das Allerwichtigste, dass er überhaupt keinen Alkohol trinkt. Trotzdem habe ich ein großes Problem. Er ist fast fünfzehn Jahre jünger als ich, und damit kann ich sehr schlecht umgehen. Malec ist das vollkommen egal. Er sagt, er würde mich lieben, egal wie viel älter ich wäre. Stell dir vor Paula, er ruft mich jeden Tag mehrmals an. Wenn er kommt, bringt er mir kleine Geschenke und Blumen mit, die vergisst er nie.

Letzte Woche hat er mir ein superhippes Handy geschenkt. Er ist so besorgt um mich, dass er mich jederzeit und überall erreichen will.«

»Das hört sich ja ganz toll an, und du bist ja richtig verknallt«, sagte ich. »Ich freue mich für dich! Ich bin froh, dass du wieder jemanden hast. Du warst lang genug allein. Ist er ledig, oder geschieden? Hat er Kinder?«

»Kinder? Ich glaube nicht! Ehrlich gesagt haben wir darüber noch nicht gesprochen. Wenn es so wäre, auch kein Problem. Oder siehst du das anders?«

»Wenn du kein Problem damit hast, dann ist doch alles gut.«

»Wie gesagt Paula, ich weiß es nicht und kann es mir auch nicht vorstellen. Er war verlobt und ist vor sechs Monaten von seiner langjährigen Verlobten noch während seines Krankenhausaufenthaltes wegen seiner Krebserkrankung verlassen worden.«

»Krebs? Das ist ja schrecklich. Wie ist denn die Prognose für seine Krebserkrankung? Welche Art von Krebs hat er? Ich wünsche dir natürlich nicht, dass du wieder einen Partner durch eine schwere Krankheit verlierst, das musst du wissen.«

»Nein, nein, die Gefahr besteht nicht. Sein Krebs wurde früh genug erkannt! Malec muss sich zwar noch etwas schonen und auch immer mal wieder zu Nachuntersuchungen, aber die Ärzte haben ihm gesagt, sie hätten alles wegnehmen können. Er müsse sich keine Sorgen machen, weil seine Lymphdrüsen nicht befallen waren. Paula sei mir nicht böse, dass ich dir nicht mehr darüber erzählen kann, aber ich habe Malec versprechen müssen, dass ich mit niemandem über seine Erkrankung rede.

Ich ließ mir das Gespräch einige Zeit durch den Kopf gehen. »Wenn du ihn magst und er dich und du mit seiner Krankheit und seinem Alter klarkommst, nutz die Zeit so lang es gut geht. Du hast keine Kinder, brauchst auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Genieße es einfach.«

Ich glaube, Lena war sehr erleichtert über meine Reaktion. Sie wollte ihn der Familie offiziell am ersten Weihnachtstag bei einem gemeinsamen Mittagessen mit anschließendem Kaffeetrinken vorstellen.

Als ich das später Karl erzählte, war er so neugierig, dass er sich am nächsten Wochenende das so gepriesene Auto einmal ansehen wollte.

Wir witzelten darüber, dass Lena sich auf einmal für einen fahrbaren Untersatz begeistern konnte.

Solang wir denken konnten, waren Autos für sie immer nur Gebrauchsgegenstände. Sie hatte Karl mit seinem Autowahn immer ausgelacht!

Karl war am darauffolgenden Wochenende zum Wendelsweg gefahren, um sich diesen vermeintlichen Oldtimer anzusehen.

»Das Auto ist ein alter 220er-Daimler, eine ganz alte Karre«, sagte er, als er zurückkam. »Er ist bestimmt fünfzehn Jahre alt. Es handelt sich aber keinesfalls um einen Oldtimer, wie der Typ behauptet hat. Und wertvoll ist er schon mal gar nicht. Der Bursche kann Lena das leicht erzählen, die hat eh keine Ahnung von Autos.«

»Entweder ist der Liebhaber deiner Schwester ein Aufschneider oder so unwissend, dass er selbst glaubt, was er erzählt. Na ja, wir werden ihn ja bald kennenlernen.«

Am ersten Weihnachtstag waren wir wie alle Jahre zuvor bei Lena zum Essen eingeladen. Der Tag, an dem sie uns den neuen Mann an ihrer Seite vorstellen wollte.

Es war schon etwas komisch, da der erste Weihnachtstag seit vielen Jahren immer der Familientag bei Lena und Gregor gewesen war. Nun sollten wir ausgerechnet an so einem Tag ihren Neuen kennenlernen. Ob ich so etwas gemacht hätte? Ich glaube nicht.

Als wir und unsere Kinder mit Geschenken bepackt im Wendelsweg ankamen, bemerkten wir, dass Malecs Auto weder in der Einfahrt noch auf der Straße stand.

Ich war froh, dass er noch nicht da war. So musste er uns zuerst begrüßen und nicht wir ihn.

Der Tisch war mit Lenas bestem Geschirr gedeckt. Die Tannenzweige auf der schönen Weihnachtstischdecke verströmten ihren betörenden Duft. Brennende Kerzen und Weihnachtsschmuck, boten einen festlichen Anblick.

Leise Weihnachtsmusik untermalte den stimmungsvollen Eindruck. Es gab sogar wieder einen geschmückten Tannenbaum, den es im Jahr nach Gregors Tod nicht gegeben hatte. Meine Schwägerin wirkte glücklich und es sah aus, als würde ihr Gesicht mit all dem Glitzer und Glanz der Wohnung um die Wette strahlen. Ich wurde immer neugieriger, wie der Mann wohl aussehen mochte, der diese bemerkenswerte Veränderung bei Lena vollbracht hatte.

Obwohl ich ihn noch nicht kannte, war ich beim Anblick meiner Schwägerin davon überzeugt, dass sie nur einen Glücksgriff gemacht haben konnte.

Als unsere Oma am Tisch Platz nahm, klingelte es. Herein kam ein großer, schlanker, blonder Mann im Westernoutfit mit Vokuhila Frisur (vorn kurz, hinten lang). Unter seinem schwarzen Lederblouson trug er ein weißes Hemd mit Stehkragen, ein schwarzes Bändchen mit silbernen Bommeln zierte den Kragen und unter seiner Röhren-Jeans, die mit einem Gürtel mit großer Silberschnalle geschmückt war, sahen Cowboystiefel hervor.

»Das ist Malec, mein neuer Lebenspartner«, stellte Lena ihn vor. »Es wäre schön, wenn ihr euch duzen würdet, dann fällt das Kennenlernen leichter.«

Natürlich waren wir mit ihrem Vorschlag einverstanden.

Ich hatte größte Schwierigkeiten, meine Mimik im Zaum zu halten, während Lena ihn vorstellte und er uns begrüßte. Ich war schockiert. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie Malec im Urlaub kennengelernt hatte, hätte ich gedacht, dass dieser Mann einer ihrer Problemfälle war, mit denen sie sich in der Arbeit herumschlagen musste. Was fand sie an so einem Typ? Der Kerl passte ganz und gar nicht zu ihr. Er musste andere Qualitäten haben, etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Aber welche?

Ich glaube, dass es Karl und meiner Schwiegermutter ähnlich ging wie mir.

Hoffentlich machten Sandra, René und Chrissi keine unüberlegten Äußerungen. Unsere Kinder guckten zwar etwas irritiert, aber alle drei begrüßten Malec höflich. Wie es schien, hatten sie von unserem Schreck nichts bemerkt.

Malec zeigte sich uns als ruhiger, zurückhaltender Mann. Doch im Laufe des Nachmittags bei Kaffee und Kuchen taute er immer mehr auf. Er erzählte uns von seiner großen, gut gehenden Metallbaufirma, die in der Hauptsache Aluminium verbauen würde. Zeitweilig würde er je nach Auftragslage bis zu fünf Mitarbeiter beschäftigen. Seine zwei Eigentumswohnungen wären gut vermietet, aber sein größtes Juwel wäre sein Oldtimer, den er in seiner Garage stehen hätte.

Stolz zeigte er uns auch noch seine Uhr, Marke Breitling.

»Diese Uhr ist ein Blender«, flüsterte Karl mir zu, als Malec Lena beim Abräumen half.

»Halt bloß deinen Mund darüber«, flüsterte ich zurück.

»Lena hat uns erzählt, dass dein Daimler ein Oldtimer ist. Meinst du nicht, dass ihm dafür noch ein paar Jahre fehlen?«, konnte Karl sich nicht verkneifen, Malec aus der Reserve zu locken.

»Da hat Lena sicher was durcheinandergebracht, als ich ihr von meinem Oldtimer erzählt habe. Da ich ganz vernarrt in alte Autos bin, werde ich ihn mit Sicherheit so lang behalten, bis aus ihm ein Oldtimer geworden ist«, sagte Malec.

Als wir aufbrachen, brachte Lena uns an die Türe. »Und«, fragte sie mich, »wie findest du ihn? Er ist doch nett, oder?«

»Ja, ist er.« Was hätte ich auch sonst antworten sollen? Sie hätte mit Sicherheit nicht hören wollen, wie ich diesen Typ in Wirklichkeit fand und einschätzte.

Silvester feierten wir wieder in Lenas schönem Partykeller. Dabei wollte Lena den neuen Mann an ihrer Seite dem nahen Freundeskreis vorstellen.

Wieder mal ein Datum, das eigentlich Gregor gehört hätte. Gregors Geburtstag. Jahr für Jahr war dieser Geburtstag mit der Silvester-Party verknüpft worden.

Nicht nur ich war darüber verwundert, dass Lena ausgerechnet an diesem Tag den Freunden ihren neuen Partner vorstellen wollte.

Es wurde bis in die frühen Morgenstunden feucht-fröhlich gefeiert. Alle waren lustig und gut gelaunt.

Obwohl Malec immer wieder Bier angeboten wurde, lehnte er ab und behauptete, nie Alkohol zu trinken.

Da niemand so recht glauben wollte, dass einer vom Baugewerbehandwerk absolut keinen Alkohol trinken würde, wurde er immer wieder animiert, doch ein Glas mitzutrinken.

Besonders Winnie, der Mann von Henny, war versessen darauf, Lenas neuen Lover zu entlarven. Er mochte ihn von Anfang an nicht, empfand ihn als Großkotz und unehrlich. Zudem war Winnie, einer von Gregors besten Freunden gewesen, um den er immer noch trauerte.

Irgendwann kurz vor Mitternacht ließ sich Malec doch von Winnie, der hinter der Theke alle mit Getränken versorgte, dazu überreden, erst ein und dann auch noch ein zweites Bier zu trinken. Kurz danach stieß er tatsächlich noch mit einem Glas Sekt mit Lena auf das neue Jahr an.

Henny zog mich beiseite. »Hast du gesehen, was Malec alles getrunken hat?«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Nach den zwei Gläsern Bier, die Winni ihm aufgedrängt hat, hat er auch noch ein ganzes Glas Sekt hinterhergeschüttet.«

»Na und, lass ihn doch, es ist Silvester.«

»Nein, nein«, sagte Henny, »Winni hat in jedes Bierglas fast zur Hälfte klaren Schnaps geschüttet.«

»Was? Davon muss Malec doch umfallen!«

»Ja, ja, das flüstert mir Winnie auch schon die ganze Zeit zu. Paula, sieh doch, der zeigt keine Reaktion auf die Menge Alkohol. Der ist doch niemals Antialkoholiker.«

»Das gaukelt er deiner Busenfreundin nur vor«, sagte Winni leise zu Henny.

Als Lena und Malec zu vorgerückter Stunde zu den laut aufgedrehten Klängen der Schürzenjäger auf der kleinen Tanzfläche verliebt das Tanzbein schwangen, sagte Winni zu Henni, Karl und mir: »Wer solch eine Menge Schnaps und Bier samt Sekt vertragen kann, und davon keine Schlagseite bekommt, der kann niemals Antialkoholiker sein.

Winni war sich sicher, Malec schon am ersten Abend entlarvt zu haben. Karl sah das natürlich genauso. Ich war mir da keinesfalls sicher.

Malec wurde vor der weitläufigeren Familie fast zwei Jahre versteckt. Dafür schämte sich meine Schwägerin zu sehr wegen des großen Altersunterschieds.

Bereits Anfang 1996 zog Malec bei Lena ein. Er war jedoch zum Schlafen meist nur am Wochenende da, weil er angeblich während der Woche immer auf Montage war.

Meine Schwägerin war trotzdem begeistert, weil er jedes Wochenende etwas in ihrer Wohnung reparierte oder renovierte. Lena schwärmte so von seinem Können, seiner Ordnung und Genauigkeit, dass ich fast neidisch war. Es ist ja auch toll, wenn man für alles einen perfekten Handwerker im Haus hat. Eigentlich kenne ich aus unserem gesamten Bekanntenkreis keinen Mann, der jede freie Minute im häuslichen Bereich in seinem Beruf weiterarbeiten möchte. Aber die Liebe war noch frisch, da muss man den Partner noch mit seinem Können beeindrucken.

Im Mai fuhr Lena mit Margot drei Wochen zur Kur. Angeblich würde sich Malec während dieser Zeit extra Urlaub nehmen, damit er Lenas Wohnung mit einem neuen Badezimmer verschönern konnte. Wenn sie aus der Kur zurückkommen würde, wäre er mit dem Umbau fertig.

In diesen drei Wochen erneuerte er die Badezimmerfliesen und tauschte die Badewanne durch eine Eckdusche aus. Das Waschbecken sowie die Toilette ersetzte er natürlich ebenfalls durch eine modernere Keramik.

Als Lena zurückkam, flippte sie fast aus vor Begeisterung. Von der späteren Rechnung, die Malec ihr für seine Arbeit präsentierte, hat sie leider nur meiner Schwester erzählt.

Ich muss rückblickend allerdings neidlos eingestehen, dass das neue Badezimmer supertoll aussah.

Trotzdem verstand ich meine Schwägerin nicht. Wie konnte sie einen für sie immer noch fremden Mann, den sie erst so kurz kannte, drei Wochen allein in ihrer Wohnung rumwerkeln lassen? Er hätte alles durchwühlen können. Er hatte alle Zeit der Welt, Lenas Leben zu durchforsten. Wie konnte sie nur so bedenkenlos und leichtgläubig sein.

Kurz nach Lenas Kur gingen Karl und ich mit den beiden ins Theater. Nach der Vorstellung haben wir den Abend noch in einem gemütlichen Brauhaus ausklingen lassen. An diesem Abend stellte sich in einem Gespräch heraus, dass es sich bei Malecs vermeintlichem Oldtimer auch nur um ein altes Fahrgestell einer nicht identifizierbaren Automarke handelte. Das Fahrgestell hatte er von einem Schrottplatz mitgebracht. Aber sobald er Zeit dazu hätte, würde er mit dem Aufbau beginnen. Offensichtlich hatte er vergessen, dass er uns am Weihnachtstag etwas anderes gesagt hatte. Er erzählte Karl, nachdem er mit uns wieder ein paar Bier getrunken hatte, dass er vor nicht allzu langer Zeit kurz vor der Insolvenz gestanden hätte.

Lena war es sichtlich unangenehm, dass er uns das erzählte. »Schatz, ich bin der Meinung, dass du genug getrunken hast, wir sollten langsam aufbrechen«, sagte sie. »Malec hat seine Firma jetzt wieder sicher im Griff«, wandte sie sich an uns. »Ihm lagen die Büroarbeiten nie so richtig. Ab jetzt führe ich seine Bücher. Außerdem ist durch seine Krankheit so viel liegen geblieben, sonst wäre das sicher nicht passiert.«

Acht Jahre später

Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen, dieser Samstag,

der 4. Oktober 2003.

Drohende, dunkle Wolken bedeckten den Morgenhimmel. Es sah gefährlich nach Regen aus, als ich aus dem Küchenfenster sah. Die Äste der Kiefer von gegenüber schaukelten wüst hin und her.

Während ich mich fertigmachte, um ins Büro zu fahren, dachte ich darüber nach, wie schade es war, dass das Wetter vor ein paar Tagen derart umgeschlagen hatte. Zuvor war es nicht nur sonnig, sondern auch noch außergewöhnlich warm gewesen. Ich hätte das schöne Wetter gern zur Reha nach Aachen ab kommendem Montag mitgenommen.

Aachen, das klang wie wunderbare Musik, das roch nach Ruhe, nach Erholung, Auszeit und Nichtstun.

Ich hatte dort bereits vor einigen Jahren eine Kur gemacht. Na ja, schön war anders, aber ich hatte diesmal wenig Alternativen. Außer Aachen gab es für mich nur die Möglichkeit, nach Bad Kreuznach zu fahren.

Aber das war mir zu nah an meiner Heimatstadt. Jeder aus meiner ach so lieben Familie hätte innerhalb einer Stunde mir mal eben einen sicherlich gut gemeinten Besuch abstatten können. Deshalb hatte ich mich für Aachen entschieden.

Hätte ich an diesem Morgen auch nur geahnt, dass unser bisheriges Leben ohne Vorwarnung ins Chaos stürzen würde, ich hätte es nie für möglich gehalten.

Ich zog meinen Mantel an, nahm meine Tasche und schnappte mir Haus- und Autoschlüssel.

»Tschüs Paul, pass schön auf!«, rief ich unserem Airedale Terrier zu, öffnete die Haustüre und verschloss sie hinter mir. Im Auto drehte ich das Radio an und fuhr los. Endlich, nur noch zwei Tage, dann ging es auf nach Aachen.

Mann o Mann, die Zeit wurde knapp, bis ich für drei Wochen meine Zelte hier abbrechen konnte.

Andererseits, drei Wochen Reha für mich ganz allein war einfach nur super. Keiner würde Paula, keiner Mama, keiner Oma schreien, keine Firma, kein Stress, nur ich.

Hoffentlich klappte mein Plan, mit vier Stunden Büroarbeit auszukommen. Wenn ich damit fertig war, musste ich noch mein Auto startklar machen – Waschanlage, auftanken, Ölstand prüfen, und auf keinen Fall durfte ich vergessen, Wasser für die Scheibenwaschanlage aufzufüllen. Laut Wetterbericht würde ich sie brauchen.

Ich überlegte, ob mir im Büro genug Zeit bleiben würde, um alle Vorbereitungen für meine Schwester Kara zu erledigen.

Unglaublich, dass meine Schwester bereits vor fünf Jahren das von ihr übernommene elterliche Geschäft aufgegeben hatte und uns seitdem im Büro half.

Schade war nur, dass Kara erst Montag aus ihrem Urlaub zurückkam. So blieb uns keine Möglichkeit mehr, Absprachen zu treffen. Aber sie konnte mich ja anrufen, wenn was Wichtiges sein sollte.

Erfreulicherweise hatten wir beide unsere Urlaubsplanung exakt auf meine Reha abstimmen können. So konnte ich Montag, ohne Sorgen fahren. Karl, René und Kara würden mich sicher bestens vertreten.