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Das vorliegende Buch basiert einerseits auf unseren persönlichen Erfahrungen während siebzehn bzw. neunzehn Jahren Mitgliedschaft als Schwestern bei der Evangelischen Marienschwesternschaft in Darmstadt, andererseits auf unserer theologischen Magisterarbeit, die wir als Gemeinschaftsarbeit durchgeführt und in deutscher Sprache an der Universität Helsinki 1995 eingereicht haben. Die Untersuchung stellt eine gründliche Analyse der Theologie und der Frömmigkeitspraxis der Marienschwestern dar. Das Ziel dieses für das breitere Publikum geschriebenen Buches ist es, Hilfestellung zu bieten zum eigenen Urteil über die Marienschwesternschaft, die viele Freunde innerhalb und außerhalb Deutschlands hat und auch Jugendliche aufnimmt. Das Buch schildert, wie wir in die Gemeinschaft der Marienschwestern kamen, was wir dort erlebten und z.T. erlitten, und was zur inneren Loslösung und zum Austritt aus der Schwesternschaft geführt hat. Unsere jeweiligen Beiträge werden am Anfang der Kapitel mit (RL) für Riitta Lemmetyinen und (MJ) für Marianne Jansson gekennzeichnet. Außer uns haben sich zwei weitere ehemalige Mitglieder des Ordens mit je einem Kapitel am Buch beteiligt: Jeannie Dobney (JD), die frühere Marienschwester Parma aus Australien, die 1990 nach vierzehn Jahren Mitgliedschaft ausgetreten ist, schreibt über den "Gehorsam". Peter Andersen (PA) aus Canada gibt einen Bericht über die "Joseph-Aktionen". Er gehörte als Bruder Masseo zu der der Schwesternschaft angegliederten "Kanaan-Franziskus-Bruderschaft" und verließ den Orden 1984 nach siebzehn Jahren Mitgliedschaft. Hineinverwoben in die persönliche Beschreibung sind die grundlegenden Lehren der Marienschwestern, besonders der Gründerin M. Basilea Schlink. Dabei ist zu betonen, daß zwischen den veröffentlichten Publikationen von Mutter Basilea und einer großen Zahl von mündlichen Vorträgen, die hinterher von Tonbändern abgeschrieben worden sind, unterschieden werden muß. Die mündlichen Ansprachen beinhalten die Verkündigung der Oberin an die Marienschwestern. Alle Angehörigen der Kommunität, auch diejenigen, die außerhalb Darmstadts tätig sind, erhalten regelmäßig diese Tonbandnachschriften zu ihrer Belehrung. Sie dürfen von den Mitgliedern der Schwesternschaft nicht weitergegeben werden, sondern werden mit dem Begriff "Klausur" bezeichnet und stellen eine Art Geheim-lehre dar. Sowohl der wissenschaftlichen Magisterarbeit als auch dem hier vorliegenden allgemein-verständlichen Buch liegen im wesentlichen diese Sonderlehren zugrunde. Die hier zitierten Quellen sind neben anderen Texten auch in der Magisterarbeit dokumentiert. Zitate aus den Nachschriften werden mit dem jeweiligen Datum der Ansprache versehen. Nur wer diese interne Lehrverkündigung kennt, kann sich ein wirkliches Bild von den Anschauungen und Praktiken der Marienschwesternschaft machen. Für alle Leser, die sich eingehend mit der Marienschwesternschaft beschäftigen möchten, weisen wir deshalb auf unsere wissen-schaftliche Studie unter dem Titel "Christliche Existenz zwischen Evangelium und Gesetzlichkeit. Darstellung und Beurteilung von Lehre und Leben der 'Evangelischen Marienschwesternschaft' in Darmstadt." hin. Sie ist im "Peter Lang Verlag", Frankfurt, erschienen.
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Marianne Jansson und Riitta Lemmetyinen
Wenn Mauern fallen
Zwei Marienschwestern entdecken die Freiheit des Evangeliums
Buchcover: Endrik Silva
Layout: Kelly de Britto Pilarski
Copyright © 1997 Marianne Jansson und Riitta Lemmetyinen
1. elektronische Ausgabe in deutscher Sprache © 2022 Editora Evangélica Esperança.
ISBN 978-65-87285-89-4
Elektronische Ausgabe, übersetzt ins Portugiesische, Spanische, Englische, Finnische, Schwedische, Norwegische und Dänische.
Bibelzitate von Luther-Bibel 1912.
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.
Editora Evangélica Esperança
Rua Aviador Vicente Wolski, 353
CEP 82510-420 – Curitiba – PR. BRAZIL
Fone: +55 (41) 3022-3390
www.editoraesperanca.com.br
INHALT
VORWORT
ZURÜCK IN DIE WELT (RL)WIE ALLES BEGANN (RL)DIE LICHTGEMEINSCHAFT (MJ)DIE WURZELN DER LICHTGEMEINSCHAFT (MJ)ZEITEN DES GERICHTS (MJ)STRAFE (MJ)DIE MYSTISCHE LIEBE (RL)ASKESE (RL)NÄCHSTENLIEBE (RL)EIN SCHWERWIEGENDER BRIEF (RL)EIN GEBURTSTAG (RL)LEIDET GOTT HEUTE? (RL)NIMM DEIN KREUZ AUF DICH (RL)PFINGSTEN (RL)DIE GNADENGABEN (RL)JESU WEG - UNSER WEG (RL)DER SCHOCK (RL)BLANKO-VOLLMACHT (RL)DER GEHORSAM (JD)AUSBILDUNG DER ELITE-TRUPPE (RL)ZUKUNFTSVISIONEN (MJ)“JOSEPH-AKTIONEN” (PA)DAS IDEAL DES OPFERNS (MJ)NACH NORWEGEN (RL)DIENSTE IN FINNLAND (RL)EINE NEUE NIEDERLASSUNG (RL)DER GALATERBRIEFKOMMENTAR (RL)AUF DEM WEG HERAUS (RL)UNSERE LIEBE MUTTER... DIE REISE NACH DARMSTADT WIEDER ZIVIL (RL)NACHWEHEN (RL)STUDIUM (RL)DIE EHEMALIGEN FINDEN SICH (RL)WARUM UND WOZU DAS ALLES? (RL)VORWORT
Das vorliegende Buch basiert einerseits auf unseren persönlichen Erfahrungen während siebzehn bzw. neunzehn Jahren Mitgliedschaft als Schwestern bei der Evangelischen Marienschwesternschaft in Darmstadt, andererseits auf unserer theologischen Magisterarbeit, die wir als Gemeinschaftsarbeit durchgeführt und in deutscher Sprache an der Universität Helsinki 1995 eingereicht haben. Die Untersuchung stellt eine gründliche Analyse der Theologie und der Frömmigkeitspraxis der Marienschwestern dar.
Das Ziel dieses für das breitere Publikum geschriebenen Buches ist es, Hilfestellung zu bieten zum eigenen Urteil über die Marienschwesternschaft, die viele Freunde innerhalb und außerhalb Deutschlands hat und auch Jugendliche aufnimmt.
Das Buch schildert, wie wir in die Gemeinschaft der Marienschwestern kamen, was wir dort erlebten und z.T. erlitten, und was zur inneren Loslösung und zum Austritt aus der Schwesternschaft geführt hat. Unsere jeweiligen Beiträge werden am Anfang der Kapitel mit (RL) für Riitta Lemmetyinen und (MJ) für Marianne Jansson gekennzeichnet. Außer uns haben sich zwei weitere ehemalige Mitglieder des Ordens mit je einem Kapitel am Buch beteiligt: Jeannie Dobney (JD), die frühere Marienschwester Parma aus Australien, die 1990 nach vierzehn Jahren Mitgliedschaft ausgetreten ist, schreibt über den “Gehorsam”. Peter Andersen (PA) aus Canada gibt einen Bericht über die “Joseph-Aktionen”. Er gehörte als Bruder Masseo zu der der Schwesternschaft angegliederten “Kanaan-Franziskus-Bruderschaft” und verließ den Orden 1984 nach siebzehn Jahren Mitgliedschaft.
Hineinverwoben in die persönliche Beschreibung sind die grundlegenden Lehren der Marienschwestern, besonders der Gründerin M. Basilea Schlink. Dabei ist zu betonen, daß zwischen den veröffentlichten Publikationen von Mutter Basilea und einer großen Zahl von mündlichen Vorträgen, die hinterher von Tonbändern abgeschrieben worden sind, unterschieden werden muß. Die mündlichen Ansprachen beinhalten die Verkündigung der Oberin an die Marienschwestern. Alle Angehörigen der Kommunität, auch diejenigen, die außerhalb Darmstadts tätig sind, erhalten regelmäßig diese Tonbandnachschriften zu ihrer Belehrung. Sie dürfen von den Mitgliedern der Schwesternschaft nicht weitergegeben werden, sondern werden mit dem Begriff “Klausur” bezeichnet und stellen eine Art Geheim-lehre dar.
Sowohl der wissenschaftlichen Magisterarbeit als auch dem hier vorliegenden allgemein-verständlichen Buch liegen im wesentlichen diese Sonderlehren zugrunde. Die hier zitierten Quellen sind neben anderen Texten auch in der Magisterarbeit dokumentiert. Zitate aus den Nachschriften werden mit dem jeweiligen Datum der Ansprache versehen. Nur wer diese interne Lehrverkündigung kennt, kann sich ein wirkliches Bild von den Anschauungen und Praktiken der Marienschwesternschaft machen. Für alle Leser, die sich eingehend mit der Marienschwesternschaft beschäftigen möchten, weisen wir deshalb auf unsere wissen-schaftliche Studie unter dem Titel “Christliche Existenz zwischen Evangelium und Gesetzlichkeit. Darstellung und Beurteilung von Lehre und Leben der ‘Evangelischen Marienschwesternschaft’ in Darmstadt.” hin. Sie ist im “Peter Lang Verlag”, Frankfurt, erschienen.
Möglicherweise bedarf die Verwendung von unveröffentlichten Nachschriften von Versammlungen der Schwesternschaft einer Begründung. Wie die Nachschriften allgemein, so erheben auch die Berichte über Mutter Basileas Gotteserlebnisse und die charismatischen Botschaften des Ordens den Anspruch, Heilslehre zu sein und das Denken der Schwestern zu formen. Daher handelt es sich hierbei nicht um private Erfahrungen, die sich einer Analyse und Beurteilung entziehen könnten. Nachdem das Evangelium die umfassende Offenbarung Gottes an alle Welt zum Inhalt hat, dürfte es außer Frage stehen, daß die Lehre einer evangelischen Institution dem Öffentlichkeitscharakter des Evangeliums zu entsprechen hat.
Nach langjähriger Erfahrung und Beschäftigung mit der sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß Lehre und Praxis dieses Ordens einen unbiblischen Rückfall in die Zeit des vorreformatorischen Katholizismus darstellen. Die befreiende Botschaft des Evangeliums, wie sie in der Reformation Martin Luthers neu entdeckt wurde, wird in erschreckender Weise verdunkelt. Hinzu kommen unbiblische und schwärmerische Prophetien und Ansichten über die Endzeit und die damit verbundene Rolle der Marienschwestern, die leider zu unnüchternen Verhaltensweisen in der Schwesternschaft führen. Aus diesem Grund laden wir alle Leserinnen und Leser ein, sich anhand der hier vorgelegten Dokumente und Quellen und anhand der Heiligen Schrift ein eigenes Urteil zu bilden.
Neben der Auseinandersetzung mit Lehre und Leben der Marienschwesternschaft geht es uns aber vor allem darum zu zeigen, was ein Leben aus der Gnade und dem Evangelium bedeutet. Daß die frohe Botschaft von Jesus Christus dadurch zum Leuchten kommt, nicht zuletzt für viele Betroffene und in ihrem Gewissen Verletzte, ist unsere Hoffnung und unser Gebet, das wir mit der Herausgabe dieses Buches verbinden.
Marianne Jansson
Riitta Lemmetyinen
1
ZURÜCK IN DIE WELT (RL)
Langsam öffnet sich das schwarze Tor. Es bewegt sich elektrisch. Eine Marienschwester steht hinter den Jalousien im Pfortenzimmer und drückt auf den Knopf. Plötzlich ist der Weg frei zur Straße. Jetzt müssen wir durchfahren.
Hinter dem Tor halten wir einen Augenblick. Unzählige Male sind wir durch dieses Tor ein- und ausgegangen. Bei einem Abschied zu einem auswärtigen Dienst standen immer Schwestern da, die den Abreisenden noch ein letztes Wort oder ein Winken mit auf den Weg gegeben haben. Jetzt starrt das Gelände uns in der Märzkälte einsam an. Niemand winkt zum Abschied.
Gestern gab es ein langes Gespräch mit Mutter Basilea, der Oberin der Evangelischen Marienschwesternschaft. Wir hatten ihr in einem Brief zum Ausdruck gebracht, daß wir durch ihre Verkündigung an uns Schwestern in große innere Nöte gekommen sind. Wir hatten den Eindruck bekommen, daß sie den Inhalt des Evangeliums von der Gnade Gottes und der Vergebung der Sünden verkennt. Ob sie uns in unserem Anliegen verstehen könne?
Das Tor hinter uns fällt hörbar in sein Schloß zurück. Jetzt ist es zu. Auch unser Anliegen prallte auf ein zugeriegeltes Schloß. Siebzehn und neunzehn Jahre als Marienschwestern sind mit dem gerade geschlossenen Tor zu Ende.
Ob wir wollen oder nicht, wir müssen auf das Gaspedal drücken. Die Heidelberger Land-straße ist still. Es ist früh am Morgen und nur Einzelne haben sich bereits in diesen Tag hinein auf den Weg gemacht. Wir lassen Darmstadt hinter uns liegen. Was jetzt? Fragen, schwer wie die Sattelschlepper auf der Autobahn, schwirren im Kopf. Sie können nicht überholt werden. Sie begleiten uns auch nach unserer Rückkehr nach Finnland auf Schritt und Tritt.
2
WIE ALLES BEGANN (RL)
In den Zimmern entlang des Flurs schlafen noch alle. Langsame Schritte und ein leises Flüstern sind zu hören, bis auf einmal jemand singt: “Ich rufe und singe, durch Lüfte es klinge: Gott Vater ist Liebe, ist Liebe, ist Lieb...” Wo bin ich aufgewacht? Das dicke Federbett schaut mich an - kein typisch finnisches Bett. Ein auf eine Banderole geschriebenes Bibelwort befindet sich über dem Bett an der Wand. Ein schöner Blumenstrauß steht auf dem Tisch unter dem Fenster.
Meine Augen schweifen durch das kleine Kellerzimmer. Der Nachttisch ist nett, zierlich, weißgestrichen. Ein komischer Stuhl steht in der Ecke. Wie sitzt man darauf? Er hat nur eine schmale mit Leder gepolsterte Kante. Unbequem zum Sitzen, wenn nicht - ja, das wird es sein: der Stuhl ist zum Knieen gedacht. Das Bett ist aus Eisen. Beim Aussteigen muß ich einen Sprung machen, so hoch liege ich. Das Bett kommt gewiß aus einem Krankenhaus. So würde ich nie ein Zimmer einrichten, aber hier lebt man ja anders, mit geschenkten Sachen von Leuten, so dämmert es mir in meiner Erinnerung. Meine Gedanken sind plötzlich hellwach. Ich bin in Deutschland bei den Marienschwestern. Der gestrige Flug von Helsinki nach Frankfurt hat mich in eine neue Welt versetzt. Und das eben gesungene Lied? Das müssen die Schwestern gewesen sein.
Die kurze Morgenmusik hat die gewünschte Wirkung. Der Kellerflur ist plötzlich lebendig. Türen werden auf- und zugemacht. Wasserhähne laufen. Einige Mädchen sprechen eifrig englisch im Zimmer nebenan. Aus einem anderen höre ich norwegisch. Was hat die eine Marienschwester gestern gesagt? Nach dem Aufstehen bis zum Frühstück sollte Stille im Haus herrschen. Währenddessen könnte jeder seine Bibel lesen. Aber wer ist an so etwas gewöhnt? Mit Anstrengung gelingt es mir, ein paar Bibelverse zu lesen. Die Konzentration fällt schwer, die Gedanken sind nicht zu bändigen.
In den Weihnachtsferien hatte ich das Buch “Realitäten - Gottes Wirken heute erlebt” über die Schwestern und ihr Land “Kanaan” in Darmstadt auf finnisch gelesen. Dann kam meinen Eltern die Idee, daß diese Umgebung in Deutschland geeignet wäre, um deutsch zu lernen. Beim Abschied waren sie zuversichtlich, mich an einen behüteten Ort in der großen Welt zu schicken, trotz meines jugendlichen Alters von vierzehn Jahren. Das Buch hatte sie sehr beeindruckt. Jetzt bin ich also an Ort und Stelle. Meine Eltern haben gesagt, daß ich abreisen dürfte, wenn ich mich hier nicht wohlfühlte. Ein beruhigendes Wissen im Hinterkopf.
An der Tür klopft es. “Es ist Zeit, zur Laudes zu gehen”, sagt jemand in finnisch, “ich zeige dir den Weg.” Wie erleichternd, ich bin nicht die Einzige aus Finnland.
Laudes, was ist das bloß? Wohin gehen wir? Helena nimmt mich sachkundig mit. Wir steigen aus dem Keller hinauf ins Freie. Schön ist es um uns herum. Wohlgepflegte Blumenbeete, Büsche, Bäume. Das Gelände ist wie ein einziger Garten. Was für eine Tür ist das? Wir kommen unterwegs zur Laudes an einer schwarzen Eisentür vorbei.
“Die Tür zum Leidensgarten”, erklärt Helena. “Wenn du hineingehst, siehst du die Leidens-geschichte Jesu in Reliefs dargestellt. Da drin darfst du nicht sprechen.”
Wir überqueren eine Brücke und kommen zu einem kleinen See. Kann man da wohl hineintauchen, wenn es heiß wird?
“Das geht nicht!” Helena ist entsetzt. “Der See heißt ‘Genezareth’ und soll an die Bibel er-innern. Das kleine Bächlein heißt ‘Jordan’. Da ist der ‘Jakobsbrunnen’. Der Brunnen mit den Wasserhähnen dort heißt ‘Vaterbrunnen’. Aus den Hähnen darf man trinken, wenn man Durst hat.”
“Dort ist die Kirche. Da gehen wir nicht hin, das ist die ‘Jesu-Ruf-Kapelle’, darin werden Gottesdienste gefeiert und Kirchenspiele vorgeführt. Die Laudes findet in der Mutterhauskapelle statt.”
Aus einer Tür kommen Leute heraus.
“Das ist das Gästehaus ‘Jesu Freude’, dort halten die Schwestern für Gäste eine Rüstzeit.”
Eine Rüstzeit? Ich frage Helena nicht mehr, es ist alles neu und fremd, ich könnte überall eine Erklärung brauchen.
Unser Weg geht an einer Mauer entlang. Dahinter wohnen die Schwestern. Ich versuche darüber zu schauen. Vergeblich. Die Mauer ist zu hoch für meine Größe.
Nach einem etwa zehnminütigen Spaziergang sind wir am Ziel. Die Mutterhauskapelle steht vor uns. Darüber hatte ich in den Weihnachtsferien gelesen. Die Schwestern haben sie eigenhändig gebaut. Unglaubliche Geschichten hatten sie dabei erlebt. Die Maschinen blieben stehen, wenn Schwestern miteinander verkracht waren. Ähnlich ging es mit dem Wetter. Der das Bauen störende Regen hörte auf, wenn sie sich versöhnten. Ein anderes Mal fehlten nötige Steine. Da saß einer Marienschwester gegenüber in der Straßenbahn ein unbekannter Herr, der am Bauprojekt Interesse zeigte. Er war Architekt und bekam ein paar Tage danach die Idee, in der Stadtverwaltung von Darmstadt vorzuschlagen, daß die Marien-schwestern die Steine von den bald abzureissenden Kasernen haben könnten. Seine Idee wurde angenommen. Es gab für den Bau schließlich eine Fülle von Steinen, von denen Körbe, wie bei der Brotvermehrung, übrigblieben.
Wir gehen in die Kapelle hinein. Es ist dämmrig darin. Die Glasfenster mit Malereien lassen das Tageslicht kaum durch. Vorne im Chorraum steht ein großes Kruzifix. Helena und ich nehmen Platz im rechten Schiff der Kirche. Alle Mädchen scheinen rechts zu sitzen. Im linken Block sitzen die Jungen. Das wird hier streng eingehalten.
“Herr, öffne meine Lippen, daß mein Mund Dein Lob verkünde...” Ich höre den Gesang hinter meinen Rücken. Schade, die Schwestern sitzen alle auf den hintersten Bänken. Mit meiner Neugier muß ich mich gedulden. Nachdem die Vorsängerin gesungen hat, singt die Gemeinde im Wechsel mit ihr. Nur ich bin durcheinander und blättere verlegen in dem schwarzen Buch, das ich beim Eingang in die Hand bekommen hatte. “Offizium” steht auf dem Titelblatt. Es finden sich Psalmen darin, so viel deutschverstehe ich.
“Es segne uns Gott der Allmächtige und Barmherzige, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.” Die Laudes ist zu Ende. Die Gemeinde ist aufgestanden. Nach einer halben Stunde sind wir wieder draußen.
Unterwegs zurück zu unserem Wohnhaus erklärt man mir, daß ich an einem Stundengebet teilgenommen habe. Die Schwestern halten drei bis vier solcher Gebete den Tag über. Was Offizium heißt, wußte Helena nicht. Es sei eine Art Gebetbuch aus der katholischen Kirche.
Nach dem Gebet gibt es Frühstück. Bei Tisch geht es lebhaft zu. Junge Mädchen aus verschiedenen Ländern wollen wie ich bei den Marienschwestern einen Teil ihrer Sommerferien verbringen, deutsch lernen, am praktischen und geistlichen Leben teilnehmen oder einfach nur im Ausland sein.
“Riitta!” Jemand ruft mich und hebt eine Serviettentasche aus Plastik hoch, “hier steht dein Name.”
An meiner Zimmertür war mein Name geschrieben und auch auf dem Bett fand ich mein Namensschild. Man hat mich hier wirklich erwartet. Plötzlich lachen alle links und rechts von mir. Was ist passiert? Ich verstehe die Heiterkeit nicht. Ich hatte erst drei Jahre deutsch in der Schule. Mir gefällt die Gemeinschaft trotzdem.
Der erste Tag in dieser Umgebung ist ein Sonntag, ich nehme zum anschließenden Gottes-dienst meine finnische Bibel mit. Den Predigttext werde ich zumindest verstehen. Diesmal sind wir in der großen Kirche. Während des Glockengeläuts kommen Schwestern in die Kapelle. So viele! Sie setzen sich in die Bänke vor mir, die Sitzordnung ist jetzt eine andere. Während des Gangs zum Abendmahl wird mein Erstaunen noch größer. Ich kann die Gesichter betrachen, wenn die Schwestern zurückkommen. Das sind ja keine alten Omas! Jung sehen sie aus, viele sind wirklich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Das hätte ich nicht gedacht.
In meinem Religionsbuch gab es Bilder von Nonnen; sie trugen ein schwarzes langes Kleid und eine seltsame Kopfbedeckung; man sah nur Augen, Nase und den Mund vollständig. Die Tracht hier ist anders. Ein helles Kleid, lang und schön, dazu eine Art Diakonissenhaube, die das Gesicht kaum, und schwarze Schuhe.
Nach dem Gottesdienst sammeln wir uns draußen. Eine Schwester erklärt den Verlauf des restlichen Tages. Am Nachmitag gibt es ein “Ruferspiel”, das Verkündigungsspiel “Ruf um die Mitternacht”. Es handelt sich um das Gleichnis von den zehn Jungfrauen. Es wird von Schwestern gespielt. Wir sollen rechtzeitig auf den Plätzen sein, denn es werden über tausend Menschen erwartet.
Nach einigen Stunden ist tatsächlich das Gelände in einen Besucherstrom verwandelt. Auf dem Parkplatz gibt es keine Lücke mehr. Die Jesu-Ruf-Kapelle ist überfüllt. Die Schwestern versuchen mit großen Plakaten die Leute darauf aufmerksam zu machen, daß vor dem Spiel Stille herrschen soll. Vergeblich. Die Orgel beginnt im Hintergrund leise zu spielen: “Wachet auf, ruft uns die Stimme...” Die versammelte Gemeinde stimmt in das angekündigte Lied ein: “Mitternacht heißt diese Stunde; sie rufen uns mit hellem Munde: wo seid ihr klugen Jung-frauen?...”
Auf einmal ist es still. Erwartungsvoll schaut die Gemeinde auf die vielen Stufen im Chor-raum, wo das Spiel gleich stattfinden soll. Jemand geht auf das kleine Rednerpult zu. Eine kleine, ältere Gestalt. Das kann nur die Oberin, Mutter Basilea sein. Ich kenne ihr Bild von der Rückseite des “Realitäten”-Buches. Eine Schwester reicht ihr ein Glas Wasser. Dann fängt die Oberin mit zarter Stimme an zu sprechen.
“Die Hochzeit ist einer Liebesvereinigung gleich, die einmal das letzte Ziel der Wege ist, die Gott uns führt. Von diesem Glück blieben die törichten Jungfrauen ausgeschlossen.” Helena übersetzt mir leise ins Ohr.
“Sie waren sorglos mit dem Öl, mit der ersten Liebe zu Jesus, umgegangen.” Die zarte Stimme apelliert an die versammelte Gemeinde, eine Rangverschiebung vorzunehmen. Um eine kluge Jungfrau zu sein, muß das Erste, Beste und Letzte im Leben Jesus gehören.
Die Lichter gehen aus. Das Spiel beginnt. Szenen laufen an unseren Augen vorbei. Da ist die Freude der Klugen, genügend Öl in der Lampe zu besitzen, als der plötzliche Ruf des Bräutigams sie aus dem Schlaf erweckt. Dann aber die verzweifelten Hilferufe derer, bei denen das Öl zur Neige gegangen ist. Sie gehen einem durch und durch. Die Törichten handeln blitzschnell. Sie stehen auf einmal rüttelnd an der bereits verschlossenen Tür.
“Herr, mach uns auf, laß uns noch ein zur Hochzeit.”
Das Publikum hält den Atem an.
“Kennst Du uns wirklich nicht, Herr?”
Keine Antwort, keine Reaktion, nicht einmal mehr ein Nein. Die Verzweifelten verschwinden ins Dunkel der Mitternacht. Es war zu spät.
Die Lichter werden angemacht. Erleichtert atme ich auf. Es war zum Glück nur ein Spiel. Die zehn Jungfrauen gehen einem aber nach diesem Nachmittag nicht mehr so schnell aus dem Sinn. Das war wohl auch so gedacht. Die biblische Botschaft, aufgeführt in dieser modernen Art, hat ihren Zweck erfüllt.
Am Abend liege ich lange wach im Bett. Unzählige Eindrücke laufen noch einmal wie ein Film an mir vorbei. Die jungen Gesichter unter den weißen Hauben, das schöne Gelände mit Gärten, Kirchen und anderen Bauten. Das schwarze Offizium. Die vielen Omnibusse, die Menschen und das Gedränge. Die Jungfrauen, das erschreckende Ende für die fünf, Mutter Basilea und die Liebe zu Jesus.
Für die Werktage teilen Schwestern uns für verschiedene Arbeitsgebiete ein. Es werden auf dem Gelände Fensterrahmen gestrichen, im Garten Unkraut gejätet, Blumen gegossen und Kirschen gepflückt, in der Küche Kartoffeln geschält, im Versandraum des Verlages ver-schiedene Blätter ineinander gelegt. Ob man durch diese Aufgaben auf die andere Seite der Mauer kommt?
“Das Mutterhaus ist ‘Klausur’, erklärt uns eine Schwester.
“Klausur” - das Wort gab es in meinem Deutsch-Unterricht nicht. Ich schlage im Wörter-buch nach. “Klausur” heißt das Sich-Abschließen der Mönche und Nonnen in ein für Aussen-stehende geschlossenes Gebiet. Dürfen dann die Eltern der Schwestern auch nicht in die Klausur? Das muß ihnen doch schwerfallen!
Ich werde in die Küche des Gästehauses eingeteilt. Bevor ich mich auf den Weg mache, gehe ich zum Kleiderschrank und ziehe meine Jeans an. Am Sonntag waren sie natürlich nicht passend, aber bei der Arbeit finde ich sie sehr praktisch. Ohne Jeans bin ich nicht richtig ich selbst. Gerade gehe ich aus der Haustür, da kommt mir eine Schwester entgegen. Die Jeans. Hier auf Kanaan gehören sie in den Koffer. Dafür bekomme ich Röcke, die ich bei der Arbeit anziehen kann. Ich schaue mich in so einem Rock vor dem Spiegel an. Er geht bis übers Knie, der Schnitt ist weit und unmodern. Ein Glück, daß niemand aus meiner Klasse mich hier sieht.
An der Küchentür begrüßt mich eine nette Schwester. Bohnen und Bananen sind heute zu verarbeiten. So viele Kisten mit Bananen - sie sind nicht mehr ganz frisch, aber noch gut zu gebrauchen. “Die sind als eine Gebetserhörung geschenkt worden.” Die Küchenschwester freut sich offensichtlich. “Die Marktfrau hat gestern abend alles gebracht.”
Beim Schälen denke ich an das Buch “Realitäten”. Ich erinnere mich nicht, etwas über Bananen gelesen zu haben, aber über Würste, die die Schwestern als Gebetserhörung bekamen, über Bohnen, echten dänischen Käse und darüber, wie durch Gebet eine Menge Futterrüben für die Kuh gespendet wurden. Das stimmt also mit den Gebetserhörungen.
Plötzlich fängt die Schwester an zu singen. Wofür übt sie? Nein, das sei keine Übung, sie würde beten.
“Gesungen ist dreimal gebetet; und wir Schwestern nutzen die Arbeitszeit auch zum Beten.”
Unbekannte Melodien erfüllen die Küche. Nur eine kommt mir etwas bekannt vor, die, mit der ich am Sonntag geweckt wurde.
Wofür betet sie? Die Schürze voll von Bohnen, mit etwas trauriger Stimme, erklärt sie mir, daß es um die Ernte schlecht steht. Es hat lange nicht geregnet.
“Das heißt jetzt für uns, daß wir Buße tun und viel beten.”
Eine ähnliche Geschichte gab es ja in dem Buch. Da hat es nur zu viel geregnet. Die Schwestern fühlten sich schuldig für den Regen und taten Buße. Dann hörte er auf. Sind die Schwestern jetzt schuld an der Sonne? Das wagte ich nicht zu fragen.
Mittags gibt es unter den Mädchen regen Austausch. Viele neue Eindrücke in einem unge-wohnten Arbeitsmilieu werden weitergegeben..
“Ich habe mit einer Schwester Betten im Gästehaus bezogen. Sie hat es so exakt gemacht, daß nachher keine Falte auf dem Bettbezug zu sehen war. Das werde ich nie hinkriegen.” Die Amerikanerin macht ein verzweifeltes Gesicht.
“Ich habe Flure gekehrt und Waschbecken geputzt”, sagt jemand anders. “Die Becken mußte ich so lange polieren, bis aus dem Kupfer beim Abguß das Gold herausschaute. Wenn das meine Mutter wüßte, daß ausgerechnet ich so etwas hier tun muß. Sie wird sich ‘von’ schreiben, mich hierher geschickt zu haben. Aber ich schreibe ihr nichts davon.”
Wir tauschten uns über unsere Erfahrungen aus und waren vor allem skeptisch im Blick auf die Genauigkeit und Pünktlichkeit, die uns auf Schritt und Tritt begegnete. Die Schwestern betonten, daß das Äußere für sie ein ebenso wichtiges Zeugnis sei, wie das, was sie verkündigten.
Nur einzelne Schwestern hatten mit uns gearbeitet. Im Gottesdienst sah ich aber so viele. Was tun die anderen? Wozu wird man eigentlich eine Marienschwester? Mit Hilfe meines Wörterbuches versuchte ich abends in meinem Zimmer auf verschiedene Fragen eine Antwort zu finden. Auf dem Tisch standen viele Schriften. Die Verfasserin von allen war M. Basilea Schlink.
Die Schwesternschaft wurde im Jahre 1947 gegründet. Sieben junge Mädchen traten bei der Gründung ein. Jetzt ist die Zahl auf weit über hundert angewachsen. Zwei sogenannte “Mütter” sind in der Leitung. Die andere heißt Mutter Martyria. Ihr war ich noch nicht begegnet.
Nachdem die jungen Schwestern in Eigenarbeit Kapelle und Mutterhaus gebaut hatten, ent-standen auf dem Gelände noch viele weitere Bauten, die von bekannten und unbekannten Freunden finanziert worden sind. Die Schwestern tun ihren Dienst ohne Entgelt.
Einkehrtage werden den Sommer über im Gästehaus gehalten, sowie Ruferspiele und Feste, die vom Kirchenjahr geprägt sind. Es gibt auch eine Druckerei. Sie gehört offenbar zur Klausur, weil keine von uns dort zur Arbeit eingeteilt wurde. Die Schwestern drucken Schrifttum von Mutter Basilea und versenden es ins In- und Ausland. Die Verkündigung ist die Hauptaufgabe und das Gebet, lese ich in einem Buch. Kein Wunder, daß die Küchenschwester so eifrig im Singen war. Das Motto aller Aufträge ist, Gott zu verherr-lichen, was immer die Schwestern tun. Deshalb die perfekt bezogenen Betten und die glänzenden Waschbecken.
Was bewegt ein junges Mädchen dazu, eine Marienschwester zu werden? Die Oberin schreibt, daß man dafür eine Berufung bekommt.
Vor ein paar Jahren hatte meine Heimatgemeinde eine Missionarin nach Taiwan gesandt. Der Pfarrer sprach in seiner Predigt über ihre Berufung. Die Missionarin hatte die Berufung, wie Abraham in die Fremde zu ziehen, ins Unbekannte.
Dann kann man also auch eine Berufung bekommen, in eine Schwesternschaft einzutreten. Ich werde die Küchenschwester fragen, wie sie ihre Berufung bekam.
Langsam gewöhnen wir uns an die Sitten des Hauses: an den über’s Knie gehenden weiten Rock, an die Pünktlichkeit, an die festgelegte Zeit des Bibellesens, an das Singen bei der Arbeit und sogar an das schwarze Offizium.
Neben dem sogenannten “Jugendkonvent”, der aus uns Mädchen bestand, die wir entweder Schülerinnen oder Studentinnen waren, gab es regen Gästebetrieb. Es gab Tagesbesucher, die in ein paar Stunden das Gelände kennenlernen wollten, und Gäste, die an einer zehntägigen Rüstzeit teilnahmen. Ich erlebte die Gäste zunächst nur in Bezug auf die Menge von Bananen, Bohnen oder Kartoffeln, bis nach einigen Tagen eine Schwester uns sagte, der Jugendkonvent dürfe an den Vor- und Nachmittagen am Gästeprogramm teilnehmen.
Im Versammlungssaal standen Korbstühle in Reihen und ein großer Blumenstrauß neben dem Rednerpult. Viele erwartungsvolle Gesichter. Es sollte gleich eine Bibelstunde beginnen, die Mutter Basilea halten würde.
Jetzt erlebe ich die Oberin nocheinmal und diesmal näher. Mit einem strahlendem Lächeln begrüßt sie alle Gäste. Eine Schwester flüstert ihr vor Beginn noch etwas ins Ohr. Ihr wird zugenickt und sie legt einen warmen Schal um Mutter Basileas Schultern.
Die Gedanken streifen noch dies und das, bis ich mir einen Schubs geben muß: jetzt konzentriere dich! Worum geht es in der Bibelarbeit? Erneut um die Liebe zu Jesus. Wie nennt sie die Liebe? Eine bräutliche Liebe. Das Wort ist mir neu. Es geht um eine Liebe zu Jesus, die um seinetwillen alles hergibt. Schattenhaft findet man etwas davon in einer menschlichen Beziehung zwischen Braut und Bräutigam.
Durch eine solche Hingabe wird man tief mit Jesus verbunden. Man bekommt diese Liebe, wenn man zu Opfern bereit ist und seine Sünden von Herzen bereut. Die eigentliche Berufung einer Marienschwester liegt in der bräutlichen Liebe. Auch die Gäste werden aufgerufen, sich nach dieser Liebe zu Jesus auszustrecken.
Die Oberin spricht überzeugend. Sie erzählt eigene Erfahrungen, die sie mit der Liebe zu Jesus gemacht hat. Sünde bereuen - das hat sie viel in ihrem Leben tun müssen.
Ich bezweifle, ob mir eine solche Liebe möglich ist. Mit sechzig Jahren hat man sicher viel Grund zur Buße, aber ich bin erst vierzehn.
Am Nachmittag leiten zwei Schwestern die Zusammenkunft, im der die Bibelarbeit vertieft werden soll. Die Stühle stehen im Kreis, mitten auf dem Fußboden steht ein Strauß und um ihn herum in Gefäßen viele kleine Fahnen, die bei offenen Türen wehen. Was soll das bedeuten? Es werden Schalen herumgereicht mit Liedblättern zum Singen und dazu noch ein Blatt, worauf ein großes Haus gezeichnet ist.
Die Gäste holen sich je eine Fahne. Sie scheinen das zu kennen. Sie heben sie hoch und singen lebhaft dabei.
“Das nennt man ‘Glaubenskampf’”, erklären die Schwestern. Wir kämpfen dabei gegen die Feinde, die unser Herzenshaus in Besitz halten.
Die abgebildeten Figuren auf dem Blatt sehen unsympatisch aus. Sie illustrieren verschiedene Sünden. Die Figuren links und rechts neben der Haustür sind die “Kardinalsünden”, die uns am meisten bedrängen. Jeder hat seine eigenen, für ihn typischen, z.B. den Egoismus, den Hochmut, die Habsucht, die Herrschsucht usw. Wenn man gegen seine inneren Feinde treu - täglich eine Viertelsunde - im Glauben mit Beten und Singen angeht, müssen sie aus dem Haus heraus. Es kann zwar lange dauern, aber es ist möglich, denn die Feinde seien nur “auf Miete”.
Die Schwestern kommen zurück auf die Bibelarbeit.
“Diese Feinde, also die Sünde, bilden eine Barrikade gegen die bräutliche Liebe. Darum ist es lebensnotwendig, daß wir sie ‘herauskämpfen’. In dem Maß, wie wir mit unserer Sünde ernst machen, sie bereuen und bekämpfen, werden wir zur Liebe entzündet.”
“Diese Fahnen? Sie veranschaulichen einen Bibelvers, in dem David bezeugt, im Namen Gottes Fahnen geschwungen und Siege errungen zu haben. ‘...Im Namen unsres Gottes erheben wir das Banner. Der Herr gewähre dir alle deine Bitten!’ (Ps. 20, 6).”
Nach der Zusammenkunft bekommt jeder eine Fahne mit ins Zimmer und ein kleines Heft, auf dem “Beichtordnung und Gewissensspiegel” steht. Die Schwestern haben den Gästen nahegelegt, während der Rüstzeit die Gelegenheit zu einer Aussprache zu nutzen. Manche Barrikade würde schon dadurch fallen. Wer ein Gespräch wünscht, kann einen ausgefüllten Zettel in den Briefkasten im ersten Stock des Gästehauses werfen.
Ich lege das Heft in die Schublade, es ist nichts für mich. Die Fahne kann ich eher aus-probieren. In einer stillen Stunde siegt die Neugier: was steht eigentlich in dem Heft? ES sind die zehn Gebote und Fragen dazu. Beim Lesen wird es mir heiß; trotz meiner vierzehn Jahre habe ich doch schon manches im Leben verbrochen. Und beichten? Das ist erst recht eine hohe Barrikade. Wie kann ich sie überwinden? Gebeichtet habe ich noch nie.
Eines Tages stehe ich vor dem Briefkasten. Wenn mich da doch keiner sehen würde. Ich werfe einen von Schweiß etwas naßgewordenen Zettel hinein. Nach der Aussprache mit einer Schwester fühle ich mich wie befreit. Das hätte ich nicht gedacht - ich könnte springen wie ein Fohlen.
An einem warmen Sommerabend hatte sich ein kleiner Gästekreis, darunter auch ein paar Finnen, draußen in der Pergola versammelt. Außer der Komplet, dem abendlichen Stunden-gebet, gab es kein Programm. Die Gästeschwestern hatten erklärt, an diesem Abend hätten alle Schwestern ihr eigenes gemeinsames Programm: eine “Lichtgemeinschaft”. Eine solche Veranstaltung gab es im Gästeprogramm nicht. Was werden sie da machen? Das wußte niemand so genau, aber es gab anderes zu diskutieren.
Manche vom Kreis waren beeindruckt von der Verkündigung, die sie während der Tage gehört hatten.
“Selten hebt jemand so stark die Liebe zu Gott hervor wie Mutter Basilea es tut.”
Die Atmosphäre und die große Freundlichkeit, das bezeugen alle, ist hier so wohltuend.
Jemand betont, wie er vom Anliegen der Marienschwestern, in der Versöhnung zu leben, angetan sei. Viele Christen lebten im Streit und Uneinigkeit miteinander. Hier ist die Liebeseinheit wichtig. Nicht einmal Menschen, die einem wie Feinde vorkommen, dürfen da ausgeschlossen werden. Die Schwestern leben - trotz ihrer großen Zahl - selbst versöhnt miteinander. Er meint etwas darüber gehört zu haben, daß es darum auch in der Lichtgemein-schaft ginge. Dort würden sie sich gegenseitig um Verzeihung bitten, wenn Anlaß dafür sei.
Die Finnen bleiben noch eine Weile beieinander, die anderen gehen.
“Das habe ich aber nicht verstanden”, sagt einer, “wie es möglich ist, daß ich durch einen Glaubenskampf von meiner Sünde befreit werden kann. Jeden Tag eine Viertelstunde gegen meinen Hochmut kämpfen oder meinen Egoismus, und dann komme ich langsam los davon?
Die Schwestern bezeugen es von sich, daß es so sei. Aber geht das wirklich? Oder bin ich eine härtere Sorte?” Zweifel liegt auf seinem Gesicht.
Unter den Rüstzeitgästen gab es während des Sommers auch Schwestern aus anderen Mut-terhäusern, mit blauen Trachten, grauen, schwarzen, für mich aus dem lutherischen Norden, wo nicht einmal mehr die Diakonissen eine Tracht tragen, ein neues Erlebnis. Alle haben also eine Berufung dazu, überlegte ich. Wie zur Mission, so gibt es tatsächlich Berufungen zu einer Schwesternschaft. So unterschiedlich sind diese Berufungen gar nicht. Bei beiden muß man auf jeden Fall viel hergeben und opfern. Die Missionarin, die meine Heimatgemeinde nach Taiwan aussandte, mußte ihre Heimat hergeben, Eltern und Geschwister, Sprache, Kultur und vieles mehr, was ihr sicher lieb und vertraut war. Ähnlich muß es bei derjenigen sein, die in eine Schwesternschaft eintritt. Das muß einer jungen Frau sicher sehr schwer fallen.
Ich beobachtete nun während meines Aufenthalts die Gesichter der mir begegnenden Marienschwestern. Verriet nichts in ihnen, daß der Preis dafür zu hoch war? Auf dem Acker, in der Waschküche oder beim Spülen kam ich mir wie ein Spion vor, der herausfinden wollte, ob hier nicht doch auch unglückliche Schwestern seien. Entweder waren alle glücklich oder ich war im rechten Augenblick nicht zur Stelle - mein Beobachten brachte nichts.
In der Spülküche, bei einem riesigen Berg vom schmutzigen Geschirr, fragte ich eine Schwester: Woher kommt es, daß du so fröhlich bist? Morgen gibt es diesen Spülberg doch wieder und übermorgen noch einmal. Sie trocknete mit ihrer Schürze das Gesicht, lächelte mich an und sagte: die Ursache für meine Freude ist die Liebe zu Jesus. Wenn man diese Liebe im Herzen hat, ist der Dienst in der Küche eine Freude.
“Weißt du, das ist das Glück von uns Marienschwestern, daß wir überall, wo immer wir eingesetzt werden, Gott dienen dürfen. Man braucht nicht etwas Besonderes zu tun. Jeder Tag im Kartoffelkeller oder in der Druckerei, beim Putzen oder Unkrautjäten kann ein Gott-Dienen sein. Aber ohne Jesus zu lieben, geht das nicht.”
Die Eindrücke, Begegnungen und die von den Schwestern gebrachte Verkündigung hinterließen Spuren in meinem Innern. Der mit ihnen erlebte Alltag, der allerdings nicht bis in die verschlossene Welt der Klausur reichte, eröffnete mir neue Perspektiven für das Christ-Sein im alltäglichen Leben. Erst einige Monate vor diesen Sommerferien war ich zum Glauben gekommen. Daß das auch Konsequenzen beim Spülen, Putzen oder beim Jäten draußen haben kann, wurde für mich eine neue Entdeckung.
Mit wehmütigem Herzen nahm ich Abschied von Kanaan, als die Schule wieder begann. Im Zug Richtung Ostsee dachte ich: Wenn die Eltern es erlauben, komme ich nächstes Jahr wieder. Das Adressbuch war voll von Anschriften von Mädchen aus der ganzen Welt. So viele internationale Kontakte und Brieffreundinnen in einem einzigen Urlaub!