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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Wenn du denkst,
es geht nicht mehr
Mein langer Weg nach Portugal
Wenn Du denkst es geht nicht mehr,kommt irgendwo ein Lichtlein her.Ein Lichtlein wie ein Stern so klar,es wird Dir leuchten immer da.
Wird zeigen Dir den Weg zurück,den Weg zu einem neuen Glück.Drum glaub daran – verzage nie,es geht schon weiter – irgendwie.
Und mit Willen, Kraft und Mut,wird dann alles wieder gut.Du musst nur immer fest dran glaubenund lass Dir nur den Mut nie rauben.
Es gibt für alles einen Weg,und sei’s auch nur ein kleiner Steg.Es gibt nun mal nicht nur gute Zeiten,das Leben hat auch schlechte Seiten.
Doch wie bist Du stolz, wenn Du’s geschafft,aus Sorgen und Nöten – mit eigener Kraft,herauszukommen, was Du nie geglaubt,da man Dich so oft schon der Hoffnung beraubt.
Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben,die lasse Dir bitte niemals nehmen.Denn wenn Du denkst es geht nicht mehr,
Wer antwortet auf die Frage: Was willst du werden, wenn du einmal groß bist, schon mit: „Glücklich?“ Ich jedenfalls nicht. Ich wurde aber auch nicht gefragt. „Du wirst Köchin“, entschieden meine Eltern. Schließlich führte meine Familie ein Hotel mit Restaurantbetrieb, mein Freund war dort der Koch und konnte mich ausbilden. Ich wurde also Köchin, als ich groß war. Dann Ehefrau und Mutter, Kellnerin, Telefonzellen-Reinigerin, Store-Managerin, Bezirksleiterin bei Dr. Oetker, Großmutter, Rentnerin und Auswandrerin.
Ich bekam drei wunderbare Kinder, zehn Enkel und – bisher –zwei Urenkel. Ich ließ mich von zwei Männern scheiden, die ich nicht mehr lieben konnte und musste drei begraben, die ich von ganzem Herzen liebte. Mein Glück, so kommt es mir manchmal vor, wurde mir vom Leben in kleinen Häppchen zugeteilt. Als könnte ich große nicht verdauen. Und immer hieß es: Du musst stark sein! Dabei wollte ich oft verzweifeln, dachte: Es geht nicht mehr. Doch dann kam jedes Mal ein Licht daher.
Jetzt, mit 67, allein in Portugal, bin ich tatsächlich glücklich, obwohl ich vor einem Jahr am Grab des Mannes stand, mit dem ich mein neues Leben hier teilen wollte. Dieses Mal ist es das besondere Licht der Algarve, das mir hilft, nicht zu verzweifeln, sondern einmal mehr stark zu sein und trotz der Trauer das Glück zu fühlen. Das Glück, in Portugal zu leben.
Warum schreibe ich dieses Buch? Ich war und bin nicht prominent. In meinem Wohnzimmer hängen keine goldenen Schallplatten an den Wänden, keine Fotos, auf denen ich König X und Staatschefin Y die Hand schüttele. Ich bin nur eine ganz normale Frau, die all denen Mut machen möchte, die auch oft das Gefühl haben, ihre Glückshäppchen seien zu klein: Gebt nicht auf! Vielleicht müsst ihr lange warten, bis ihr glücklich werdet. Vielleicht müsst ihr es allein schaffen. Aber das Licht kommt immer und das Warten lohnt sich. Davon bin ich fest überzeugt.
Die tote Tante
„Wir müssen zu Oma und Opa nach Straubing fahren und eine Weile bei ihnen bleiben“, sagte meine Mutter.
„Wie lange ist eine Weile?“, fragte ich.
Sie schaute aus dem Autofenster, obwohl dort nichts anderes zu sehen war als vereinzelte Regentropfen und eine lange Reihe grauer Münchner Häuser.
Sie sagte nicht: Vielleicht ist es für immer.
Sie sagte nicht: Dein Vater ist komplett durchgedreht, weil seine Geliebte tot ist. Unsere Wohnung hat er kurz und klein geschlagen, dahin können wir nicht zurück. Ach ja, der Papa sitzt jetzt in der Psychiatrie und die Tante Traudl ist also gestorben, an einer Lungenembolie.“
Meine Mutter schaute aus dem Fenster und schwieg. Der Taxifahrer hörte Radio. Ein Staatspräsident war zurückgetreten, in Frankreich. Ich wunderte mich darüber, dass wir überhaupt in einem Taxi saßen. Bei uns war das Geld doch immer knapp.
Noch verwirrender war, was die Mama eben in der Schule dem Lehrer erzählt hatte: dass nämlich ihr Bruder einen schweren Unfall gehabt hätte und dass wir deshalb jetzt sofort zu ihm ins Krankenhaus müssten. Und zu mir nur: „Komm Ulrike, beeil dich“.
Meine Mutter hatte keinen Bruder.
Über der Tür von unserem Klassenzimmer hing das Kreuz. Und ich dachte: Man darf doch nicht lügen!
Aber meine Mutter ging auch nur ganz selten in die Kirche.
Die Weile, die ich in Straubing bei den Großeltern blieb, sollte ein gutes halbes Jahr dauern, mir zwei Schulwechsel und eine furchtbare Erfahrung, aber auch eine Freundin fürs Leben einbringen.
In diesem halben Jahr erfuhr ich nicht, dass Tante Traudl für meinen Vater weit mehr gewesen war als die Freundin der Familie, die zu all unseren Ausflügen und sogar in unseren Urlaub mitkam. Ihr plötzlicher Tod mit sechsunddreißig hatte ihn tatsächlich fast um den Verstand gebracht. Doch das hörte ich erst Jahre später durch Zufall. Aus unserem Leben war die nette Tante verschwunden. Niemand sagte mir, dass sie gestorben war, warum ihr Name plötzlich nicht mehr genannt wurde. Fragen nach ihr waren tabu. Erklärungen gab es keine.
Als wir an jenem Tag mittags in der Heerstraße in Straubing ankamen, schien die Sonne. Die Oma und der Opa erwarteten uns schon an der Tür, sie wohnten im Erdgeschoss. Opa war hochgewachsen und stattlich, bestimmt über eins neunzig, Oma reichte ihm gerade bis zur Brust und war viel strenger als er. Die beiden schauten uns komisch an, fand ich. Aber außer: „Da seid’s ja“ und „Kommt halt rein“ sagten auch sie nichts. Oma hatte Fingernudeln mit Sauerkraut gemacht. Sie war eine fantastische Köchin.
Verdrängung – eine Lehre fürs Leben
Wann mein Vater aus der Psychiatrie entlassen wurde, kann ich nicht sagen. Auch nicht, ab wann meine Mutter sich wieder von ihm einwickeln ließ. Wir verstanden uns nicht direkt schlecht, sie und ich. Aber ein enges Verhältnis hatten wir auch nicht.
Irgendwann fing sie an, zwischen München und Straubing zu pendeln. Mein Vater war zurück in der alten Wohnung.
Mutter fehlte mir nicht besonders, wenn sie nicht da war. Ich hatte ja meine Großeltern. Und Monika, meine Freundin in der neuen Schule. Ich war es auch gar nicht gewohnt, dass meine Eltern besonders auf mich achteten oder Rücksicht nahmen. Es gab mich, ich wurde versorgt. Das musste reichen. Wer im Leben meiner Mutter wirklich zählte, war mein Vater. Der gut aussehende, stets in Anzug und Krawatte auftretende Choleriker, der im Außendienst einer Eisenwarenhandlung für damalige Verhältnisse viel Geld verdiente und noch mehr ausgab. Der intelligente, auf Knopfdruck charmante Mann, der mit seiner Tenorstimme wunderschön sang. Der Mann, der zu viel trank, der meine Mutter betrog und uns manchmal schlug. Der Mann, zu dem es sie immer wieder zurückzog. Der Mann, vor dem ich Angst hatte, seit ich denken konnte, war das Zentrum, um das meine Mutter kreiste.
Während meine Eltern sich also in München auf den Weg zur Versöhnung und in die nächste Krise machten, genoss ich ahnungslos das Leben im schönen Straubing an der Donau und ganz besonders die Nachmittage, die ich mit Monika auf dem Eis verbrachte.
Mit Monika hatte ich schon im Sandkastenalter gespielt, wir waren allerbeste Freundinnen. Ihre Familie wohnte im selben Haus wie meine Großeltern im zweiten Stock, und sobald ich bei Oma und Opa zu Besuch war, steckten wir die Köpfe zusammen. Jetzt gingen wir gemeinsam zur Schule und ins Eisstadion. Der heiß geliebte Großvater ganz nah, mein Vater weit weg - ich war glücklich.
Das Kunsteis-Stadion am Pulverturm war ganz neu und modern. Eine richtige Halle gab es damals noch nicht, die Überdachung wurde erst später für die Straubing Tigers gebaut, die Eishockeymannschaft von Straubing. Monika und mir war das egal, wir brauchten kein Dach. Aber einen Raum, in dem wir uns umziehen konnten, den gab es. Mein Opa hatte mir extra ein Eiskunstlaufkleid gekauft, dunkelblau mit einer weißen Borte am Saum. Der Rock schwang bei jeder Drehung und jeder Pirouette wie bei einer richtigen Eiskunstläuferin. Ich war so stolz darauf!
Wenn es sehr kalt war, zog ich mir das Kleid über die Hose und den Rolli und dann noch die Jacke über das Kleid. Hauptsache, der Rock konnte schön schwingen. Wenn meine Füße dann mit den Schlittschuhen das Eis berührten und ich zur Discomusik aus den Lautsprechern meine Runden drehte, dann fühlte ich mich, als würde ich fliegen. In meinem Kleid fand ich mich fast so hübsch wie die Monika mit ihren langen, braunen Haaren und dem dunklen Teint. Eine Mähne wie ihre statt der eigenen dünnen Strähnen in Straßenköterblond habe ich mir ewig gewünscht – so sehr, dass ich mir ein paar Jahre später für ein Porträtfoto eine Perücke aufsetzte, nur um so schön auszusehen wie sie. Aber das ist eine andere Geschichte.
Es war ein Mittwoch im November, an dem Monika zum Zahnarzt musste. Ich machte mich nach dem Schlittschuhlaufen allein auf den Weg nach Hause. Es war nicht weit, eine knappe halbe Stunde. Ein besorgter Blick in den bewölkten Himmel. Alles gut. Es war zwar kalt und ich zog den Reißverschluss meines Anoraks bis ganz nach oben, aber es würde nicht regnen. Wegen Monikas Termin hatten wir früher aufgehört als sonst, ich hatte also noch Zeit und nahm nicht den kürzesten Weg zur Heerstraße, sondern den längeren, der ein Stück am Donau-Ufer entlangführt. Monika und ich gingen auch oft diesen Weg.
Später habe ich hab mich gefragt, warum sich die Jungs ausgerechnet mich ausgesucht hatten. Wieso war ich in ihr Visier geraten? Ich war doch nicht besonders hübsch. Aber ich war schon weit entwickelt. War es deswegen? Oder weil sie mich aus meiner neuen Schule kannten und wussten, wohin ich wollte, wo ich wohnte? Hatten sie Monika und mich schon früher beobachtet und kannten die Strecke, die ich laufen würde?
Oder war es Zufall?
Ich vermute, sie waren ebenso wie ich beim Eislaufen, haben gesehen, wie ich mit meinen zusammengeknoteten Schlittschuhen über der Schulter allein losging, kannten meine Strecke und fassten ihren Plan. Wohl wissend, dass es auf dem Weg ein sehr einsames Stück gab. Wohl wissend, dass ich mit meinen zwölf Jahren ein leichtes Opfer sein würde.
Irgendwann hörte ich Stimmen hinter mir, dann ein kurzes Auflachen, dachte mir aber noch nichts dabei. Bis die Stimmen näher kamen, ich mich umdrehte und sie feixen sah. Sie waren zu acht. Erst da bekam ich es mit der Angst, ging schneller und fing schließlich an zu laufen.
Ich war zwar das Kind bayrischer Eltern, die von Aufklärung nichts hielten, und der Sexualkunde-Atlas, der wenige Monate vorher als erstes Schulbuch in Westdeutschland veröffentlicht worden war, hatte es bisher nicht in eine Münchner oder gar Straubinger Schule geschafft, aber dennoch war ich nicht ahnungslos: Ausgerechnet Tante Traudl, Vaters Geliebte, hatte mir im Vorjahr in unserem Italienurlaub das Buch „Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen geschenkt.“ Auch das Wort Vergewaltigung war mir nicht fremd. Ja, ich hatte eine Ahnung davon, was mir von fünfzehn oder sechzehnjährigen Jungs drohen konnte, und rannte.
Sie erwischten mich auf dem einsamen Uferstück. Größer und stärker als ich warfen sie mich mit Leichtigkeit zu Boden. Ich habe heute noch den modrigen Geruch in der Nase, der von der feuchten Erde und vom sumpfigen Ufer der Donau aufstieg.
Mein Anorak war kein Hindernis, der Pulli erst recht nicht, die Hose wurde von groben Händen nach unten gezogen. Einer hatte schon die Hand an meinem Busen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein anderer sich in die Hose griff. Erst jetzt fing ich an zu schreien. Ich schrie in Todesangst aus Leibeskräften.
Dann hörte ich einen Mann rufen.
„Lasst‘s sofort des Madl in Ruah, ihr Saubuam!“
Von einem Moment zum anderen ließen sie von mir ab und rannten davon.
„Und du hast nicht mal mit dem Mann gesprochen? Der hat dich gerettet! Vielleicht sogar dein Leben!“
„Nein, hab ich dir doch gesagt. Als die Jungs weg waren und ich mich aus dem Dreck hochgerappelt hatte, konnte ich gerade noch seine Silhouette am Horizont verschwinden sehen. Der ging in Richtung Klinikum. Ein Mann mit Hut eben und schon älter.“
Dass mein Retter älter war, glaubte ich, weil ich seine Stimme noch im Ohr hatte. Der Ruf „Lasst‘s sofort des Madl in Ruah, ihr Saubuam!“ hatte sich mir ins Hirn gegraben, unauslöschlich wie der Refrain eines wunderschönen Liedes.
Monika und ich saßen auf umgedrehten Kartoffelkisten im kleinen Gemüsegarten meiner Großeltern hinter dem Haus. Jede Partei im Haus hatte ihre eigene kleine Parzelle für die Selbstversorgung. Heute kam die Sonne durch die Wolken und wir hatten uns leere Kartoffelsäcke untergeschoben, damit wir nicht von unten froren. Hier, am hintersten Beet, konnte ich sicher sein, dass niemand hörte, was ich Monika erzählte.
Großmutter hatte geschimpft, als ich mit schmutzigen Sachen nach Hause kam: „Wos gehst du aa an da Donau längs, koa Wunda, wenn du do ausrutschst, mia hom schliaßlich koan Summa. De guadn Sachn! Hoffentlich griag i den Grosfleck do ausse, gib ma den Anorak moi her.“ Ich habe ihr die Jacke mit dem Grasfleck gegeben und nichts mehr gesagt. Nie im Leben hätte ich ihr erzählt, was wirklich passiert war. Ihr nicht, dem Großvater nicht und meiner Mutter schon gar nicht. Ich schämte mich bis ins Mark. Deshalb war ich „am Donau-Ufer ausgerutscht und hingefallen.“ Punkt.
Später schlief ich nach einem schweigsamen Abendessen ein, den Blick auf Mamas leeres Bett gerichtet. Die Worte Schändung und Schande wollte lange nicht aufhören, sich in meinem Kopf zu drehen. Nein, ich würde niemanden davon erzählen, niemanden außer Monika.
Heute gibt es „Me too“, Vereine wie „Frauen helfen Frauen in Not“, Beratungsstellen. Auch bei versuchter Vergewaltigung und sexueller Nötigung hat das Opfer eine Chance, Glauben zu finden, wenn man sich zur Anzeige entschließt. Aber Ende der Sechzigerjahre? Wahrscheinlich war der Mann, dessen Rufen die Jungs vertrieben hatte, nicht einmal auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen.
Ich wusste: Kein Aufschrei der Empörung würde erklingen, wenn ich den Mund aufmachte. Auch nicht in meiner Familie. Eher schon hätte ich zu hören bekommen: „Bestimmt hast du die jungen Männer provoziert.“ Oder: „Wenn du dich mal nur nicht wichtigmachen willst“. Aber am ehesten. „Das bleibt in der Familie, es ist ja nichts Schlimmes passiert.“ Bei uns blieb immer alles in der Familie, wenn es irgendwie ging. Aber das sprach ich nicht aus.
Monika holte mich aus meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt des herbstkühlen Gartens, in dem noch Rotkraut und Spinat standen und dicke Kürbisse wie Sonnen auf der dunklen Erde leuchteten. „Du musst es aber in der Schule sagen“, meinte sie, „stell dir mal vor, die haben bei einem anderen Mädchen mehr Erfolg.“
Ich hatte ihr gesagt, dass ich glaubte, ein paar der feixenden Gesichter schon auf dem Schulhof gesehen zu haben. Anderseits war ich erst so kurz dort. Und wenn ich versuchte, mir die Gesichtszüge der Einzelnen in Erinnerung zu rufen, sah ich stattdessen eine Hand am Hosenschlitz.
„Ich bin mir aber doch nicht sicher. Und beweisen kann ich sowieso nichts.“
„Trotzdem!“
„Vergiss es.“
Und dabei blieb es. Monika und ich haben in den folgenden Jahren noch manchmal über den Tag gesprochen, an dem sie zum Zahnarzt musste. Wir sind auch heute noch Freundinnen und ich bin ihr dankbar, dass sie es mir allein überlassen hat, ob ich je anderen Menschen davon erzähle.
Ich tue es jetzt. Warum?
Weil dieser Tag zu meinem Leben gehört und sich mir tief eingeprägt hat. Ob sich die acht Jungs von damals, falls sie noch leben, auch noch daran erinnern? Wahrscheinlich nicht. Und wenn doch, dann vielleicht an den Tag, an dem ihnen jemand den Spaß verdorben hat. Ich glaube, dass sie schon damals keinen Gedanken daran verschwendet haben, welche Auswirkungen ihre Gewalt auf mich hatte – oder gehabt hätte, wären sie zum Zuge gekommen. Hätten sie mich nach der Gruppenvergewaltigung verletzt liegen lassen oder in der Donau ertränkt?
Das habe ich mich lange gefragt und natürlich keine Antwort gefunden. Ich weiß nur: Ich habe großes Glück gehabt und mir noch oft gewünscht, mich bei dem Mann bedanken zu können, der zur rechten Zeit am Ufer entlangging und die Saubuam verscheuchte.
Weil ich dieses große Glück hatte, weil es bei einem riesigen Schrecken blieb, kann ich heute lachen, wenn ich auf die Frage antworte, ob jener Tag mein Verhältnis zu Männern geprägt hat. Ob er mich ängstlich werden ließ, vorsichtig im Verhalten und misstrauisch gegenüber dem anderen Geschlecht. Nein! Ich muss sogar sehr laut lachen. Mein Verhältnis zu Männern blieb völlig ungetrübt.
Der Überfall ist Teil meiner Lebensgeschichte, ja. Für mich steht er für das Schweigen in meiner Familie. Nicht mehr und nicht weniger. Als ich älter wurde, habe ich Männer immer gemocht und ihnen vertraut. Auch dann, wenn mehr Vorsicht und weniger Vertrauen besser gewesen wären.
Da kommt mir ein Gedanke: Vielleicht hat der Überfall mich doch verändert, ohne dass es mir bisher bewusst war: Möglicherweise wurde dort am Donau-Ufer in Straubing der Kern für eine meiner größten Fähigkeiten gepflanzt. Und wie bei einem Obstbaum hat es dann eine Weile gedauert, bis aus dem Kern ein starker Stamm entstanden war und der Baum reiche Früchte trug. Heute jedenfalls bin ich Weltmeisterin im Verdrängen.
Verdrängung, so habe ich gelesen, bezeichnet in der Psychologie „einen Abwehrmechanismus, der dazu dient, unangenehme und schmerzhafte Empfindungen aus dem Bewusstsein fernzuhalten.“ Das passt.
Ich habe mich nie ernsthaft mit der Frage beschäftigt, warum wohl ich unangenehme oder schmerzhafte Erlebnisse und Erfahrungen am liebsten in handliche kleine Päckchen packe. Warum ich diese Päckchen dann in jener Ecke meines Geistes verstaue, in die auch alle anderen Dinge kommen, über die ich nicht zu genau nachdenken möchte.
Kapitel 3
Das Leben – so bunt wie Uschi
„Wir bekommen ein Haus“, verkündete meine Mutter. „In Landau. Es wird dir gefallen.“
Landau an der Isar. Eine halbe Autostunde von Straubing entfernt. Die Altstadt mit mittelalterlicher Struktur, idyllischen Gässchen und – laut Webseite der Stadt – bis heute mit „auffallend vielen Gastwirtschaften“. Eine davon sollte eine zentrale Rolle in meinem Leben spielen. Aber das ahnten weder meine Mutter noch ich.
Schon wenige Wochen nach dieser Ankündigung fand ich mich also in einem Einfamilienhaus wieder. Nicht in der Altstadt, sondern am ländlichen Rand von Landau. Neuer Ort, neue Schule. Neue Menschen. Vorbei die intensive Zeit mit Monika, vorbei das Schlittschuhlaufen. Wie üblich war ich nicht gefragt worden. Am Tag des Umzugs weinte ich leise.
Doch meine Mutter hatte recht: Das hell verputzte Haus mit dem Walmdach gefiel mir. Ich mochte mein Zimmer mit dem Blick in den riesigen Garten, in dem viele Obstbäumen standen und hohe Tannen, deren Duft ich bei offenem Fenster riechen und die ich rauschen hören konnte. In der Schule traf ich ein schillerndes Wesen namens Uschi und fand in ihr eine neue Freundin. Vielleicht hätte ich in Landau glücklich werden können – wäre da nicht der ein oder andere Haken gewesen.
Der erste Haken war präzise zu lokalisieren, gleich rechts im Erdgeschoss des Hauses. Dort befand sich eine Einliegerwohnung, deren Existenz und künftige Bewohner meine Mutter bei der Ankündigung des Umzugs wohlweislich zu erwähnen vergessen hatte. In diese Wohnung zogen meine Großeltern väterlicherseits ein. Ich kannte diese Leute kaum – wir hatten sie in Bayerbach, wo sie bis dato gelebt hatten, nur selten besucht – und mochte sie gar nicht. Für mich gab es nur einen Opa und eine Oma. Und zwar in Straubing. Eines Tages erreichte uns in Landau die Nachricht, der Opa sei im Krankenhaus. Mutter und ich fuhren nach Straubing und kamen gerade noch rechtzeitig an, um ihn ein letztes Mail zu sehen. Er starb an einem der traurigsten Tage meines Lebens völlig unerwartet im Krankenhaus an einem Herzanfall.
Meine Ablehnung der anderen Großeltern wurde durch den Verlust noch verstärkt. Aber sie beruhte auch auf Gegenseitigkeit. Insbesondere der Vater meines Vaters konnte mich so wenig leiden wie ich ihn. Nie wieder habe ich einen größeren Intriganten als ihn getroffen. Das Verhältnis zur Mutter meines Vaters war nicht wesentlich besser. Böse und kaltherzig waren beide. Von der ersten Minute an versprühten sie ihr Gift und machten uns das Leben schwer. Ich ging ihnen aus dem Weg, so gut es ging.
Haken Nummer 2 war mein Vater selbst. Er hatte seinen Traum vom eigenen Haus ohne eigenes Geld umgesetzt, indem er seine Eltern überredete, ihr Haus in Bayerbach zu verkaufen und vom Erlös das neue Haus mit der Einliegerwohnung anzuzahlen. Von jetzt an, so sein Plan, waren wir eine glückliche Familie im Eigenheim: Vater, Mutter, Kind, Oma, Opa und er selbst der strahlende Stern im Mittelpunkt der Familienidylle im schönen Niederbayern.
Schade nur, dass der Aufenthalt in der Psychiatrie ihn nicht zu einem besseren Menschen gemacht hatte, auch wenn meine Mutter das noch so gern glauben wollte. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann das Bild erste Risse bekam, die auch sie schließlich nicht mehr übersehen konnte. Aber ich greife vor.
Anfangs schien alles in bester Ordnung: Spätes Frühjahr in Niederbayern, die sanften Hügel strahlten unter der Maisonne in sattem Grün, an den Feldern begannen Mais, Korn und Raps zu sprießen und leuchteten die Wildblumen. In unserem schönen großen Garten blühten Kirsch- und Apfelbäume um die Wette. Über allem hing ein strahlendblauer Himmel, es war ein berauschendes Farbenspiel. Aber nichts war so bunt wie meine neue Freundin Uschi. Gegen sie kamen in meinen Augen Klatschmohn, Kornblumen und Löwenzahn nicht mal zusammen an.
Uschi war anders als Alle. Frech, unangepasst, voller verrückter Ideen, das coolste Mädchen der Schule. Sie ließ sich von keinem was sagen, auch nicht von den Lehrern.
Ob sie sich von mir etwas sagen ließ? Ich wollte ihr gar nichts sagen. Ich wollte so sein wie sie.
Uschi trug als Haarband einen Rosenkranz und ließ das kleine Kreuz auf ihre Stirn baumeln. Ich tat es ihr nach. Auf Uschis orangefarbenem Kofferplattenspieler – der erste, der auf den Markt kam – drehten sich Platten von Jimi Hendrix und Co, sie holte Zigarettenpapier vom großen Bruder und rauchte Pfefferminztee. Ich rauchte mit. Uschi trug einen superkurzen Minirock. Ich natürlich auch. Und wir beide wurden vom Lehrer nach Hause geschickt, um uns „was Anständiges“ anzuziehen. Hippies wollten wir sein und cool. Uschi war die geborene Anführerin und ich ihre Anhängerin, die alles mitmachte, was sie vorschlug.
Schon wenn der Wecker früh um sieben klingelte und ich die Augen aufschlug, freute ich mich auf die Schule und die Zeit danach bei Uschi. Ich konnte die Zeit mit der Freundin verbringen, bis meine Mutter mich mit ihrem uralten beigefarbenen Käfer mit den geteilten Heckscheiben wieder abholte. Allerdings nie direkt bei Uschis Haus. Sowohl die Schule als auch die Gastwirtschaft von Uschis Eltern lagen in der „oberen Stadt“ im historischen Teil von Landau und damit 390 Meter über Normalnull. Landau trägt den Beinamen Bergstadt nicht ohne Grund. Meiner Mutter waren Berg und enge Gassen mit dem Auto nicht geheuer, sie parkte grundsätzlich fünfzig Meter tiefer in der „unteren Stadt“. Bergauf und bergab gingen wir stets zu Fuß.
Oft kam Mama schon früher. Dann aßen wir alle zusammen und anschließend half sie Uschis Mutter in der Gastwirtschaft. Zu meiner großen Verwunderung freundeten die beiden Frauen sich an. Ich kannte meine Mutter nicht mit
Freundinnen. In München waren meine Eltern mit einigen Ehepaaren locker befreundet gewesen und natürlich mit Tante Traudl, aber Traudl war keine enge Freundin meiner Mutter und es gab auch keine andere. In unserem aktuellen Leben spielte keiner der Menschen von früher mehr eine Rolle. Es war, als hätte es das Vorher nie gegeben. Und bisher hatte es meiner Mutter anscheinend auch völlig genügt, um ihren Fixstern, meinen Vater, zu kreisen.
Uschis Mutter aber übte mit ihrer resoluten Art und ihrer offensichtlichen Unabhängigkeit auf Mama einen ähnlich großen Reiz aus wie die Uschi auf mich. Für Uschis Mutter war es beispielsweise überhaupt kein Problem, allein in ein Café oder ein Restaurant zu gehen, was meiner Mama im Traum nicht eingefallen wäre. Und selbstverständlich kutschierte sie mit ihrem großen 5er BMW durch die engen Gassen der oberen Stadt. Auch ihr Mann (Uschi stammte aus einer früheren Beziehung) war ein Freigeist. Die gesamte Atmosphäre innerhalb dieser Familie war ganz anders als das, was ich von zu Hause kannte. Ich liebte es, dort zu sein.
Unter dem Dach unseres eigenen Zuhauses verflüchtigte sich das anfängliche Glücksgefühl der ersten Wochen dagegen schneller als Gas. Oft hatte ich das Gefühl, in zwei völlig verschiedenen Welten zu leben.
Mein Vater, der anfangs noch mit der stolzgeschwellten Brust des frischgebackenen Eigenheimbesitzers und in bester Stimmung durchs Haus gelaufen war, nicht selten mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen, wurde mit jeder spitzen Bemerkung, mit jeder Provokation und jeder Lüge, die meine Großeltern verbreiteten, gereizter. Die beiden Alten aus Bayerbach, wie ich sie heimlich nannte, fühlten sich bei uns nicht wohl – um es milde auszudrücken.
Die weniger milde Version bekamen unsere Nachbarn zuhören: Der eigene Sohn habe sie um ihr gesamtes Vermögen betrogen und hielte sie nun wie Gefangene. Nicht einmal zu Essen bekämen sie in unserem Haus. Gern sang der Alte auch das Lied des Gefangenenchors von Nabucco, in dem die Hebräer den Verlust von Freiheit und Heimat beklagen, wenn er uns in der Nähe wusste. Beide versorgten die Nachbarn stets mit neuen Schauergeschichten von ihrem grausamen Schicksal, ehe sie sich wieder an unseren Tisch setzten und meine Mutter auftischen ließen (im Gegensatz zu Mama war die Alte selbst eine miserable Köchin). Mein Vater wurde von Tag zu Tag gereizter. Und er fing wieder an zu trinken.
Der Anfang vom Ende kam im Spätherbst, als mein Vater sich mit dem Großvater wegen irgendeiner Kleinigkeit im Zusammenhang mit dem Garten derart zerstritt, dass der Alte einen Freund aus Bayerbach anrief. Nicht viel später fuhr ein fremdes Auto vor, die Großeltern zerrten Koffer aus der Wohnung und ins Auto und fuhren mit dem Freund davon.
Der Traum vom idyllischen Familienleben unter einem gemeinsamen Dach war ausgeträumt. Dass wir das Haus würden halten können, falls die Großeltern stur blieben, nicht wiederkamen und ihr Geld zurückforderten, erschien mehr als unwahrscheinlich.
Von da an war Vater jeden Tag betrunken.
Oft kam er nach der Arbeit schon angetrunken nach Hause. Wir merkten es daran, wie er die Autotür zuknallte und kurz darauf im Flur seinen Schlüsselbund auf das Telefontischchen warf. In der Küche führte dann der erste Gang zum Kühlschrank, zum Bier. Für meine Mutter und mich hieß das: Bloß keinen Grund zum Streiten geben. Mit steigendem Alkoholpegel wurde er aggressiv und unberechenbar, war eine Bombe, die jederzeit hochgehen konnte. Dann trafen seine Schläge meistens meine Mutter, manchmal – wenn ich mich nicht still und unauffällig genug verhalten hatte – auch mich. Ich verzog mich möglichst früh am Abend in mein Zimmer, machte Musik an und kam nur noch heraus, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ, weil ich auf die Toilette musste. Meine Mutter dagegen konnte der vom Alkohol angefeuerten Kraft seiner Frustration und Wut nicht ausweichen.
An jenem Abend, der die Geschichte der Familie Siebenhärl einmal mehr komplett veränderte, war er zum Essen nicht nach Hause gekommen. Ich hatte mit meiner Mutter zusammen im Wohnzimmer Radio gehört und war gegen neun ins Bett gegangen, hatte ein Heft mit Englischvokabeln für den Test am nächsten Morgen genommen, um noch zu üben, und war darüber eingeschlafen.