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Dies ist ein autobiografischer Roman, der meine Suche nach meiner seltenen Autoimmunerkrankung beschreibt und die Menschen vorstellt, denen ich dabei begegnet bin. Ebenso gibt es Einblicke in den Umgang einiger in der Medizin Tätigen mit kranken Menschen, die unter unerklärlichen Schmerzen leiden und über den Tellerrand, der offensichtlich zu hoch ist, um andere Fachbereiche mit einzubeziehen. Wenn sich der Lesende zudem darauf einlassen kann, etwas über das Leben auf einer psychiatrischen Station zu erfahren und über die Schicksale der dort Untergebrachten, meine Trauer über den Verlust einer lieben Freundin, die jahrelange Suche nach dem Grund meiner Schmerzen nach zu empfinden, dann werden diese meine Geschichte gerne lesen und es erst mit Zuschlagen der letzten Seite aus der Hand legen.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2023
Wenn Sie sich darauf einlassen können, etwas über das Leben auf einer psychiatrischen Station zu erfahren und über die Schicksale der dort Untergebrachten, meine Trauer über den Verlust einer lieben Freundin, die jahrelange Suche nach dem Grund meiner Schmerzen nach zu empfinden, dann werden Sie meine Geschichte gerne lesen und es erst mit Zuschlagen der letzten Seite aus der Hand legen.
Marion Kulinna im Juli 2023
Autorin: © 2023 Marion Kulinna
Lektorat: G.W.Walbeck, G.Friese, M.Bauer, A.Freund
Fotos von: Carl Herrlich und Marion Kulinna
Zeichnung von: M.Kulinna und B.Hoffmann
Verlagslabel: tredition, www.tredition.com
Druck und Distribution im Auftrag Marion Kulinna, tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
Hardcover
978-3-347-94850-1
e-Book
978-3-347-94851-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Marion Kulinna verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne meine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen Auftrag Marion Kulinna, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
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Ohnmächtig ausgeliefert
Roman
Teil 1
März 2014:
Unregelmäßig auftretender stechender Schmerz oberhalb des linken Auges/Augenbraue wird verursacht durch zu viel Arbeiten mit Laptop. Außerdem Schmerz am Gaumen vorne rechts..
Beim Fahrrad fahren tränende Augen durch Fahrtwind.
April 2014:
Verdacht auf Nebenhöhlenentzündung, bei Arztbesuch keine Symptome, außer äußerlichen Schmerzen auf dem Nasenrücken und an der Nasenseite, besonders beim Tragen der Brille/Lesen.
Juni 2014:
Nase verstopft, Niesanfälle, kribbeliges Gefühl an Nasenflügeln, Schmerz im rechten Auge, wunder Schmerz am Gaumen.
Besuch HNO:
Röntgen auch der Stirnhöhle: o.B.
Besuch Optiker, Augenärztin M.:
Augentropfen gegen Trockenheit bringen keine Linderung.
Juli 2014:
Aufenthalt am Meer. Windempfindlichkeit im Gesicht, Schmerzen, hauptsächlich an Nase und nach Benutzung der Brille.
200er Schmerzmittel.
August 2014:
Hausarztbesuch bei Dr. R.M., weitere Ursachenforschung:
Neurologische Abklärung bei niedergelassenem Arzt Dr. Sch.; o.B.
September 2014:
Schmerzen im Kopf
oder
Zack! Zielscheibe – Spiegel, blind
Allen Angeschlagenen drinnen oder draußen gewidmet:
Ihr mögt einsam sein, aber Ihr seid nicht allein! Ergreift die Hand…..
Und für die Geschichte hier spielt es keine Rolle, ob Namen* oder Handlungen erfunden oder wahr; sie lebt durch mich in meinem Herzen, für immer und einen Morgen.
*Alle Namen geändert
10.September: 22 Tage zuvor
Gartenarbeit lässt Gedanken kreisen, auch die Unguten! Auf einem Schaumkissen kniend, reiße ich Unkraut, denn rupfen kann man das nicht nennen, was ich da tue.
Große Verzweiflung lässt mich gegen jedes einzelne ungewollte Grün heftig werden, aber eigentlich waren meine Fehlentscheidungen vor 2 Jahren gemeint. Die Frage war nur, waren sie wirklich »fehl«« oder bildete ich es mir nur ein?
Ich hatte vorzeitig meinen Beruf aufgegeben und musste mit ausreichendem, aber weniger Geld auskommen. Doch als ich die neue Festlegung des Krankenkassenbeitrags in Händen hielt, kamen mir große Zweifel, ob das Geld für mich und meine Familie wirklich ausreichte. Und tatsächlich, fördert Soll und Haben auf dem Konto ein Ungleichgewicht zutage. Wir lebten eindeutig über unsere Verhältnisse. Alle Kinder noch in der Ausbildung zehrten die Unterstützungen der Aushäusigen jungen Menschen zusätzlich an den Beständen. Mein rechtes Bein begann zu zucken… Anfangs konnte ich es noch vor meinem Mann verbergen, schob es auf: »»ich schlaf gerade auf dem Sofa ein.. die Gartenarbeit war ziemlich anstrengend.«« Doch mit dem immer doller drehenden Kreisel im Kopf nahmen auch die Zuckungen zu.
17.September: 15 Tage zuvor
Die Tränen flossen ohne Unterlass. Ich kroch auf allen Vieren in den Beeten herum. Stürzte ich meine Familie in Armut? Konnte Verzicht auf gutes Essen und gutes Leben viel ändern? Wie sag ich es meiner Familie, dass es so nicht weitergehen konnte? Ratter, ratter, ratter!
29. September: 2 Tage zuvor
MRT Kopf: o.B., allerdings gibt der Radiologie im November 2014 nach telefonischer Nachfrage der vertretenden Hausärztin zu, dass »»mit viel gutem Willen eine leichte Schwellung an der Nasenwurzel (?) zu erkennen ist««. Das erklärt vielleicht den abnehmenden Geruchssinn (Olfaktorisches Zentrum).
Immer noch unregelmäßig auftretende wunde Schmerzen am (vorderen) Gaumen.
Mein Mann leerte die Einkaufstasche, weil mich meine Schmerzen schon wieder in die Waagerechte gezwungen hatten. Dazu kam, dass sich die Zuckungen auch auf meine rechte Hand ausgeweitet hatten.
»Musst du soviel unnützes Zeug kaufen?«, blaffte ich ihn an, nachdem ich aufgestanden war und als ich sah, welche Leckeren er wieder eingeholt hatte.
»Hörst du mal auf, ständig an meinen Einkäufen herumzumäkeln? Und hör mit diesem Gezucke auf, das ist ja unerträglich!«
»»Vor einen Zug? Vor einen LKW?««, schoss es mir durch den Kopf! Ich kollabierte, rutschte am Küchenschrank entlang auf den Boden und brach schreiend zusammen.
»Heh, heh, heh, was ist denn mit dir los? Hast du solche Schmerzen?«, fragte mein Mann, der sich mein Verhalten nicht erklären konnte. Da gestand ich ihm, was seit Wochen meine Gedanken beherrschte. Entsetzt über diese stockenden Sätze, ließ er sich die immer weiter auseinander klaffenden Differenzen zeigen.
»Aber wir haben doch reichlich Rücklagen, und wenn wir das ein oder andere Abo kündigen oder eine Versicherung aufgeben, dann gleichen wir das sicher aus.«
Doch meine Panik hatte mich längst völlig vereinnahmt! Ich konnte nur hilflos mit dem Kopf schütteln und beruhigen ließ ich mich nicht mehr.
»Ich rufe mal deine Freundin Ute an, die weiß sicher einen Rat!«
Nach einer halben Stunde kam mein Mann wieder zu mir!
»Schaffst du es durch die Nacht oder sollen wir in die Notaufnahme der Uniklinik? Sonst warten wir bis morgen und gehen zu unserem Hausarzt! Der soll dann entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Das ist der Rat, den Ute uns gibt.«
»Jaja, ich schaff’ das bis morgen! Nur nicht schon wieder in eine Notaufnahme der Klinik! Du weißt doch, wie viele Stunde ich da schon verbracht habe.«
Das Teilgeständnis hatte eine gewisse Erleichterung gebracht und so schlief ich erschöpft für ein paar Stunden ein, zuckte den Öffnungszeiten der Hausarztpraxis entgegen.
30.September: 1 Tag zuvor
Versuch, mit Kontaktlinsen Brille tragen zu vermeiden, verursacht aber Schmerzen im Auge, weil die Hornhaut laut Augenarzt zu uneben ist.
01.-22.Oktober:
Einweisung in Psychiatrie
In Begleitung meines Mannes gingen wir ins Sprechzimmer unseres Arztes. Mein Mann hatte zuvor telefonisch die Lage erklärt und wir durften umgehend kommen. Als unser Arzt mich sah, war ihm gleich klar, dass er mir sofort ein Beruhigungsmittel verabreichen musste. Trotzdem klammerte ich mich mit beiden Händen an seinen Schreibtisch und brachte so alle Gegenstände darauf in Bewegung. Dann begann er Fragen zu stellen, die mein Mann ihm beantwortete.
»Glauben Sie tatsächlich, dass es mit Ihnen so weit finanziell bergab geht, dass Sie von Hartz 4 leben müssen? Die Heizungsrechnung nicht bezahlen können, die Miete nicht, obdachlos werden?«
»Ja, verdammt, ja!«, schrie ich dazwischen.
»Ist das realistisch?«, mit dieser Frage wandte er sich an meinen Mann!
»Nein, auf keinen Fall! Sie hat sich wohl zu sehr da rein gesteigert und ihre ständigen Kopfschmerzen sind ja auch nicht hilfreich!« erwiderte mein Mann.
»Dann haben wir jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder gehen Sie für drei Wochen in eine stationäre Behandlung der Psychiatrie oder ich lasse Sie Zwangseinweisen, dann dauert der Aufenthalt aber mindestens 4 Wochen! Das geschieht über eine richterliche Anordnung! Was meinen Sie?«
»»Sollte ich meinem Leben ein Ende bereiten? Konnte ich mit diesen Schuldgefühlen weiterleben? Können sie ohne mich weiterleben? Sollte ich erst sie und dann mich umbringen? Wie soll ich es bewerkstelligen? Ist ein gemeinsames Essen mit unguten Kräutern die Lösung? Darf ich so denken?««
In einen Spiegel schaute ich schon eine Weile nicht mehr, starrte mich doch dort ein Monster an. Die Selbstmordgedanken hatte ich bisher geflissentlich unterschlagen, denn ich schämte mich so.
»Ihr Tisch zittert wie ich!«
Wir gingen nach Hause, packten eine Tasche mit ein paar Übernachtungssachen, mein Mann informierte die Kinder! Unser Mittlerer kam sofort angeradelt und begleitete uns. Er streichelte meine Hände und sah mich mitfühlend an.
Tag 0 und neue Zeitrechnung!
In der Aufnahme wurden wir ausgehend befragt und die Einweisung wurde entgegengenommen.
»Ihr Hausarzt hat schon angerufen und einen Abriss gegeben! Wie geht es Ihnen jetzt?«
»Die Medizin wirkt, ich fühle mich benommen und habe Kopfschmerzen. Aber mit denen leb’ ich schon fast 1 Jahr! Der Rest ist verschwommen!«
»Gut, wir haben ein Bett für Sie frei und ich bringe Sie gleich auf die Station. Zuerst möchte ich Sie aber allein sprechen. Verabschieden Sie sich bitte von Ihrer Familie!«
Mit den Abdrücken ihrer Umarmungen verließ ich Mann und Sohn und folgte dem Aufnahmearzt ins Nebenzimmer.
»Was machen Ihre Panikattacken?«, redete er gleich Tacheles.
»Reden Sie nicht über Geld, fehlenden Einnahmen, Rechnungen, die bezahlt werden wollen, alltägliche Ausgaben, dann ist alles gut!« Notiz auf seinen Block.
»Haben Sie Suizidgedanken?«, fuhr er die Befragung fort.
»Njein! Ich brächte es gar nicht fertig, ich schäme mich nur so!«
»Aber Sie spielten auch mit dem Gedanken, Ihre gesamte Familie zu töten?«
»Wenn Sie das Spiel nennen wollen..! Ich nenne es Albtraum!«
»Diesen Gedanken tragen Sie aber nicht mehr mit sich rum?«
»Niemals könnte ich ihnen was antun, niemals!«, schrie ich fast und mein Widerstand erwachte!
»Sehr gut! Sie haben noch Willenskraft, das hilft! Dann brauchen Sie auch nicht ins Beobachtungszimmer!« Und mit diesen Worten stiegen wir gemeinsam in den zweiten Stock und klingelten an der verriegelten Türe der Station. Dort übergab er mich einer Pflegefachkraft, der mich in »mein«« Zimmer brachte. Gottseidank nur in eins mit einer Mitpatientin und nicht ins Beobachtungszimmer, wo 6 PatientInnen unterschiedlichen Geschlechts ihre Betten hatten, wie ich später erfuhr.
»Leeren Sie Ihre Handtasche und Tasche!« Die Pflegefachkraft sah mich auffordernd an. Willenlos kippte ich meine Taschen aus. Alle Gegenstände, mit denen ich mich verletzen könnte, wurden unter Verschluss genommen, was mir völlig gleichgültig war. Ich hatte ja nicht vor, mir etwas anzutun. Ich wollte nur Hilfe, denn so konnte es tatsächlich nicht weiter gehen..
Meine Zimmernachbarin reagierte nicht auf meine Begrüßung und ich zuckte mit den Achseln, denn das Beruhigungsmittel tat immer noch seine Wirkung. Ich legte mich angekleidet auf‘s Bett. Erschöpft nickte ich ein, wurde aber von der Stationsroutine eingeholt. Fiebermessen, Gewichtsabfrage, Einweisung in die Hausordnung.
»Abendessen um 6 im Aufenthaltsraum! Danach Medikamentenausgabe unter Aufsicht!« Egal, egal!
»Ihr Mann hat Ihnen eine weitere Reisetasche mit Kleidung für die nächsten Wochen gebracht! Bitte leeren Sie auch diese auf dem Bett aus, damit wir sicher gehen! Wir wollen ja kein Unglück, nicht wahr?« Die Pflegefachkraft lächelte.
»»Das Unglück lauert überall, nur nicht in meiner Tasche««, dachte ich und verzog die Lippen zu einem bedeutungslosen Grinsen. Der Fön wurde konfisziert, könnte ja Brandwunden verursachen. »»Wenn‘s innen brennt, braucht es keine Hitze von außen!«« Gitte und auch Tom sollten mich eines Besseren belehren.
Beim reichhaltigen Abendessen lernte ich dann die anderen Bewohner kennen. Da war alles dabei: jung und alt, Männer, Frauen, aber alle auf die ein oder andere Weise durchgeknallt. Die Sicherungen haben wohl ein unterschiedliches Verfallsdatum!
Der Tisch wurde nach Plan von einigen Mitessern abgeräumt, für den nächsten Tag gesäubert und die Stühle ordentlich aufgestellt. An einer Theke gab es anschließend die versprochenen, angedrohten, verordneten Medikamente. Nicht jeder wollte sie einnehmen, doch das wurde streng überwacht. Sonst wurde die weitere Einnahme direkt am Pflegestützpunkt verabreicht und man durfte sich so lange nicht dort wegbewegen, bis man nachgab. Für die RaucherInnen ein schweres Problem, denn irgendwann trieb die Sucht nach der nächsten Zigarette zur »freiwilligen« Einnahme.
Getränke standen auf einem kleinen Tisch im Gang und wurden auf Bitten auch aufgefüllt. Das Raucherzimmer, das eigentlich Besucherzimmer ist, war gut besucht und entsprechend verqualmt. Gelüftet wurde selten, es war schon Herbst. Mimosen!
Aber Besuche waren ja nur zu bestimmten Zeiten erlaubt, also egal. Setzt man sich ansonsten halt in die bestuhlten Nischen oder ins Fernsehzimmer, in dem es auch einen Schrank mit Büchern und Gesellschaftsspielen gab. Alles lag wild durcheinander.
Meine »»Zimmergesellin«« nahm ihre Wanderung durch die Flure auf, Blick starr geradeaus oder auf den Boden gerichtet. Auch ich begann den Rundweg um den Innenblock, der die Küche - abgeschlossen - und ein geräumiges Bad – abgeschlossen - beherbergte, bis es Schlafenszeit wurde. Die Nacht mit meiner schweigsamen Nachbarin verlief angenehm, durch Tabletten ausgeknockt. Hirn leergefegt.
Tag 1
Ein fröhliches
»Guten Morgen«, waberte durch den Raum. Etwas orientierungslos ließ ich meinen Blick durch das Zimmer gleiten und blieb an der jungen Person in der offenen Tür hängen, verkleidet als
»Pfleger W. mein Name! Ich bin diese Woche im Frühdienst für Sie zuständig!« Ich erwiderte den Gruß, benebelt durch starke Kopfschmerzen, quälte ich mich aus dem Bett.
»Um 7:30 gibt es Frühstück hinten am langen Tisch. Danach haben Sie ein Gespräch mit Frau Dr. S.. Sie erklärt Ihnen, was diese Woche auf Sie zukommt. Jetzt aber erst einmal Fiebermessen!«
Meine Zimmernachbarin huschte ins Bad. Wortlos. Dreh ich mich halt noch mal auf die andere Seite. Vielleicht verschwinden dann diese Schmerzen..
Als, ich nenn’ sie jetzt mal Emma, also als sie aus dem Bad wieder auftauchte, stellte ich mich unter die Dusche, damit mein Kopf klarer würde. Kaffee könnte auch helfen. Schnell zog ich mir was an, um mir die erste Tasse Kaffee einzuverleiben.
Angenehm überrascht von der Qualität des Kaffees, suchte ich mir einen Platz mitten am langen Tisch. Aus der Küche, jetzt unverschlossen, rollte ein Büfettwagen seitlich neben den Tisch und aus den Zimmern trudelten die ersten Mitgesellen ein. Mit einem Teller bewaffnet, stellte ich mich in die Reihe der Wartenden und musterte meine »»Vorsteherin««. Leger gekleidet, hatte ich eine etwa 60-jährige, etwas unförmige Frau vor mir. Ihr Haar weißhaarig mit Resten einer Färbung, strähnig, die Fingernägel angemalt und eckig zugerichtet. Nicht mein Ding. Sie drehte sich um und sagte:
» Ah, du bist gestern reingekommen!?« Mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ich heiße Jutta und bin wegen übermäßigem Alkoholkonsum hier drin! Und wie heißt du?«
Ich sagte ihr meinen Namen, ließ aber den fragenden Blick nach dem Grund der Einlieferung ins Leere laufen. Sie akzeptierte meine Zurückhaltung und mit einem:
»Wir werden schon warm miteinander werden«, begann sie, ihren Teller vollzuladen.
»Nimm dir reichlich. Abendbrot und Frühstück sind ganz okay, das Mittagessen allerdings..!« Sie verzog ihr Gesicht zu einem großen »Geht so grade eben««.
»Ich finde den Kaffee schon mal sehr lecker und die Brötchen sind ja auch ganz frisch«, stellte ich erfreut fest.
»Ja, nicht übel!«
» Was dagegen, wenn ich mich neben dich setze?«, fragte ich. Sie machte eine einladende Handbewegung.
»Kannst dich mit allen Fragen an mich wenden, ich bin schon das dritte Mal hier!«, lächelte sie zwischen zwei Bissen.
»Deine Zimmernachbarin redet nicht viel, hab ich Recht?«, plauderte sie weiter.
»Nein, wir haben noch kein Wort miteinander gewechselt!«
»Wirst auch keins hören! Glaub mir!« Sie rückte ein bisschen näher.
»Ist das jetzt angenehm oder störend?«, wollte sie weiter wissen.
»Kann ich noch nichts zu sagen. Sie tut mir nur leid, denn in so jungen Jahren so fest eingekapselt in ihren Kokon, da muss schon eine Menge passiert sein..!«
»Das kannste laut sagen!«, erwiderte Jutta und trank ihren Kaffee aus.
»Gehste mit eine rauchen, nach unserem Dessert«, und sie nickte zur Tablettenausgabe hinüber.
»Nein, danke, ich rauch‘ nicht mehr, Hab‘s mir vor vielen Jahren abgewöhnt.«, in ihren Slang fallend. »Außerdem will Frau Dr. S. mir im Anschluss ans Frühstück die Gepflogenheiten mitteilen!« Jutta zwinkerte mir zu.
»Ein bisschen unterkühlt die Dame, scheint aber kompetent zu sein!« Sie erhob sich und räumte ihr und mein Geschirr in den Wagen.
»Mir hat sie noch nicht endgültig helfen können, aber sie ist unerschütterlich, dass es diesmal funktioniert!« Die Schulter straffend, ging sie zur Pillenschranke.
Nachdem ich meinen Namen nannte, reichte mir eine Pflegefachkraft einen Pappbecher mit Wasser und meine Dosis Tabletten.
»Was ist das denn alles?«, fragte ich erschüttert, denn es waren mindestens drei verschiedene Drogen, die ich einnehmen sollte.
»Das sagt Ihnen Frau Doktor, gleich. Es sind dieselben wie gestern Abend, wenn es Sie beruhigt!«, als sie meinen skeptischen Blick sah.
»Und jetzt gehen Sie bitte weiter, Sie halten den Betrieb auf!« Ich hatte zwar nicht diesen Eindruck, denn alle anderen saßen noch am Tisch, nickte aber nur und lächelte die Pflegefachkraft an. »Meine Freundlichkeit kriegste nicht so einfach klein!«« rebellierte es in mir.
Da noch ein wenig Zeit bis zur Sprechstunde war - »Setzen Sie sich vor Zimmer 2, Frau Dr. S. ruft Sie dann rein!« -, füllte ich eine Tasse mit neuem Kaffee und besah mir heute ausführlicher die anderen Kandidaten.
Da war zunächst Gitte, die sich ständig bemühte, ihre beiden Narben übersäten Unterarme zu verstecken, vielleicht 16, blond, schlank und mit einem unstetem Blick aus schönen braunen Augen. Ihre Kleidung war jugendlich unschamhaft.
Christian fiel mir auf, weil er ständig unverständliche Worte vor sich her murmelte. Ich rätselte noch, was für eine Sprache es sein könnte, da sprang mir Ahmed zur Seite.
»Der spricht fließend koreanisch, obwohl er Deutscher ist! Hat wohl da gelebt, bevor sie ihn hier stilllegten!« Wie ungewöhnlich!
Maria war eine abgemagerte Frau in den 70ern, ihre Kleidung hing an ihr herab, restbraun gefärbte schulterlange Haare, ihr Blick verunsichert, wich meinem aus. Ruhige Kandidatin.
Jonas, nein, Halt zurück zu…Ahmed. Dieser vielleicht 18 Jahre alte Jugendliche war das genaue Gegenteil. Todschick angezogen, hatte er immer, bei allen Lichtverhältnissen, eine spiegelnde, dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Bei allen Mahlzeiten aß er Unmengen, war aber schlank dabei. Trank viele Tassen Kaffee mit 4 Löffeln Zucker, keine Milch. Und redete in einer Tour. Dabei hibbelte er auf seinem Stuhl herum. Auch auf den Gängen hatte er einen munteren Gang.
»Ich hab alles in mich rein gepfiffen, was es so an Drogen gibt. Hauptsache, keine Erdberührung!« Über diesen Ausdruck musste ich lächeln,.
»Jetzt habe ich es bald geschafft, der kalte Entzug ist schon 2 Wochen her! Vielleicht komme ich nächste Woche raus.«
»Drück dir die Daumen!« erwiderte ich. Doch als er kurz die Brille abnahm, sah ich seinen flackernden Blick, der diese Entlassung zwar herbeisehnte, aber selbst seine Spur auf der Drogenschiene wieder aufnehmen sah. Abwarten!
Jetzt Jonas! Wenn er irgendwo saß, wippte ein Knie immer auf und nieder, seine Nerven hatten seine Beine nicht unter Kontrolle, also alles ähnlich wie bei mir. Er war etwa Mitte 30, hatte eine Freundin, der er verbot, ihn mal zu besuchen, Nichtraucher. Mit ihm sollte ich in den kommenden Wochen so manche Runde um den Innenblock drehen. Netter Kerl. Dann noch Tom, vielleicht Anfang 20, scheint autistische Züge zu haben und wischt seine Hände ständig an jeweils neuem Feuchttuch ab.
Ich sah auf die große Stationsuhr! Okay, eine Minute noch bis zum Jüngsten Gericht
Auf dem Stuhl vor dem Arztzimmer hin und her rutschend, bekam ich feuchte Hände.
»Frau K., bitte kommen Sie herein.!«
»Die notfallmäßige Aufnahme I: ftäJiff: l;i;ä,…..nachnotfallmäßiger Vorstdeellru SÄ9t_ijnäh'ariegegnt epiatutinenqtdene seErhfeomtgantnee s l:,jH,#:;"1,.1]i,1lii" aufgrund von seifca twil;X (.r5-2sJahre) l"at*ha,ncren Angsten und rererci,: +,0?,,478.c53ee innerer Unruhe. insbesondere sei sie betastet d;r;ingste, ;m: ur*Hx;;; dasS die Familie V.erarmen Werde Und sie Selbst hieran die rourefte_syndro, -_,-_schuld trase sie habe w"^l;;üär,"n roiÄ,,';';än in,. Ausgaben und…«
So die Erklärung über meinen Zustand an die versammelten Ärzte. Es mochten etwa 6-8 Weißkittel sein. Dann sprach mich Frau Dr. S. direkt an. Sie entpuppte sich tatsächlich als eine etwas unterkühlte, jedoch dem Patienten zugewandte Person mittleren Alters mit langen, blonden, nach hinten gebundenen Haaren, gleichmäßigen Gesichtszügen und lebhaften Augen. Neben ihr konnte man tatsächlich Raum, Zeit und Anwesende vergessen. Ich erzählte also, warum ich glaubte, zusammengebrochen zu sein. Allerdings antwortete sie in einer mir noch nicht verständlichen Sprache.
Einzig meiner Bitte um andere Medikamente, da meine Schmerzen im Kopf seit der ersten Einnahme hier, noch unerträglicher geworden waren, kamen sie unverzüglich und auch in einer allgemein verständlichen Sprache nach. Es blieb deshalb bei einem Beruhigungsmittel und den Schmerzmitteln, die ich auch schon einem Jahre lang vorher ohne Probleme einnahm.
Wieder »draußen«, holte ich mir erst einmal einen weiteren Kaffee. An der Kanne begegnete mir eine verschreckte Frau mit hochgebundener rechter Brust.
Sie bat um den Zucker und um die Milch, da beides genau vor mir stand. Ihr Akzent ließ mich auf Russin schließen. Sie füllte zwei Tassen und verschwand in ihrem Zimmer, das sie mit 2 anderen Frauen teilte. Diese weilten jedoch im Raucherzimmer, und es handelte sich dabei um Jutta und Maria, wie sich später herausstellte. Die zweite Tasse war für ihre Mutter, die sie gerade besuchte. Allerdings war der Kaffee nur für die Insassen gedacht und so gab es natürlich entsprechenden Ärger. Der Redeschwall, der sich über die diensthabende Pflegefachkraft ergoss, war tatsächlich russisch und lief so natürlich ins Leere. Schließlich brach Olga in Tränen aus und bat weinend um ein Schmerzmittel, weil ihr ihre Brust so weh täte.
Jutta erzählte mir später, dass Olga eine Brust amputiert worden war. Diese OP war schief gegangen und die andere Brust musste aus chirurgischen oder Verheilungsgründen hochgebunden werden, was auf die Dauer tatsächlich schlimme Schmerzen verursacht. Über diese Schmerzen war sie durchgedreht und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sie glaubte inzwischen, dass durch Überrepräsentation der gesunden Brust sie den Verlust der amputierten Hälfte besser verkraften und alle Blicke von ihrem Problem weg oder auch hinlenken könnte. Da sie im Laufe der Chemo Tablettenabhängig geworden war, wirkten auch sehr starke Mittel nur noch bedingt gegen ihre selbst auferlegten Marter, und die Intervalle, wo sie nach neuen Mitteln verlangte, wurden immer kürzer.
»Ich mache nachts kaum ein Auge zu, weil sie ständig wimmert.«, bemerkte Jutta und fügte grinsend hinzu: »Sie geben mir aber kein Bier, damit ich mich auch ein bisschen betäube!«
Ich holte mein Telefon heraus und erzählte meinem Mann vom Arztgespräch, dass es mir psychisch heute schon viel besser ginge und ich wegen der Kopfschmerzen andere Medikamente erhielte. Von den Mitbewohnenden redete ich nur bruchstückhaft.
Dann legte ich wieder auf, weil Maria an meinem Arm zupfte.
»Gab es schon Frühstück?«, fragte sie und sah irritiert aus. Fragend blickte ich zu Jutta, die ebenfalls zum Esstisch strebte.
»Nein, das fällt heute aus!«, mischte sich ein weiterer Mensch ein. Im Umdrehen begegnete ich dem Blick von Felix.
»Hallo! Neu hier?«, lächelte er mich amüsiert an. »Was verschafft uns denn das Vergnügen?«
»Angstzustände!« entgegnete ich, erstaunt über meine eigene Offenheit.
»Ich heiße Marion Margarete und du?« Er nannte mir seinen Namen und erzählte von seinen Zuständen, hervorgerufen durch Drogen, die er nicht mehr unter Kontrolle hatte.
»Dabei stand ich kurz vor Abschluss meiner Ausbildung als Optiker! Aber der Prüfungsstress ließ mich eine Spur nach der anderen durch die Nase ziehen.«
»Und wie steht es jetzt um dich?« Ungewollt rutschte mir diese Frage raus.
»Kann sein, dass ich in 2 Wochen raus kann. Mache schon Probetage draußen! Und bin jeweils clean wieder zurückgekommen!«, klang es mit stolz in der Stimme aus seinem Munde.
»Ja, er ist uns allen ein Vorbild!«, feixte Jutta und zog Maria wieder Richtung Raucherzimmer. Dabei stießen sie fast mit Emma zusammen, die schon die hundertste Runde hinter sich gebracht hatte.
»Wer war das?«, hörte ich Maria fragen.
»Das weißt du doch, das ist Emma!«
»Ach ja, richtig, Emma!«,wiederholte Maria.
»Beginnender oder fortgeschrittener Alzheimer!« klärte mich Felix über Maria auf.
»Man hat sie mehrmals, nur mit ihrem Nachtzeug bekleidet, durch die Straßen irren sehen. Sie suchte ihre längst verstorbene Mutter, die sie ins Bett bringen sollte! Von den Nachbarn wurde sie mehr als einmal wieder nach Hause dirigiert, aber schließlich griff die Polizei sie in der Innenstadt auf und brachte sie schließlich hierher!«
»Gibt oft demente Patienten hier, wenn sie nicht herausfinden können, wo sie hingehören.«, bemerkte Felix weiter. »Hier ist verrückt sein ja normal und so fühlen sie sich sicher! Manche sind dann trotz allem noch so clever und sagen absichtlich nicht, wer sie sind und wo sie wohnen! Wir sind ja eine eingeschworene Gemeinschaft, wirst du schon bald merken!«, fuhr der junge Mann geheimnisvoll fort.
»Gehst du mit an die frische Luft?« kam Jonas angeschlurft.
»Ja, darf ich denn raus?« Erstaunen breitete sich auf meinem Gesicht aus.
»Wenn du im Pflegestützpunkt Bescheid gibst, darfst du sicher 15 Minuten mit in den Innenhof, der ringsum mit hohen Mauern…« Ich hörte ihn schon nicht mehr, denn das war eine tolle Aussicht auf freiheitliches Ein- und Ausatmen. Tatsächlich bekam ich nach genauen Instruktionen der Verhaltensweisen die Erlaubnis und so gingen wir zwei die beiden Treppen hinab in ein kleines Karree bepflanzter Erde, zwei Bänken (beide besetzt) und einem frisch gestutzten Baum. Die Anzahl der Frischluftpatienten war auf 6 begrenzt und setzte sich stets aus zwei Abteilungen zusammen. Zwei Pflegefachkräfte führten stets hier Aufsicht.
Nach unserem Viertelstündchen wechselten wir mit Insassen anderer Abteilungen die Plätze und schafften uns gut gelaunt, brav wieder nach oben.
»Um 12:30 Uhr gibt es Mittagessen und ich bin mit Tischdecken dran. Bis später!«, verabschiedete sich Jonas.
»Wo trägt man sich denn für so einen Dienst ein?«, fragte ich Pflegefachkraft S., die gerade aus der Küche trat.
»Hier hängt der Plan!«, wies sie auf die sich schließende Tür!
»Okay, danke!«
»Da nicht für!«, lächelte sie mich an. »Ist noch genug Kaffee in den Kannen? Sonst brühe ich noch einmal frischen!« Ich hob die Kannen und lauschte auf ein schwappendes Geräusch.
»Frischer Kaffee wäre prima!«, freute ich mich kopfschüttelnd, nickend! Gar nicht so schlecht hier! Alle kümmern sich, meine wirren Gedanken haben sich irgendwo versteckt, der Kopfschmerz hält sich nach der Luftkur in Grenzen und die Gänge haben auch noch keine sichtbare Laufspur von mir! Befriedigt ging ich in mein Zimmer und suchte die Toilette auf. Nachdem ich mir mit frischem, kaltem Wasser das Gesicht benetzt und meine Hände eingeseift hatte, betrachtete ich mich im Spiegel.
»»Siehst immer noch ziemlich mitgenommen aus!««, warf ich meinem Spiegelbild vor und streckte ihm die Zunge raus. »»Phh!«« erwiderte es. »»Das habe ich nicht gehört!««, ignorierte ich die Widerrede und verließ das Bad mit noch seifigen Händen.
Emma war zwischendurch hereingekommen und saß auf ihrem Bett. Unter ihrem Bett entdeckte ich eine große Pappe, auf der ein halbfertiges Puzzle lag!
»Das ist aber ein schönes Motiv«, entfuhr es mir: »Wie viele Teile hat es?« Keine Reaktion, erst Recht keine Antwort.
»Mein Spiegelbild hat auch noch für dich ein »»Phh«« übrig!«, murrte ich und schmiss mich auf mein Bett. Ich dachte an Ilona, als der Schatten des Nebengebäudes ins Zimmer fiel, weil die Sonne dahinter verschwunden war.
Dann wurde es Zeit zum langen Tisch zu gehen und an der Theke seine Essenswahl zu treffen. Da es augenscheinlich für niemanden festgelegte Sitzplätze gab, rutsche ich auf den nächsten freien Stuhl und betrachtete mein Essen. Ich hatte mir Nudeln mit Gemüsesoße ausgesucht, denn damit konnte man ja schwerlich was falsch machen. Nach dem ersten Bissen wusste ich, man konnte, denn die Nudeln waren zu lange gekocht, nicht gesalzen und beim Gemüse konnte man die einzelnen Sorten nicht mehr identifizieren. Der bunte Salat ertrank in Marinade, die auch noch viel zu sauer war. Also blieben der Joghurt und der Apfel übrig, die dann meine einzige Nahrung am Mittag wurden. Außer den Tabletten im Pappbecher. Mahlzeit!
Jonas verweigerte seine Ration Psychopharmaka und musste vor dem Pflegestützpunkt Platz nehmen. Er wollte seinen Anwalt sprechen..
»Kannst du Schach spielen?«, fragte Felix, als ich am Fernsehzimmer vorbei schlenderte.
»Ja, aber nicht gut!«
»Ist doch nicht schlimm. Ich hol das Brett und die Figuren, wenn du magst!« Ich zuckte mit den Achseln.
»Von mir aus!«
Wir setzten uns an einen 2-er Tisch neben dem allgemeine Bad und bauten das Spielfeld auf. Es war eine ausgeglichene Partie, bis wir durch einen neuen Patienten abgelenkt wurden.
»Wo bin ich hier? Ich muss meine Frau anrufen. Kann mir jemand 50 Cent für den Automaten leihen?«
Felix und ich sahen uns unschlüssig an. Als Felix nicht aktiv wurde, zückte ich die verlangte Münze aus meiner Hosentaschen.
»Hier!«
»Danke, tausend Dank! Wenn meine Frau mich abholen kommt, bekommen Sie es wieder!« Glücklich wandte er sich dem Münzautomaten zu und wählte eine Nummer. Und dann klingelte es wohl 10x, 20x! Betrübt hing er den Hörer wieder ein und wollte mir die Münze wiedergeben.
»Nein, nein! Versuchen Sie es doch später noch einmal. Sie ist ja vielleicht nur was einholen.«, wollte ich seine Hoffnung stärken. Er ergriff meine Hand und küsste sie. Tränen kullerten über sein Gesicht.
»Sie sind so freundlich!«, schluchzte er. Verlegen entzog ich ihm meine Hand.
»Kein Problem! Gar kein Problem!«
Jetzt musterte ich den alten Herrn von oben bis unten. Ungekämmte Haare, zerfurchtes Gesicht, ratlose Augen. Aus seinem Mund floss ein wenig Speichel. Ich schüttelte mich ein wenig und wischte unbemerkt meine geküsste Hand an meiner Hose ab. Seine zerknitterte Hose schlotterte ihm um seine Hüften und er musste sie dauernd hochziehen, denn ein Gürtel fehlte. Hatten sie ihm ein Hilfsmittel abgenommen? Ich wusste ja, wie akribisch sie einem alles Gefährliche abnahmen.
»Lass uns das Spiel zu Ende spielen!«, wandte ich mich wieder Felix und dem Brett zu.
»Ich bin raus!« Felix kippte langsam den König um!, »du hast gewonnen!«
»Okay, wenn du keine Lust mehr hast!«, bedauerte ich seine Entscheidung, während wir gemeinsam die Spielfiguren einsammelten.
»Von dir kann man echt einiges lernen!« Ich schaute Felix fragend an. »Du scheinst für alles eine Lösung zu haben!«
»Wenn es so wäre, wäre ich wohl kaum hier!«, flüsterte ich.
»Du bleibst nicht lange, da bin ich ganz sicher! Bis ich diesen Punkt erreicht hatte, da hab ich Wochen für gebraucht und du kamst ja erst gestern!«
»Vielleicht liegt es am Alter, junger Mann!«, wand ich mich verlegen.
»Kann sein, aber hier drehen sich alle erst einmal um den eigenen Nabel! Ob jung oder alt! Keinen Blick über den eigenen Tellerrand! Und du sprühst vor Empathie! Trost zu spenden scheint jedenfalls eine leichte Übung für dich!«
»Alles reine Ablenkungsmanöver!«, grinste ich schief.
»Darüber sprechen wir an deinem Entlassungstag!«
»Oder an deinem!«
»Siehst du, schon wieder! Du machst mir Hoffnung! Das ist so nett!«
»Und wenn diese Hoffnung trügt, habe ich mich schuldig an dir gemacht!« Ich senkte den Blick. Er knuffte mich in die Seite.
»Bis dahin hab ich das vergessen!« Und mit diesen Worten räumte er das Schachbrett wieder weg und brachte es in den Schrank des Fernsehzimmers.
»Hier liegt alles durcheinander!«, Mit einem entschuldigenden Blick schloss er schnell die Türen des Schrankes.
»Wenn du es nicht warst, gibt es keinen Grund, sich zu schämen! Komm, wir räumen das alles auf!«
»Au ja! Struktur ist ein guter Halt!« Wir brachen beide in ein heiteres Gelächter aus!
»Jawohl, Herr Dr.!«
Jutta und Gitte betraten das Fernsehzimmer.
»Glotze an!«
»Kein Problem! Du weißt ja sicher, wo die Fernbedienung liegt!« Jutta schaltete den Kasten ein und zappte durch die Programme. Privatsender, Werbung! Nichts für mich!
»Und Tschüss!« Mit diesen Worten ging ich wieder auf den Gang!
Und zum Kicker, der leider defekt war.
»Wissen Sie, dass der Kicker defekt ist?«, fragte ich im Pflegestützpunkt.
»Ja«, schallte es unisono aus dem Zimmer.
»Warum wird der dann nicht repariert?« , fragte ich.
»Wir haben hier alle Ablenkung dringend nötig!«
»Tragen Sie das übermorgen in der Gruppensitzung vor! Dann gibt es vielleicht eine Lösung!«, wiegelten sie mein Begehr ab. Ich drehte mich auf dem Absatz um.
»Jonas, drehst du noch ein paar Runden mit mir bis zum Abendessen?«
»Hab meine Strafe noch nicht abgesessen.«
»Dann nimm die blöden Dinger! Und komm! Sie sitzen ja doch am längeren Hebel! Und dein Bein zappelt schlimmer als heute morgen!« Sofort entschuldigte ich mich für diese Bemerkung. Das ging echt zu weit. Wir kannten uns doch erst seit heute morgen.
»Du hast ja Recht, aber ich bin dann so benebelt, dass ich kaum geradeaus gucken kann!«
»Dann frag doch nach Alternativen! Schwester, gibt es andere Mittel, die ihm helfen, aber ihn nicht so abschießen?«
»Wir werden es der Ärztin vorschlagen, die ist aber erst morgen wieder im Dienst.«
»Und jetzt ist kein Arzt mehr da?«
»Doch, aber der macht heute Abend Dienst auf zwei Stationen und hat Besseres zu tun!«
»Schnippisch sein kann ich auch!« Diesen Satz warf ich ihnen vor die Füße.
»Ihnen scheint es ja wieder gut zu gehen! Fast schon zu gut.«
»Lass gut sein!«, Jonas schüttelte seinen Kopf. »Bis zum Abendbrot ist es ja nicht mehr weit! Und das dürfen sie mir nicht verweigern!«
»Und in deinem Becher ist dann vielleicht die doppelte Dosis!«
»In deinem vielleicht auch! Du bist ganz schön dreist!« Entsetzt schaute ich ihn an.
»Meinst du, die machen so was?«
»Nein, nein! du hast doch gehört, über Medikamente entscheidet ein Arzt und nicht die Pflegefachkraft! Gibt nur einen Eintrag in deiner Akte!«
»Wenn‘s weiter nichts ist! Ich bin ja durchgeknallt, da kann ich alles drauf schieben!«
»So machen das die Meisten hier!« Und dann prusteten wir los.
»Jetzt schieb ab! Wir sehn uns beim Abendbrot!« Jonas zeigte in Richtung Essplatz.
Ich schlenderte in mein Zimmer. Dasselbe Bild, dasselbe Verhalten. Nur das Puzzle hatte Fortschritte gemacht.
Ich telefonierte mit meinem Mann und berichtete über den bisherigen Verlauf. Er erzählte, was er eingekauft (GELD AUSGEGEBEN!) und gekocht hatte. Ich lenkte vom Thema ab und fragte nach den Kindern. Dann wurden wir zum Essen gerufen. Ich verabschiedete mich von ihm und wünschte ihm einen schönen Abend!
HIRN AUSSCHALTEN und NICHTSTUN! Herrlich!
Es ist Urlaub vom Leben, aber keine Erholung!
Beim Abendbrot (sehr reichhaltig und nach der kargen Mahlzeit am Mittag genau das Richtige!) landete ich neben Christian, 45, dem Koreaner. Nein, eigentlich kam er aus dem Bergischen, doch er hatte lange in Korea gelebt, als Deutschlehrer gearbeitet und dort seine Frau kennengelernt. Dies erzählte er mir zwischen koreanischen Wortfetzen. Es erklärte aber nicht, warum er jetzt hier war! Doch drängeln galt nicht. Jeder gab nur soviel von sich preis, wir er oder sie es momentan ertragen konnte. Seine ganze Körperhaltung zeigte aber starke Schuldgefühle, und als er wiederholt nach der Kaffeekanne griff, erhaschte ich einen Blick auf seine beiden Handgelenke! Soviel dazu!
Als alle gegessen und ihre Medikamente empfangen hatten, ging es fast geschlossen ins Fernsehzimmer; die Raucher mit einem kleinen Umweg, die Tischdecktruppe mit einer kleinen Verspätung und die Verschlossenen meanderten weiter über die Gänge.
Nach den Nachrichten wurde gelost, wer über das Abendprogramm entscheiden durfte und alle fügten sich in ihr Glotzenschicksal. Der ein oder die Andere hatte was zum Naschen dabei und reichte die Knabbereien rum. Wenn es zu arg knisterte und der Film oder an anderen Tagen die Show, die Doku oder was der Losgewinner auch immer präferierte, unverständlich wurde, dann erklang unisono ein »PSSSSSTTT!« Großes Kino halt!
Nach und nach verkrümelten sich die einzelnen Menschen ins Raucherzimmer oder wieder in ihre Zimmer, denn Nichtstun macht unendlich müde. Zudem bekamen wir ja alle ein Schlafmittel, denn nur die wirklich Traumatisierten durften die Nachtruhe der Pflegefachkraft stören. Was auch gut war, sollte es doch keinen Schlaf für mich/uns geben, der nicht durch Schreie, Weinen oder Stöhnen Anderer gestört, der ein oder andere Alkoholiker oder Junkie von der Polizei Zwangs eingeliefert wurde! So wie Chloë, die mir später ihre ganze Leidensgeschichte erzählen sollte.
Emma ließ durch gleichmäßige Atemzüge verkünden, dass sie schon schliefe, doch ihr Handy war in Betrieb und sie tippte unter der Bettdecke auf der Tastatur herum. Mir egal!
Ich suchte das Bad auf, den Blick in den Spiegel vermeidend!
»Wäre doch gelacht««, kicherte ich und legte mich unter meine Bettdecke, schloss die Augen und versuchte, zu schlafen.
Tag 2
«Beim nächsten Ton ist es…!« Ich schlug die Augen und die Bettdecke auf und sah fensterwärts die Sonne aufgehen. Da ich heute nicht mit Schmerzen aufgewacht war - ich wollte nicht wissen, wie das Teufelszeug hieß, dass das bewirkt hatte - machte ich ein wenig Gymnastik im Bett, fuhr Fahrrad, drehte die Fußgelenke, schüttelte die ganzen Beine aus, verließ mit Schwung die warme Matratze und angelte nach meinen Pantoffeln. Kurz bevor ich die Badtüre erreichte, schob sich Emma hinein und verriegelte eben jene Türe.
»»Was für ein Dämon dich reiten mag, interessierte mich jetzt aber doch!««, dachte ich verblüfft, denn ich glaubte nicht, dass sie meine Anwesenheit überhaupt registrierte! Unruhig tippelte ich vor dem Bad hin und her, denn meine Blase und mein Darm lechzten nach Entleerung. Ich erinnerte mich an das Badezimmer im Mittelblock und mit einem Handtuch und meinem Waschbeutel bewaffnet, eilte ich hinaus, um mir den Schlüssel im Pflegestützpunkt zu angeln.
»Das scheint ja dringend zu sein!« amüsierte sich Pflegefachkraft W., der schon seinen Frühdienst angetreten hatte.
»Jau«, entgegnete ich und verschwand im Gemeinschaftsbad.
In diesem Raum war neben einer Dusche, einem Waschbecken, der Kloschüssel und einem RIESENspiegel -weggucken, weggucken-, auch eine Waschmaschine und ein Wäscheständer untergebracht. Ich hatte mich schon gefragt, wo die Solisten ihre Klamotten wuschen.
Da ich nun schon einmal hier war, zog ich mich nach getaner Arbeit schnell aus und ließ heißes Wasser über meinen Körper laufen. Das tut gut, der Spiegel war beschlagen, perfekt! Ich zog mich wieder an, ließ mir meinen Fön geben und trocknete mir unter Aufsicht mein damals noch langes Haare. Egal, egal! Das Frühstück konnte kommen!