Wie es wirklich war - Artur Strachwitz - E-Book

Wie es wirklich war E-Book

Artur Strachwitz

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Beschreibung

Die Biographie des Autors Dr. Artur Graf Strachwitz erzählt über das Leben eines schlesischen Adeligen und seiner weitverzweigten Familie, von seiner unbeschwerten Kindheit auf schlesischen Landgütern, von jugend- und gesellschaftlichen Erlebnissen der zwanziger und dreißiger Jahre und seinem interessanten, langen beruflichen Werdegang. Das Buch berichtet in humorvoller, schonungslos offener Weise von bisher noch nicht veröffentlichten Begebenheiten einer großen schlesischen Adelsfamilie. Als besonders interessant kann der historische Exkurs unter der Überschrift 'Meine Vorfahren' angesehen werden.

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Artur Graf Strachwitz

Wie es wirklich war

Erinnerungen eines Achtzigjährigen

 

 

Laumann-Verlag

 

 

 

 

 

© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

 

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

Postfach 1461, 48235 Dülmen

 

ISBN 978-3-89960-456-6

 

[email protected]

www.laumann-verlag.de

 

 

 

WIDMUNG

 

Für Euch, meine Enkelkinder – jetzt seid Ihr neun –, habe ich diese Erinnerungen aufgeschrieben. Ihr seid klein, die jüngeren können noch nicht lesen. Aber später, wenn Ihr größer seid und ich nicht mehr da bin, wird man Euch gewiß vielerlei von früheren Zeiten erzählen, und manches wird nicht richtig sein. Da möchte ich, daß Ihr von mir erfahrt, wie es einstens wirklich war in Schlesien, in Westfalen, in Deutschland, in Österreich und überhaupt auf der Welt. Und dann will ich Euch auch berichten, was ich über unsere Vorfahren und ihre Familien weiß, damit Ihr erkennt, woher Ihr kommt und was für Blut in Euren Adern fließt. Denn an die Familie sollt Ihr Euch halten. Sie bildet den einzig maßvollen Ausgleich zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. Sie bildet die Schranken, innerhalb derer sich das menschliche Eigenleben entfaltet. Sie stellt die Welt dar, in der sich das Individuum erprobt. So war es jedenfalls bei uns, und ich wünsche Euch von Herzen, daß es bei Euch und Euren Nachkommen auch so sein möge.

 

 

 

 

Wie es begann …

 

»Wissen Sie, daß man jetzt aus Lavendelblüten Sprengstoff macht?« fragte mich Pierre Harmel, früher belgischer Außenminister und Ministerpräsident, der mir im Laufe meiner Brüsseler Jahre ein guter Freund geworden war. Wir saßen vor seiner Ferme und schauten in die wellige Hügellandschaft der Provence, aus der der Duft der Lavendelfelder in der sommerlichen Abenddämmerung zu uns heraufstieg. »Die Bauern freuen sich, denn für die Parfums wurde ihr Lavendel kaum mehr benötigt.« Es war der Beginn eines Gesprächs, das darauf hinwies, wie wechselhaft das Leben der Natur und das der Menschen miteinander verknüpft sind. Aus der gleichen Blüte strömen Duft und Tod, so wie in einem gleichen Leben das Schicksal seine bunten Kreise zieht. Uns hatte es hier in die Stille einer zauberhaften Umgebung geführt. Wir kamen aus recht unterschiedlichen Fernen und empfanden es als ein Geschenk, daß es nun schon viele Jahrzehnte lang friedvoll war in unserem zerrissenen Kontinent. Wann hatte es das schon gegeben? Ich kam mir plötzlich sehr alt vor. Hatte ich doch, ganz bewußt, zwei Weltkriege erlebt und schlimme Zeiten obendrein. Meine Generation stirbt langsam aus. Müßte ich da nicht den Heutigen einen Hinweis geben, daß sie dankbar sein sollen für das, was sie haben, und nicht so zukunftsscheu? So entstand ganz plötzlich der Entschluß zu diesen Aufzeichnungen. Und während, vom Zirpen der Grillen begleitet, ein leiser Wind wieder den Lavendelduft zu uns her wehte, waren meine Gedanken schon ganz fern im heimatlichen Schlesien.

 

 

Der neue Erdenbürger

 

Wenn die medizinische Forschung im Jahre 1905 schon den heutigen Stand gehabt hätte, wäre ich wohl nie geboren worden. Es war nämlich so, daß die Ärzte meine Mutter nach der Geburt des fünften Kindes, meiner Schwester Marieagnes, die ihr fast das Leben gekostet hätte, streng ermahnt hatten, keine Kinder mehr zu bekommen. Der Vorsatz war den Eltern geblieben. Ich war also gewissermaßen ein Versehen, und man sah meiner Geburt, fast sechs Jahre nach der von Marieagnes, mit Sorge entgegen. Den Befürchtungen zum Trotz verlief aber alles bestens. Meine älteste Schwester Helene erzählte später, wie sie – sechzehnjährig – den Ereignissen im Schlafzimmer der Eltern, das unter dem ihren lag, mit Aufregung und betend gefolgt sei und sich erst beruhigt habe, als der Papa nach zwölf Uhr nachts am 18. Dezember 1905 zu ihr heraufgekommen sei und ihr mein Erscheinen mitgeteilt habe. Sie meinte später, daß ihr Ausspruch: »Der Kleine wird einmal der Trost eures Alters sein«, die Eltern nicht besonders gefreut habe. Mein Vater war 59 und meine Mutter 37 Jahre alt, als ich geboren wurde. Dann nahm alles seinen normalen Verlauf. Papa meldete am nächsten Morgen meine Geburt beim Standesbeamten von Groß-Reichenau, Herrn Giesel, dem Molkereibesitzer des Dorfes im schlesischen Kreis Sagan, an, und drei Tage darauf wurde ich in der kalten Dorfkirche vom Coseler Pfarrer Hentschel getauft. Man hatte damals noch keine Angst, daß der Säugling sich erkälten könnte, und ein Verschieben der Taufe, bis auch die Mutter daran teilnehmen könnte, war nicht üblich.

Der Name Artur, den auch mein Vater trug, war nicht so ganz kanonisch, und so wurden einige weitere, einwandfreie, angefügt: Emanuel, Ernst, Antonius.

Da Tante Toto (Antonia Freiin von Landsberg-Velen, die jüngste Schwester meiner Mutter), die aus dem westfälischen Drensteinfurt angereist kam, meine Patin wurde, blieb dann Antonius mein Namenspatron. Mein männlicher Pate war Vetter Ernst Strachwitz, der Sohn von Papas einzigem rechten Bruder Alexander, genannt Sandy. Er war viel älter als ich – damals schon Garde-Kürassier. Er hat sich allerdings als Pate nie bewährt, hat mir aber dennoch eine schöne Gold-Platin-Uhrkette geschenkt, die ich noch besitze. Tante Toto, »Tante Trost«, wie wir sie als Kinder nannten, hat ihre Patenrolle immer sehr ernst und bis zu ihrem Tode innigen Anteil an meinem Leben genommen. Von den vielen Geschenken, die sie mir als Kind machte, hat mir besonders ein weißer Schafspelz mit Kappe und Muff große Freude bereitet, in dem ich mir sehr schön vorkam. Als bleibendes Andenken habe ich ein Silberbesteck von ihr und außer der Brillantbrosche, die ich Stephanie geschenkt habe, eine Reihe ihrer nicht großen, aber sehr schönen Perlen, die sie von Tante Yelle Polignac, einer Schwester meiner Großmutter, geerbt hatte.

An die Zeiten, da ich in der Obhut meiner Kinderfrau war, kann ich mich begreiflicherweise nicht erinnern. Dann, als ich drei Jahre alt war und regelmäßig Spaziergänge ratsam wurden, löste man die gute Alte durch ein Kindermädchen ab. Sie hieß Mary, war ziemlich resch mit mir, und ich mochte sie nicht. Doch blieb – ruhender Pol meiner Kinderjahre – die gute Betty erhalten, die das »Jüngsken« verwöhnte und ein tröstender Zufluchtsort für allen Kummer war. »Betty«, Elisabeth Brüggenpeter, wie sie eigentlich hieß, stammte aus Münster und war der sechzehnjährigen Mama als Kammerjungfer beigegeben worden. Sie zog dann mit der jungen Frau 1888 nach Reichenau und hat dort alle Freuden und Leiden der Familie wie ihre eigenen miterlebt. Von einer Jungfer der Frau Gräfin, die sie eigentlich immer blieb, avancierte sie im Laufe der Jahre zur Beschließerin. Bettys Stellung war auch durch äußere Zeichen kenntlich gemacht: Sie hatte ein eigenes Zimmer neben unseren Kinderzimmern – also nicht in den Mansarden gelegen – mit eigenen Mahagoni-Möbeln und einem großen Sessel, den ich von ihr geerbt habe. In dem Zimmer wurde ihr auch das Essen serviert. Sie aß also nicht am »Leute-Tisch«.

Wenn ich – meist in einen Schal eingewickelt – in dem großen Sessel saß und 14 Betty mir an den langen Winternachmittagen Märchen vorlas, war ich wunschlos glücklich. Mein vorschulisches Dasein verlief geruhsam in Reichenau mit den Freuden und Leiden, die dem jüngsten von sechs Geschwistern und Nachzügler nun einmal zukommen. Von den Eltern verwöhnt, von den Geschwistern oft gehänselt, erinnere ich mich an den großen Kummer, den ich empfand, als ich nicht zu jenem berühmten Ausflug mitgenommen wurde, bei dem die Eltern und Geschwister in der »Tschibosche« beim Bober im Wald übernachteten. Dafür hatte ich manche Reisefreuden, die den Geschwistern nicht vergönnt waren. Wenn die Eltern im Winter auf ein paar Wochen in die Stadt zogen, nach Berlin oder nach Münster, um Helene dort auszuführen, durfte ich sie mit Kinderfrau begleiten. Eine dieser Reisen brachte einen argen seelischen Schmerz. Ich besaß einen weißen Teddybär – damals eine Seltenheit –, den mir Helene aus England mitgebracht hatte. Er hatte eine reiche Garderobe, mit der er teils als Herr, teils als Dame auftreten konnte (einmal wurde er mit Brautkleid und Schleier einem Affen angetraut). Für die Reise hatte er ein prachtvolles rotes Kostüm bekommen, das Betty genäht und mit weißer Litze verziert hatte. Ich fuhr mit dem Kindermädchen allein nach Berlin; die Eltern waren schon dort und wohnten im Hotel Esplanade, damals das eleganteste Fürstenhotel; es gehörte dem Fürsten zu Fürstenberg aus Donaueschingen und irgendwelchen Prinzen zu Hohenlohe, die dann später damit Pleite machten und es verkauften.

Im EisenbahnCoupé (ohne Eltern fuhr man 2. Klasse) saß der Bär in einer Ecke und stach schön gegen den grauen Samt der Polster ab. In Reppen mußten wir umsteigen, und dabei vergaß ich ihn, und er blieb allein im Coupé sitzen. Mein Geschrei muß fürchterlich gewesen sein und dauerte bis Berlin, wo Mama uns am Bahnsteig abholte. Ich schrie weiter und gab erst Ruhe, als die Mama mit mir zum Bahnhofsvorstand ging, wo ich eine genaue Personenbeschreibung von Bärchen und seiner Bekleidung geben konnte. Die Suchaktion hatte aber keinen Erfolg. Ich habe ihn nie wiedergesehen, bekam aber bald einen Ersatz.

Die Reisen, bei denen ich verwöhnt wurde, vor allem in Steinfurt von Großpapa Landsberg und Tante Toto, brachten es mit sich, daß ich, sonst immer auf mich allein angewiesen, gleichaltrige Spielgefährten traf. In Münster die Landsberg-Cousinen, Elisabeth und Rosario, und auch ein Schmiesing-Mädchen, mit dem ich besonders befreundet war. Leider wurde mir der Umgang mit ihm auf Intervention von Betty und dem Kindermädchen verboten, weil es, das den Umgangston von den Burschen ihres Offizier-Vaters gewohnt war, mir sogenannte »häßliche Worte« beibrachte.

Ich weiß nicht mehr, wie arg mein Vokabular damals war, erinnere mich nur, daß ich – zum Vergnügen meines Vaters, dessen altes Kavalleristenherz wahrscheinlich höher schlug – meinem Kindermädchen zurief: »Sei ruhig, du alter Schwadronsgaul, du!«

 

 

Ein Tag in Reichenau (um 1912)

 

Das erste, was ich wahrnehme, ist ein roter Schein an der Schmalwand des Zimmers und dann ein Knistern. Aber es dauert eine Weile, ehe die Gegenwart faßbar wird. Erst als ich nach dem Teddybär taste, der in der Bettdecke neben mir die Nacht verbracht hat, und sein weißes Fell fühle, wird mir klar, daß ein neuer Tag begonnen hat. Da sehe ich Nelly, meine irische Miss, vor dem Ofen hocken in ihrem hellgrünen Nachthemd mit Zacke-Loch-Kragen, das ich immer etwas schmuddelig finde. Sie rüttelt an der eisernen Klappe und bläst in die Öffnung. Daher kam der helle Schein. Der schwarze eiserne Ofen in meinem Zimmer ist mein besonderer Stolz. Er stammt aus Westfalen, hat Platten mit einem springenden Pferd und runde Messingknaufe, die immer gut geputzt sind. Auf dem Ofen steht Mamas Zinnkanne für warmes Wasser zum Händewaschen. Früher war es ja ihr Toilettezimmer. Davon zeugt noch der große Wandschrank, vor dem mein Bett jetzt steht und in dem herrlich altmodische Kleider verwahrt sind aus schwerer Seide, die wir uns ab und zu heimlich überziehen, um damit hin- und herzurauschen, bis Betty uns entdeckt und mit gespieltem Zorn die Schätze wieder in den tiefen, dunklen Schrank verstaut.

Nelly hat jetzt das Feuer in Gang gebracht, der Ofen fängt an zu surren. »You must get up now, darling«, ist immer das erste Wort. Aber ich weiß, daß es noch nicht ganz ernst ist damit. Ich lasse mir die Augenblicke nicht gerne nehmen, in denen man fühlt, wie die Wärme rasch das kleine Zimmer durchzieht. Noch ist es ja ganz dunkel, denn Nelly weiß, daß ich ein Geschrei mache, wenn sie die Fensterläden zu früh aufmacht. So kann man wohlig vor sich hinträumen, Teddybär im Arm, nur noch ein paar Minuten, dann heißt es wieder: »Now, darling, it’s long the time, it’s past seven.« Das war nicht wahr. Nelly log gern. Sieben Uhr war es noch nicht, denn Punkt sieben Uhr ging Papa vom elterlichen Schlafzimmer auf der einen Seite durch mein Zimmer in sein Toilette-Zimmer, das auf der anderen Seite lag. Papa hatte für diesen Gang einen Anzug über sein Nachthemd gezogen, der Anzug war aus dunkelblauem Flanell mit schmalen weißen Streifen und erregte immer meinen Neid. Erst wenn Papa durch mein Zimmer gegangen war, wurde die Sache ernst. Aber auch dann verstand ich es meist, mich gegen Nellys Beschwörungen noch eine Weile im Bett zu halten, und erst wenn sie drohte, Mama, die nebenan bei ihrer Toilette war, zu Hilfe zu rufen, stand ich auf.

Jetzt ist es wirklich warm im Zimmer. Ich ziehe das »Tub«, eine flache, runde Blechbadewanne von etwa einem Meter Durchmesser, die zur täglichen Toilette aller herrschaftlichen Hausbewohner gehört, noch etwas näher an den Ofen und beginne meine Morgenwäsche in dem warmen Wasser, das Nelly hineingeschüttet hat. Auch das Übergießen mit kaltem Wasser aus einem zweiten Krug ertrage ich ganz gern, folgt ihm doch ein angenehmes Abreiben mit dem Badetuch, das auf dem Stuhl neben dem Ofen angewärmt worden war. Das Anziehen geht verhältnismäßig schnell: Strumpfhalter zum Anknöpfen der langen schwarzen oder braunen Strümpfe, Hemd und Unterhose, eine kurze dunkelblaue Hose, die an einem Leibchen hängt, und ein Pullover, rot oder blau. Das war die Ausrüstung für den Winter. Am meisten Zeit brauchte man für die Schuhe: Schnürstiefel bis über die Knöchel. Manchmal hatten sie auch Haken, das ging dann schneller. Jetzt einen kurzen Mantel über, eine Kappe auf, und schon werde ich hinausgeschoben in den kalten Wintermorgen. Es wird gerade hell, und hinter der Kirche zeigen sich die ersten roten Streifen. Ich setze mich in Trab, denn der Herr Kaplan wird sehr ärgerlich, wenn ich zu spät zum Ministrieren komme. Um halb acht fängt die Messe an. Der Schnee knirscht. Bis zur Kirche braucht man nur die Kastanienallee hinunterzulaufen und die Dorfstraße zu überqueren. In zwei Minuten ist man da. Im Kircheninnern ist es eisig und noch fast ganz dunkel. Nur Schwester Fortunata, eine der drei »Grauen Schwestern«, die in der zweiten Bank rechts ihren Platz haben, ist schon da und hat ihre Kerze angezündet. Ich marschiere in die Sakristei. Der Kaplan schaut – wie immer – etwas tadelnd und treibt mich zur Eile. Ich ziehe den roten Rock an und das Rochette drüber, der Haken am roten Umlegekragen will wieder nicht schließen. Die Finger sind klamm. Als erstes werden dann die Meßkännchen vorbereitet und hinausgetragen, dann kommt das Meßbuch, und endlich werden mit dem brennenden Wachsstock, der um das Löschhorn am langen Holzstab gewickelt ist, zwei Kerzen angezündet. Mein Blick fällt dabei in die Kirche. Jetzt sind schon alle da. In der ersten Bank, die aus poliertem Holz ist und kleiner als die anderen, knien Mama und Papa. Dort war früher auch mein Platz, als ich noch nicht zu ministrieren brauchte. Dort sind gepolsterte Kniebänke und auch ein paar Kissen und viele Gebetbücher mit Heiligenbildern und Totenzetteln. Auf der anderen Seite, vor den »Grauen Schwestern«, knien »Selly«, so nennen wir Fräulein Bertram, unsere Erzieherin, Helene und Marieagnes. Dahinter dann noch Frau Taubitz, die Frau des Kochs, und ein oder das andere alte Weiblein, das ein schwarzes Wolltuch überm Kopf trägt. Der Kaplan liest rasch, um acht Uhr spätestens ist die Messe zu Ende, und kurz danach findet man sich beim Frühstück wieder.

Durchfroren von der Kirche, genießt man die Wärme, die der große grüne Kachelofen im Eßzimmer ausstrahlt. Nur die Zimmer im Haus sind geheizt, Halle und Gänge sind kalt. Auf dem Eibtisch steht schon Mamas Samowar und surrt. Sie ist aber mit Selly die einzige, die Tee trinkt. Papa ißt einen dicken Porridge, den er sich mit Milch verrührt, Fräulein Bertram und Helene trinken Kaffee, Marieagnes und ich bekommen heiße Milch. Nach allgemeinem Guten-Morgen-Gesage, bei dem den Eltern die Hand geküßt wird, steuert jeder auf seinen Platz zu. Ich sitze neben Mama. Für uns Kinder gibt es Graubrot und Semmeln, für die Erwachsenen auch Toast, dazu Butter und Marmelade, Pflaumenmus und Apfelkraut, Kuchen nur am Sonntag: Streuselkuchen, Mohnstriezel, Korinthenstriezel. Ich streiche mir mein Brot am Schmierbrett und genieße den Anblick von Butter und Apfelkraut, die man zu einer marmorierten Fläche verstreichen kann. Nelly bemüht sich mit einigen »Now look here, darling«, meine »table-manners« zu verbessern, kann es aber meistens nicht verhindern, daß einige Apfelkrautstriemen auf dem weißen Tischtuch landen und meine Frühstücksserviette – sie ist klein, gemustert und hat Fransen – ganz beschmiert ist.

Wenn die Wanduhr im Eßzimmer fünf Minuten vor halb neun Uhr anzeigte, erhob sich Fräulein Bertram. Ich habe nie verstanden, wie sie immer so genau die Zeit wußte, denn die Uhr hing hinter ihrem Platz, und sie konnte sie gar nicht sehen. – Aber jetzt wurde es ernst, und die Schule begann. Das Schulzimmer war im ersten Stock. Es hatte eine weiße Tapete mit blauen Vögeln darauf. Es waren mehrere Arten Vögel. Schulzimmer sollten keine Tapeten mit Vögeln haben. Vor allem beim Rechnen hat es mich immer gestört. Eigentlich war es Fräulein Bertrams Wohnzimmer, und die Sessel waren auch mit Vogelmusterstoff überzogen. Daneben war ihr Schlafzimmer. Aber da durften wir nicht hinein. Selly war sehr streng. Sie gab großartigen Unterricht, und mit ihrer Methode – ab und zu mit dem Lineal auf die Finger – hat man sehr viel gelernt. Wie sie es fertigbrachte, Marieagnes und mich gleichzeitig im selben Raum zu unterrichten, obwohl wir sechs Jahre auseinander waren, verstehe ich heute noch nicht. Man lernte gern bei ihr, und während Marieagnes unregelmäßige französische Verben hersagte, malte ich, unverdrossen an meinem Pulte sitzend, eine Seite Schönschrift nach der anderen.

Von halb elf bis elf Uhr war »zweites Frühstück«. Wir gingen ins Kinderzimmer hinüber, im Sommer natürlich ins Freie, ins »Häuschen« am nahen Spielplatz. Ein Teller mit belegten Broten stand auf dem Tisch, und jeder aß, soviel er mochte. Ich aß besonders viel, wenn auf den Broten in dünne Streifen geschnittener roher Schinken war. Dazu gab es Obst, je nach der Jahreszeit Äpfel, Birnen, Beeren, Kirschen oder Pflaumen. Südfrüchte wie Orangen, Bananen oder Pampelmusen kannten wir kaum. Nur zu besonderen Gelegenheiten bekamen wir sie vorgesetzt, bei Tisch als Dessert. Um elf Uhr ging der Unterricht weiter, nur unterbrochen vom Angelus, der um zwölf Uhr gebetet wurde, wie natürlich auch in der Frühe der Unterricht mit einem Gebet begann. An manchen Tagen hatte ich erst um elf Uhr Unterricht. Dann blieb ich mit Mama am Frühstückstisch sitzen und half ihr, die Marken von den Briefen zu lösen, die mit der Morgenpost gekommen waren. Papa war schon fort, auf dem Hof oder im Wald, und Helene zog sich auch meist bald zurück zu ihren Studien, Sprachen, Kunst, Musik und dergleichen. So hatte ich Mama für mich, was mir das liebste war.

Die Marken wurden in dem Wasserbecken des Samowars abgelöst und später, wenn sie trocken waren, säuberlich geordnet und gebündelt. Sie wurden dann, zusammen mit Kugeln aus Stanniolpapier und ähnlichen Schätzen, in die Missionen geschickt. Dort sollten sie dazu dienen, Negerkinder zu kaufen, um sie nach erfolgter Taufe als freie Christen zu erziehen und beruflich auszubilden. Ich glaubte, daß wir schon ein ganzes Bataillon von kleinen schwarzen Negerlein erworben haben mußten, denn wir hatten doch schon so viele Marken fein in Päckchen zu hundert verschnürt.

Wenn die Marken an ihrem Platz waren, ging Mama in ihr Schlafzimmer und wurde von Betty frisiert. Früh, vor der Messe, war zu dieser langwierigen Prozedur keine Zeit. Zuerst wurde der weite Frisiermantel aus weißem Batist umgelegt, und während Mama vor dem großen Toilettetisch saß, mit dem vielen Silberzeug darauf, das mir immer so gut gefiel – erst später erfuhr ich, daß es die Toilette ihrer Großmutter Croy, einer geborenen Prinzessin zu Salm-Salm war, ein sehr schönes spätes Empire-Silber aus Paris –, während also Mama auf dem runden kretonüberzogenen »Puff« saß, der aufklappbar zugleich als Behälter für gebrauchte Leibwäsche diente, bürstete Betty ihre Haare mit den Elfenbeinbürsten, deren Borsten schon etwas kurz waren, weil sie auch von der Großmutter stammten. Mama hatte sehr schöne, dichte, dunkelbraune Haare, die immer gelockt waren, »die idealen Frisierhaare«, wie die Kammerjungfern sagten. Damals waren diese dunklen Haare allerdings schon von grauen Fäden durchzogen. Das erste graue Haar hatte Betty am Morgen vor der Operation meines Bruders Alexander (Sascha) festgestellt, die der berühmte Berliner Chirurg Professor König – da das Kind mit einem Blinddarmdurchbruch nicht transportiert werden konnte – bei uns zu Haus beim Schein sämtlicher verfügbaren Spiritus- und Petroleumlampen erfolgreich durchgeführt hatte. Mama trug die Haare hochfrisiert. Obwohl Mama sehr dichtes Haar hatte, wurde eine Unterlage hineingegeben, die dann kunstvoll mit den echten Haaren bedeckt wurde. Wenn die Frisur fertig und auch sonst die letzte Vervollständigung der Toilette erledigt war, nahm Mama die »Vorratsschlüssel« zur Hand, die hinter der Standuhr auf dem Sims des großen, hellen Kachelofens lagen. Das Klingeln des Schlüsselbundes war ein angenehmes Geräusch. Es verkündete die Aussicht auf die Möglichkeit, durch Eindringen in die Vorratskammer etwas Gutes zu erhaschen. In späteren Jahren wurde Mamas Dackel Nixe – ein großes Original – von dem Schlüsselgeklimper elektrisiert und führte mit Gejaul begleitete Freudentänze auf, weil es für ihn – wie für mich – den Gang zu kulinarischen Genüssen anzeigte.

Mama nahm nun ihr kleines Cape um, eine aus mehreren Volants von dünnem beigefarbenem Tuch bestehende Pelerine, die bis zur Taille reichte, denn in den ungeheizten Hallen und Gängen des Hauses war es recht kalt. Dann ging es in die Küche. Dort stand Taubitz, der Koch, umgeben von zwei Lehrköchinnen und ein oder zwei Küchenmädeln. Nun wurde das Menü besprochen für den nächsten Tag, für mittags und abends für den Herrschafts- und für den Kammertisch. Und dann kam der erwartete Augenblick, da Mama den Vorrat aufschloß und dem Koch die erbetenen Dinge herausgab. Unter dem Vorwand, bei dieser Prozedur zu helfen, konnte ich rasch meine Hand in den großen Topf mit Rosinen senken und bekam auch wohl nach einigem Betteln ein Stück Kochschokolade oder eine Backpflaume. Heute mag diese Verschlußwirtschaft der Vorräte befremdend erscheinen. Damals aber war es wohl in allen großen Häusern üblich, nur daß Mama mit einer gewissen Passion ihre eigene »Beschließerin« war. Diesen sonst sehr üblichen Posten gab es bei uns nie. Taubitz war über das »Herausgeben« immer etwas gekränkt, aber wenn man bedenkt, daß die Vorräte ja mengenmäßig so angelegt waren, daß der gegen dreißig Menschen zählende Haushalt mehrere Monate damit auskommen mußte, wird man verstehen, daß es wichtig war, die Dinge unter Verschluß zu haben, zumal in den Küchen- und Kellerräumen ein ständiges Kommen und Gehen von Gärtnerburschen, Stallern, Bettlern und anderen Kostgängern war, darunter manch altem Mütterchen, das regelmäßig seine Mahlzeit bekam. Vorratskammern gab es mehrere. Was in ihnen unter Verschluß gehalten wurde, waren neben Kaffee, Tee, Schokolade und aller Art Gewürze auch Reis und Zucker. All das wurde drei- bis viermal im Jahr in großen Mengen von Spezialgeschäften, z. B. Stiebler in Frankfurt, oder renommierten Läden in Bremen, Dresden und Berlin geliefert und lag nun in verlockender Fülle vor dem kindlichen Auge ausgebreitet.

Neben dem Hauptvorratsraum im Keller gab es einen zweiten Raum, der das nicht täglich gebrauchte Geschirr enthielt, und dann den Apfelkeller, der aber unter der Obhut meiner Schwestern stand. Später, während des Weltkrieges, habe ich ihn betreut. Manchmal ging der Weg auch auf den Boden, wo die Marmeladen und die Pflaumenmus- und Apfelkrauteimer ihren Platz hatten. Die Pflaumenmuseimer bildeten auch eine große Versuchung. Sie hatten keine Deckel. Die sorgfältig an der Sonne getrocknete Kruste schloß sie luftdicht ab. Aber mit dem Finger unter diese Kruste zu fahren und sich einen guten Mundvoll Pflaumenmus herauszuholen, war ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn sie einen dabei ertappte, wurde Mama allerdings ernstlich böse, denn es war nun nicht nur die schöne Kruste zerstört, sondern der Inhalt auch ernstlich von Schimmel bedroht.

Nachdem das Haus bestellt war – Wäsche- und Zimmerfragen, auch Dienstbotenangelegenheiten wurden während des Frisierens mit Betty besprochen –, ging Mama gewöhnlich in ihr Schreibzimmer, »Mamas Salon«, wie wir es nannten. Dort schrieb sie und führte auch – immer sehr genau – ihre Haushaltsrechnungsbücher, bis, meist gegen zwölf Uhr, Helene herunterkam. Die beiden verbrachten dann eine Stunde zusammen mit Handarbeit, oder Helene malte, und Mama las aus einem englischen oder französischen Roman vor. Ich hatte das Gefühl, daß Mama auf dieses Beisammensein großen Wert legte, daß ihm aber Helene, die vom Wirkungs- und Tätigkeitsdrang einer neuen Generation und Zeit beseelt war, keinen rechten Geschmack abgewinnen konnte. Zehn Minuten vor ein Uhr erklang zum ersten Mal das »Tam-Tam«. Es war ein bronzener Gong, der in der Halle an einer Säule hing und vom Diener mit einem Klöppel geschlagen wurde. Manchmal, wenn man sich mit dem Diener gut stellte, durfte man auch mal »tammen«, was ein besonderes Vergnügen war. Wenn es zum ersten Mal getammt hatte, ging man sich die Hände waschen und machte sich sauber fürs Mittagessen. Nach dem zweiten Tammen hatte man sich in den Salon zu begeben oder eigentlich ins sogenannte »Türkische Zimmer«, wo man sich vor dem Essen versammelte. Es wurde so genannt nach den vielen türkischen Teppichen, Stoffen und Gegenständen, die mein Vater von seinen Orientreisen mitgebracht hatte. Außer der Familie und eventuell anwesenden Gästen (es waren fast immer Gäste da) aßen auch der Hauskaplan, Nelly und natürlich Fräulein Bertram mit.

Wenn Mama da war – sie kam gerne etwas eilig in letzter Minute, während Papa immer sehr pünktlich war –, machte der erste Diener die Flügeltüren zum Eßzimmer auf und sagte: »Frau Gräfin, es ist angerichtet.« Dann marschierte man ins Eßzimmer. Wenn wir allein waren, was, wie gesagt, selten der Fall war, saß »Selly« (Fräulein Bertram) rechts von Papa, Helene links. Rechts von Mama saß der Kaplan, und links von Mama saß ich, wobei ich diesen Platz als meinen Stammplatz betrachtete. Papa und Mama saßen in der Mitte des großen ovalen Tisches einander gegenüber, und zwar so, daß Papa zum Fenster hinaussah, wo sein Blick über den Teich in den Park und auf seine geliebten Rhododendren fiel. Das Mittagessen war die Hauptmahlzeit des Tages. Der Tisch war mit einem weißen Damasttischtuch gedeckt. Die großen Servietten, die in Ringen steckten, waren assorti. Wir Kinder und die Eltern hatten Silberringe, die anderen Elfenbeinringe mit Nummern darauf. In der Mitte des Tisches stand ein Blumenarrangement, manchmal auch – in blumenlosen Zeiten – ein silberner Fasan. Für »gewöhnlich« aßen wir von einem englischen Fayence-Geschirr, das weiß mit roten Blumen war. Für bessere Gelegenheiten gab es ein »Meissner Zwiebelmuster« oder auch ein weißes Berliner Geschirr. Das Glas, das von Mamas Aussteuer stammte, war aus Val St. Lambert (Muster Paul Ier), wie es heute noch hergestellt wird. Neben den Tellern waren Messerbänkchen, auf denen das Besteck lag. Es war ein Fadenmuster-Besteck mit dem Monogramm SL (Strachwitz-Landsberg) und einer Grafenkrone. Die Obstmesser waren vergoldet und hatten einen Perlmuttergriff.

Das Menü bestand aus einer Suppe, einer Vorspeise oder einem Gemüsegang, einem Fleischgericht, einer Süßspeise und Obst. Außer Suppe und Obst wurde alles zweimal serviert. Zu trinken gab es für uns Kinder Wasser, das vom Diener eingeschenkt wurde, für die Erwachsenen Wein, den meist Papa selber einschenkte, denn die Karaffen mit Weiß- oder Rotwein standen neben ihm. Serviert wurde von den drei Dienern. Nach dem Mittagessen ging man in den Salon. Um Punkt halb drei Uhr hatten wir Kinder fertig zu sein zum Spazierengehen mit Fräulein Bertram. Manchmal schloß sich Nelly an, manchmal auch der Kaplan. Der Spaziergang dauerte immer bis vier Uhr, auch bei schlechtem Wetter fand er statt. Im Winter gingen wir allerdings oft Schlittschuh laufen und rodeln. Rodeln war aber schwierig, denn außer dem Rutscher vom Eiskeller herunter kam nur noch eine ziemlich entfernt liegende Waldschneise in Frage, die genügend Gefälle hatte. Der Eiskeller war ein künstlich aufgeschütteter Hügel im Park, »in den Eichen«, wie Mama sagte. Er war innen ausgemauert, durch zwei Türen sorgsam verschlossen, und hatte ein Fassungsvermögen von etwa 10 m3. Im Winter wurde aus dem Teich Eis gehauen, durch eine Öffnung am Gipfel des Hügels eingefüllt und dann das Ganze mit Wasser begossen, so daß es zu einem großen Klumpen Eis gefror. Dann wurde das Loch geschlossen und gut mit Stroh abgedeckt, das auch eine kleine Hütte bildete auf dem Hügel. Das Eis hielt auf diese Weise das ganze Jahr lang, und im heißesten Sommer hatten wir immer noch Eis zur Verfügung.

Schlittschuh laufen war günstiger als rodeln, denn sowohl der kleine Teich am Schloß als auch vor allem der große Dorfteich froren jedes Jahr wochenlang zu. Am Dorfteich, der dicht beim Niederhof, etwa zehn Minuten vom Schloß entfernt, lag, liefen auch die Dorfkinder Schlittschuh. Deshalb fanden wir es unterhaltender, dort zu laufen, als bei uns. Das größte Vergnügen für uns war aber immer das Schlittenfahren mit Pferden und Geläute. Sobald nur etwas Schnee lag, fingen wir schon an zu quälen, daß wir Schlitten fahren wollten. Tamaschke, unser alter Kutscher, spannte allerdings seine lieben Pferde, die er pflegte und schonte, soviel er konnte, erst vor den Schlitten, wenn nirgends mehr ein bißchen Erde durchschaute. Wenn die Schellen auf dem Kummet der Pferde klangen und Tamaschke gar noch mit der Peitsche knallte, was freilich immer nur ganz sachte geschah, damit seine Pferde nicht erschreckten, fühlte man sich in einer anderen Welt. Im Wagen wurde eigentlich nur spazierengefahren, wenn ältere Tanten zu Besuch waren, wie z. B. Tante Alice Strachwitz aus Bertelsdorf, die ungern zu Fuß ging, oder Gäste, die zum ersten Mal in Reichenau waren und etwas von der Gegend sehen wollten, und natürlich zum Pirschen und auf der Jagd.

Wenn Platz war und vor der Vesper gefahren wurde, durften wir einsteigen und kamen dann wohl manchmal erst nach vier Uhr zurück, was Selly gar nicht schätzte. Ab nachmittags trennte sich die Zeiteinteilung der Erwachsenen von der der Kinder. Wir vesperten zusammen mit Selly, Betty und Nelly um vier Uhr im Spielzimmer. Es gab für uns heiße Milch, für die Erwachsenen Kaffee und dazu Brote, die schon gestrichen waren. Von halb fünf Uhr ab machten wir im Schulzimmer unsere Aufgaben. Auch die Klavierstunden, die Selly streng, aber gut gab, und das Üben fielen in diese Zeit. Das Klavier, auf dem wir übten, stand im Spielzimmer. An den Flügel im Salon wurden wir erst später gelassen.

Wenn ich mit den Aufgaben fertig war, schlich ich mich zu Betty. Bei Nelly war es langweilig. Sie war, obwohl sie eine Irländerin war, für meinen Geschmack phantasielos. Bei Betty dagegen war es immer sehr anheimelnd und gemütlich. Man bekam gelegentlich auch eine »Moppe« oder zwei (das waren aus ihrer Heimatstadt Münster stammende runde Honigkuchen von etwa drei Zentimetern Durchmesser aus einem goldgelben, aromatischen Teig). Sie waren in einer großen Blechdose verwahrt, und der Vorrat schien unerschöpflich. Betty nahm – bei mir wenigstens – die Stellung einer Großmutter ein; sie war damals wohl gegen 60, was ich sehr alt fand, und steckte voller Geschichten. Sie las einem vor, was man sich wünschte, nähte Gewänder, nicht nur für einen selbst, sondern auch für den Teddybär und die anderen Tiere, die alle eine größere Garderobe hatten, und hörte sich vor allem alles an, was das »Jüngsken« auf dem Herzen hatte. Das war nun meist recht viel, und viele Wünsche hatte man ja auch. Die fanden dann über Betty während des Frisierens und Umziehens ihren Weg zu Mama, und da wurde dann der Boden vorbereitet für so manches kindliche Begehren. Von Betty trennte ich mich immer schwer, aber wenn kurz vor sieben Uhr das Stubenmädchen kam und ihr auf einem Tablett das Abendessen brachte, mußte ich gehen, denn ich wußte, daß gleichzeitig ein anderes Tablett mit meinem Essen auf die Kommode in meinem Zimmer gestellt wurde. So schlich ich mich denn schweren Herzens hinunter.

Durch das Halbdunkel eines Ganges und der oberen Halle, wo eine Ampel mit bunten Scheiben hing, ging es über das große Treppenhaus mit der doppelten Eichenholztreppe, das durch Wandlampen aus Messing mit runden Glasschirmen ziemlich erhellt war, ins Parterre. Da gab eine große Hängelampe aus Messing mit dem typischen halbrunden Milchglasschirm, der fast allen Lampen damals eigen war, genügend Licht, um auch den kurzen Gang zu erhellen, der zum Schlafzimmer der Eltern führte. Ich ging ungern durchs Dunkel und machte oft Umwege, um die unbeleuchteten Räume im Haus zu vermeiden. Mein Abendessen stand schon da, wenn ich in mein Zimmer kam und Nelly wartete. Auf dem Tablett war Toast mit Butter und etwas gekochter Schinken, dazu ein weiches Ei und in einer Wärmeschüssel, die mit einem großen Zinndeckel geschlossen war, Spinat. Am Boden des Wärmtellers war ein Bild aus einem Märchen. Das gab, als ich noch kleiner war, den Anreiz, das Gemüse, das meist nicht sehr beliebt war, aufzuessen. Zum Essen hockte ich mich auf die Lehne meines Großmuttersessels, der neben der Kommode stand. Das hatte sich so eingebürgert und war mir nicht mehr abzugewöhnen. Diesmal aß ich besonders schnell, und es gab keinen Streit mit Nelly. Ich wollte rasch fertig sein, um Mamas Toilette fürs Abendessen beiwohnen zu können. Es kamen Gäste aus der Nachbarschaft, Knobelsdorffs aus Buchelsdorf. Da war die Toilette aufregender als an Tagen, an denen wir alleine waren. Heute wurde das »Zebra-Kleid« gewählt, weil es in sehr breiten Streifen dunkelblau und weiß gestreift war. In den blauen Streifen waren kleine weiße Punkte und in den weißen blaue. Es war aus einer sehr dünnen Foulard-Seide, hatte eine kleine Schleppe und einen Tüll- und Spitzeneinsatz, der bis zum Hals hinaufging. Es war das typische »kleine Abendkleid« der Zeit. Dekolletierte Abendkleider trug man eigentlich nur zu größeren Anlässen, und da unterschied man auch wieder streng zwischen solchen mit großem und mit kleinem Dekolleté; bei letzterem waren gewöhnlich Ärmel vorgesehen. Mama saß am Toilettetisch, als ich kam. Betty war eine Künstlerin im Frisieren, und ich bewunderte immer, wie geschickt sie mit der Brennschere umging, mit der, nach vollendetem Aufbau, einige große Wellen eingebrannt wurden. Während dieser Zeit durfte ich an die Schmucklade gehen – das Versteck des Schlüssels war mir wohlbekannt –, um den Schmuck herauszuholen. Ich brachte immer viel zu viel und hätte am liebsten an jeder freien Stelle noch eine Brosche, noch ein Armband untergebracht. Mama, die meine Schmuckmanie schon kannte, hatte die Taktik, zu Anfang unserer Diskussion mehr abzuwehren als nötig, damit ich dann doch noch ein Stück anbringen und das befriedigende Gefühl haben konnte, daß mein »Geschmack« zur Geltung gekommen war. Kaum war Mama fertig und hatte einen Blick in den großen Spiegel des Kleiderschrankes geworfen, so hörte man schon das Getrappel des Buchelsdorfer Wagens. Dann eilte Mama in die Halle, um Knobelsdorffs zu begrüßen: der Baron mit dem seltsamen Vornamen Prot, die Baronin Melanie, »Melly« genannt und später von Mama geduzt, und die Adoptivtochter und Nichte Margot Liebermann, die gleichaltrig mit Helene und mit ihr befreundet war. Nachdem die Damen in Mamas Schlafzimmer ihre Pelze abgelegt hatten, ging ich hinein, um zu schnuppern. Es war merkwürdig, aber jedes der nachbarlichen Häuser hatte seinen eigenen Geruch, der an den Mänteln haftete, und wir vermochten auch, ohne die Gäste gesehen zu haben, genau zu bestimmen, wer gekommen war. Ich war jetzt aus dem Leben der Erwachsenen verbannt und litt an diesem Zwischenalter. Als ich noch kleiner war, drei, vier, fünf Jahre, durfte ich zum »Dessert« kommen, wenn abends viele Gäste da waren, zum Jagddiner oder dergleichen. Da bekam ich mein schönstes Kleidchen an – die Buben trugen damals noch Kleidchen –, mit einer schönen breiten seidenen Schärpe umgebunden und meiner Medaillenkette um den Hals. So wurde ich von meiner Kinderfrau im richtigen Moment, eben »zum Dessert«, durch eine Türspalte ins Eßzimmer geschoben und begann nun meinen Weg zu den Damen, die einen abküßten, aber dafür auch mit dem Dessert bekannt machten.

Die süße Speise war schon vorüber, auch das Obst, aber nun wurden auf Silbertellern verschiedene Köstlichkeiten serviert: Pralinés, Quittenbrot und Petit-Fours, Micks’sche Petit-Fours, die für uns der Inbegriff des höchsten Leckerbissens waren. Ist es Einbildung oder hat die Erinnerung auch die kulinarischen Genüsse verklärt: Ich kann mich nicht besinnen, je wieder so etwas Gutes gegessen zu haben wie Micks’sche Petit-Fours vor 1914.

Manchmal gab mir auch einer der Herren etwas Champagner zu trinken, den ich sehr gerne mochte. Zu den Genüssen des Gaumens kamen bei diesen Dessert-Visiten noch die Freuden des Schauens. Die schön geschmückte Tafel mit den silbernen Kandelabern und vor allem die schönen Kleider der Damen und der glitzernde Schmuck waren ein immer wieder berauschender Eindruck. Im Salon holte ich mir dann noch einen »Canard«, ein in Kaffee getauchtes Zuckerstück, und erst nach diesem letzten Tribut war ich bereit zu verschwinden. Ich erzählte dann im Bett noch dem staunenden Kindermädchen und, wenn sie schon finster gemacht hatte, dem immer zuhörbereiten Teddybären von den schönen Kleidern der Damen und wohl auch von ihren großen, schönen Dekollettés, die sich hoben und senkten beim Atmen – denn sie waren ja sehr geschnürt, die armen Damen – und gegen Endes des Diners obendrein erhitzt und animiert. Die Perlenreihen verschoben sich leis bei jedem Atemzug auf der großen Fläche, die mit weißer Haut bespannt war. Und beide schimmerten, die Perlen und die Haut. Aber das erzählte ich dem Kindermädchen – Anna hieß sie – nie, nur dem Teddybären. Jetzt aber war ich von all diesen Erlebnissen ausgeschlossen, denn für die Dessert-Tour war ich schon zu groß und noch zu klein, um abends mit zu essen, wie Marieagnes es schon tat, die sich unbegreiflicherweise gar nichts daraus machte und nur stöhnte, daß sie sich umziehen müßte.

So blieb mir nichts, als mich schmollend ins Bett zu legen und zu lauschen, wann Mama kommen würde, mir gute Nacht zu sagen. Denn das tat sie immer. Ich hatte die Tür zu Mamas Schlafzimmer aufgemacht und auch die nächste zu Mamas Salon. So konnte ich hören, wenn drüben im Eßzimmer das Diner zu Ende war, wenn sie in den Saal gingen, hörte Stimmen und stellte mir vor, wie der Kaffee und die Liköre serviert wurden, und zählte die Minuten. Oft war ich versucht, aus dem Bett zu kriechen und barfuß in Mamas Salon zu gehen, um genau festzustellen, wieweit man war. Und oft tat ich es auch. Das schönste aber war der Moment, wenn sich endlich die Spannung löste und ich das Rauschen hörte, das von ferne kam. Mamas Rock und Schleppe rauschten so. Jetzt kam es näher und klang gedämpfter, weil der Rock über den grünen Teppich des Schlafzimmers glitt. Dann war sie da. Sie kniete sich gleich nieder auf das Lammfell vor meinem Gitterbett, ich kniete auf dem Bett, und so wurde das kurze Abendgebet gesprochen: »Müde bin ich, geh’ zur Ruh.«

Über mir hing ein buntes Bild vom Prager Jesuskind, mein persönlicher Besitz. Ich liebte es sehr. Dann schlüpfte ich ins Bett. Mama steckte die Decke fest ein, machte mir ein Kreuzchen auf die Stirn und gab mir einen Kuß. Dann wieder Rauschen, ich lauschte ihm nach, noch eh’ es verstummte, schlief ich ein.

 

 

Kinderzeit

 

Drei große »gesellschaftliche« Ereignisse haben meine Kinderzeit belebt. Das waren 1911 die Hochzeit von Toto Landsberg mit Friedrich Graf zu Stolberg-Stolberg, 1912 die Hochzeit von Margot von Kettler, unserer Nachbarin aus Buchelsdorf, mit einem Herrn von Üchtritz und 1913 die silberne Hochzeit meiner Eltern.

Als Schleppeträger bei Tante Totos Hochzeit zusammen mit Franz-Egon (Puti) Landsberg, Toto Praschma und Elisabeth Landsberg bekam ich ein prachtvolles weißes Atlaskostüm mit Schärpe und Spitzenkragen nach einem Modell der königlichen Prinzen in Berlin. Es war meine erste männliche Ausstattung für festliche Anlässe. Da ich damals sehr eitel war, machte dieses Kostüm mich überglücklich. Ich betrachtete mich in Mamas großem Spiegel voller Stolz und nahm sogar willig in Kauf, daß meine Locken noch nicht abgeschnitten und weiterhin eingedreht wurden, was eine sehr unangenehme Prozedur war. Endlich nahte der große Tag, und die ganze Familie brach nach Drensteinfurt in Westfalen auf. Wir Kinder wohnten bei Twickels in Ermelinghof. Die Brautsoiree war gewisserweise mein erstes Auftreten in der großen Welt, und ich genoß es in vollen Zügen. All die Damen in großen Abendkleidern mit langen Schleppen erregten mein Entzücken. Tante Toto hatte ein Kleid von Worth an (damals der Pariser Schneider der wirklich feinen Leute). Es gefiel mir enorm, bestand es doch aus einer Komposition von vielen farbigen Schleiern: rosa, hellgrün, gelb und blau. Beim Souper durfte ich von Tisch zu Tisch gehen und hielt mich dort, wo ich bekannte Gesichter fand, etwas länger auf, so bei Gräfin Paula Stolberg-Brühl. Ich fürchte, sie war es, die als Freundin von Helene aus Reichenau mit mir vertraut, mir, dem Fünfjährigen, ein Glas Champagner in die Hand drückte. Ich kannte dies Getränk zwar von unseren Geburtstagsfeiern, aber da bekamen wir es wohl mit Wasser verdünnt. Jedenfalls hatte es noch nie so angenehm in der Nase geprickelt und auch noch nie eine so beschwingende Wirkung hervorgerufen. Ich trank ein Schlückchen nach dem anderen und wagte mich, nun beflügelt, sogar ins Eßzimmer, wo an der großen Tafel das Brautpaar und die Honoratioren saßen, natürlich auch die Eltern. Plötzlich stand ich hinter Tante Marie Praschma und schaute fasziniert auf ihr tiefes RückenDekolletté, das von hellgrünem Tüll umrahmt war. Es verlockte mich zu unbesonnener Tat, und voller Freude goß ich den restlichen Inhalt von meinem Champagnerglas in dieses schöne Dekolletté. Die gute Tante Marie, wie stets voller Verständnisfür practical jokes, nahm es gelassen auf. Ich aber wurde fortgeschafft. Vom Hochzeitstag ist mir vor allem das Schleppetragen in Erinnerung geblieben. Wir stritten uns zunächst einmal ganz fürchterlich, wer hinten und wer an der Seite gehen sollte. Nachdem das durch die Autorität der Kinderfräuleins geregelt war – die Jungen hinten, die Mädchen an der Seite –, zogen »Puti« und ich derartig an der Schleppe, daß die arme Tante Toto auf dem Rückweg zwischen Kirche und Schloß haltmachen mußte, um nicht ihre Schleppe zu verlieren, und der ganze Hochzeitszug ins Stocken geriet. Wir Kinder – sehr zahlreich vorhanden, denn Tante Toto hatte ja sämtliche Neffen Nnd Nichten eingeladen – speisten nach der Trauung und dem obligaten Hochzeitsfoto im Gasthaus Witheger. Wohl durch meine Exzesse vom Vorabend gewarnt, hatte man angeordnet, uns Alkohol nur in sehr verdünnter Form zu geben. Das erregte den Zorn von Engelbertchen Praschma, damals zwölfjährig, der mir riesig imponierte, weil er energischen Protest einlegte und von den Kellnern herrisch verlangte, daß uns unverdünnter Champagner eingegossen würde. Das war meine erste Begegnung mit protestierender Jugend. Ich nehme an, daß die Proteste umsonst waren. Jedenfalls ging das Kinder-Hochzeitsmahl ohne weitere Zwischenfälle vorüber. Zum Dank für unsere Schleppenträgertätigkeit bekamen wie jeder eine goldene Nadel mit dem Hochzeitsdatum: 29. 8. 11. Sie war mein ganzer Stolz, ich trug sie bei jeder Gelegenheit und habe sie heute noch.

Nach Tante Totos Hochzeit, vor Schuleintritt, Ostern 1912, wurden mir die Locken endlich abgeschnitten. Sie waren mir immer eine Qual gewesen. Ich hatte sehr dünne und kaum gewellte hellblonde Haare, die immer eingedreht werden mußten, um zu Locken zu werden.

An das zweite Hochzeitsfest, an dem ich als Schleppeträger teilnahm, habe ich eine weniger brillante, ja etwas komplexbeladene Erinnerung. Helene, die in ein hellblaues Atlaskleid mit gestickter Taille gekleidet war, fuhr mit mir und dem Kindermädchen im Coupé nach Buchelsdorf. Tamaschke, der alte Kutscher, hatte seine Galalivree angelegt mit weißen Hosen und Zylinder, und so schaukelten wir an einem heißen Sommermorgen mit geschlossenen Fenstern – damit der Staub nicht die Kleiderpracht beschmutzte – eineinhalb Stunden auf sandigen Landwegen gen Buchelsdorf. Dort – schon verspätet angelangt – wurden wir beiden wichtigen Personen, Helene als Brautführerin und ich als Schleppeträger, gleich in einen anderen Wagen verladen und nach Lättnitz in die Kirche gefahren, wo der Hochzeitszug schon auf uns wartete. Niemand, auch mein dummes Kindermädchen nicht, hatte daran gedacht, daß ein Sechsjähriger nach langer Wagenfahrt auch einmal eine Besorgung machen müßte. Und so geschah es dann: ich stand hinter der Schleppe aufgebaut vor dem Altar. Die Schwester der Braut hatte gerade von der Orgelempore ihr Solo »Wo Du hingehst, da will auch ich hingehen« erklingen lassen, da fühlte ich es heiß an meinen nackten Beinen herunterrinnen, die Atlashose näßte sich, und bald entstand am Boden ein kleiner See. Meine Mit-Schleppeträgerin, die Stieftochter der Braut (und später Mutter von Oda Kettler), schaute mich verwundert an. Dann sah ich Helene mit hochrotem Kopf auf mich zukommen, um mich in die Sakristei abzuführen. Die Freude an dem Fest war vorüber, und erst abends, als der Ball begann, kam meine kindliche Genußsucht an schöngekleideten Menschen wieder etwas auf ihre Kosten. Diesmal waren es die Herren, die mich faszinierten. Die vielen Gardeleutnants in ihren bunten Galauniformen kamen mir fast noch prächtiger vor als die Damen und machten mich zu einem begeisterten Militaristen. Jedenfalls soll ich von da ab auf die übliche Frage, was ich einmal werden wollte, immer geantwortet haben: »Soldat.«

Auch wuchs ich allmählich in die von meinen älteren Brüdern geerbten Kinderuniformen hinein (es gab rote Husaren und blaue Dragoner), die ich vor allem anzog, wenn der »Kriegerverein« vorm Hause paradierte. Das war zu »Kaisers Geburtstag«, am 27. Januar, zu »Sedan«, am 2. September, und sonst dann der Fall, wenn einer der Veteranen beerdigt wurde. Da die Kriegervereinsfahne im Schloß aufbewahrt wurde, zog die Kolonne würdiger alter Männer in Gehrock und Zylinder ordensgeschmückt vorm Schloß auf. Es wurde »Auf, paradiert vorm König« geblasen, vor meinem Vater, dem einzigen Offiziers-Veteranen, strammgestanden und die Fahne – mit prachtvollen Bändern und Beschlägen geschmückt – in Empfang genommen und nachher unter dem gleichen Zeremoniell wieder abgeliefert. Ich durfte dann neben meinem Vater stehen, die Hand an die Mütze legen und kam mir sehr wichtig vor. Nur, mit dem Säbel zu grüßen, was man mir beibringen wollte, habe ich nie gelernt.

Die Buchelsdorfer Hochzeit hat aber lange einen Schatten auf mein Dasein geworfen. Nicht nur, weil mich die Geschwister, denen mein Unglück natürlich nicht verborgen geblieben war, als Hosen-tra-tra bezeichneten und neckten. Noch Jahre danach, wenn wohlmeinende alte Damen in Buchelsdorf freundlich meinten: »Ach, das ist der Kleine von der Hochzeit«, durchzuckte es mich heiß, und ich war überzeugt, daß sie nur auf mein Malheur anspielten. Mein drittes und letztes Kindheitsfest, die silberne Hochzeit der Eltern am 23. Juni 1913, verlief in vollster Harmonie. Es wurde auf der Wiese neben dem Haus ein großes Zelt aufgestellt. Am Vorabend diente es als Theatersaal für die verschiedenen Vorführungen, die von den Geschwistern und Verwandten bestritten wurden. Am Hochzeitstage fand dort ein großes Essen statt. Die kirchliche Zeremonie vollzog der Onkel Ferdinand Croy, Domherr von Mecheln und päpstlicher Prälat, in herrlicher violetter Robe. Mich interessierten aber wieder am meisten die Toiletten der Damen bei dem Ball am Vorabend. Bunte Uniformen gab es diesmal weniger. Nur Papa in roter Malteseruniform und der Vetter Lazy Strachwitz aus Bertelsdorf, der im August 1914 fiel, in hellblauer Dragoneruniform sind mir erinnerlich. Mama trug am Vorabend ein weißes Abendkleid mit Schleppe, ganz eng und gerade geschnitten, an dem vorne eine breite Bahn aus bellblauem Samt hinunterlief, die mit großen Schleifen aus Goldbrokat verziert war. Ich war natürlich hell begeistert über diese Kostümierung. Wenn ich an diese Vorkriegsjahre zurückdenke, so scheint mir, daß wir ein besonders glückliches und harmonisches Familienleben geführt haben. Die beiden großen Brüder waren in Sagan auf dem Gymnasium, wo sie Ostern 1914 Abitur machten. Sie wohnten beim Religionslehrer der Schule, Professor Weinrich, und kamen am Samstagnachmittag per Tretrad, im Winter wohl auch teils mit der Bahn nach Haus fürs Wochenende. Sascha ging dann immer gleich auf die Jagd, und Rudi stürzte sich in seinen Flugzeugbau. Sein ganzes Zimmer hing voll von Doppeldeckern und Sportflugzeugen der verschiedensten Typen. Im Sommer wurde viel Tennis gespielt. Das lnstandhalten des Rasenplatzes war eine ständige Mühe. Er mußte kurz geschnitten, gewalzt und mit weißen Strichen aus flüssigem Kalk versehen werden. Ich wurde immer zum Bälleklauben geholt, meist zu meinem Mißvergnügen. Denn ich sah nicht ein, warum ich das, wofür die Kutscherenkel 10 Pfennig bekamen, umsonst machen sollte. Aber die Geschwister fanden das ganz natürlich. Lediglich wenn hübsche junge Damen spielten wie z. B. Gräfin Daisy Schaffgotsch, die meine erste Liebe war, fand ich das Bälleklauben der Mühe wert und betrachtete mit Genuß, wie sie in ihren langen weißen Röcken graziös über den Platz liefen. Meine schöne Daisy hatte übrigens ein tragisches Leben. Sie heiratete den Grafen Andreas Schall, wurde kurz darauf geschieden, ihre Ehe wurde annulliert. Danach war sie die Frau des berühmten Tenors der Dresdner Hofoper, Tino Patiera, von dem sie arg geprügelt worden sein soll. Sie endete als Morphinistin. Ich hatte aber wohl etwas von ihrem großen Sexappeal gewittert. Vielleicht war es ein Erbteil ihrer berühmten schönen Mutter Paula Schaffgotsch, einer geborenen Freiin von Fürstenberg, deren Eskapaden die schlesische Gesellschaft erregten.

Ja, wir hatten es gut. Dazu trug wohl auch die Großzügigkeit des Haushaltes bei. Wir waren fast nie ohne Gäste: Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen. Manchmal blieben sie wochenlang mitsamt Jungfer und Kindermädchen. Mama war das aus Steinfurt so gewohnt. Dabei ging das Leben für uns Kinder seinen regelmäßigen Gang. Der Jahreslauf, genau so geregelt wie der Tageslauf, brachte seine immer wiederkehrenden Freuden: im Sommer das Pilzesuchen, die Zeremonie des Kornanschneidens, bei dem man mit einem Segensspruch ein buntes Seidenband um den Arm gebunden bekam, das Baden im Bober, die Picknick-Ausflüge in den Wald, das Erntefest und die Kartoffelfeuer. Dann kam im Herbst die Zeit der Eichelsuche. Papa hatte viele amerikanische Eichen angepflanzt, wohl als einer der ersten in Schlesien. Es gab eine lange doppelbebaumte Eichenallee und viele Einzelbäume im Park. Die Eicheln der »Quercus rubra« waren als Saatgut gesucht. Wir bekamen – wenn ich mich recht erinnere – ca. 5 Mark für den Zentner. Das war damals viel Geld, und 10 bis 20 Pfund hatte man an einem Nachmittag leicht beisammen. »Das Geld liegt auf der Straße«, pflegte die Mama zu sagen, die fleißig mitsammelte und ihren Korb einmal dem einen, einmal dem anderen zukommen ließ. Waren die Eicheln in den Tubs getrocknet und in Säcke gefüllt, schrieb ich seriöse Geschäftsbriefe und bot der Gräflich Schaffgotsch’schen Verwaltung in Warmbrunn oder Gräflich Brühl’schen in Pförten die Eicheln zum Kauf an. In einem Jahr hatten wir so viel gesammelt, daß wir der Kirche einen schönen, großen, roten Altarteppich spenden konnten.

Der Herbst brachte auch die Treibjagden auf Niederwild und Fasanen. Vor allem im Park gab es sehr viele Kaninchen. Es wurden am Tag so zwischen 500 und 1.000 Stück insgesamt geschossen. Wir durften die Jäger begleiten und stellten uns mit Vorliebe hinter dem besten Schützen auf. Zu Mittag gab es ein Jagdfrühstück im Wald auf Zinntellern mit eigenem Jagdbesteck. Wenn man zurückkam, brannte in der Halle ein großes Kaminfeuer, und es gab Tee. Dann zog sich alles zurück zum Schlafen. Auch die Nachbarn bekamen ein Zimmer angewiesen. Währenddessen parfümierten die Diener die Salons. Abends rollten dann die Wagen mit den Damen an, und um acht Uhr war großes Diner, von dem wir Kinder aber ausgeschlossen waren. Nur bis zu drei oder vier Jahren durfte ich als Jüngster, wie schon berichtet, in meinem Kleidchen zum »Dessert« erscheinen.

Mit dem heiligen Nikolaus begannen die Aufregungen der Weihnachtszeit. Er erschien meist persönlich, denn es war fast immer ein für die Rolle geeigneter Gast vorhanden. Manchmal brachte er auch den Knecht Ruprecht mit oder »Hans Muff«, wie wir ihn nannten, der mit der Rute für Ordnung sorgte. Ich habe sehr lange an den Nikolaus und ans Christkind geglaubt. So war ich entsprechend aufgeregt und versuchte, durchs Schlüsselloch der versperrten Saaltüren zu spähen, wenn Weihnachten sich näherte, fand sie aber immer verstopft. Am Weihnachtsabend begann die »Leute-Bescherung« um fünf Uhr. In der Halle war ein großer Christbaum aufgestellt, der bis zur Decke reichte, ringsherum die Tische mit Gaben. Dann kamen die Hausleute und die Hofleute, und jeder bekam sein Paket. Bei den Hofleuten kamen nur die Kinder mit ihren Müttern. Die Männer bekamen Geld. Es war zuvor gefragt worden, was sie sich wünschten. Meist waren es Kleider, Anzüge, Schuhe, aber natürlich gab es auch Spielsachen und Süßigkeiten dazu und viele selbstgestrickte Socken, Strümpfe, Steuchel (Pulswärmer, schlesisch) und Mützen. Wie viele Hofkinder es waren, kann ich nicht mehr sagen, wohl so gegen 30. Die Bescherung mit Singen von Weihnachtsliedern dauerte etwa eine Stunde, dann begann die aufregende Wartezeit im »türkischen Zimmer«, währenddem man es im »Saal« rumoren hörte. Endlich ertönte das ersehnte Klingelzeichen, und die Türen öffneten sich dem Lichterglanz entgegen. Unser Baum war immer ganz bunt geschmückt und mit vielen Süßigkeiten behängt. Sie waren so zahlreich, daß auch, wenn der Baum nach Dreikönig geplündert wurde, noch immer viele vorhanden waren, die dann als Preise für unsere abendlichen Karten- und Quartettspiele verwendet wurden.

Der Weihnachtstag begann sehr früh. Da eine Mitternachtsmesse damals noch nicht erlaubt war, wurde die erste Messe mit dem »Transeamus« um sechs Uhr früh gelesen, und die Hirtenmesse folgte gleich darauf. Etwas durchfroren setzte man sich dann gegen acht Uhr zum üppigen Weihnachtsfrühstück und stärkte sich fürs Hochamt mit Predigt um neun Uhr. Das nächste Fest war dann Silvester. Um sechs Uhr war Andacht mit Predigt und Segen. Das folgende Abendessen fanden wir genußreicher als das traditionelle Mahl am Weihnachtsabend, bei dem es auf Wunsch meines Vaters »polnischen Karpfen« gab. Das ist ein gebratener Karpfen mit einer süßen Biersoße mit Pfefferkuchen und Rosinen. Erst die obligaten Mohnklöße schmeckten uns dann wieder.

Zu Silvester gab es einen Punsch aus sehr schönen, dicken Gläsern, in die Tierszenen eingeschliffen waren, und natürlich mit Pflaumenmus gefüllte Berliner Pfannkuchen. Um zwölf Uhr blies Sichert, der Nachtwächter, draußen ins Horn und bekam dann ein Glas Punsch herausgereicht.

In den Wintermonaten, zur Faschingszeit, waren die Eltern und Helene oft wochenlang verreist. Wir amüsierten uns aber am Faschingsdienstag auch ganz gut bei einem Kostümball in der Halle, zu dem wir die Hausleute einluden. Fräulein Bertram spielte zum Tanzen auf. Polka und Walzer gelangen ihr besser als die »modernen« Tänze wie »one-step« und »two-step«, die wir ihr abverlangten, weil wir da die Texte kannten: »Ja, wenn das der Petrus wüßte, wie der sich dann freuen müßte, selbst bei seinen Engelein, kann’s kaum noch schöner sein«, ist mir in Erinnerung geblieben. Und natürlich: »Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch, die Frauen sind auch nicht viel besser, aber lieb, aber lieb sind sie doch.« Das waren so die Schlager der Saison. Einmal, ich glaube, es war im Februar 1914, wurde das winterliche Einerlei durch ein aufregendes Ereignis unterbrochen: Ein Einbrecher war durch das Fenster der »Anrichte« in der Nacht eingedrungen, hatte das ganze Tafelsilber, das dort und im Eßzimmer aufbewahrt wurde, in Säcke verpackt und war damit abgezogen. Der Nachtwächter, der alte Siebert, hatte aber die Leiter bemerkt und Alarm geschlagen. So fand man die Säcke in der Nähe des Hauses, einige Sachen auch in einer Scheune wieder. Endgültig verschwunden blieben nur zwei Becher – von Marieagnes und Stani. Das Aufregende war, daß der Dieb ein Paar Pantoffeln hinterlassen hatte. Das erleichterte dem Polizeihund am nächsten Morgen seine Arbeit beim Wiederfinden des Silbers. Die Eltern waren nicht zu Hause, und da im Parterre, nicht weit vom Tatort, nur Nelly (meine irische Miss) und ich schliefen, malten wir uns aus, wie der Dieb bei der Suche nach dem Silber bei uns hereingeschaut hätte! Dabei hatte er bestimmt nicht nötig gehabt zu suchen, denn es war offensichtlich jemand gewesen, der mit den Gegebenheiten des Hauses vertraut war und sich nur mit dem Nachtwächter verrechnet hatte, der zufällig in dieser Nacht seine Zeiten etwas geändert hatte. Wer es war, ist nie herausgekommen, aber natürlich stellten wir allerlei Vermutungen an. Der Verdacht fiel auf den Gärtner, der wohl sowieso nicht als ganz ehrlich galt und dem gekündigt worden war. Mich hat damals befremdet, daß er, als er am nächsten Morgen die Blumen und Grünpflanzen im Haus gießen kam, vor mir beiläufig sagte: »Die Pantoffeln, die habe ich schon öfter bei Müller (das Gasthaus) gesehen.« Auf meine Frage »Wem gehören sie denn?« blieb er ohne Antwort und sah mich nur verschlagen an. Ich vermute beinahe, daß man es ihm hätte nachweisen können, daß aber die Eltern die Angelegenheit nicht weiterverfolgen wollten, um die Familie nicht zu ruinieren, denn der Mann hatte viele Kinder. Darunter war auch ein reizendes Mädchen in meinem Alter, die manchmal spielen kam und Religionsunterricht mit mir zusammen hatte. Sie bekam dann die Schwindsucht. Ihre Mutter war schon gestorben, und ihr langsames Dahinwelken hat mich sehr berührt … Wir besuchten sie regelmäßig, und – es muß wohl bei einem der letzten dieser Besuche gewesen sein, als die recht unsympathische Stiefmutter plötzlich sagte: »Nächste Woche woll’n wir ja unser Schwein schlachten, denn sie möchte doch gerne noch mal Blutwurst essen, bevor sie stirbt.« Ich werde den Ausdruck der großen, blauen Augen in dem ganz bleichen, kleinen Gesicht nie vergessen. Kurz darauf haben wir sie beerdigt, und das winterliche Leben nahm wieder seine gewohnten Formen an mit Lernen, Schlittschuhlaufen auf dem Dorfteich und Rodeln am »Langen Berg«.

Mit Beginn der Fastenzeit, die streng eingehalten wurde, kamen die Eltern meist zurück, und man lebte Ostern entgegen, was mit den kirchlichen Feiern der Kartage, in denen uns, wie stets, die Ausschmückung der Kirche oblag, recht anstrengend war. Am Karsamstag und Ostersonntag begann der Gottesdienst wieder um sechs Uhr. Das Ostereiersuchen am Sonntagnachmittag entschädigte einen dann für die Strapazen des Frühaufstehens. So war der Jahreslauf, den man für unwandelbar hielt, und ehe ich von dem Einbruch erzähle, den er durch den Ersten Weltkrieg erfuhr, möchte ich kurz berichten, wie es in einem ländlichen Schloßhaushalt in Schlesien damals zuging. Das Schloß hatte etwa 40 Räume und weitläufige Keller nebst Küche sowie einen großen Dachboden dazu. Vor dem Umbau, der im Frühjahr 1914 begonnen wurde, gab es nur ein Badezimmer, neben dem Schlafzimmer der Eltern bzw. neben meinem Kinderzimmer, denn ich war ja nebst meinem Kindermädchen in Mamas Toilettezimmer einquartiert. Das Bad wurde aber verhältnismäßig selten benutzt, denn man reinigte sich gut und gründlich im »Tub«, einer flachen Metallbadewanne mit ca. 30 cm hohem Rand, in die das in der Küche gewärmte Wasser aus großen Messingkrügen hineingegossen wurde. Nach dem Abseifen goß man sich den Rest des Wassers über den Rücken bzw. ließ es sich vom Kindermädchen oder auch vom Diener übergießen. Geheizt wurde das ganze Haus durch Kachelöfen mit Holz. Als Beleuchtung hatte man Kerzen (am Nachttisch, Toilettetisch und Eßtisch), Petroleum- und Spirituslampen. Bei Anbruch der Dunkelheit trugen die Diener die brennenden Lampen in die verschiedenen Räume. In den Schlafzimmern waren es meist Petroleumlampen und in den Hallen und Gängen auch. In den Salons waren es Spirituslampen mit einem Glühstrumpf, die ein viel helleres, weißlicheres Licht verbreiteten, während das Licht der Petroleumlampen gelblich war. Die Spirituslampen waren auch sauberer. Die Petroleumlampen rußten oft ihren Zylinder ganz schwarz. Manchmal platzte der Zylinder auch, was immer große Aufregung auslöste. All diese Lampen mußten gereinigt und gepflegt werden. Im Krieg gab es dann furchtbar stinkende, sehr helle Karbidlampen, die häufig explodierten. Elektrisches Licht und Telefon bekamen wir erst 1916 oder 1917 ins Haus.

Im Haushalt mit dem vielen Personal gab es eine strenge Gewaltenteilung in drei Bereiche: Beschließerin, Butler und Koch. Nur wenn hier keine Übergriffe und Intrigen stattfanden, lief alles klaglos. Der Beschließerin unterstanden alle weiblichen Hausangestellten, Stubenmädchen, Kammerjungfern, Wäscherinnen und Bügelfrauen, das Nähzimmer und das Bügelzimmer. Sie war für die gesamte Hauswäsche verantwortlich. Bei uns gab es drei Stubenmädchen, ein erstes, ein zweites und ein drittes nach Rangordnung und Bezahlung, und zwei Kammerjungfern, eine für Helene und eine für Marieagnes, als sie älter wurde. Beschließerin war Betti. Doch war sie auch, in Personalunion, die Kammerjungfer der Frau Gräfin. Dem ersten Diener, in feinen Häusern sagte man Butler, unterstand das männliche Personal. Er hieß Thauer und wurde mit Familiennamen genannt. Der zweite Diener hieß Josef und der dritte Fritz. Der wurde später, im Krieg, zum alleinigen Diener, bis auch er eingezogen wurde und Frau Thauer alle Arbeiten ihres gefallenen Mannes übernahm. Thauer und Josef trugen schwarze, gelb-passepoilierte Livreen mit goldenen Wappenknöpfen und schwarz-gelb gestreifter Weste, der Piccolo eine kurze Knöpfjacke, die vorn durch eine Reihe dicht beieinanderstehender