Wie es mir gefällt - Deepa Paul - E-Book

Wie es mir gefällt E-Book

Deepa Paul

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Beschreibung

Eine Frau zwischen Lover, Ehemann und Familienglück: Deepa Pauls feinfühlige und selbstkritische Reflexion über Liebe und nicht-exklusives Begehren In den frühen Morgenstunden verlässt Deepa Paul das Bett eines ihrer Liebhaber in Amsterdam, zieht sich an, schlüpft mit einem Kuss davon und radelt nach Hause, wo sie von ihrem Ehemann in die Arme genommen wird. Wie ist ein solches Lieben möglich, bei dem eine Ehe nie infrage gestellt wird und beide Partner trotzdem ihr Begehren und ihre Bedürfnisse frei erforschen und ausleben können? In ihrem faszinierenden Memoir widmet sich Deepa Paul den meistgestellten Fragen zu ihrer offenen Ehe und berichtet unerschrocken, provokant und liebevoll-zärtlich von polyamoren Abenteuern, selbstgegebenen Regeln und Eifersucht.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 523

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Wie es mir gefällt« von Deepa Paul

Über das Buch

Eine Frau zwischen Lover, Ehemann und Familienglück: Deepa Pauls feinfühlige und selbstkritische Reflexion über Liebe und nicht-exklusives BegehrenIn den frühen Morgenstunden verlässt Deepa Paul das Bett eines ihrer Liebhaber in Amsterdam, zieht sich an, schlüpft mit einem Kuss davon und radelt nach Hause, wo sie von ihrem Ehemann in die Arme genommen wird. Wie ist ein solches Lieben möglich, bei dem eine Ehe nie infrage gestellt wird und beide Partner trotzdem ihr Begehren und ihre Bedürfnisse frei erforschen und ausleben können?In ihrem faszinierenden Memoir widmet sich Deepa Paul den meistgestellten Fragen zu ihrer offenen Ehe und berichtet unerschrocken, provokant und liebevoll-zärtlich von polyamoren Abenteuern, selbstgegebenen Regeln und Eifersucht.

Deepa Paul

Wie es mir gefällt

Über Liebe und nicht-exklusives Begehren

Aus dem Englischen von Janine Malz und Christiane Burkhardt

hanserblau

Für Mom, Ate, Nanay und Dima

1

Wie ist es so?

Der Wecker riss mich aus einem kurzen, leichten Schlaf. Die ersten verstohlenen Strahlen des bleichen Morgenlichts fielen durch die Jalousien auf Robert, der neben mir schlief und mit den Zähnen knirschte. Hatte er seine Beißschiene eingesetzt, bevor wir eingeschlafen waren? Ich wusste es nicht. Meine Erinnerung war verschwommen, so früh morgens nach einer langen Nacht.

Vorsichtig, um nur nicht die Wärme unserer beiden Körper unter der Decke verlassen zu müssen, streckte ich den Arm heraus und tastete nach meinem Handy, das auf dem Nachtschränkchen zwischen meinem Asthma-Spray und einem Gleitgel-Spender lag. Der Akku war fast alle, und auf dem Display blinkte die Uhrzeit: 5:00 Uhr morgens. Einen Moment lang war ich versucht, den Snooze-Button zu drücken, aber ich wusste, das wäre keine gute Idee. Allzu leicht passiert es, dass man der Versuchung nachgibt, fünf Minuten länger zu schlafen, und erst fünf Stunden später aufwacht, geblendet von der unbarmherzigen Morgensonne. Das konnte ich mir nicht erlauben.

Wenn ich mich beeile, komme ich der Realität zuvor, bevor sie zum Frühstück erwacht, dachte ich.

All meine Willenskraft zusammennehmend, löste ich mich aus Roberts Armen und stieg aus dem Bett. Ich fischte meinen achtlos weggeworfenen BH und mein Höschen vom Ledersessel, las meine Strumpfhose von dem genoppten roten Polsterhocker auf und sammelte mein Kleid ein, das sich als schwarze Pfütze auf den Boden des Wohnzimmers ergoss. Im Dämmerlicht schlüpfte ich wie ein Ninja in meine Kleider von gestern: leise, rasch, routiniert. Jeder Handgriff saß.

Aus den Überresten unseres Freitagabends — Roberts leere Bierdosen; die ausgedrückten Stummel unserer Joints, die er stets so fachmännisch drehte; das eine Glas Whisky, das er mir nach irischer Art mit einem Schuss Wasser reichte — schnappte ich mir ein paar Dinge, um sie in meiner Tasche zu verstauen: die halb leere Flasche Nikka From The Barrel, einen weißen Spitzentanga mit offenem Schlitz, um den sich Plastikperlen winden, und einen lila Doppeldildo.

Du meintest, bei so was würdest du nie mitmachen!, hatte Robert gestern Abend zu mir gesagt, nachdem wir erschöpft und keuchend im Bett zusammengesunken waren.

Das hast du bei unserem zweiten Date zu mir gesagt, weißt du noch?

Habe ich das? Das ist gefühlt eine Ewigkeit her.

Wir waren damals im Radion-Club, unten im Keller. Du hast mich gefragt, was meine geheimste, abgründigste Fantasie sei. Daraufhin habe ich es dir erzählt, und du meintest: »Sorry, aber ohne mich!«

Oh, stimmt, ich erinnere mich. Mir war nur nicht klar, warum ich so tun sollte, als hätte ich einen Schwanz.

Er hatte gelacht. Das sah eben ganz und gar nicht so aus, als würdest du nur so tun als ob.

Na ja … wie sich herausstellt, bringt das Ding allen Beteiligten jede Menge Spaß.

Als ich unter der Decke nach unserem neuen lila Freund getastet hatte, war ich auf den glatten Silikonschaft gestoßen und hatte ihn unter unser beider Augen hervorgezogen. Damit hätte ich in der Tat nicht gerechnet.

Nachdem ich fertig angezogen war und alles eingepackt hatte, ging ich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante. »Ich gehe«, flüsterte ich und stupste Robert sanft an, obwohl er so fest schlummerte, dass er meinen Aufbruch kaum bemerkte.

»Komm bald wieder«, murmelte er, halb im Schlaf, die Augen noch geschlossen.

»Mach ich.« Ich drückte einen Kuss auf seine dunklen Wangenstoppeln, ehe ich zur Tür hinausschlüpfte, hinein in den kühlen Amsterdamer Morgen. Ich hatte die perfekte Zeit ausgesucht: Der Sonnenaufgang tauchte die Wolken in eine leuchtende Mischung aus Rosa und Orange, und ein Hauch von Helligkeit brach sich inmitten des Grau Bahn.

Todmüde radelte ich an der alten Windmühle vorbei, den gesamten Westerpark hindurch, während der Rausch des gestrigen Abends nachließ, sich die Rauchschwaden der Lust in der feuchten Morgenluft auflösten und die letzte feurig-rote Glut der Intensität zu hier und da bernsteinfarben glimmenden Funken der Erschöpfung abkühlte.

Bei Tagesanbruch durch meine Wahlheimat Amsterdam zu radeln, war die reinste Freude, und die ruhigen Straßen mit ihren spiegelglatt daliegenden Kanälen ein Balsam für die Seele. An Morgen wie diesem nach Nächten wie der letzten fühlt sich der Wind in meinem Gesicht an wie pure Freiheit.

Es hatte viele Nächte gegeben und viele Liebhaber.

In einer anderen Nacht wäre ich vielleicht von Charlies Wohnung in Nijmegen aus mit dem letzten Zug nach Amsterdam zurückgefahren, zusammengezwängt mit lauter betrunkenen Nachtschwärmern in lächerlichen Faschingskostümen. Oder ich wäre bei Rick um 6 Uhr morgens in ein Uber gestiegen und hätte ihm vom Rücksitz aus eine SMS geschickt, um ihm Bescheid zu geben, dass ich sicher angekommen war, und ihm für den schönen Abend zu danken. Oder Massimo hätte mich in seinem weißen Transporter, vollgeladen mit sizilianischen Produkten, den ganzen Weg von Amsterdam Noord bis nach Hause in den Westen der Stadt gebracht, während Rock aus den Boxen dröhnte.

Oder ich hätte, wie es oft vorkam, auf meinem Fahrrad und in den Klamotten des Vorabends den Walk of Shame (abzüglich der Scham) nach Hause angetreten, vorbei an den Nachbarn, die mit ihren Kindern am Fenster frühstückten, und höchstens einen flüchtigen Gedanken daran verschwendet, was sie wohl gesehen hatten, was sie von mir hielten oder von mir wussten.

Die Heimfahrt war nie nur eine Fahrt von A nach B. Es war der Übergang von einer Welt in eine andere, vom einen Ich zum anderen: von sexueller Freiheit zum häuslichen Glück, vom aufregenden Reiz des Neuen und Andersartigen hin zum geliebten Komfort des Vertrauten und Alltäglichen, ein schmales Zeitfenster, in dem ich die Haut der zügellosen Liebhaberin abstreifte und in die Rolle der Mutter und Ehefrau schlüpfte. Nachdem ich schon seit Langem zwischen beidem hin- und herwechselte, spürte ich kaum noch Reibungsverluste, wenn ich zu Mann und Kind nach Hause zurückkehrte.

Der Ausgangspunkt und das Transportmittel mochten verschieden sein, der Zielort war immer derselbe.

Im Haus war es still. Als Allererstes hüpfte ich unter die Dusche, um die letzte Nacht abzuwaschen und unter dem warmen Wasser den Kopf frei zu kriegen. Später würde immer noch Zeit sein, die Highlights Revue passieren zu lassen. Gerade wollte ich einfach nur schlafen. Frisch geduscht und mit nassem Haar schlich ich in das noch dunkle Schlafzimmer, hob einen Zipfel der Decke an und schlüpfte neben meinem Ehemann ins Bett.

Marcus lag mit dem Rücken zu mir, aber als ich ihn berührte, rollte er sich zu mir, halb im Schlaf, die Augen noch geschlossen. Er zog mich an sich und hüllte mich in seine vertraute Wärme. Ich fühlte das Gewicht seines Beins auf meinem wie einen Anker in der Tiefe. Ich trieb dahin, aber nun war ich fest angebunden: an ihn, an uns, an mein und unser Leben.

Nicht immer hatte mich bei meiner Rückkehr eine herzliche Begrüßung erwartet. Es gab Zeiten, da drehte er mir den Rücken zu, gab vor zu schlafen, obwohl ich wusste, dass er wach war. Diese morgendlichen Umarmungen waren hart erkämpft, genau wie das sorgenfreie Radeln auf dem Heimweg zu ihnen.

In ein paar Stunden würde ich blinzelnd meine Augen öffnen und, kurz bevor ich wieder wegdämmerte, unsere Tochter zwischen uns bemerken, mit ihrem Strahlenkranz aus schwarzem Haar, ihre schlanken Beine in einen flauschigen grün-lila Meerjungfrauenschwanz gehüllt. Wenn ich dann vollständig erwacht wäre, würde die vormittägliche Sonne durch die weiß gestrichenen Fensterläden hereinfallen, während aus dem Wohnzimmer munteres Cartoon-Geschnatter und aus der Küche der Duft von frischem Kaffee drang.

Marcus würde das Frühstück für uns drei auf einem Holztablett hereintragen: Speck, Zimtrollen, Pfannkuchen mit Puderzucker und hagelslag, die Schokostreusel, die man in den Niederlanden als Brotbelag isst. Und wenn er dann den lila Doppeldildo entdecken würde, der aus meiner Tasche ragte, würde er fragen: »Huch, was ist das denn?«

Ich würde ihm einen Blick zuwerfen, der besagte Psst, später, während kleine Füße auf uns zugetapst kamen, angelockt vom duftenden Speck und der Aussicht auf morgendliche Kuscheleinheiten in Mamas und Papas Bett.

Und er würde es verstehen. Später.

Doch nun gab es erst einmal nur uns, und den Schlaf. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich in die Welt der Träume sank, war das Knirschen seiner Zähne.

Zu Hause, dachte ich. Ich bin zu Hause.

*

Auf meinem Tinder-Profil steht eine sorgfältige Auswahl von Wörtern, die beschreiben, wer ich bin und wonach ich suche. Tropical girl in Amsterdam. 1,56 m — ich wohne in einem Land, in dem die größten Menschen der Welt leben, insofern ist meine Größe eine wichtige Info. Cocktails, Gespräche, Tanzen, Küssen — eine kurze Liste meiner Vorlieben und Hobbys, die diejenigen ansprechen sollen, die ähnlich ticken wie ich, und alle rausfiltern sollen, die es nicht tun. Ja, es gibt Leute, die nicht auf Küssen stehen. Ich habe selbst welche kennengelernt und brauche nicht noch mehr davon.

Am besten man hält es kurz. In der Kürze liegt die Würze. Lesen Männer den Text unter dem Profil überhaupt? Normalerweise runde ich das Ganze ab, indem ich beiläufig die Bombe platzen lasse. Ach, und mein Mann weiß, dass ich hier bin. Womit ich einerseits Verbindlichkeit signalisiere, andererseits die Moralvorstellung der Ehe infrage stelle. Zum Schluss wende ich einen Werbetexter-Trick an: der call to action.

Los, frag mich, wie das funktioniert.

Offenbar lesen Männer doch. In neun von zehn Fällen lautet die erst Nachricht, die ich von einem neuen Match erhalte: Okay, dann erzähl mal, wie funktioniert das?

In den acht Jahren, seit mein Mann und ich das Fenster unserer siebzehn Jahre währenden Ehe aufstießen, um die wilden Winde der einvernehmlichen Nicht-Monogamie hereinzulassen, war Wie funktioniert das? die erste Frage, die mir Leute stellten, die ich als potenzielle Sexpartner kennenlernte, in Erwägung zog, ablehnte oder zu schätzen lernte. Über die Jahre war sie der Einstieg für diverse Flirts, Gespräche und Kreuzverhöre, die ebenso sehr dem Aushorchen wie dem Vorfühlen dienten, der Auftakt zu weiteren Fragen, die inzwischen vertraut, ja sogar vorhersehbar geworden sind.

Neugier ist eine der Eigenschaften, die ich am meisten an mir und anderen mag, insofern scheue ich nicht vor Fragen zurück. Neue Fragen ergeben sich ständig, die Antworten ändern sich mit der Zeit. Berechtigte Fragen haben immer eine Erklärung verdient. Aber ein Wie funktioniert das? lässt sich nicht mit einem Satz beantworten.

Vielleicht ist es besser, wenn ich es euch einfach zeige.

*

Ein weiterer Samstag. Endlich allein.

Wir hatten nur eine Stunde, maximal anderthalb. Nachdem wir mit der aufgekratzten Vorfreude von zwei Liebenden, die eine heimliche Affäre unterhielten, Blicke getauscht und uns gegenseitig die behandschuhten Hände gedrückt hatten, brachen Marcus und ich an einem kühlen, sonnigen Spätherbstnachmittag in den Vondelpark auf.

Wir hatten gerade unsere Tochter bei ihrer wöchentlichen Orchesterprobe abgeliefert, die Geige auf den Rücken geschnallt, die Noten in einem Stoffbeutel. Unserem schüchternen Mädchen wäre es zwar lieber gewesen, wenn einer von uns oder wir beide bei offener Tür vor dem Probenraum sitzen würden, damit wir ihr gelegentlich einen beruhigenden Blick zuwerfen konnten, aber die Eltern waren angehalten, nicht im Gebäude herumzulungern und ihre Kinder erst zur vereinbarten Zeit abzuholen. Dadurch wurde uns eine kinderfreie Stunde geschenkt, in der wir nichts erledigen mussten und stattdessen einfach nur unsere Stadt und die Zweisamkeit genießen konnten.

Der Spaziergang zum Vondelpark auf verschlungenen Wegen war eine Reise in die Vergangenheit: vorbei an den Läden im Overtoom-Viertel, wo Marcus und ich nach Möbeln gestöbert hatten, als wir nach Amsterdam gezogen waren; vorbei an üppigem Blauregen, der von bunten Balkonen herabhing und auf den Frühling wartete; vorbei am Lunchroom Wilhelmina, einem kleinen Sandwich-Laden voll mit klapprigen Tischen und kunterbunt durcheinandergewürfelten Stühlen, wo wir gerne eingekehrt sind, als wir noch kinderlos und unbekümmert waren.

Neben den gemeinsamen Erinnerungen verband uns auch das, was wir gemeinsam neu entdeckten. Neugierig geworden beim Blick durch den Torbogen, betraten wir ein ehemaliges Krankenhaus, das 1891 gegründet worden war und dessen Backsteingemäuer nun Künstler und Architekten, Therapeuten und Start-ups beherbergte. Das trockene Herbstlaub gab ein befriedigendes Rascheln von sich, als wir durch den Hof schlenderten und darüber staunten, dass Amsterdam auch nach all der Zeit noch immer Überraschungen für uns bereithielt.

Im Blauwe Theehuis im Park stellten wir uns für Glühwein und Kaffee an und setzten uns mit unseren Pappbechern auf eine Bank am Wasser. Als ein älteres Ehepaar Arm in Arm vorüberging, stupste ich Marcus an: Das werden eines Tages wir sein. Was sie in ihrem Leben wohl alles zusammen erlebt hatten? Welche Geschichten sie wohl erzählen könnten? Marcus meinte, der alte Mann mit dem eleganten Filzhut und den ledernen Ellbogenflicken sehe ein wenig zu adrett aus, um sein zukünftiges Ich zu sein, aber die Dame mit dem wallenden kobaltblauen Mantel könnte definitiv ich sein.

Unsere Gespräche drehten sich um die Details unseres gemeinsamen Lebens. Wie die meisten Eltern, denen ein kleines freies Zeitfenster ohne Kind gestattet war, redeten wir den Großteil der Zeit über eben dieses Kind. Wir lauschten und lachten, planten und koordinierten. Allzu schnell war es an der Zeit, zur Musikschule zurückzukehren, zurück zu unserer Tochter und unserem Elterndasein.

Wäre dies ein gewöhnlicher Samstag gewesen, wären wir nach der Orchesterprobe direkt heimgegangen. Doch dies war kein gewöhnlicher Tag.

Da es ausnahmsweise mal trocken war, wollten wir das gute Wetter ausnutzen und machten auf dem Nachhauseweg im Westerpark halt, quasi unserem grünen Hinterhof. Schon bald entdeckte unsere Tochter einige ihrer Schulkameraden beim Spielen und rannte zu ihnen. Wir lächelten und nickten den anderen Eltern zu, die zusammengedrängt mit Glühwein und Kaffee dastanden, genau wie wir vor einer Stunde, und stellten uns einem Kräftemessen: Wer würde zuerst schlapp machen? Die Eltern, denen kalt wurde, oder die Kinder, die müde wurden? Die Kinder gewannen fast immer.

Gegen drei drückte Marcus meine Hand: Es war an der Zeit.

Er gab mir eine feste Umarmung. »Viel Spaß«, sagte ich ihm. »Ich hab alles unter Kontrolle.«

»Bist du sicher?« Das fragte er immer.

»Klar«, sagte ich felsenfest. »Amüsier dich.«

Er ging hinüber zu dem Dschungel-Parcours aus Holz und verabschiedete sich mit ausgebreiteten Armen von unserem kichernden, kopfüber hängenden Kind, das sich in den Sand hinabließ, um ihn zu umarmen.

»Mama bringt dich heim«, hörte ich ihn sagen. »Ich hab dich lieb.«

»Hab dich auch lieb«, antwortete sie atemlos, begierig darauf, weiterzuspielen. »Bis später!«

Morgen, dachte ich. Bis morgen.

Einen Moment lang schaute er zu mir zurück. Wie eine Mutter, die ihrem Kind am ersten Schultag zum Abschied winkt, lächelte ich ihn an und setzte einen euphorischen, ermutigenden Gesichtsausdruck auf.

Das wird schon. Du wirst bestimmt viel Spaß haben! Bald denkst du gar nicht mehr an mich. Du wirst schon sehen.

Der Blick funktionierte. Mein Mann lief auf das Hotel inmitten des Westerpark zu und schulterte seinen Rucksack. Darin waren ein tragbarer Bluetooth-Lautsprecher, vier Juteseile von acht Metern Länge, Kondome, Gleitmittel und vermutlich ein paar andere Dinge, von denen ich nichts wusste und die niemanden etwas angingen außer ihn. Er zog sein Handy aus der Tasche, um nachzusehen, ob sein Rendezvous schon auf ihn wartete.

Bis morgen.

Meine durchgefrorenen Füße zwangen mich schon bald dazu, den Eltern-Kind-Kampf in puncto Durchhaltevermögen aufzugeben. Ich schnappte mir mein Äffchen aus seiner Horde, brachte sie heim und ließ ihr ein warmes Bad ein, während ich Sushi bestellte. Wir schauten Der Prinz von Ägypten, den erfolgreichen Animationsfilm von DreamWorks aus den 1990ern, bei dem ich mitsang, während sie ihre dampfende Miso-Suppe löffelte und durchsichtige Fischrogen in ihren Mund stopfte. Das Rote Meer teilte sich gerade, als ich Arganöl mit Jasmin-Aroma in ihr langes Haar einmassierte und es so lange kämmte, bis es schön glatt und glänzend war. Das Ins-Bett-Bringen verlief problemlos, Punkt acht schlief sie tief und fest.

Somit gehörte der restliche Abend ganz und gar mir. Nachdem ich es mir anderweitig gemütlich gemacht hatte — meine Spitzen- und Satindessous weichten im Waschbecken ein, während ich im Schein der Duftkerze auf dem Fensterbrett dunkle Schokolade knabberte und ein paar Züge von einem Joint nahm —, schlief ich mit meinem aufgeklappten Buch auf seinem leeren Kissen ein, in dem Wissen, dass Marcus seinen eigenen Vergnügungen nachging.

Die Rückkehr meines Mannes kündigte sich in Phasen an. Zuerst eine WhatsApp-Nachricht von 2:33 Uhr, die ich im Halbschlaf verschwommen mit zusammengekniffenen Augen las. Bin jetzt allein. Ich hätte gern noch ein bisschen Zeit für mich, um runterzukommen. Ist es okay, wenn ich hier schlafe, frühstücke und gegen 9 heimkomme?

Dann das Prasseln der Dusche, Umrisse in der Schlafzimmertür, die sich gegen das Licht aus dem Flur abzeichneten, das Knarzen der sich schließenden Tür, das Gewicht seines tropfnassen Körpers, der aufs Bett sank. Zuletzt das Bein, das sich über meins legte, die Arme um meinen Brustkorb, die Hand an meiner Brust.

Sonntage fangen bei uns zu Hause spät an und kommen langsam in die Gänge. Gesegnet mit meinen Genen, was tiefen Schlaf betrifft, zählt meine Tochter zu der seltenen Spezies, um die uns die meisten Eltern beneiden: Sie schläft gut und steht spät auf. Der Morgen danach war wie jeder andere: Sie und ich lümmelten mit einem Buch in der Hand in Pyjamas auf der Couch herum, wobei ihre Beine in einem kuschligen Meerjungfrauenschwanz aus Fleece steckten, während auf meinen Beinen unsere Katze lag, die sich zu einem pelzigen schwarzen Knäuel zusammengerollt hatte. Jeder von uns still und zufrieden und ohne jede Eile.

Papa, der sonst der König der Sonntagmorgen-Pfannkuchen war, brauchte dringend Schlaf. Also schnappte ich mir eine Rührschüssel und einen Holzlöffel, trat an den Herd und vergaß, was der entscheidende Unterschied zwischen fluffigen American Pancakes und dünnen Hollandse Pannenkoeken war. Nach der Hälfte der ersten Ladung fiel es mir ein: Backpulver. Um meinen Mangel an kulinarischer Finesse als Lehrstunde zu tarnen, präsentierte ich meiner Tochter meine klumpigen Kreationen als Wolken: Cumulus, Stratus, Nimbus. Da ich ihr freie Hand beim Garnieren mit Puderzucker und hagelslag ließ, fühlte sie sich ebenso glücklich wie gut unterhalten.

Marcus kam um halb zehn in die Küche getapst, körperlich anwesend, aber geistig benebelt. Sein abwesender Gesichtsausdruck, die langsamen Reflexe und der unstete Blick sagten mir, dass er sich von einer intensiven Nacht erholte. Er brauchte Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, um allmählich ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Aus Erfahrung wusste ich, dass er im Laufe des Tages zu sich kommen würde und bis zum Abend als zuverlässiger, aufmerksamer Ehemann und Vater wieder vollständig regeneriert wäre. Er brauchte lediglich früh zu Bett gehen, durchschlafen und mehrere Tassen Kaffee und schon wäre er wiederhergestellt und würde die Konzentration und Produktivität aufbringen, die sein Bürojob erforderte. Aber das konnte bis morgen warten.

Im Moment stand — wie meist, außer wenn wir uns nach Absprache stundenweise eine Auszeit nahmen — die Familie an erster Stelle. In der Zwischenzeit würde er auf den Ebbe- und Flutwellen unseres gemütlichen Sonntags dahintreiben und allmählich zur Küste zurückkehren, nachdem er zeitweise seiner Verantwortung entbunden worden war. Bis dahin übernahm ich an Bord das Steuer. Ich wusste, er würde dasselbe für mich tun.

*

An einem anderen Wochenende würde man vielleicht hören, wie wir uns irgendwo im Haus leise murmelnd unterhalten, während unsere Tochter in der ihr zugestandenen Gaming-Stunde verzückt auf ihrer Nintendo Switch spielt, die sie letztes Jahr bekommen hat — ein Gemeinschaftsgeschenk von Santa Claus und Sinterklaas, die amerikanische und die niederländische Variante des Nikolaus, wobei Ersterer in unsere Kindheit eine wichtige Rolle spielte und Zweiterer in ihrer.

Was auch immer sich die Leute vorstellen mögen, was in diesem Haus vor sich geht — bei uns wird vor allen Dingen geredet. Da gibt es am Morgen danach bei einer Tasse Kaffee auf dem Balkon eine kleine Auswertung des Vorabends, bei der die Nachbarn (hoffentlich) nicht zuhören. Da werden im Schlafzimmer bei geschlossener, aber nicht abgeschlossener Tür Bekenntnisse zueinander erneuert und neue Vereinbarungen getroffen. Da wird unter der Dusche gebeichtet, wobei einer von uns den Part des Büßers hinter einem Vorhang aus Kondenswasser übernimmt, der andere den des nackten Priesters in einer vollgedampften Beichtkabine. Ein prustendes Lachen hier, eine hochgezogene Augenbraue da. Und jederzeit besteht die Möglichkeit, zu sagen, Ich hab genug gehört, danke, denn wir können darauf vertrauen, dass der andere das versteht und respektiert.

Als Familie läuft unser Alltag in ruhigen Bahnen ab, die durch die Herausforderungen unserer offenen Ehe nur selten gestört werden. Nach all der Zeit sind wir mehr oder weniger gut eingespielt. Manchmal bin ich immer noch überrascht, wie normal sich das alles anfühlt. Wenn alles klappt, was meist der Fall ist, gehe ich ausgeglichen und mit leichtem Herzen durch den Tag, in der Gewissheit, dass alle Menschen in meinem Leben glücklich sind, sich geliebt fühlen und sich weiterentwickeln können — ich eingeschlossen.

Doch so war es nicht immer. Nicht von Anfang an. Das war jahrelange Arbeit: Es brauchte unzählige Gespräche, etliche Fehler und genauso viele Versuche, aus ihnen zu lernen.

Was uns zu der ersten und naheliegendsten Frage führt: Wie hat alles angefangen?

Alle fragen das, aber nicht alle wollen eine ehrliche Antwort hören. Was ich entgegne, hängt immer davon ab, wer fragt und inwiefern die Person bereit ist, zuzuhören. Wenn ich nur ein beiläufiges Interesse spüre — von einem Date, das am liebsten schnell das Thema wechseln will; von einer neuen Bekanntschaft, die bei einer Party mit einem Drink in der Hand so aussieht, als würde sie beim ersten unangenehmen Moment Reißaus nehmen —, gebe ich die Standardantwort: »Es hat lange gedauert, aber wir haben viel darüber geredet und beschlossen, es einfach mal auszuprobieren. Wir haben vereinbart, dass wir jederzeit wieder zur monogamen Ehe zurückkehren können, sollte es nicht funktionieren. Aber das tut es, und here we are.«

Die Standardantwort ist bequem für mich. Damit kann ich es abhaken, es schnell hinter mich bringen: schön kurz und knackig; die kompakte Version einer komplizierten Wahrheit, die sich leicht mit einer witzigen Bemerkung und einem Augenzwinkern auflockern lässt. Aber ihr seid wahrscheinlich nicht an der Standardantwort interessiert. Ich merke das schnell — an einem gewissen Blick, einer bestimmten Haltung, dem Innehalten und der Aufmerksamkeit, mit der jemand zuhört. Aufrichtiges Interesse bringt mich unter Umständen dazu, eine Antwort zu geben, die der Neugier meines Gegenübers gerecht wird und mehr in die Tiefe geht.

Dann sage ich vielleicht, dass alles begann, als mein Mann und ich nach Amsterdam gezogen sind. Europas Sin City mit ihrem Ruf, liberal und tolerant zu sein, nicht zuletzt was Sex angeht, klingt wie ein plausibler Ausgangspunkt für eine offene Ehe. Wenn man ein Paar aus Amsterdam trifft, das in einer offenen Ehe lebt, ist man nicht überrascht. Es kommt einem vielleicht sogar naheliegend vor.

Aber wenn ich ehrlich sein soll und ihr bereit seid, zuzuhören, würde ich sagen, es fing an, lange bevor wir nach Amsterdam kamen, an dem dafür wohl unwahrscheinlichsten aller Orte. Ich würde sagen, es begann auf den Philippinen — einem zutiefst konservativen, erzkatholischen Land in Südostasien mit 92 Millionen Einwohnern und 7647 Inseln. Einem der letzten beiden Länder der Erde, in denen es gesetzlich verboten ist, sich scheiden zu lassen — das Land, in dem ich geboren wurde.

2

Wie hat alles angefangen?

Er war pleite und ehrgeizig, ein schüchterner Diplomingenieur aus Kolkata mit einem struppigen Schnurrbart und einem Vollstipendium für das Asian Institute of Management auf den Philippinen, das in den 1970er-Jahren als Asiens Harvard Business School galt.

Er war erst seit Kurzem in Manila und wollte mit einem renommierten internationalen MBA als extrem gute Partie nach Indien zurückkehren, eine große Mitgift fordern und eine hübsche junge Bengalin aus einer anständigen bengalischen Familie heiraten, um seinen gesamten Clan — dessen Hoffnungen auf ein besseres Leben seit seiner Kindheit allein auf seinen Schultern ruhten — aus der Armut zu befreien und ihm ein Leben in Wohlstand zu garantieren. Als waschechter Nerd und gehorsamer Sohn, der dafür verantwortlich war, die Träume seiner Familie zu erfüllen, büffelte er schwer und vergrub sich ständig in Bücher.

Nie hätte er mit jemandem wie ihr gerechnet.

Sie war klein, aber oho, ein linker Lachgrübchen-Hitzkopf aus Santa Cruz, Laguna, mit einem herzförmigen Gesicht, einer flinken Zunge und sprunghaftem Temperament. Schon mit siebzehn hatte sie angefangen zu arbeiten, und sie jobbte auch jetzt während des Studiums, um ihre Mutter und Schwester zu unterstützen. Sie tanzte in einer Volkstanzgruppe und demonstrierte mit anderen langhaarigen Hippie-Linken vor den Toren des Präsidentenpalasts Malacañang Palace, bis sie merkte, dass sie zwar eine Idealistin war, aber nicht unbedingt Kommunistin. An dem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten, hatte sie eigentlich zu einer Studierendenparty nach Pasay fahren wollen, zu der sie Freund:innen aus dem Büro eingeladen hatten. Das Ganze stellte sich als Verkupplungsaktion heraus, dabei war ein Blind Date eigentlich nicht Teil ihres Plans gewesen.

Auf den ersten Blick gefiel er ihr nicht besonders. Ihr einziges Ziel bestand darin, ihn daran zu hindern, sie anzumachen — und das schaffte sie, indem sie sich weigerte, in seinem Zimmer neben ihm zu sitzen. Außerdem achtete sie darauf, dass die Tür offen blieb. Keine faulen Tricks.

Er kapierte das schnell. Am Ende des Abends ließ er sich mit seiner Flasche San Miguel lachend ins Bett fallen. Sie war schräg, aber er mochte sie. Er war belustigt; sie weniger.

Er war mein Vater und sie meine Mutter.

Meine Eltern mochten sich bei einem Blind Date kennengelernt haben, aber wir reden hier von den Philippinen. Da konnte sich keine Romanze anbahnen, ohne dass einem offiziell der Hof gemacht wird: ein uraltes Ritual, bei dem sich Mann und Frau in die Rolle von Werbendem und Umworbener fügen müssen. Das konnte sich Monate, ja sogar Jahre lang hinziehen, markiert von offiziellen Meilensteinen irgendwo zwischen Liebeskummer und Happy End.

Auf den Philippinen beginnt das Werben damit, dass der Mann seine Absichten verkündet — am besten, indem er mündlich oder schriftlich die Schönheit und Tugend seiner Liebsten rühmt. Dann kann ihm die Frau erlauben, den nächsten Schritt zu machen, oder ihm mitteilen, dass er nicht die geringste Chance hat, ihr Herz zu gewinnen. Sie kann ihm auch freundlich einen Korb geben, indem sie ihm ihre Freundschaft, also eine platonische Beziehung, anbietet; heute nennen wir das die Friendzone.

Dieses ganze Prozedere beginnt schon sehr früh. Jungen schreiben Liebesbriefe, singen Liebeslieder und erweisen dem Mädchen und ihren Eltern Liebesdienste. Sie zeigen sich von ihrer besten Seite, um zu beweisen, was für ein perfekter Freund (und späterer Schwiegersohn) sie sind. Mädchen denken sich Strategien aus, wie sie die Jungs auf Distanz halten können. Je mehr sich ihre Verehrer bemühen und je länger sie sich dem Ansturm eines solch hartnäckigen romantischen Werbens widersetzen können, desto mehr steigen ihre vermutete Tugend und ihr Marktwert.

Fest entschlossen, sie zu erobern, lieh sich also mein Vater ein Moped, damit er in ihrer Stadt um meine Mutter werben konnte, vor der winzigen Wohnung, die sie sich mit Nanay und Tita R., meiner Großmutter und Tante, in den versmogten Gassen von Sampaloc, Manila, teilte. Neugierige Nachbarn kündigten seinen Besuch an, riefen »Ayan na yung Bumbay!« (»Der Inder ist da!«), und verschafften ihr so genug Zeit, die Fensterläden zu schließen und so zu tun, als wäre sie nicht zu Hause. Er wartete vor der Tür, bis meine gutmütige Nanay für ihn Partei ergriff — »Kawawa naman!« (»Der arme Junge!«) — und ihn hineinbat.

Fest entschlossen, ihn abzuschütteln, wollte ihn meine Mutter dort treffen, wo es wehtat — bei seinen Finanzen. Sie legte höchste Ansprüche an den Tag, die er mit Sicherheit nicht erfüllen konnte. Nach einer ausgiebigen Shoppingtour an ihrem Geburtstag, die neuen Stoff und zwei neue maßgeschneiderte Kleider, ein auswärtiges Mittagessen sowie halo-halo für sie und zwei ihrer engsten Freundinnen beinhaltete, besuchte er sie am nächsten Tag erneut mit seinen Kontoauszügen. Guthaben: 0. Sie hatte ihn um sein letztes Geld gebracht.

Mein Vater wusste genau, was sie vorhatte, hatte ihr aber einen schönen Geburtstag bereiten wollen. Er hatte einer Tante in Indien telegrafiert, damit sie ihm half, doch bis er Geld von ihr erhalten würde, konnte er es sich nicht leisten, sie wiederzutreffen. Er konnte es sich kaum leisten, für seinen eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.

Sie hätte eigentlich stolz auf sich sein müssen. Aber stattdessen hatte sie ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn doch bloß entmutigen, aber nicht zum Verhungern bringen wollen! »Wann … Wann kommt denn das Geld?«, stammelte sie. »Wie willst du dich bis dahin ernähren?«

»Keine Ahnung« sagte er nur gelassen. »Ich komme aus Indien. Mir fällt schon was ein.«

Von da an schlug das Herz meiner Mutter für ihn, denn sie hatte ihn zu etwas gemacht, dem sie nicht widerstehen konnte: zu einem Underdog. Kleinlaut und völlig zerknirscht machte sie ihm Sandwiches, die sie ihm ins Studentenwohnheim brachte.

Zehn Monate später waren meine Eltern verheiratet.

Alles, was ich über die Ehe gelernt habe, habe ich von meinen Eltern gelernt.

Die ihre war meine liebste Liebesgeschichte, und sie waren meine liebsten Protagonisten: zwei abgerissene, verliebte Kids, die es wagten, sich der Tradition zu widersetzen, die Dinge auf ihre Art machten — um dann gegen alle Widerstände zu triumphieren. Für mich waren sie einfach Mom und Dad, aber in den Geschichten nannte meine Mutter sie stets Mommy und Daddy. Sie wurde es nie leid, mir davon zu erzählen, und ich wurde es nie leid, ihr zuzuhören.

Mommy und Daddy, die kurz ihren Arbeitsplatz verließen, um in der Mittagspause in der Makati City Hall zu heiraten — mit gerade mal 50 Pesos in der Tasche und einem Trauzeugen, den sie einfach von der Straße ins Standesamt gezerrt hatten. Mommy und Daddy, die mit Fried Chicken von Max’s nach Hause kamen, um meiner Großmutter von ihrer Hochzeit zu erzählen. »Als ich das Fried Chicken sah, dachte ich mir: ›Naku! Da ist doch irgendwas im Busch‹«, hat Nanay mir einmal gesagt. In dieser Nacht ließ sie ihn nicht ins Studentenwohnheim zurückkehren. »Ihr seid jetzt Mann und Frau. Ihr solltet nicht länger getrennt sein«, beharrte sie. Er blieb, und neun Monate später kam meine Schwester zur Welt.

Mommy und Daddy, die mit dem Neugeborenen und jeder Menge Geschenke, darunter der erste Farbfernseher des ganzen Wohnblocks, nach Kolkata zurückkehrten — als Charmeoffensive, damit meine Großeltern ihre philippinische Schwiegertochter akzeptierten. Sie ließen das Baby bei Dima und Dadu, um Indien zu bereisen, eine Zeit, die Mom als »die Zeit, in der deine Schwester PR machen musste« bezeichnete. Mit ihren glänzenden haselnussbraunen Augen und ihrem weichen, seidigen braunen Haar schaffte es meine ein Jahr alte Schwester bestens, die Heirat gut zu verkaufen. Als Mom und Dad zurückkehrten, waren meine Großeltern schockverliebt in ihr erstes Enkelkind, und die entgangene Mitgift war längst vergessen.

Das erste Auto von Mommy und Daddy war ein Mercedes-Benz, den ihm sein reicher Chef versprochen hatte, sollte er es denn schaffen, den Wagen alleine heil nach Hause zu bringen. Daddy, der noch nie in seinem Leben Auto gefahren war, juckelte, ächzte und quietschte durch Manilas Smog und Verkehr, bis er Mommy triumphierend und nass geschwitzt seine funkelnagelneue Trophäe, die er sich durch reine Hartnäckigkeit verdient hatte, vorführen konnte.

Lange bevor ich selbst zu Hochzeiten ging, auf denen die Priester von der Liebe als großer Aufopferung predigten, wusste ich, dass die Ehe ein Abenteuer ist. Weil ich sah, wie Moms Augen glänzten, wie ihre Grübchen tiefer wurden und wie sie mit jedem Mal, das sie diese Geschichte erzählte, mehr strahlte, begriff ich, dass einem ein Abenteuer das Gefühl gibt, lebendig zu sein, und dass das Schönste daran ist, jemanden zu finden, der Lust hat, einen auf genau so ein Abenteuer zu begleiten.

Ich begriff, dass das Leben ein Spiel ist, das zu zweit gespielt wird. Als Mann und Frau bestimmt man ausschließlich gemeinsam, nach welchen Spielregeln man spielt und wann jemand gewonnen hat. »Niemand verstand Daddy so gut wie ich, und mich verstand niemand so gut wie er«, sagte Mom immer. »Solange man sich versteht, ist alles andere egal.«

Nach sämtlichen Erfolgskriterien der Mittelschicht Manilas standen meine Eltern auf der Gewinnerseite. Mit Anfang dreißig hatten der arme Student aus Kolkata und die lebenslustige jobbende Studentin aus Santa Cruz zwei entzückende kleine Mädchen, ein zweistöckiges Haus in einer privaten Gated Community sowie jeder einen Sportwagen — und sie konnten sich den Luxus leisten, Asien und Europa zu bereisen. Sie hatten nichts, doch gemeinsam brachten sie es zu mehr, als sie es allein je geschafft hätten — in einer Gesellschaft, die Abweichungen von der Norm weder ermutigt noch belohnt.

Man kann so einiges über Filipinos sagen — sie sind fröhlich, fleißig, ausgesprochene Familienmenschen —, aber als Nation neigen wir eher nicht zu unkonventionellen Entscheidungen, Mutproben oder dazu, unsere individuelle Einzigartigkeit zu betonen. Das Leben in einem armen, chaotischen, von Katastrophen heimgesuchten Land wie den Philippinen ist auch so schon hart genug; warum es sich unnötig schwer machen?

Für Abermillionen Menschen gibt es nicht viele Privilegien; der Großteil der Bevölkerung, der es sich nicht leisten kann, für sie zu zahlen, muss sich darauf einstellen, für sie zu kämpfen. Das nationale Ziel besteht darin, den jeweiligen Tag zu überleben, das ist gewissermaßen in unsere DNA eingeschrieben. Lachen ist die nationale Bewältigungsstrategie. Man überlebt, indem man sich an die Dinge hält, die funktionieren — und damit genau das tut, was alle anderen um einen herum ebenfalls tun, sehr wahrscheinlich auch das, was die eigenen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern schon immer getan haben. Das macht es nicht gerade leicht für Menschen, die anders sind — was meine Eltern eindeutig waren und was ich ebenfalls bin, wie ich bald feststellen sollte.

Dank mehr als dreihundert Jahren spanischer Kolonialherrschaft — die mit dem Vertrag von Paris endete, der die Philippinen im Gesamtpaket mit Puerto Rico und Guam an die USA verkaufte und drei Jahrzehnte unter einem amerikanischen Generalgouverneur einläutete — sind die Philippinen eine der letzten Bastionen der römisch-katholischen Kirche.

Und deshalb sind sie auch einer von nur noch zwei Staaten auf der Welt, in denen man sich nicht scheiden lassen kann. Der andere ist Vatikanstadt mit einer Gesamtbevölkerung von 825 Menschen.

Dreihundert Jahre in einem spanischen Kloster und dreißig Jahre im amerikanischen Hollywood, so beschreiben wir auf den Philippinen unsere Vergangenheit, haben tiefe Narben in unserer Geschichte, Identität und Kultur hinterlassen. An nichts ist das so gut zu sehen wie an der Einstellung der Filipinos zu Sex, Liebe, Ehe und Beziehungen, die von katholischen Schuldgefühlen und amerikanischem Puritanismus geprägt ist. Während ich das hier schreibe, steckt ein Scheidungsgesetz im Kongress fest, gleichzeitig streiten sich die Gesetzgeber über die endlose Umbenennung von Straßen und die heimliche Veruntreuung von Regierungsgeldern. Gut möglich, dass das Gesetz nie durchkommt.

Statt einer Scheidung sieht das Familienrecht der Philippinen drei legale Wege für Paare vor, die ihre Ehe gerne beenden würden.

Bei einer Erklärung der Ehenichtigkeit wird der Ehevertrag gerichtlich für null und nichtig erklärt — er hat also schon zum Zeitpunkt der Eheschließung keine Gültigkeit besessen. Dafür kann es zwölf verschiedene Gründe geben, unter anderem fehlende Volljährigkeit, Betrug, Inzest, Bigamie und Gleichgeschlechtlichkeit.

Bei einer Annullierung ist die Ehe unter weiteren Voraussetzungen nichtig, nämlich wenn nachgewiesen werden kann, dass eine der beiden Parteien zum Zeitpunkt der Eheschließung unzurechnungsfähig war, wegen eines Verbrechens oder »moralischer Verwerflichkeit« verurteilt wurde, drogenabhängig oder alkoholabhängig war, an einer sexuell übertragbaren Krankheit litt oder aber homosexuell war. Doch aufgepasst: Treten diese Bedingungen während der Ehe ein, ist das juristisch kein Grund, eine Ehe annullieren zu lassen. Diese Dinge müssen bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung so gewesen sein, und das sollte man auch hinreichend beweisen können.

Keine dieser beiden Optionen verpflichtet zu Unterhalt, es gibt kein Konzept für Elternschaft oder gemeinsames Sorgerecht; es handelt sich einfach bloß um die Beendigung eines Vertrags, der beide Parteien von jedweder Verpflichtung gegenüber dem anderen entbindet — eine vollständige Nichtigkeitserklärung also, so als hätte die Ehe niemals stattgefunden.

Dann gibt es noch die legale Trennung, die ausschließlich Ehebruch oder Missbrauch als Grund akzeptiert, getrennte Wege zu gehen. Ihr Vermögen dürfen legal getrennte Paare allerdings nicht trennen und auch keine zweite Ehe eingehen, da sie nach philippinischem Gesetz nach wie vor verheiratet sind.

Sollte das verwirrend sein: Das finden die meisten Menschen. Alle drei offiziell möglichen Auswege aus einer Ehe sind eine Qual und hoch kompliziert, außerdem kann es dauern — von zwei Jahren für die Reichen mit guten Beziehungen bis hin zu fünf bis zehn Jahren für die Normalbevölkerung. Im korrupten Labyrinth des philippinischen Rechtssystems werden Mann und Frau zu Feinden in einem erbitterten Rechtsstreit, der bis zu einem Jahrzehnt anhalten kann, ihre gesamten Ersparnisse aufzehrt und sie dermaßen fertigmacht, dass am Ende nicht nur von ihrer Ehe, sondern auch von jeglichem Anstand oder Wohlwollen nichts mehr übrig ist.

Alle drei Wege, die dazu gedacht sind, die Kernfamilie zu schützen, setzen letztlich auf Nuklearwaffen, die nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Das Ziel mag edel sein: Paare dazu zu bringen, sich ihren Wunsch, die Ehe aufzulösen, noch einmal gut zu überlegen — sei es beim ersten oder fünfhundertsten Anzeichen für Probleme. Aber die Realität sieht so aus, dass die überwiegende Mehrheit der Filipinos nur eine Krankheit oder eine Katastrophe von der Verarmung entfernt ist und es sich deshalb nicht leisten kann, sich von einer missbräuchlichen oder dysfunktionalen Ehe freizukaufen. Meine Eltern und Großeltern betrachten eine Scheidung immer noch als feige Flucht, etwas für launische Millionäre und amerikanische Popstars, die zu viel Geld und zu viel Vermögen haben, das sie sich teilen können, ohne die Hartnäckigkeit oder Ausdauer zu besitzen, die man für eine gute Ehe braucht. Kann sein, dass sich das gerade ändert, aber den Gesetzgebern ist das egal — ja sie dürften von ihrer Untätigkeit sogar noch profitieren.

Wenn man auf den Philippinen erst mal verheiratet ist, ist man ein Leben lang aneinandergekettet — egal, wie gesund oder glücklich die Verbindung ist. Der einzig annehmbare Weg ist klar vorgeschrieben. Sozialer Druck zementiert ihn, und das Gesetz fordert ihn ein. Das Leben muss zu zweit bewältigt werden; eine Ehe ist für immer. Alles andere gilt als Scheitern. Der Zustand einer Beziehung ist weniger wichtig als die bloße Tatsache, dass man bis zum bitteren Ende durchhält. Das muss um jeden Preis gelingen, oder aber man ist finanziell ruiniert, sozial geächtet und ein Leben lang einsam.

Auf den Philippinen werden regelmäßig goldene Hochzeiten in goldgeschmückten Hotelballsälen gefeiert, mit Hunderten von Verwandten, die sich am Büfett drängen: Entzückende Enkel und Urenkel tragen Partnerlook bei ihren Tanzeinlagen, und es gibt selbst gemachte Diashows, untermalt von Liebesschnulzen, die von ergrautem Haar und ewiger Treue handeln. In meiner Kindheit bekam ich mit, dass so gut wie alle Erwachsenen heirateten und auch verheiratet blieben. Meistens ist das etwas Schönes. Ich durfte miterleben, was in einer Ehe alles möglich ist und was Menschen, die sich lieben, bereit sind, füreinander zu tun, damit es funktioniert.

Nehmen wir zum Beispiel Tito C. und Tita P., die Eltern einer meiner Sandkastenfreundinnen. Auf den Philippinen werden die Freund:innen der Eltern und die Eltern von Freund:innen Tito und Tita, Onkel und Tante, genannt: eine Höflichkeitsform. An ihnen sah ich die erste richtige Ehe, die ich in meiner Kindheit erlebte, mit einem echten Ehemann und einer Ehefrau — keine bloßen Protagonisten wie in Moms Geschichten. Die ersten elf Jahre meines Lebens war ich ein Teil ihrer Familie und bekam mit, wie sehr sich diese beiden verehrten und welch unglaubliche Geduld sie miteinander hatten.

Dann waren da die unzähligen Hochzeiten, Jahrestage und erneuerten Hochzeitsgelübde, bei denen ich mehr als zehn Jahre als Sopran im Chor sang. Als ich viele Jahre später mitansehen konnte, wie meine Freund:innen glückliche Ehen führten, war auch ich davon überzeugt, dass eine Ehe so lange hält, wie man will, dass sie hält.

Jedes Mal, wenn ich Zeugin einer frisch geschlossenen Ehe oder einer goldenen Hochzeit wurde, sah ich eine innige, dauerhafte Liebe, wie ich sie eines Tages auch haben würde, da war ich mir ganz sicher. Bis heute habe ich nichts gegen diese Form von Verbindlichkeit, wie ich sie aus meiner Kindheit und Jugend kenne. Ich will auch niemanden davon überzeugen, dass Monogamie ein Mythos ist, der uns allen nur aufgeschwatzt wurde — nicht, wenn das Leben meiner engsten Freund:innen beweist, wie schön die Ehe sein kann.

Aber Langlebigkeit als einziger Maßstab für den Zustand und das Gelingen einer Beziehung hat auch seine dunklen Seiten. Ist es romantisch? Ja. Ist es toxisch? Ebenfalls ja.

Bloße Aufrechterhaltung um jeden Preis, ohne einen würdigen oder machbaren legalen Ausweg hat eine Nation zuwege gebracht, die nicht nur aus unverbesserlichen Romantikern, sondern auch aus fremdgehenden Männern, Märtyrer-Ehefrauen und geächteten Geliebten besteht. Letztere werden im Flüsterton oft als rechtmäßige Ehefrau beziehungsweise ausgehaltene Frau oder querida bezeichnet, ein euphemistisches Lehnwort aus dem Spanischen; es gibt jede Menge uneheliche Kinder, ohne jede Anerkennung oder Rechte; Zweit-, Dritt-, ja sogar Viertfamilien, die sowohl verheimlicht als auch stolz zur Schau gestellt werden, und jede Menge Klatsch. Heimlichtuerei ist immer noch besser als ein Skandal, aber dass man Indiskretionen in der Öffentlichkeit unter den Teppich kehrt, hat noch nie jemanden davon abgehalten, nach der Sonntagsmesse oder bei einer spätabendlichen Partie Mahjong im kleinen Kreis weiter zu tratschen.

Je älter ich wurde und je breiter mein Horizont, desto mehr spürte ich, dass Heimlichtuerei eine unausgesprochene Kehrseite von Ehen ist, die gesellschaftlich als erfolgreich gelten. Hinter den häufig zitierten Bibelpassagen und laut verkündeten Ermahnungen — Mach Jesus zum Mittelpunkt deiner Ehe und Unterschätze nie die Macht einer betenden Ehefrau — schien jede Ehe von einem eigenen kleinen Netz aus Heimlichkeiten zusammengehalten zu werden.

Die versteckten Ersparnisse auf der Bank, für den Fall, dass sich der Mann als gewalttätig entpuppt, man die Kinder schnappen und abhauen muss. Die gelieferten Onlineeinkäufe, die man verschwinden lässt, bevor der Mann aus dem Büro kommt. Das geheime Extrabudget, in das man die Ehefrau nie einweiht, und das einvernehmliche Schweigen, das gemeinsame Kneipentouren mit Kumpeln ermöglicht.

In meiner Kindheit und Jugend habe ich genug schlüpfrige Witze von Ehemännern gehört und genug stumm leidende Ehefrauen gesehen, um zu begreifen, dass der Fortbestand einer Ehe häufig davon abhängt, was die andere Person einem noch durchgehen lässt, wie viel sie noch ertragen kann. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich Sätze gehört habe wie »solange er oder sie wieder nach Hause kommt«, »solange sie gute Ernährer sind« oder »den Kindern zuliebe«, um Ehen zu rechtfertigen, die zwar auf dem Papier intakt waren, aber in Wahrheit kaputt.

Ich begann mich zu fragen, warum diese Dinge, die Selbstaufopferung (meist von weiblicher Seite) und die Heimlichtuerei, die die Ehe untergraben, nur so wenig mit den Reden zu tun hatten, die ich auf sämtlichen Hochzeiten und Jahrestagen hörte — und auch mit der Art Liebe, die meine Eltern verband. Heimlichtuerei mochte ein wesentlicher Bestandteil anderer Ehen sein, aber nicht der ihren.

Nicht, dass mein Vater es nicht versucht hätte. Ich war bereits selbst verheiratet, als meine Mutter fragte: »Hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich herausfand, dass Daddy eine Freundin hatte?« Das war noch ganz am Anfang ihrer Ehe; Mom war hochschwanger mit meiner Schwester, während Dads Verwandlung vom stil- und mittellosen indischen Uniabsolventen in ein junges Finanztalent, das Johnnie Walkers schlürfte und in der Bank maßgeschneiderte Anzüge trug, bereits weit fortgeschritten war. Auf einmal war er angesagt und begehrenswert, der englischsprachige Chef, der die Büromädels zum Kichern brache. So wie Mom das sah, spielte die Sekretärin ein Spielchen mit ihm, auf das er hereingefallen war.

Vielleicht hielt Dad das Ganze für einen harmlosen Flirt und glaubte, Mom würde nie etwas davon erfahren, vielleicht fand er auch, so etwas gehöre zu seinem verdienten Erfolg. Aber weil sich die junge Frau einbildete, in ihn verliebt zu sein, begann sie, ihn zu Hause anzurufen, ihn anzuflehen, seine schwangere Frau zu verlassen. Händeringend, ratlos und weil er Schlimmeres verhindern wollte, rückte er schließlich mit der ganzen Geschichte heraus.

»Mommy, hilf mir, was soll ich bloß tun?«, fragte er. Sie hatten sich derart daran gewöhnt, sich vor uns Kindern Mommy und Daddy zu nennen, dass sie es privat auch taten.

»Mach dir keine Sorgen, Daddy«, sagte sie. »Ich kümmere mich darum.«

Am nächsten Tag marschierte sie in ihrer Mittagspause in sein Büro und sprach die Sekretärin darauf an. Als sie mit ihr fertig war, war der Ruf der jungen Frau endgültig ruiniert, während der Stern meines Vaters weiterhin stieg.

Während meiner Kindheit und Jugend hörte ich oft von Moms berüchtigtem Temperament, trotzdem sprach sie nie mit Bitterkeit oder Groll über diese Episode, sie hatte nur dieses vertraute Funkeln in den Augen. Wenn sie denn wütend war, dann nicht auf ihn, sondern auf ihre gemeinsame Feindin. Es bedeutete nicht das Ende, wenn überhaupt war es ein Triumph. Ihre Loyalität zueinander stellte alles andere in den Schatten. Einer von ihnen hatte einen Fehler gemacht, doch dann hatte sich der andere eingeschaltet und die Situation gerettet. Sie unterstützten sich gegenseitig, koste es, was es wolle, und ihr Team hatte nach wie vor die Nase vorn.

Sonntage waren für die Familie reserviert, Samstage für Zeit zu zweit, aber die Freitagabende verbrachten sie getrennt, wobei eine strikte Keine-Fragen-stellen-und-von-sich-aus-nichts-erzählen-Politik galt.

Während Mom ins Kino ging oder sich bei einer Freundin Platten anhörte, schlüpfte Dad in sein rotes Polohemd — »seine Feuerwehruniform«, wie Mom es nannte und in Erinnerung daran lächeln musste —, um mit den Jungs zum Rauchen und Whiskey-Trinken in eine »Girlie Bar« zu gehen, also eines der Striplokale am neonbeleuchteten Abschnitt der P. Burgos in Makati. »Ich werde dir keine Fragen stellen«, sagte sie, »wir sehen uns nachher zu Hause.«

Eines Freitags gewann ihre Neugier die Oberhand. Sie hielt sich nicht länger ans Protokoll, sie wollte wissen, wo er sich an den getrennt verbrachten Abenden aufhielt. Dad musterte sie ausgiebig, während er über ihre Forderung nachdachte. »Möchtest du es dir ansehen?«, meinte er schließlich. An diesem Abend tauchte Mom mit ihm in der Girlie Bar auf und festigte ihren Status als »coole« Ehefrau. Wenn sie davon erzählte, schwang keinerlei Eifersucht oder Verurteilung darin mit, sondern nur staunende Faszination angesichts der präsentierten nackten weiblichen Körper. Sie staunte ebenfalls darüber, wie sehr auch sie deren Schönheit im Stroboskopgewitter zu würdigen wusste. »Wie Skulpturen oder Aktbilder«, murmelte sie.

Der rebellische Reiz der Stell-mir-keine-Fragen-Freitage wich einer tröstlichen Routine. Bald trug Dad sein rotes Polohemd nicht mehr so oft, und Moms Kinoabende mit den Freundinnen schienen nicht mehr so wichtig zu sein. »Es war schöner, Zeit mit ihm zu verbringen«, erzählte sie, »selbst wenn wir bloß ferngeschaut haben.«

Ihr Team hatte nach wie vor die Nase vorn, aber das Spiel wurde komplizierter.

Durch die Machenschaften eines sich an die Macht klammernden philippinischen Diktators und die verschwenderischen Ausgaben eines indonesischen Tycoons, die zum Zusammenbruch der internationalen Bank führten, deren Vizepräsident mein Vater war, geriet er in Schwierigkeiten. Er fiel den asiatischen Tigern zum Opfer, die hoch wetteten, ebenso hoch verloren und dadurch das südostasiatische Finanzsystem in den Untergang rissen: Ihretwegen verlor er seinen Job.

Der Eigentümer der Bank betraute meinen Vater mit Fusionen und Übernahmen, schickte ihn als Krisenmanager nach Hongkong. In den nächsten drei Monaten entließ mein Vater Tag für Tag Dutzende von Angestellten und wappnete sich gegen ihre Verzweiflung, gegen ihr Gift und ihre Galle; allabendlich betäubte er sich mit Alkohol, um zu vergessen.

Das Funkeln in den Augen meiner Mutter sollte erlöschen, ihr Blick stumpf und stählern werden, wenn sie mir von den Ferngesprächen erzählte, von meinem in Tränen aufgelösten Vater, der sie anflehte, ihn nach Hause zu holen. Die wöchentlichen Flüge zwischen Manila und Hongkong, die ihre gesamten Ersparnisse aufzehrten. Das schäbige Apartment, die leeren Whiskeyflaschen unter dem Bett, der am Boden zerstörte Ehemann.

Die Rollenverteilung war klar: Sie schaltete sich ein und haute ihn raus, genau wie zuvor. »Alles wird gut, Daddy«, sagte sie. »Ich werde für zwei arbeiten, und du wirst bald einen neuen Job finden. Gemeinsam schaffen wir das.« Im Oktober 1984 holte sie ihn nach Hause, pünktlich zu meinem dritten Geburtstag. Nach drei Monaten Arbeitslosigkeit, Depressionen, Ängsten und Borderline-Schizophrenie, während derer er sich einer Aufnahme in die Psychiatrie verweigerte, beging er im Januar Selbstmord.

Mein Leben lang hatte ich geglaubt, mein Vater wäre an einem Herzinfarkt gestorben. Ich war noch zu klein für die Wahrheit. Erst als ich fünfunddreißig war, verriet mir meine Mutter seine eigentliche Todesursache — ich war damals fast so alt wie mein Vater, als er sich das Leben nahm. Erst da begriff ich, dass Schweigen auch ein Schutzschild sein kann und dass manche Geheimnisse erlaubt, wenn nicht sogar notwendig sind, um diejenigen zu schützen, die man liebt.

Vielleicht braucht die Liebe manchmal Heimlichtuerei.

Meine Mutter versteckte die Wahrheit, also den Selbstmord meines Vaters, innerhalb der uneinnehmbaren Festung ihrer Liebe, umgab sie mit der Zärtlichkeit ihrer Geschichten und schützte sie durch ihre strahlende Freude. Während meiner gesamten Kindheit und Jugend zeigte sie nicht das kleinste bisschen Wut, Verbitterung oder Groll — und das, obwohl sie mit gerade mal sechsunddreißig Witwe geworden war und es wahrhaftig nicht leicht hatte. Sie erzog mich so, dass ich Dad genauso sehr liebte, wie sie es getan hatte. Das Leuchten in ihren Augen, wenn sie von ihm sprach, währte ein Leben lang.

Während andere Mütter kochten, putzten und gemeinsam vor dem Schultor tratschten, traf Mom schwierige, mutige Entscheidungen. Sie führte unseren Haushalt wie ein Manager mit der Hilfe von drei oder vier Angestellten — Fahrer, Haushälterinnen und ein Kindermädchen, das bei uns lebte —, an die sie die niederen Arbeiten delegierte, die anderen Müttern das Genick brachen, sie ans Haus fesselten und sie in meinen Augen kleinhielten.

Trotzdem war meine Mutter abenteuerlich, wann immer sie konnte, genoss all die kleinen Dinge, die uns das Leben schenkte, und nahm uns mit auf große Fahrt. An den Wochenenden packte sie uns gern in ihren winzigen Ford Laser, um gemeinsam mit Tito T. und Tito G., ihren extravaganten schwulen Freunden, an den Strand zu fahren. Auf dem Höhepunkt ihrer Lady-Di-Obsession verkleideten wir uns mit Hüten und Laura-Ashley-Sommerkleidern und gaben Teepartys in unserem Garten. In meinen Kindheitserinnerungen ist sie lustig und fröhlich, dunkel und barfuß, lachend und graziös.

Als junge Witwe hatte Mom keinen Mangel an Verehrern. Aber Dads Tod stellte ihn auf ein Podest, an das kein anderer Mann mehr herankommen konnte. Sollte Mom jemals erwogen haben, noch einmal zu heiraten, dann H., einen geschiedenen amerikanischen Vermögensverwalter, der von seinem festen Wohnsitz in Europa aus um die ganze Welt jettete und dessen Asiengeschäfte sie führen sollte. Weil wir uns nicht vorstellen konnten, ihn anders als Tito zu nennen (»Aber er ist Amerikaner, also redet Englisch«), tauften ihn meine Schwester und ich aus einer Laune heraus frei übersetzt Uncle H. Nach Dad war er derjenige, der noch am ehesten eine Vaterfigur für uns war.

Uncle H. pendelte zwischen Europa und Asien hin und her, mit Ferngesprächen und Vielfliegermeilen führte er eine interkontinentale Beziehung und zwei Haushalte. Während der zehn Jahre, die Mom und er zusammen waren, kamen sich unsere Familien sehr nahe: Seine Kinder verbrachten den Sommer in den Tropen, während meine Schwester und ich nach Europa flogen, um dort die Sommer zu genießen. Pläne wurden geschmiedet, ein Haus wurde gekauft, Plätze auf einer internationalen Schule wurden reserviert, doch letztlich sollten unsere Familien nie vereint werden.

Als ich elf war, trennten sich Mom und Uncle H., und ich glaube nicht, dass er je darüber hinweggekommen ist. Noch Jahre später trafen alle paar Tage Postkarten ein, die mit seiner unleserlichen Schrift bedeckt waren, verschickt von Steuerkonferenzen und Gourmettrips. Irgendwann wurden sie durch lange Textnachrichten, durch Facebook-Posts voller Ausrufezeichen und WhatsApp-Sprachnachrichten ersetzt, in denen er in einem lustigen Bariton »Happy Birthday« sang. Er hat keinen einzigen Geburtstag vergessen. Mom und er waren nach wie vor befreundet, und unsere Familien blieben sich verbunden, bis wir erwachsen waren. Aber erneut heiraten sollte meine Mutter nicht.

Noch ehe ich ins Teenageralter kam, wusste ich, dass das Leben mehr als nur eine Liebe zulässt. Aber der Platz, der einem Ehemann, dem Vater der eigenen Kinder, eingeräumt wird, ist unantastbar. Lieben kann man viele Menschen, lebenslang treu sein nur einem davon.

Als Mom und Uncle H. getrennter Wege gingen, steckte ich tief im katholischen Privatschulsystem, von dem Filipinos der Mittelschicht, die etwas auf sich halten, ihre Kinder erziehen lassen. Im Tausch gegen Bildung unterwarf ich mich der Kontrolle meines Körpers durch die Kirche, die von den Nonnen, der Disziplinarvorsteherin und den Klassensprecherinnen ausgeführt wurde — Rocksäume wurden vermessen, Haarlänge und Haarfarbe überprüft und jede äußerlich sichtbare Individualität ausgelöscht.

Außerdem lernte ich, was es bedeutet, anständig zu sein.

Dreizehn Jahre lang trug ich täglich Schuluniform. Diese bestand aus einer blütenweißen Bluse mit spitzem Kragen, messerscharfen Bügelfalten und einem unter dem Hals geknoteten Schleifchen, darunter war stets ein weißes Baumwollhemdchen zu tragen (denn ein BH ist eine Versuchung, die nie zu sehen sein darf); dann ein dunkelgrauer Faltenrock, der zwei Handbreit übers Knie reichen musste (denn anständige Mädchen kleiden sich sittsam), dazu weiße Socken ohne Stickereien oder modische Designerlogos (denn unbescholtene Mädchen ziehen niemals die Aufmerksamkeit auf sich); ergänzt um schlichte schwarze Lederschuhe ohne auffällige Seitennähte oder klobige Absätze (denn brave Mädchen geben niemals an).

Ich lernte, dass mein Körper ein Sündenwerkzeug ist und versteckt werden muss, dass gute Mädchen gehorchen und lernen müssen, weniger laut, weniger bunt, weniger chaotisch zu sein. Von allem weniger.

Der stündlich gebetete Rosenkranz, das mittags aus den Lautsprechern schallende Angelusläuten und die zusätzlich zu den Feiertagen an jedem ersten Freitag im Monat gefeierte Messe — all das sollte gehorsame, bescheidene, unauffällige Frauen aus uns machen.

Im täglichen Morgengottesdienst sangen meine Klassenkameradinnen und ich Lobeshymnen, hörten Fürbitten und bekamen die Anweisung, darüber »zu reflektieren« und der Klasse »anzuvertrauen«, wie das Wort Gottes unsere persönlichen Erfahrungen erleuchtete. Ich hörte zu, wenn Mädchen in meiner Klasse wegen etwas weinten, das sie »Familienprobleme« nannten: Schürzenjägerväter, ständig vor sich hin leidende Mütter, rachsüchtige Geliebte und die herzzerreißende Entdeckung verheimlichter Halbgeschwister oder Spielschulden. Mir taten diese Mädchen, ihre Mütter und unsere Lehrerinnen leid — Letztere entweder jung und naiv oder alt und erschöpft —, die sichtlich nicht das Zeug hatten, mit so etwas umzugehen.

Ich dachte an meine Eltern, an meine Schwester und mich und sagte mir: Wir sind anders, was für ein Glück.

Das katholische Privatschulsystem war so aufgebaut, dass Jungen und Mädchen bis zum Highschool-Abschluss getrennt erzogen wurden. Auf diese Weise wollte man unsere Keuschheit bewahren, Versuchungen im Keim ersticken und uns vor Sünde behüten. Sünde war das, was man sagte, wenn man das Wort »Sex« nicht laut aussprechen konnte.

Alles, was wir über Sex wussten, beschränkte sich auf ein einziges Thema: Schwangerschaft — die zerstörerische Kraft, die den guten Ruf, ganze Familien und die Zukunft ruinierte. Weder die Comics in billigen Boulevardzeitungen, die zerlesene Ausgabe von The Joy of Sex, die ahnungslosen Eltern entwendet worden war, noch die unanständigen Witze, die wir nachplapperten, ohne zu verstehen, was daran so lustig war, nichts von alledem machte uns auch nur ansatzweise begreiflich, was Sex wirklich war. Auch die Erwachsenen erzählten uns nichts darüber, nichtsahnend, wie gefährlich pure Unschuld ist.

Als Mädchen schien unser Wert von unserer Tugend abzuhängen, und so galt es diese, koste es, was es wolle, zu bewahren. Und das hieß: keine Jungen. Bei unseren Theateraufführungen wurden Männerrollen von den burschikosesten Mädchen gespielt. In meinem ersten Jahr organisierte ich eine Petition für einen Schulball. Die Direktorin gab nach — unter der Bedingung, dass keine Jungen eingeladen wurden.

Jungen, die nicht zur Familie gehörten, existierten entweder nicht, oder sie waren Verehrer, die durch die offiziellen Regeln des Werbens, die alle außer mir so gut zu kennen schienen, auf Distanz gehalten wurden. Mädchen waren stolz darauf, die Jungen am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen, indem sie sie monate-, ja jahrelang dazu brachten, ihnen über ein Netzwerk aus Klassenkameradinnen und Cousinen Liebesbriefe zuzustellen.

Ich verstand das einfach nicht. »Aber liebst du ihn denn?«, fragte ich immer wieder. »Wenn du ihn liebst, solltest du es ihm dann nicht einfach sagen?« Meine Verwirrung erzeugte Mitleid. Ich war eindeutig eine ahnungslose Amateurin.

Da Jungen und Mädchen so streng voneinander getrennt wurden, war die typische »Boy meets girl«-Lovestory eine völlig abseitige Vorstellung, die es so nur in den von uns verschlungenen Fernsehserien, Hollywoodfilmen und Kitschromanen gab. So unterschiedlich altmodisches Filipino-Werben und geschönte amerikanische Liebesfantasien auch sein mochten — sie schienen ein und dasselbe Ziel zu verfolgen, nämlich dem sagenumwobenen, schwer zu findenden Partner zu begegnen, den wir alle als den einzig Wahren bezeichneten, ihn zu heiraten und dann glücklich und zufrieden mit ihm zusammenzuleben, bis dass der Tod uns scheidet.

So laut und hartnäckig unsere Gebete oder Lektionen auch sein mochten — sie schafften es nicht, den Mädchenklatsch über Liebe und Sex zu ersticken, eine Mischung aus Neugier, wilden Spekulationen und fragwürdigem Hörensagen, das mich ständig umgab. Jeder in meiner Teenagerwelt, angefangen von meinen Freundinnen bis hin zu Jerry Maguire, war besessen von DEM EINEN, der einen ergänzt und für immer glücklich macht, einem sämtliche Träume, Hoffnungen und Wünsche erfüllt, um die große Liebe unseres jeweiligen Lebens zu werden. Jedes erotische Taschenbuch, jeder Kinoblockbuster, jeder Klatsch aus Mädchenmund hatte dieselbe Botschaft: DER EINE war so magisch und selten, das man im Leben nur einen einzigen zugeteilt bekam. Schaffte man es nicht, ihn zu finden, oder fand man ihn und vermasselte es dann, war man zu einem Leben voller Unglück verdammt, endete entweder als alte Jungfer oder in einer kaputten Ehe, ohne dass es einen würdigen, gesellschaftlich akzeptierten Ausweg daraus gegeben hätte. Man war praktisch am Arsch.

Dieses Konzept brachte ich einfach nicht mit der Geschichte meiner Mutter zusammen, die sich nach dem Tod meines Vaters durchaus wieder verliebt hatte, ja sogar aufgeblüht war, auch wenn sie nie wieder geheiratet hatte. Bekamen wirklich alle bloß eine einzige Chance? Was war mit Mom? Wenn es nur DEN EINEN gab, was, wenn man ihn schuldlos schon früh im Leben verlor? Wenn er starb, nahm er dann auch jede Chance auf Liebe und Glück mit ins Grab? War man dann dazu verdammt, für den Rest seines Lebens unglücklich zu sein und einsam zu sterben, wertlos und ungeliebt? War das so?

Nein, dachte ich, das kann einfach nicht sein. Es muss noch einen anderen Weg geben. Insgeheim beschloss ich, dass es so etwas wie DEN EINEN nicht gibt. Das behielt ich schön für mich; ich ging nicht davon aus, dass die Welt gut auf solche Gedanken reagieren würde. Während meiner gesamten Pubertät glaubte ich, auf etwas gestoßen zu sein, was sonst niemand außer mir wusste.

Und dann lernte ich Marcus kennen.

3

War eure Ehe von Anfang an offen?

Verborgen im Schatten hinter der Wirtschaftshochschule, in einem alten waldgrünen Mitsubishi Space Wagon mit einem Rosenkranz am Rückspiegel, brach sich nach vier Jahren College die gesamte aufgestaute sexuelle Frustration in einer Mischung aus Fleisch, Schweiß und Hawaii-Print Bahn.

Ein schwitzender Student des Wirtschaftsingenieurwesens wischte sich den Dampf von seiner Brille und zog das Bikini-Oberteil herunter, das ich meiner älteren Schwester gemopst hatte, um es als BH unter meinem rosa gemusterten Slip Dress zu tragen, während ich an den Knöpfen seines gelben Hawaiihemds herumfummelte und den Reißverschluss seiner Cargoshorts aufriss.

Wenn mir jemand gesagt hätte, dass der Mann, der sich in diesem Moment an meinen Brüsten zu schaffen machte, mein zukünftiger Ehemann war, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt.

Dieser Typ? Marcus? Marcus Ibarra? Niemals.

So dachte ich über meinen späteren Mann, als wir das erste Mal im Auto seiner Eltern herummachten — mit Vor- und Nachnamen, so wie man über lose Bekanntschaften oder Randfiguren redet, nicht aber über Freund:innen oder Menschen aus Fleisch und Blut. Schließlich war er nur ein Student, der montag-, mittwoch- und freitagmorgens in der ersten Reihe im selben Englisch-Kurs für Fortgeschrittene wie ich saß, in den wir aufgrund unserer Noten bei der Aufnahmeprüfung einsortiert worden waren, zusammengewürfelt durch pures Schicksal.

Dreimal pro Woche, von 7:30 bis 9:30