Wie ein Schatten sind unsere Tage - Inge Geiler - E-Book

Wie ein Schatten sind unsere Tage E-Book

Inge Geiler

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einer Wandverkleidung hinter der Heizung ihres Wohnzimmers fand Inge Geiler eines Tages ein Bündel Papiere: lose Zettel, Fotografien, Zeitungen, Postkarten und Briefe, gerichtet an ein Ehepaar, das zu Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in diesem Zimmer gewohnt hatte. Meier und Elise Grünbaum, aus Wiesbaden kommend, waren in ein jüdisches Altersheim nach Frankfurt gezogen. Von dort aus mieteten sie ein Zimmer in der jüdischen Pension Nussbaum, wo sie bis zur Deportation nach Theresienstadt lebten. Erst Jahre später fand Inge Geiler die Zeit, den Spuren ihrer "Gäste" zu folgen. Sie recherchierte auf Standes- und Einwohnermeldeämtern, suchte in Geburts- und Sterberegistern und setzte Stück für Stück das Bild einer großen Familie zusammen, die die Zeitläufte auseinandergerissen hatten. Eingebettet in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, erzählt Inge Geiler in berührender Weise die Geschichte der Familie Grünbaum: von ihren Ursprüngen in Geisa und Forchheim bis in die USA, wo Nachkommen der weitverzweigten Familie heute leben. Ohne den zufälligen Fund der Briefe wären Meier und Elise Grünbaum anonyme Opfer geblieben. In Wie ein Schatten sind unsere Tage wird ihre Geschichte bewahrt und weitergegeben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 469

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

[Cover]

Titel

Wie ein Schatten sind unsere Tage

Widmung

Einführung

Das Frankfurter Westend

Eine Wand gibt ihr Geheimnis preis

Einundzwanzig Jahre später

Meier Grünbaum

Elise Kleemann

Meier und Elise Grünbaum 1890–1920

Meier und Elise Grünbaum 1920–1942

Meier Grünbaums Klagen

Samuel Kleemann

Bildteil I

Erna Kleemann und Albert Wolff

Wilhelm Kleemann

Herta Schloss geb. Kleemann und Moritz Schloss

Max Stein

Bildteil II

Max Lomnitz

Bernhard Lustig

Erna Pommer geb. Seliger

Amalie Vorchheimer, geb. Stein und Adolf Vorchheimer

Das Jüdische Nachrichtenblatt

Anhang

Glossar

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Quellenangaben

Namenregister

Danksagungen

Stammbäume

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

Gewidmet den Nachkommen von Elise und Meier Grünbaum: Familie Oliver Stanton und Familie Ludwig Hugo Stein, New York

Einführung

Anlass, dieses Buch zu schreiben, war ein Fund, der mich vor vielen Jahren zutiefst erschütterte.

Im wahrsten Sinne des Wortes fielen mir Briefe vor die Füße, die Verwandte an ein jüdisches Ehepaar geschrieben hatten, das zu alt und zu entkräftet war, um die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland noch wagen zu können.

Die sehr persönlichen Briefe erzählen von Hoffnungen und Sorgen, von Vorbereitungen auf die Flucht nach Amerika, auch von den schwierigen Umständen der Reise dorthin.

Die dort Angekommenen berichten dankbar und staunend über ihre neue Heimat in New York, verschweigen aber nicht die täglichen Probleme, die das Leben dort mit sich brachte, und ihre Sehnsucht nach der verlorenen europäischen Kultur.

Aus den Briefen und Karten der in Deutschland Zurückgebliebenen spricht die verzweifelte Tapferkeit, mit der sie ihr so unwürdig gewordenes Leben zu meistern versuchten, stets begleitet von der Furcht vor der Verfolgung.

Aus den gefundenen Dokumenten und Zeitungen lässt sich das Ausmaß der Demütigungen und der Menschenverachtung erkennen, denen Juden in Deutschland nach 1933 ausgesetzt waren.

Im Laufe der Zeit reifte mein Entschluss, die Geschichte dieser großen Familie, die inzwischen fast zu meiner eigenen geworden war, dem Vergessen zu entreißen, sie zu erforschen und zu dokumentieren.

Eine sehr gute Zusammenarbeit mit zahlreichen Archiven und privaten Forschern, denen ich meinen besonderen Dank aussprechen möchte, ermöglichte es mir, die Verfasser der Briefe zu finden und vieles aus ihrem Umfeld in Erfahrung zu bringen.

Einsichtnahmen in Entschädigungsakten gaben Aufschluss über den unverschämten Raub ihres Vermögens.

Das Studium der Gesetze zur Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 verdeutlicht den Alltag jüdischer Menschen, der von den eskalierenden Repressalien der Nationalsozialisten geprägt war.

Dieser Alltag kann für Leser nur vorstellbar werden, wenn sie um die einschneidenden Gesetze wissen, die in ihrer Grausamkeit und Bösartigkeit nicht zu überbieten sind und immer unfassbar bleiben werden. Nur die für die Biographien relevanten habe ich dort eingeflochten.

Das gefundene Konvolut übergab ich dem Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main. Dort ist es jetzt für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich.

Die vorliegende Dokumentation entstand in Absprache mit dem Institut, dem ich für Hilfe und Unterstützung sehr dankbar bin.

Inge Geiler

Das Frankfurter Westend

Im Frankfurter Westend, in dem seit seiner Entstehung sehr viele jüdische Familien lebten – und heute wieder leben –, habe ich das Konvolut gefunden und beginne deshalb mit einer Beschreibung dieses Frankfurter Stadtteils.

Traditionell gilt das Westend als eines der vornehmsten Wohnviertel der Stadt. In dem ehemals ländlichen Gebiet zwischen dem Dorf Bockenheim und der Innenstadt, die von einem Festungsgürtel umgeben war, entstanden um 1770 die ersten Landhäuser mit parkähnlichen Gärten.

Hier hatte die Stadt Frankfurt einer wirtschaftlich bedeutenden Bevölkerungsschicht – Immigranten und religiösen Minderheiten, denen der Senat das Bürgerrecht verweigerte – erlaubt, sich niederzulassen.

Immer mehr wohlhabende jüdische Familien ließen sich an der Bockenheimer Landstraße große Villen erbauen, darunter viele, denen es im mittelalterlichen Ghetto zu eng geworden war, wie die berühmte Bankiersfamilie Rothschild, die schon seit dem 16. Jahrhundert in Frankfurt ansässig war. An der Bockenheimer Landstraße 10 erwarb Amschel Mayer Freiherr von Rothschild im Jahr 1816 ein Gartenhaus, das zu einem klassizistischen Palais umgebaut wurde. An das große Palais schloss sich ein weiträumiger Park an, der sich bis zur damaligen Stadtgrenze am Opernplatz ausdehnte und heute noch als Rothschildpark existiert. An die eindrucksvolle Ruine aus rotem Sandstein, die, nach der Zerstörung des Palais im Zweiten Weltkrieg, in den 1960er Jahren noch stand, erinnere ich mich noch sehr gut.

1 Frankfurt, Rothschild-Palais, Bockenheimer Landstraße 10

Die alte Stadtbefestigung aus dem Jahre 1650 wurde, nach einem Beschluss des Rats der Stadt, zwischen 1806 und 1818 geschleift, und auf ihren Grundmauern entstanden Grünflächen. Diese »Wallanlagen« dürfen bis zum heutigen Tag nicht bebaut werden. Durchbrochen wurden sie nur von den Straßenführungen in die nun entstehenden neuen Wohnviertel am Rande der Innenstadt.

Die Bockenheimer Landstraße, gesäumt von prachtvollen Villen, wurde auf ihrer ganzen Länge mit Kastanien bepflanzt und so zu einer der schönsten Straßen der Stadt. »Die Straße der Millionäre« wurde sie im Volksmund genannt.

1811 wurden den Frankfurter Juden, gegen eine hohe Ablösesumme, die Bürgerrechte zugesprochen.

Eine planvolle Erschließung des Westends begann erst nach 1850. Es entstanden prunkvolle Wohnhäuser im Stil des Historismus, bis die Bebauung um 1900 den Grüneburgpark und den daneben liegenden Palmengarten (eröffnet 1871) erreichte. Viele gut situierte Mitglieder der großen jüdischen Gemeinde Frankfurts waren in das elegante neue Wohnviertel gezogen. Nach dem Entwurf des Architekten Franz Roeckle ließ die liberale Gemeinde in den Jahren 1908–1910 eine große Synagoge an der Freiherr-vom-Stein-Straße erbauen, flankiert von einem mehrstöckigen Verwaltungsgebäude und einer Schule.

Die feierliche Einweihung der Synagoge fand am 28. September 1910 statt, in Anwesenheit des Regierungspräsidenten, des Frankfurter Oberbürgermeisters Dr. Franz Adickes und zahlreicher Repräsentanten aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft.

In strengem Jugendstil erbaut, mutet die Synagoge Beth Hamidrasch sehr orientalisch an mit ihrer gewaltigen Kuppel über dem Gebetsraum, den verschachtelten Dächern, den hohen Giebeln der Eingangshalle, wo aus runden Medaillons der stolze judäische Löwe hervortritt, die Gesetzestafeln in den mächtigen Pranken haltend.

Durch einen geduckten Kuppelvorbau betritt man den Vorhof mit dem eindrucksvollen Löwenbrunnen aus weißem Marmor, um von hier aus in die Synagoge zu gelangen.

Der Anblick des reich geschmückten Innenraums ist überwältigend. In den 1990er Jahren unter der Leitung des Architekten Henryk Isenberg fast originalgetreu restauriert und am 28. August 1994 mit einem großen Festakt wieder eingeweiht, bewundert man die Ausstattung im ägyptisch-assyrischen Stil. Säulen mit ausladenden Kapitellen tragen die Frauenempore, die geschmückt ist mit einem hohen Fries in den Farben Grün, Rot und Gold. Die Marmorwände erstrahlen in einem zarten goldenen Gelb, zusammengefügt aus Tausenden von dreieckigen Mosaiksteinen, die sich zu Davidsternen formen. In dieser Art ist auch die hohe Kuppel bemalt, deren zartes Blau sich nach unten kräftig verdunkelt und so alle Blicke nach oben zieht.

2 Frankfurt, Westend-Synagoge an der Freiherr-vom-Stein-Straße (um 1910)

Das prachtvolle Gotteshaus war bis 1938 Zentrum jüdischen Lebens im Frankfurter Westend. Wie eine mächtige Festung liegt es zwischen den nahestehenden Häusern, die ihm in der Pogromnacht vom 09./10. November 1938 Schutz boten vor der totalen Zerstörung. Zwar wurde im Betsaal Feuer gelegt, doch es wurde auf Anordnung gelöscht, um ein Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Wohnhäuser zu verhindern.

Der Exodus jüdischer Bürger aus Frankfurt hatte bereits im Jahr 1933 begonnen. Die frei werdenden luxuriösen Westendwohnungen wurden von höheren Beamten der nationalsozialistischen Stadtverwaltung vereinnahmt. So bewohnte z. B. der damalige Frankfurter Oberbürgermeister, Staatsrat Dr. Friedrich Krebs, die zweite Etage des Hauses Freiherr-vom-Stein-Straße 11.

Nach der von den Nazis sogenannten »Reichskristallnacht« setzte sich die Flucht jüdischer Familien aus Frankfurt verstärkt fort. Andere wurden aus ihren Wohnungen vertrieben und im Osten der Stadt angesiedelt, wo eine bessere Kontrolle durch die NSDAP möglich war.

Das Westend und andere Wohngebiete sollten »entjudet« werden, um verdiente »Arier« einziehen zu lassen. Das gelang nicht ganz. Einige der großen Westendhäuser, die in jüdischem Besitz waren, blieben von dieser »Entjudung« vorläufig verschont. Den Bewohnern wurde allerdings auferlegt, so viele Juden wie möglich in ihren Räumen aufzunehmen. Auf diese Weise entstanden hier Pensionen, so auch die »Pension Nussbaum« in der Liebigstraße 27B, von der noch die Rede sein wird.

In den letzten Kriegsjahren, zwischen 1943 und 1945, legten die schweren Bombardements der Alliierten große Teile der Stadt Frankfurt in Schutt und Asche. Das Westend blieb von der Zerstörung weitgehend verschont. Die noblen Wohnhäuser, zwischen 1870 und 1930 erbaut, überstanden die Bombardements ebenso wie die Synagoge, die als einzige der Frankfurter Synagogen erhalten blieb.

Die wenigen Frankfurter Juden und die aus dem Osten zugewanderten über fünftausend ehemaligen KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter, die den Holocaust überlebt hatten, feierten im ausgebrannten Betsaal bereits am 12. September 1945 einen ersten Notgottesdienst.

Nach einer einfachen Wiederherstellung wurde die Synagoge am 6. September 1950 neu eingeweiht und erneut zum Mittelpunkt des wieder erwachenden jüdischen Lebens in Frankfurt.

Seit ich 1957 nach Frankfurt kam, wohne ich in einem der schönen alten Westendhäuser, in unmittelbarer Nähe zur Synagoge. Die von Lindenbäumen gesäumte Liebigstraße verläuft parallel zur Freiherr-vom-Stein-Straße, und der ehemalige Altkönigplatz, eine schon in früherer Zeit gepflegte Grünanlage, liegt auf dem Weg dorthin.

3 Frankfurt, Liebigstraße 27B, letzte Wohnung von Meier und Elise Grünbaum

Zu dieser Zeit hatte die Aufarbeitung der Geschichte des »Dritten Reichs« und seiner Gräueltaten bereits begonnen und löste Erschütterung und tiefes Entsetzen in großen Teilen der Bevölkerung aus.

Vor diesem Hintergrund interessierte mich zunehmend, was sich in meiner direkten Umgebung zutrug, wie jüdisches Leben in Frankfurt wieder erwachte. Ich beobachtete fromme alte Männer, die am frühen Morgen zum Gebet gingen, oft zu zweit, in Gespräche vertieft; junge Mütter oder Großmütter, die ihre Kinder und Enkel zum Kindergarten oder zur Schule brachten, und Familien, die sonntäglich gewandet zu den Feiertags-Gottesdiensten spazierten. Besonders beeindruckten mich die immer zahlreicher werdenden jungen Thoraschüler, die im offenstehenden schwarzen Kaftan, mit flatternden Gebetsschals über den weißen Hemden, zur Synagoge eilten. An ihren breitkrempigen schwarzen Hüten konnte man sie schon von Weitem erkennen.

In den 1960er Jahren kehrten viele ältere Frankfurter Juden, die ihre Heimatstadt unter der Herrschaft der Nationalsozialisten verlassen mussten, aus der Emigration zurück. Sie lebten wieder in ihrer altvertrauten Umgebung, wo sie in Ruhe ihren Lebensabend verbringen wollten. Die Remigranten kamen aus Palästina, England, Chile, Argentinien, Brasilien usw., und einige von ihnen habe ich kennengelernt. Sie erschienen mir in bewundernswerter Weise unbefangen, liebenswürdig und freundlich. Hin und wieder sprachen sie von den ersten schweren Jahren in der Emigration, vom Verlust ihrer Angehörigen in den Konzentrationslagern, von den früheren guten Zeiten in Frankfurt – doch über den Alltag im NS-Staat und die Umstände ihrer Flucht aus Deutschland sprachen sie nie. Nachzufragen wagte ich damals nicht, denn im Gegensatz zu ihnen war ich sehr befangen durch die große Scham über das, was während meiner Kindheit in Deutschland geschehen war.

Unter dem Eindruck solcher Begegnungen begann ich darüber nachzudenken, welche Geschichten das denkmalgeschützte Haus, in dem ich lebe, wohl erzählen könnte.

Erbaut wurde es in den Jahren 1904/1905 von den Architekten Beck & Grünewald für den jüdischen Kaufmann Adolf Fath.

Was haben diese Mauern gesehen? Was ist in diesen Räumen geschehen? – Viele Jahre später sollte ich einiges darüber erfahren.

Eine Wand gibt ihr Geheimnis preis

Liebigstraße 27B, erste Etage. Ein strahlend schöner Sommertag im August 1986.

Handwerker waren mit Sanierungsarbeiten beschäftigt. In meinem Wohnzimmer musste ein Kabel verlegt werden, das hinter einer hölzernen Wandverkleidung unter dem Fenster durchgezogen werden sollte. Plötzlich stießen die Elektriker auf einen Widerstand, dem sie mit einem Schraubenzieher beikommen wollten. Als ich dazukam, sah ich kleine Zettel und Zeitungsschnipsel verstreut auf dem Boden liegen.

Spontan hob ich einen der Zettel auf und las auf der Rückseite einer Zahlkarte: »Leute ich bin ja so unglücklich, zu unglücklich bin ich«, in ungelenker Schrift mit Bleistift geschrieben. Dann ein weiterer Zettel: »Leute was soll ich nur machen, mir ist so entsetzlich schauderhaft« und ein dritter: »Leute ich bin zu zu unglücklich ich wollte ich wäre nicht zur Welt gekommen«. Klagerufe eines Menschen in tiefster Not. Textfragmente und Schrift der Zeitungsschnipsel deuteten auf die nationalsozialistische Zeit hin und ein klein zusammengefalteter Brief, mit der Maschine auf Luftpostpapier geschrieben, berichtete von Flucht.

Blitzschnell war mir klar, dass ich einen seltenen Fund gemacht hatte und ließ die Arbeit abbrechen, um weitere Zerstörungen zu verhindern. Was immer hier versteckt war, es musste behutsam geborgen werden!

4 Frankfurt, Liebigstraße 27B, Fundort hinter der Heizung

Es erforderte viel Geduld und Konzentration mit einer schmalen, gebogenen Zange Stück um Stück aus dem etwa 4 cm schmalen Spalt zu fischen, der auch oben, unter dem abgenommenen Fensterbrett, nicht breiter war.

Am Ende lagen auf dem Fußboden 47 Briefe, einige Fotografien, 8 Postkarten, über 50 Dokumente und 6 zusammengeknüllte Ausgaben des Jüdischen Nachrichtenblatts von Mai bis Juli 1942. Diese Zeitung wurde, wie ich später herausfand, unter strengster Gestapo-Zensur für die jüdischen Kultusgemeinden gedruckt und enthielt alle Verordnungen der Regierung, mit denen man die jüdischen Bürger demütigte, drangsalierte und quälte. Die Kultusgemeinden gaben diese Verordnungen in Kurzform, mit Schreibmaschine geschrieben, an ihre Mitglieder weiter, z. B. die Information über die Ausgangssperre ab 20 Uhr.

Fassungslosigkeit, lähmendes Entsetzen hatte mich erfasst. Der sonnendurchflutete Raum, in dem ich bisher so unbeschwert gelebt hatte, schien sich zu verfinstern, sich in einen Ort des Schreckens zu verwandeln.

Plötzlich war er beherrscht von raunenden Schatten, die Kunde gaben vom Leid der Juden unter der nationalsozialistischen Verfolgung.

Mit zitternden Händen nahm ich einen der maschinengeschriebenen Briefe aus New York und las, was Max Stein am 23.07.1941 unter anderem schrieb:

»Meine Lieben […] wir hatten beabsichtigt die Ausreise für Euch, meinen Schwiegervater und Tante Erna über Kuba einzuleiten, aber Kuba ist vorerst geschlossen.«

Am 10.11.1941 schrieb er:

»Man wird das Leben nicht froh, wenn man so hilflos dasteht und nicht helfen kann. … Ja liebe Tante, ich habe mir Eueren Lebensabend auch anders gedacht und wollte Euch wie die eigenen Eltern beschützen und behüten. Aber wie sehr hat man sich verrechnet und steht so machtlos da.«

Eine Postkarte aus Frankfurt vom 20.05.1942 lautet:

»Sehr geehrte Frau Grünbaum. Bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich Ihnen kein Essen mehr geben kann, da wir von hier weg müssen. Hochachtungsvoll S. Wolf, Baumweg 35«

Sie war adressiert an Herrn und Frau Grünbaum, Liebigstraße 27B.

Nun wusste ich, wer die Empfänger der Briefe waren – ein altes jüdisches Ehepaar, das hier offensichtlich in sehr großer Not und tiefster Verzweiflung gelebt hatte.

Die flehenden Hilferufe: »Ich bin schon so alt 80 Jahre gewesen, hätte ich dann nicht schon längst gestorben können sein. Mir ist ganz schrecklich zumute, ich weiß garnicht mehr was ich anfangen soll« oder »Ich kann es nicht mehr aushalten, wenn ich nicht geboren wäre. Ich bin zu zu unglücklich« stammten von Meier Grünbaum, wie sich später herausstellte.

5 Meier Grünbaum »Ich bin schon so alt 80 Jahre gewesen …«

Vorsichtig nahm ich alles vom Boden auf. Das dünne Briefpapier war ausgetrocknet und stark zerknittert, die Schrift stellenweise durch Wasserflecke zerstört. Festeres Papier war vergilbt, fast braun, und das billige Zeitungspapier fest zusammengebacken und so brüchig, dass man es nicht mehr auseinanderfalten durfte, es wären nur noch Brösel übrig geblieben.

Vierundvierzig lange Jahre war das alles versteckt, die letzten dreißig Jahre noch der abstrahlenden Wärme einer neu installierten Heizung ausgesetzt, was zu dem erbärmlichen Zustand führte.

Völlig verstört pustete ich Staub und Spinnweben ab und ordnete den Fund während der folgenden Tage.

Ich studierte die einfacher zu lesenden Briefe, las in Erlassen und Dokumenten und betrachtete die wenigen Fotos mit zunehmender Erschütterung und tiefem Mitleid für die vom Schicksal so schwer geschlagenen Menschen. Die Briefe bündelte ich nach Handschriften, die zum Teil sehr schwer zu entziffern waren.

Eine intensive Beschäftigung mit dem aufwühlenden Fund war mir damals nicht möglich, zu sehr war ich gefordert durch persönliche und berufliche Verpflichtungen.

So beschloss ich, das Konvolut sorgfältig zu verpacken und es vorläufig im kühlen, trockenen Keller zu deponieren.

Meier und Elise Grünbaum blieben dennoch unsichtbare Gäste in meinem Wohnzimmer.

Einundzwanzig Jahre später

Über zwanzig schwierige Jahre waren vergangen, in denen ich weder die Zeit noch den Mut gefunden hatte, mich mit dem traurigen Nachlass von Meier und Elise Grünbaum zu befassen.

So betrachtete ich es als einen Wink des Schicksals, als sich im Sommer 2007 die »Initiative Stolpersteine«, in Gestalt ihres Frankfurter Vorsitzenden, Herrn Hartmut Schmidt, meldete. Er legte eine Liste mit den Namen von siebzehn ehemaligen jüdischen Hausbewohnern vor, die zum Teil von hier aus deportiert und ermordet worden waren. Für neun von ihnen sollten vor dem Haus Stolpersteine verlegt werden, darunter waren auch Moses, Erna und Heinz Walter Nussbaum. Auf meine Frage »Und wo stehen Meier und Elise Grünbaum?«, sah er mich erstaunt an. Ich berichtete ihm von meinem Fund.

Mit Hilfe der Datenbank des Jüdischen Museums, in der die Namen und Herkunftsorte aller aus Frankfurt deportierten Juden verzeichnet sind, ließ sich schnell klären, dass die Grünbaums lange in Wiesbaden gelebt hatten. An sie sollte dort, vor dem Haus Bismarckring 27, erinnert werden.

Noch am gleichen Tag holte ich den lange gehüteten »Schatz« aus dem Keller, der mich so oft stumm gemahnt hatte.

Zögernd öffnete ich die Verpackung, fürchtete eine Wiederholung des Erschreckens von damals. Doch als ich die Briefe zur Hand nahm, erschienen sie mir vertraut, und ich war nun über viele Wochen damit beschäftigt, die Handschriften zu entziffern.

Aus meinem tiefen Mitleid erwuchs eine von Brief zu Brief stärker werdende Zuneigung zu diesen mir unbekannten Menschen, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und die, trotz ihrer schweren Schicksale, ihre Seelen nicht verloren hatten.

Ich begegnete einer großen Familie, die in liebevoller Anhänglichkeit einen regen Schriftwechsel mit Meier, besonders aber mit Elise Grünbaum, pflegte – und Dokumenten, die das dramatische Leben des Ehepaares während des »Dritten Reichs« bis zum bitteren Ende belegen.

Tief hatte ich mich während der Beschäftigung mit den Briefen auf die Familie der Grünbaums eingelassen, zu tief, als dass ein Zurück noch möglich gewesen wäre. Jetzt wollte ich sie kennenlernen, Meier und Elise Grünbaum und ihre Verwandten, sie dem Vergessen entreißen.

Doch wie waren sie zuzuordnen, die vielen Namen, welche Lebensumstände verbargen sich hinter ihnen?

Eine mühevolle Spurensuche begann, doch nicht alle Recherchen verliefen erfolgreich. So muss das eine oder andere leider offen bleiben.

Meier Grünbaum

geb. 13.05.1861 in Geisa/Thüringen1

gest. 03.09.1942 in Theresienstadt

Vater: Manus Meier Grünbaum, Geburts- u. Todesdatum unbekannt

Mutter: Malgen Berlstein, geb. 1830 in Meinbrexen gest. 15.06.1890 in Reichensachsen2

Unter den gefundenen Dokumenten befand sich auch eine Nachricht zu der Geburtsurkunde von Meier Grünbaum, ausgestellt am 19.11.1940 in Berlin von der »Reichsstelle für Sippenforschung, Zentralstelle für jüdische Personenstandsregister im Altreich«.

Meier Grünbaums Vater war Inhaber eines Geschäfts für chemische Produkte, Säcke und Decken in Geisa. So ist es in einer Anzeige beschrieben, in der ein tüchtiger Reisender gesucht wurde. Diese Anzeige erschien am 30.12.1897 in der jüdischen Wochenzeitung Der Israelit3 und lässt darauf schließen, dass die Waren auch in der weiteren Umgebung von Geisa ihre Käufer fanden.

6 Inserat in »Der Israelit« von Manus Meier Grünbaum vom 30. Dezember 1897

Manus Meier Grünbaum starb vermutlich im Jahre 1887, denn in der Geisaer Steuerliste von 1888 sind M. M. Grünbaums Witwe (Nr. 21), Meier Grünbaum, Sohn (Nr. 22) und Hermann Grünbaum, Sohn (Nr. 42) eingetragen. Meier Grünbaum war zuletzt in den Steuerlisten 1896–1905 als Kaufmann geführt4, 1906 verzog er mit seiner Familie nach Wiesbaden.

Meier hatte fünf (bekannte) Geschwister. Von der Schwester Emma sind keine Geburts- bzw. Sterbedaten bekannt, Schwester Bertha, geb. 18595, und die Brüder Isaak, geb. 12.07.1866, Hermann, geb. 17.04.1869, und Julius, geb. 24.12.18716, sind alle in Geisa geboren und aufgewachsen.

Unter dem Namen »Geschwister Grünbaum« wurde das väterliche Geschäft weitergeführt von Emma (bis 1909), Hermann und Julius und existierte bis zur zwangsweisen Schließung Ende 1938.

Hermann Grünbaum starb am 02.08.1939 in Geisa. Die Sicherungsanordnung über das Vermögen von Julius Grünbaum erfolgte 1939. Er wurde am 20.09.1942 von Weimar aus nach Theresienstadt deportiert (Zug DA 517, Transportnr.  XVI/1–604) und starb dort am 14.03.1943.7

Über die Geschwister Bertha und Isaak Grünbaum wird später berichtet.

Elise Kleemann

geb. 27.03.1860 in Schonungen/Unterfranken

gest. 22.09.1942 in Theresienstadt

Vater: Michael Löb Kleemann, geb. 27.01.1828 in Werneck/Unterfranken gest. 21.12.1908 in Forchheim/Oberfranken

Mutter: Amalie Fleischmann, geb. 11.01.1830 in Schonungen gest. 26.08.1909 in Forchheim

In Schonungen, dem Geburtsort von Elise Grünbaum geb. Kleemann, startete ich meine Nachforschungen und wurde von dem dortigen Standesbeamten, Herrn Spörlein, an die Forscherin Frau Elisabeth Böhrer verwiesen, der ich den Hinweis auf Herrn Rolf Kilian Kiessling, Forscher und Autor des Buches Juden in Forchheim, verdanke.

Hier fand ich die Familie Kleemann, Eltern und Geschwister von Elise Grünbaum.

Elise entstammte einer großen Familie.

Ihr Vater, Michael Löb Kleemann, Sohn eines Viehhändlers aus Werneck, war seit dem 13.08.1848 als Religionslehrer an der Synagoge in Schonungen tätig.1

Als am 26.09.1853 ein schwerer Brand den kleinen Ort und die Synagoge völlig zerstörte, war er nach Kräften bemüht, den Nachbarn zu helfen. »Erst als der ganze Ort in Flammen stand, eilte er nun auch, seine Effekten zu retten, in seine schon brennende Wohnung, bemerkte aber, als er mit einigen Kleidungsstücken dieselbe verlassen wollte, in einer Ecke des Vorplatzes ein entkleidetes Kind, das sich dahin geflüchtet hatte. Um dieses dem sicheren Tode zu entreißen, musste er Alles zurücklassen und rettete nichts als sein Leben und die geringe Kleidung, die er trug und selbst diese war durch Brandflecken unbrauchbar.« Dies bescheinigte ihm die Gemeindeverwaltung von Schonungen am 13. Dezember 1853 in einem Zeugnis.2

Der mutige junge Michael Löb Kleemann heiratete am 19.06.1855 in Schweinfurt seine Ehefrau Amalie, die am 18.03.1856 in Schonungen ihr erstes Kind Isaak (später Julius) gebar.

Hier war inzwischen, in der Bachstraße, eine neue Synagoge mit Schulraum und Lehrerwohnung gebaut worden, die am 20.06.1856 eingeweiht wurde. 3In der neuen Lehrerwohnung wurde am 01.12.1857 die Tochter Babette, am 27.03.1860 die Tochter Elise geboren.

Noch im Jahr 1860 verzog die Familie nach Forchheim, wo Michael Löb Kleemann als Lehrer, Vorbeter und Kantor in der Synagoge amtierte und auch als Schächter fungierte. Daneben war er als Gemeindeschreiber in der Verwaltung tätig und rebellierte, als streitbarer Sozialdemokrat, des Öfteren gegen die Obrigkeit.

Zunächst war der Familie in Forchheim nur eine verhältnismäßig kleine Wohnung zugewiesen worden und man kann sich die Enge vorstellen, als vier weitere Kinder geboren wurden: Samuel am 02.03.1862, Julie am 21.03.1864, Max am 17.07.1866 und Wilhelm am 17.12.1869.4

7 Synagoge Schonungen, Geburtshaus von Babette und Elise Kleemann

Erst 1876 wurde ein ganzes Stockwerk auf die Synagoge aufgesetzt, die neue Dienstwohnung für den Religionslehrer Kleemann.5 Obwohl Michael Löb Kleemann in der Gemeinde als pflichteifriger Lehrer hochgeachtet war, werden seine Vermögensverhältnisse in einer Qualifikationsliste von 1863 als »ziemlich mittelmäßig« angegeben. So erteilte er nebenher auch christlichen Kindern Privatunterricht in Buchführung und Französisch. Es ist überliefert, dass die überaus gütige Mutter Amalie immer ein Stück ihres frisch gebackenen Kranzkuchens für die Schüler ihres Mannes übrig hatte und bei den Kindern höchst beliebt war.6

Obwohl die Eltern Kleemann mit ihren sieben Kindern in bescheidenen Verhältnissen lebten, ließen sie ihnen eine ausgezeichnete Erziehung und umfassende Bildung angedeihen, waren ihnen Vorbild in sozialem Verhalten. Besonders den Söhnen ermöglichten sie, gewiss unter großen Opfern, eine hervorragende berufliche Ausbildung, wie deren spätere Karrieren beweisen.

Wie nachhaltig Michael Löb Kleemann von seinen Schülern geschätzt wurde, geht aus einem Brief hervor, den ein Forchheimer Architekt 1966 an dessen jüngsten Sohn Wilhelm schrieb: »Ich kam im Jahre 1899 auf das Gymnasium in Forchheim, Jahre vorher besuchte ich die Unterrichtsstunden Ihres Herrn Vaters. Ihr Herr Vater war ein ausgezeichneter Lehrer. In den Stoffgebieten die er unterrichtete machte man später keinen Fehler mehr. So gut war der Unterricht Ihres Herrn Vaters.«

Zu seinem siebzigsten Geburtstag wurden dem Forchheimer Lehrer viele Ehren zuteil. Die Allgemeine Zeitung des Judentums schrieb am 11. Februar 1898: »Herr Lehrer Kleemann feierte am 27. des vorigen Monats seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurden oben genanntem Herrn durch die Vertretung der israelitischen Kultusgemeinde ein ansehnliches Geschenk sowie eine Adresse der ganzen Kultusgemeinde überreicht. Seitens seiner Herrn Kollegen wurde Herrn Lehrer Kleemann in angemessener Form gratuliert, so auch von der Schuljugend; von auswärts trafen eine Menge Glückwunschtelegramme, Briefe und Karten ein. Von der hiesigen freiwilligen Feuerwehr, deren Kassageschäfte Herr Lehrer Kleemann seit nahezu 20 Jahren in mustergültiger Weise verwaltet, wurde derselbe durch einen veranstalteten Familienabend geehrt, bei welcher Gelegenheit in schwungvollen Reden und Toasten der vielen Verdienste des Siebzigjährigen gedacht und ihm ein Geschenk überreicht wurde. Möge dem wackeren Manne ein noch recht langer und sonniger Lebensabend beschert sein!«7

Michael Löb Kleemann unterrichtete vom Schuljahr 1900/1901 bis zum Schuljahr 1905/1906 auch am Königlichen Luitpold-Progymnasium in Forchheim die jüdischen Schüler.

Der leidenschaftliche Lehrer ging erst am 24.11.1908, über achtzigjährig, in den wohlverdienten Ruhestand und starb nur einen Monat später, am 21.12.1908. Seine Frau Amalie folgte ihm nur wenige Monate später, am 26.08.1909. Beide sind auf dem jüdischen Friedhof in Baiersdorf8 begraben. Die hohen Obelisken aus schwarzem Granit tragen im Sockel die Inschriften:

»Fremdlinge sind wir vor Dir – Wie ein Schatten sind unsere Tage auf Erden« bei Michael Löb Kleemann.

»Bescheiden und stets treu besorgt lebtest Du den Deinen. Unvergessen bleibst Du uns immerdar« bei Amalie Kleemann.

8 Gräber von Michael Löb u. Amalie Kleemann, Friedhof Baiersdorf

Elise Kleemann, die zweite Tochter des Paares, verließ ihr Elternhaus Ende der 1880er Jahre, um den Kaufmann Meier Grünbaum aus Geisa zu heiraten.

Die Stadt Forchheim, in der die Kleemann-Geschwister ihre Kindheit und Jugend verbrachten, hat eine bedeutende Geschichte aufzuweisen.

Bereits im Jahr 741 wurde hier eine königliche Reisepfalz gegründet, in der sich Karl der Große auf seinem Weg nach Würzburg aufgehalten haben soll.

Die nachfolgenden fränkischen Könige residierten oft in der Forchheimer Pfalz, in der im 9.–11. Jahrhundert mehrere Reichstage und zwei Königswahlen stattgefunden haben.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Pfalz ständig erweitert und bietet heute einen sehr imposanten Anblick.

Aus dem Handelsplatz entwickelte sich die mittelalterliche Stadt, die von 1007–1803 dem Bistum Bamberg angehörte.

Schon im Mittelalter lebten einige jüdische Familien in Forchheim, die, gegen Geldzahlungen, unter dem besonderen Schutz des Bischofs von Bamberg standen. Schutzjuden nannte man sie.

Zweimal wurden die Juden jedoch wieder aus der Stadt vertrieben, und erst um 1648 gründete sich die dritte jüdische Gemeinde in Forchheim, der im 18. Jahrhundert zwanzig Familien angehörten. Da die Erteilung der Schutzbriefe nur an Juden mit ausgewiesenem Vermögen erfolgte, hatten sich hier gut situierte Händler, Geldverleiher und Viehhändler niedergelassen.

Mit der Eingliederung der Stadt Forchheim in den bayerischen Staat im Jahre 1803 verbesserte sich die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der jüdischen Bevölkerung.

9 Forchheim an der Wiesent um 1900, Mitte rechts die Synagoge

In der Wiesentstraße wurde die alte, baufällige Synagoge abgerissen und in den Jahren 1807/1808 eine neue errichtet (1876 noch einmal aufgestockt für die Wohnung des Lehrers Kleemann). In dieser Straße, die entlang des Flusses Wiesent verläuft, und in ihrer nahen Umgebung wohnten 1813 noch siebenundzwanzig jüdische Familien.

Ihre wirtschaftliche Situation verbesserte sich zunehmend, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Industrialisierung begann. In kurzer Folge gründeten jüdische Kaufleute Fabriken, in denen Folien für Spiegel, optische Geräte, Textilien, Papier und Farben hergestellt wurden, daneben entstanden Gewerbebetriebe, Kaufhäuser und Banken. Auch der Viehhandel blieb weiterhin eine wichtige Erwerbsquelle.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, lebten 68 jüdische Bürger in Forchheim. Ihr Anteil war, durch Abwanderungen in den wirtschaftlich schwierigen Jahren vorher, bereits gesunken.

Mit dem Boykott der achtzehn jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 begann auch in Forchheim die Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Viele emigrierten oder verließen ihre Heimatstadt. In größeren Städten, so hofften sie, würde man bessere Lebensbedingungen vorfinden.

Am 9. November 1938, dem Tag des furchtbaren deutschlandweiten Judenpogroms, lebten noch 39 Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde in Forchheim. Sie wurden misshandelt, gedemütigt und teilweise verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.

Die Synagoge, in der die Familie Kleemann ehemals ihr Zuhause hatte, wurde in der Nacht verwüstet und am Nachmittag des 10. November vollständig abgerissen. Die wertvollen silbernen Kultgegenstände waren von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden. Die Thorarollen warf man in die nahegelegene Wiesent, wo sie glücklicherweise am Wehr einer Mühle hängen blieben und heimlich von der mutigen Mühlenbesitzerin gerettet wurden. Sie versteckte das kostbare Gut und übergab es nach dem Krieg einer jüdischen Organisation.

10 Die geschändete Forchheimer Synagoge am Morgen des 10.11.1938

Zwischen November 1941 und August 1944 wurden aus Forchheim dreizehn jüdische Frauen und Männer nach Riga, Izbica und Theresienstadt deportiert und ermordet. Das letzte Opfer, die dreiundachtzigjährige Sophie Katz, wurde im Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert.

Seit der Verfolgung und Ermordung der Forchheimer Juden gibt es dort keine jüdische Gemeinde mehr.

Eine Stele am Ufer der Wiesent, gegenüber dem unbebauten Platz, auf dem einst die Synagoge stand, und eine Gedenktafel in der Stadtmitte mit den Namen der Ermordeten erinnern heute an das jüdische Leben in Forchheim.

Im Zweiten Weltkrieg blieb die Stadt von Zerstörungen verschont. So blieben, neben den liebevoll restaurierten alten Fachwerkhäusern, auch die aus Sandstein gebauten Geschäftshäuser der großen jüdischen Familien bestehen und vermitteln, ebenfalls saniert und gepflegt, den Eindruck wohlhabenden Bürgertums.

Auf ausgedehnten Stadtrundgängen begleitete mich Herr Rolf Kiessling, Autor des Buches Juden in Forchheim. Für seine kundigen Führungen bin ich sehr dankbar, denn sie eröffneten mir Einblicke in das Leben der ehemaligen jüdischen Bewohner und ihre Beziehungen untereinander. So wurde vieles von dem vorstellbar, was einst gewesen ist.

Im Pfalzmuseum gedenkt man der jüdischen Vergangenheit mit einer kleinen Dauerausstellung. Die eindrucksvolle Ausstellung »Schalom und Schabbat« zeigte im Sommer 2010 die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Forchheimer Juden in erschütternden Bildern und Dokumenten. Dazu gehörten auch die in diesem Buch abgedruckten Briefe der Brüder Dr. Wilhelm und Dr. Samuel Kleemann und von dessen Ehefrau Erna Kleemann.

Meier und Elise Grünbaum 1890–1920

Nach ihrer Heirat mit Meier Grünbaum lebte Elise mit ihrem Mann in Geisa, wo sie zwei Kinder gebar, am 06.06.1891 den Sohn Max und am 10.06.1894 die Tochter Meta.1

Zu Beginn des Jahres 1906 verzog die Familie nach Wiesbaden, wo Elises Bruder Julius (Isaak Julius) seit 1884 lebte und Teilhaber einer Weinhandlung war.2

Am Fuße der Taunushöhen gelegen war die Stadt, mit ihren Thermalquellen, dem milden Klima, den gepflegten Kuranlagen und der reizvollen Umgebung, ein beliebter Kurort, in dem der europäische Adel gern die Sommermonate verbrachte.

Die prachtvollen Wohngebäude, die noch heute das Bild der Stadt prägen, waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war Wiesbaden glanzvoller sommerlicher Treffpunkt des Kaisers und seines Hofstaates.

Im eleganten Westend, Yorckstraße 20, hatte Familie Grünbaum eine Wohnung bezogen,3 zunächst ohne den Sohn Max, der damals knapp sechzehn Jahre alt war. Max war bei den Verwandten in Geisa geblieben, um seine Berufsausbildung abzuschließen.

11 Wiesbaden, Yorckstraße 20, erste Wohnung der Familie Grünbaum

Aus den Steuerakten von Geisa ist nicht zu erkennen, ob Meier Grünbaum dort noch im väterlichen Geschäft tätig oder ob er selbständiger Kaufmann war.

Vermutlich war die Anstellung bei der Dresdner Bank der Grund, dass die Familie Grünbaum nach Wiesbaden übersiedelte. Einem Schreiben der Bank vom 08.01.1914 kann man entnehmen, dass Meier Grünbaum ein angesehener Mitarbeiter war. Es handelt sich um die Bescheinigung einer Gehaltserhöhung, die lautet: »Es ist uns angenehm, Ihnen die Erhöhung Ihres Gehalts vom 1. Januar 1914 ab auf RM 1700,– mitteilen zu können. Hochachtungsvoll Direktion der Dresdner Bank in Frankfurt a. M. [Unterschriften]«

12 Wiesbaden, Dresdner Bank, Taunusstraße 3 (um 1942)

Auf dieser Gehaltsbescheinigung vermerkte Meier Grünbaum handschriftlich noch eine Weihnachtsgratifikation in Höhe von RM 450,– .

13 Gehaltsbescheinigung der Dresdner Bank für Meier Grünbaum

Im Historischen Archiv der Dresdner Bank in Frankfurt am Main4 lässt sich leider kein Nachweis finden über die Dauer von Meier Grünbaums Beschäftigung. Die Personalakte ging in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren.

Das für damalige Verhältnisse sehr hohe Gehalt spricht für eine gute mittlere Position bei der Bank und erlaubte der Familie ein angenehmes Leben. Besonders die schöngeistige Elise dürfte das Leben in Wiesbaden genossen haben – das kulturelle Angebot, den großen Kurpark, der zu Spaziergängen einlud, die Bäder und die grüne Umgebung der Stadt.

Im Herbst 1909 kam Sohn Max nach Wiesbaden. Er hatte seine kaufmännische Ausbildung in Geisa abgeschlossen, wozu ihm sein Onkel Wilhelm Kleemann am 30.09.1909 eine Glückwunschkarte aus Berlin schickte. Die hübsche Collage aus bunten Briefmarken trägt den Text: »Semper avanti! Herzlichen Glückwunsch Dein Onkel Wilhelm«

Diese Karte ist das einzige Schriftstück, das an Max Grünbaum gerichtet war.

Vermutlich als Existenzgrundlage für seinen Sohn hatte Meier Grünbaum im Jahr 1909 ein Geschäft gegründet. In den Wiesbadener Adressbüchern ist er zwischen 1910 und 1935 durchgehend verzeichnet als Händler für Öle, technische Fette, wasserdichte Decken und Pferdedecken. Eine lukrative Einnahmequelle, wenn man bedenkt, dass zu der Zeit noch die meisten Waren mit Pferdefuhrwerken transportiert wurden.

Leider gibt es über dieses Geschäft weder im Hessischen Wirtschaftsarchiv Darmstadt noch in den Steuerakten im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Belege, da in den Jahren 1943 und 1944 alle Unterlagen durch Brände vernichtet wurden.

Es gibt aber Bezüge sowohl zum Geschäft des Vaters in Geisa als auch zum Unternehmen von Meiers Neffen Max Stein in Eschwege. Letzterer stellte die oben genannten Produkte her bzw. vertrieb sie. Es ist also vorstellbar, dass Meier Grünbaum in Wiesbaden eine Dependance für seinen Sohn gründete.

Tochter Meta war in der Zeit vom 01.09.1912 bis 31.03.1914 bei den Rechtsanwälten Dr. Fritz Bickel und J. Schneider in Wiesbaden, Adelheidstraße 33, als Stenotypistin tätig, was durch ein Zeugnis belegt ist. Sie könnte ihrem Bruder eine wertvolle Hilfe im Geschäft gewesen sein.

Ihr Zeugnis vom 31.03.1914 hat folgenden Text:

»Fräulein Meta Grünbaum ist in der Zeit vom 1. Sept. 1912 bis heute als Stenotypistin bei uns in Stellung gewesen. Sie hat die ihr übertragenen Arbeiten zu unserer Zufriedenheit ausgeführt und war in ihren Dienstleistungen stets fleißig und aufmerksam. Sie verlässt ihre Stellung auf eigenen Wunsch. Die Rechtsanwälte Dr. Fritz Bickel und J. Schneider.«

Im Jahr 1913 war Meier Grünbaum mit seiner Familie von der Yorckstraße in ein nahegelegenes, sehr repräsentatives Wohnhaus in der Seerobenstraße 4 umgezogen.

14 Wiesbaden, Seerobenstraße 4, zweite Wohnung der Familie Grünbaum

Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 erschütterte ganz Deutschland, so auch die Familie Grünbaum in Wiesbaden. Die hehre Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, stürzte die Deutschen damals in einen wahren Taumel der Begeisterung. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst, darunter auch ein sehr hoher Prozentsatz vaterlandsliebender deutscher Juden.

Ob Max Grünbaum auch zu den Freiwilligen gehörte oder ob er eingezogen wurde, ist nicht bekannt. Seine Rekrutenausbildung erhielt er in Prenzlau bei Berlin. Von dort aus schickte er am 05.09.1914 eine Feldpostkarte an seinen Onkel Wilhelm Kleemann in Berlin, die auf der Rückseite das Foto eines feschen jungen Mannes in Ausgehuniform zeigt. Diese Uniform war ein Geschenk seines Onkels, denn Max schreibt:

»Umstehend die komische Figur – bisher hatte ich aber nur Drillichanzug und da konnte ich aber unmöglich von Deiner Einführung Gebrauch machen – es war aber sehr nett von Dir und ich danke Dir vielmals – ich will nun nächstens hingehen wenn ich […] Viele Grüße Max.«

Den Kriegsausbruch überlebte Max nur knapp vier Monate. Am 24.12.1914 starb er auf dem »Feld der Ehre«, der Ort ist unbekannt. Sein Tod brachte unendliches Leid, Schmerz und Verzweiflung über die Familie.

15 Brief von Julie Kleemann zum Tod von Max Grünbaum, 28.XII.14

Elises jüngere Schwester Julie schrieb am 28.12.1914 aus Nürnberg:

»Meine Lieben! Mit 1000 Fasern meines Herzens zieht es mich zu Euch meine Lieben und ich kann nicht bei Euch sein. Der größte, weheste Schmerz von allen Schmerzen der Welt ist das Mitleid mit lieben Menschen in einem großen, unabänderlichen Leid. Diese Krankheit, das heißt es ist ein menschlich normaler, gesunder Zustand, in so hohem Maße wie jetzt habe ich einige Male im Leben empfunden. Da habe ich immer gemeint, es müsse noch eine Hilfe in der Not kommen, aber es ist keine gekommen. Je tiefer das Mitleid desto größer ist die Liebe. Ach was möchte ich […] um Euch ein bißchen zu trösten. Gestern wollte ich Euch schreiben, aber da hab ich immer auf Hermann gewartet. Ich brannte auf seine Berichte. Nun kam er aber erst nachts 11 Uhr.

Meine Mußestunden gehören jetzt einzig und allein Euch. Könnte ich mit meinen Tränen helfen. Wie wenig genügt mir das Schreiben. Plaudern möchte ich mit Euch, in meine Arme schließen möchte ich Euch und Euch verwöhnen. Ich darf jetzt nicht an meine eigene Hilflosigkeit denken und nicht aufhören zu schreiben möchte ich.

Als Hermann [Sohn der Schwester Babette] nach Hause kam um mir das Telefongespräch mit Sam [Bruder Samuel] zu melden, glaubte ich, es handele sich um einen schweren Unfall. Hermann wußte das richtige noch nicht. Ein Entsetzen, ein Grauen befiel mich. Es werden doch dem lieben Jungen nicht, wie bei einem hiesigen jüdischen Soldaten, die beiden Beine abgefahren oder die Augen ausgeschossen sein!

Seit Sam kam wissen wir das Wahre. Nun war mir das wie eine Erlösung und so wollen wir ihm, dem Lieben Guten, seine Ruhe gönnen. Ich grüße Euch tausendmal und bin Eure treue Julie.

Laßt Euch die Lebkuchen und Plätzchen gut schmecken«

Im gleichen Brief, der durch einige Wasserflecke nicht vollständig zitiert werden kann, schreibt Julie noch über Meta, die zwanzigjährige Tochter von Elise und Meier Grünbaum:

»Morgens erhielten wir einen kurzen Brief von Sam aus Wiesbaden. Dieser enthält den Satz ›und Meta! Das Mädel ist ein Prachtmädchen. Wie sie an ihren Eltern hängt, zu ihnen tapfer und kräftig hält, wie sie Elise tröstet, wie sie mitfühlt und leidet – diese kleine Meta.‹ Ganz die Meta, wie ich mir sie in diesem traurigen Falle vorgestellt habe. Ich wußte, daß Du, mein liebes, gutes, herziges Metale Dein Herzchen und Deinen Kopf am rechten Fleck hast und daß Du verstehst wie kein Mensch auf Erden, Balsam zu träufeln auf die Wunden Deiner lieben Eltern.

Als Hermann kam fand er nicht Worte genug für Dein wunderbares Auftreten, meine liebe Meta! Einfach ideal und das freut mich und gelt, liebe Meta und liebe Elise, das freut Euch doch auch. Und habt Ihr keinen Trost für Euren Schmerz, so habt Ihr doch andrerseits eine Freude an Eurem guten Töchterlein.«

Die von ihrer Tante Julie so enthusiastisch beschriebene Meta lebte zusammen mit ihren Eltern in der Seerobenstraße 4. Sie war offenbar eine äußerst liebenswerte junge Dame, vergöttert von der Familie und von Verehrern umschwärmt.

Sechs an sie gerichtete Postkarten hatte ihre Mutter Elise Grünbaum im Frankfurter Versteck zurückgelassen.

Die Mutter von Metas Berliner Tante Lucie, Frau von Wilhelm Kleemann, Frau Sophie Friedländer, schrieb am 23.11.1912 aus Rom:

»Liebe Meta, wie lange schon möchte ich Ihnen auf Ihre Karte antworten, aber es wurde immer nichts. Inzwischen bin ich auf Reisen gegangen mit Arndts und Frau Dickel. Wir waren schon in Neapel, Sorrent und Amalfi und sind schon fast eine Woche hier. Ich kenne zwar alles schon, aber es ist wieder und wieder toll und man kann sich an all den Schönheiten nicht sattsehen und die Natur ist so schön wie die […] Aus Berlin höre ich Gott sei Dank Gutes, […] L. hat sich vor einigen Tagen verlobt. Viele Grüße sendet Ihnen Sophie Friedländer. Es grüßt Sie vielmals Mara Arndt.«

Im Jahre 1913 waren mindestens die vier folgenden Herren Metas Liebreiz erlegen.

Am 26.08.1913 eine Ansichtskarte aus Düsseldorf:

»Sehr geehrtes Fräulein, aus der schönsten Stadt des herrlichen Rheinlandes gestatte ich mir Sie bestens zu grüßen Ihr erg. Arthur Günzburg«

Aus Wiesbaden am 02.09.1913 eine Ansichtskarte mit unleserlicher Unterschrift:

»Sehr geehrtes Fräulein! Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre […] Karte und würde mich riesig freuen wieder einmal mit Ihnen zusammen zu sein. Rufen Sie doch bitte einmal an. Freundliche Grüße […]«

16 Karte eines Verehrers an Meta Grünbaum, 2.9.13

Eine Karte vom 05.10.1913 aus Frankfurt, die eine reizende junge Frau mit einem riesigen Blumenstrauß im Arm zeigt, ist leider unleserlich.

Am 19.12.1913 eine Karte aus Wiesbaden:

»Mein liebes Fräulein! Bitte verzeihen Sie mir gütigst, daß ich heute Abend nicht erscheinen konnte, mußte einer Einladung seitens meiner Prinzipale Folge leisten. Wann und wo darf ich Sie wohl erwarten?

Ich erwarte gerne Ihre angenehme Nachricht und begrüße Sie. Ihr erg. Max Heine«

Der letzte Gruß, eine Fotokarte an Meta Grünbaum, wurde am 24.06.1914 in Marienbad abgeschickt. Sie zeigt das Ehepaar Sandmann, wahrscheinlich Freunde der Eltern, die ihr schrieben:

»Herzliche Grüße von uns beiden Vergnügten.

Marienbad im Juni 1914.«

Sechs Monate, nachdem Meta diese Karte erhalten hatte, verlor sie ihren einzigen Bruder Max und kümmerte sich, wie ihre Tante Julie schrieb, in rührender Weise um ihre Eltern Elise und Meier Grünbaum.

Nach dem Tod des Sohnes führte Meier Grünbaum das im Jahre 1909 gegründete Geschäft weiter. Aus diesem Grund dürfte er seine Tätigkeit bei der Dresdner Bank spätestens Ende Dezember 1914 beendet haben.

Tochter Meta half nicht nur im Geschäft, sie war ihren Eltern auch Stütze und Trost in ihrem großen Leid, bis ein unerbittliches Schicksal den Eltern auch die geliebte Tochter nahm. Im blühenden Alter von vierundzwanzig Jahren starb Meta am 01.12.1918 in Wiesbaden an der Spanischen Grippe. Die Epidemie grassierte seit Mai 1918 in ganz Europa und forderte in den folgenden Jahren weltweit Millionen von Todesopfern.

Und wieder war es ein Brief ihrer Schwester Julie, den Elise Grünbaum aufbewahrt hatte.

Julie schrieb am 02.12.1918 aus Nürnberg:

»Meine Lieben! Jetzt sind schon 2 1/2 Stunden verstrichen, seitdem ich das Entsetzliche gehört habe. Babet [die älteste der Kleemann-Geschwister] kam heim und sagte mir, daß Meta nicht wohl sei, sie habe es von Grünbaums gehört [Meier Grünbaums Bruder Isaak und seine Frau Helene lebten auch in Nürnberg]. Meta nicht wohl, was fehlt ihr denn? Babet, eigentümlich verzagt ›ich weiß nicht‹.

Na, dachte ich, da schreibe ich sofort nach Wiesbaden, ich muß hören was meinem Metale fehlt. Gleich dazu dachte ich: es wird doch Meta nichts passieren. Was fing dann meine gute Elise an! Eine Stunde später kam Hermann. Er war zum ersten Mal früher aus der Bank gekommen. Er sagte, daß der Besuch von Frau Hellmann und Sam [Bruder Samuel und dessen Schwägerin, beide aus Fürth] eine besondere Bedeutung habe. Ich ›hängt es mit Meta zusammen?‹ Er ›ja‹, ›ist Meta gestorben?‹ Er ›ja‹

So ist es und ich lebe noch und habe noch meinen Verstand. Ich habe ihn aber nur um zu begreifen, daß der Verlust dieses geliebten Kindes der größte Schmerz ist den ich noch je empfunden habe, um zu begreifen, daß ich nicht darüber nachdenken darf wie Ihr Euch, wie Du Dich, liebe arme schmerzgeplagte Elise, zu dem erschütternden Herzeleid stellen könnt. Stützt es Euch etwas, daß Euer Schmerz der meinige ist? und wenn es auch nichts nützt, es ist aber so. Kannst Du es fühlen, meine geliebte Schwester, daß ich mit jedem Herzschlag Dein unendliches Leid mitempfinde! und kennst Du meine Riesensorge wirklich? Kann es Euch ein kleiner Trost sein, daß ich aus tiefstem Herzen mit Euch weine und nie den Schmerz verwinden kann um das liebe, herzige Metale?

Hat Euch ein grausames Schicksal so hart geschlagen? oder hat ein gütiger Gott das liebe Kind von irgendeinem Abgrund retten wollen? Selig sind die Entschlafenen. 1000 innige Küsse von Eurer treuen Julie«

Der letzte Satz aus Julies Brief jagte mir einen Schauer über den Rücken. Hatte die sensible Julie gespenstische Vorausahnungen?

Auf der Rückseite dieses Briefes schrieb Elises Bruder Samuel:

»Meine Lieben! Der Zufall führte mich heute zu Grünbaums, wo ich Helene bestürzt und liegend antraf. Sie fragte mich, was ich zu dem Unglück sage. Ich dachte sie meine die politische Erneuerung [nach dem Ende des Ersten Weltkriegs], sie erwiderte sie könne das Entsetzliche nicht aussprechen und war furchtbar erregt, aber auf so furchtbares war ich nicht vorbereitet – Meta, unsere liebe süße Meta dahingerafft von der gräßlichen Seuche. Kann man es denn fassen, daß Ihr das liebe Kind nun auch verloren habt. Kann denn ein Mensch so viel Unglück ertragen und kann das Schicksal so grausam sein? Mein Schmerz um das liebe Kind wäre vielleicht nicht so unaussprechlich, wenn ich sie nicht durch meinen Aufenthalt in Wiesbaden und durch ihr letztes Hiersein so liebgewonnen hätte. Aber Ihr und vor allem Du, liebe arme Schwester, wie werdet Ihr den entsetzlichen Verlust ertragen?

Warum so viel Unglück in einer Familie? Am liebsten eilte ich zu Euch, die Schwierigkeiten der Reise sind groß und es ist fraglich, ob man wieder zurück könnte. Soeben las ich noch ihren letzten Brief vom 25.11., da scheint sie noch wohlgewesen zu sein. Wenn ich denke daß Ihr […] und daß es Meta […] könnte ich vor Schmerz […] Sam«

Der Schluss des Briefes ist leider durch Wasserflecke teilweise zerstört.

Samuel Kleemanns Frau Maria war 1915 gestorben, sein einziger Sohn fiel 1916 im Ersten Weltkrieg.

Als Meta 1918 starb, war Meier Grünbaum 57, Elise Grünbaum 58 Jahre alt. Ein Ehepaar, das mit den Kindern den kostbarsten Teil des eigenen Lebens und alle Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft verloren hatte. Eine Tragödie, die sich nicht beschreiben lässt. Seelische Qualen, die für ein ganzes Leben ausgereicht hätten!

Beide Kinder fanden auf dem Friedhof der Neuen Jüdischen Gemeinde an der Platterstraße in Wiesbaden ihre letzte Ruhestätte (Abt. J, rechte Seite, Reihe 1, Grab 2–5).56

Die gramgebeugten Eltern ließen dort im April 1920 ein Grabdenkmal aus Odenwaldgranit errichten.

Auf dem fast quadratischen Grabstein, gefasst von Säulen im Stil des Art déco, die Inschrift:

Familie Grünbaum

Max Grünbaum

1891–1914

im Dienste des Vaterlandes

Meta Grünbaum

1894–1918

Der untere Teil des Grabsteins blieb unbeschriftet, die Namen der Eltern fehlen.

Der vorstehende Sockel trägt den sehr anrührenden Nachruf:

»Daß Ihr gestorben uns seid konnten nimmer wir fassen, aber daß Ihr gelebt fühlen wir täglich auf’s Neue.«

17 Grab Max und Meta Grünbaum, Jüdischer Friedhof, Platterstraße, Wiesbaden

Ausgeführt wurde das Grabmal von der Firma Ph. Guckes, Grabsteingeschäft, Stein- und Bildhauerei, am Südfriedhof, Wiesbaden, Friedensstraße 57a, zum Preis von RM 3131,95.

Am 20.05.1941 hatten Meier und Elise Grünbaum ihr Testament um folgenden Nachtrag ergänzt:

»Da wir inzwischen nach Frankfurt umgezogen sind, bestimmen wir wegen unserer Bestattungen folgendes: wir besitzen seit vielen Jahren auf dem Friedhof der neuen israelitischen Kultusgemeinde in Wiesbaden ein Familiengrab, wo noch Platz für uns beide frei und bezahlt ist, und möchten dort bestattet werden. Falls dies aber in heutiger Zeit nicht oder schwer auszuführen ist, wollen wir hier in Frankfurt begraben werden und einen Grabstein gesetzt bekommen.

Meier Israel Grünbaum

Elise Sara Grünbaum geb. Kleemann«

18 Testament Meier und Elise Grünbaum vom 2. Januar 1939 mit Nachtrag vom 20. Mai 1941

Das Schicksal hat den beiden die Erfüllung ihres letzten Wunsches nicht gewährt.

Die herzzerreißenden Briefe, die ihre jüngere Schwester Julie zum Tod der beiden Kinder schrieb, hatte Elise Grünbaum über all die Jahre aufbewahrt. Sie sind auch ein Zeichen für die innige Beziehung, die die beiden Schwestern verband. Mit großer Herzenswärme, beseelt von tiefster Trauer und unendlichem Mitgefühl hatte Julie versucht, ihre geliebte Schwester Elise und ihren Schwager Meier zu trösten.

Julie, die jüngste Tochter des Ehepaars Kleemann, wurde am 21.03.1864 in Forchheim geboren.7 Sie war ein sehr sensibles, musisch begabtes Kind und wurde zur Musiklehrerin ausgebildet.

Im Nachlass ihres Bruders Wilhelm fand ich einen Brief vom 7. Mai 1966, den Wilhelm Kleemann während seines damaligen Besuchs in Forchheim erhielt. Darin schreibt der Forchheimer Dipl.-Architekt Hans Speckner unter anderem:

»Ich habe Ihren Herrn Vater, Ihre Frau Mutter sowie Ihre Schwester, die Musiklehrerin, sehr gut gekannt. Von Fräulein Kleemann erhielt ich Anfangsunterricht im Klavierspiel. Ihr Fräulein Schwester ging fast täglich an unserem Haus vorbei zum Zug, der sie nach Fürth führte. Dort gab sie Unterricht im Klavierspiel. Sie erzählte mir, daß sie strenge Diät halten müsse und in der Hauptsache von einem Liter Milch täglich lebte. Ich erhielt von ihr Anfangsunterricht im Klavierspiel.« Das berichtete Hans Speckner aus seiner Jugendzeit, etwa um 1895.8

Die unverheiratete Julie Kleemann lebte bis zum Tod ihrer Mutter im Elternhaus in Forchheim. Am 20.10.1909 verzog die damals Fünfundvierzigjährige nach Nürnberg und wohnte dort in der Gostenhofer Hauptstraße 57.9

Von dem bescheidenen Einkommen aus dem Musikunterricht konnte Julie kaum leben und wurde zunächst von ihren Brüdern Julius und Wilhelm, später nur noch von Wilhelm, über viele Jahre finanziell unterstützt.10

Ihr um zwei Jahre älterer Bruder Samuel lebte mit seiner Familie in Fürth, nahe Nürnberg. Auch von ihm dürfte sie Hilfe erhalten haben.

Am 13. März 1915 kam Julies verwitwete Schwester Babette Dirnbach mit ihrem achtundzwanzigjährigen Sohn Hermann von Berlin-Schönefeld nach Nürnberg und zog in die Gostenhofer Hauptstraße 58, wo sie Tür an Tür mit Julie lebte. So blieb die ledige Schwester fest in die Familie eingebunden.

Im Alter von achtundsechzig Jahren starb Julie Kleemann am 10.04.1932 in Nürnberg. Ihre Urne ist dort auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt, Abt. 2, Reihe A, Grab 11.11

Von Elise Grünbaums ältester Schwester Babette, genannt.Babet, die am 01.12.1857 in der Lehrerwohnung der Synagoge von Schonungen geboren wurde,12 gibt es keine Spuren, die Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit zuließen.

Sie ist in den Briefen ihrer Schwester Julie vom 02.12.1918 und ihres Bruders Wilhelm vom 15.08.1938 zwar erwähnt, weitere Anmerkungen fehlen jedoch. Auch in dem umfangreichen Nachlass von Wilhelm Kleemann, in dem ich die Fotos seiner Eltern und Geschwister fand, fehlt ein Bild von Babet.

So kann über sie nur das berichtet werden, was ich in den Archiven von Nürnberg und Berlin fand.

Vermutlich um die Mitte der 1880er Jahre hatte Babette Kleemann den Kaufmann Eduard Dirnbach geheiratet, dessen Herkunft nicht bekannt ist. Mit ihm ging sie nach Jugoslawien und nahm die dortige Staatsbürgerschaft an.

In Pozega/Slawonien wurden die beiden Söhne Hermann am 22.03.188713 und Albert am 27.09.188814 geboren. Wie lange Babette Dirnbach in Jugoslawien lebte und wann ihr Ehemann Eduard starb, ist nicht bekannt. Unbekannt ist auch, wann sie mit ihren Söhnen nach Deutschland zurückkehrte.

Einige Jahre lebte sie in Berlin-Schönefeld und wurde wahrscheinlich schon hier von ihrem jüngsten Bruder Wilhelm finanziell unterstützt, der in Berlin am Anfang einer großen Karriere als Bankier stand.

Wie schon berichtet, kam sie am 13. März 1915 mit ihrem Sohn Hermann nach Nürnberg und wohnte in enger Nachbarschaft mit ihrer jüngsten Schwester Julie.

Etwa zwei Jahre nach Julies Tod meldete Babette Dirnbach sich am 06.06.1934 in Nürnberg ab und ging zurück nach Berlin, wo sie in der Schlangenbader Straße 77 wohnte.

Ihr Umzug nach Berlin hängt ganz sicher zusammen mit der Tatsache, dass ihr Sohn Hermann sich und seine Familie ebenfalls am 06.06.1934 in Nürnberg abmeldete, um nach Zagreb/Jugoslawien auszuwandern.15

In Berlin lebte Babette Dirnbach nur noch wenige Wochen, bis sie am 13.07.1934 starb. Sie wurde am 17.07.1934 auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beerdigt, Grab in Feld H Abteilung III, Reihe 2.16

Ihr schlichter Grabstein trägt die Inschrift: »Unsere Mutter Babette Dirnbach, geb. 1.12.1857 gest. 13.7.1934«17

Meier und Elise Grünbaum 1920–1942

Aus den Jahren zwischen 1918 und 1936 hat Elise Grünbaum keine persönliche Korrespondenz im Versteck zurückgelassen.

Aus späteren Briefen geht jedoch hervor, dass Meier und Elise Grünbaum mit den Kindern von Meiers Schwester Bertha Stein, die in Reichensachsen, Kreis Eschwege lebte, eine sehr liebevolle, innige Beziehung pflegten. Deren Sohn Max Stein, gleichen Vornamens und neun Jahre älter als der 1914 gefallene Sohn Max, und die Tochter Amalie Stein, ein Jahr älter als die 1918 verstorbene Tochter Meta, ersetzten dem vereinsamten Paar in gewisser Weise die verlorenen Kinder. Besonders der Neffe Max schien sich in hohem Maße für das Wohlergehen von Onkel Meier und Tante Elise verantwortlich gefühlt zu haben. Dies wird deutlich in seinen Briefen vom 29.08. und 10.11.1941 aus New York. Doch dazu später.

Als Bertha Stein im Oktober 1919 an Arterienverkalkung starb – sie war nur sechzig Jahre alt geworden –, war es Elise Grünbaum, die den Nichten und Neffen jetzt über den Verlust der Mutter hinweghalf.

Zwei große Familienfeste wurden im Jahr 1920 gefeiert; am 12. Juli heiratete Amalie den Würzburger Tuchhändler Adolf Vorchheimer und am 30. November nahm Max die aus Unsleben stammende Martha Lustig zur Frau.

Ihrer damals achtzehnjährigen Lieblingsnichte Amalie hatte Elise Grünbaum 1911 ein Gedicht gewidmet. Anlass war die Verlobung der Schwester Rosa Stein mit Sigmund Weinstock aus Neustadt a/d Saale. Die älteste der Stein-Töchter, Gida, war bereits mit David Lomnitz verheiratet, nur die jüngste, Amalie, war noch nicht unter der Haube und Tante Elise schrieb für sie:

»Gedicht für Amalie Stein gewidmet von Elise – Schiller

Er ist bekannt

In jedem Land

Der lose Knabe

Mit der Gabe,

Menschenherzen

In Freud & Schmerzen

Zu vereinen.

Die Großen, die Kleinen,

Die Armen, die Reichen

Sie können nicht weichen

Dem göttlichen Pfeil,

Der rastlos in Eil

Die Herzen durchbohrt

Sein Köcher & Bogen

Straff angezogen

Hat glücklich verbunden

Die in Lieb sich gefunden.

Unzählige Paare

In jedem Jahre

Verdanken ihr Glück

Dem Meisterstück

Des schelmischen Knaben.

In kluger Weise

Schleicht er sich leise

An die Jugend heran

Und verschafft manchem Mädchen

Den heiß ersehnten Mann.

Auch in dem Haus der Steine

Hat der Kleine

Seine Kunst schon gezeigt

Und vieles erreicht.

Das ging wie am Härchen,

Die Gida, das Klärchen

Paulchen & Zilla

(Mutter Jettchens schönste Villa)

Er führte im Nu

Den Mann Jeder zu.

Und Amor denkt heiter,

Das geht flott so weiter

Lenkt nun seinen Blick

Mit großem Geschick

Auf die nächste der Steine

auf »Rosa« die Kleine.

Manch Jünglings Herz

War ergriffen von Schmerz

Wenn er Rosa sah,

Und es unterblieb ihr »Ja«.

Der eine war zu klein,

Der andere gar nicht fein,

Der Dritte trägt den Kragen,

Ich muß es sagen,

Nur 10 Centimeter hoch,

Und das ist doch

Nicht chick und nett,

Denn ich wett’,

Rosas Mann

Muß den Kragen

Bis an’s Kinn hinauf ertragen.

Beim Vierten wäre alles gut

Aber er trägt den Hut

Nicht nach neuster Facon

Und das ist schon

Grund zum Refüsieren?

Ja ein Doctorhut

Der stünde gut!

Doch wir gratulieren

Noch lange nicht,

Denn es gebricht

Noch immer viel

Und Amor kommt nicht an sein Ziel.

Jetzt trifft er einen, der gefällt,

Der hat aber zu wenig Geld,

Ein anderer am Schabbes schellt,

Will er am Schabbes gar verkaufen

Dann wird gleich davongelaufen.

Bald hätt sie sich einen erkoren

Doch der will nicht Mincha ohren [hören?].

Es steht nun unser Gott Amor

Ratlos vor dem Himmelstor,

Wohin er seine Blicke sendet

Rosa hat sich abgewendet.

Doch plötzlich wie mit einem Male

Blickt er nach Neustadt a/d Saale,

Wo an der Saale Strand,

Im Bayernland

Der Weinstock blüht,

Des Kraft durch alle Adern zieht.

Der lose Knabe

Mit seiner Gabe

Hat’s gefunden

Das Herzchen der Kleinen.

Sie wird weinen

Vor Freude

Wenn sich heut

Ranket der Wein

Hinauf an den Stein

Der nicht wankt,

Gott sei’s gedankt.

Das Bündnis von heute

Macht glücklich Euch beide

Nun stoßet an

Alle Mann

Mit dem Saft der Rebe

Es lebe

Das junge Paar!

Und nächstes Jahr,

Du süßer Liebesgott,

Denk an mich,

Denn auch ich

Zähle schon 18 Jahr.«

Adressiert an Rosa Stein, Eschwege

und Sigmund Weinstock, Neustadt a/d Saale

Verlobte

Aus diesem Gedicht sprechen viel Humor, leiser Spott, Herzlichkeit, Belesenheit und eine wache Beobachtungsgabe; Eigenschaften, für die Elise Grünbaum geliebt und bewundert wurde. Leider ist keiner ihrer vielen persönlichen Briefe erhalten, die den Verwandten stets so viel Freude bereiteten, und so lässt sich auch kein Eindruck gewinnen vom privaten Alltag des Ehepaars in Wiesbaden. Die gefundenen Dokumente lassen jedoch darauf schließen, dass Meier und Elise Grünbaum in guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebten.

Am 10.10.1920 sandte die »Preußische National-Versicherungs-Gesellschaft in Stettin, Agentur Wiesbaden« einen Verlängerungsschein für bewegliche Gegenstände, die mit RM 9200,– versichert waren, was eine sehr gediegene Wohnungseinrichtung vermuten lässt.

19 »Preußische National-Versicherungs-Gesellschaft« Police Verlängerungsschein 169438F

Im März 1930 sowie im Juni und Dezember 1932 sind Ankäufe von Kommunalanleihen und Goldpfandbriefen bei der Nassauischen Landesbank und dem Bankhaus Gebrüder Krier Wiesbaden belegt. Ein Zeichen für das gewinnbringende Handelsgeschäft von Meier Grünbaum, das neben einem guten Lebensstandard auch Sparanlagen ermöglichte.

Ein Feriengruß ihres Bruders erreichte Elise Grünbaum in den ersten Augusttagen 1932. Auf einer Fotokarte, die ihn mit seiner Frau Lucie zeigt, schrieb Wilhelm Kleemann am 06.08. aus Marienbad:

»Liebe Schwester! Wir sind Marienbad so verfallen, daß wir auch in diesem Jahr wieder unseren Urlaub hier verbringen. Leider haben wir es mit dem Wetter schlecht getroffen. Habt Ihr keine Reisepläne? Herzlichen Gruß Dir und Meier

Dein Wilhelm

Beste Grüße für Dich und Deinen Mann Deine Lucie«

Über Ferienreisen von Meier und Elise Grünbaum ist leider nichts bekannt.

Im August 1932 bestätigte die »Reichsschuldenverwaltung – Schuldbuch Berlin« die Eintragung des Testaments von Meier Grünbaum. Es lautet zugunsten von a) Ehefrau Elise geb. Kleemann, b) Kaufmann Max Stein in Eschwege nacheinander.

Am 06.01.1933 teilt die »National Allgemeine Versicherungs-Aktien-Gesellschaft« die Neubesetzung der Agentur mit. Auf der Rückseite dieser Mitteilung entwarf Elise Grünbaum im September 1941 einen Brief an ihre Vermieter Moses Israel und Erna Sara Nussbaum in Frankfurt.

Am 09.12.1932 hatte Meier Grünbaum einen Mietvertrag zum 01.04.1933 mit Herrn Benoit Israel, vertreten durch das Bankhaus Gebrüder Krier Wiesbaden, abgeschlossen. Hierin wird gestattet, 8–14 Tage früher in die Wohnung einzuziehen.

20 Wiesbaden, Bismarckring 27, dritte Wohnung der Familie Grünbaum

Ende März 1933 verzogen Meier und Elise Grünbaum von der Seerobenstraße 4 zum nahegelegenen Bismarckring 27. Im zweiten Stockwerk dieses Hauses bewohnten sie eine Vierzimmerwohnung mit Küche, einer Mansarde und zwei Kellern, zum Jahresmietpreis von RM