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Amelie ist 17 Jahre alt und eine begeisterte Sportlerin: Sie reitet, tanzt und spielt Fußball. Während eines Ski-Urlaubs mit Freunden verunglückt sie schwer. Als sie im Schnee liegt, weiß sie schon, dass sie nie wieder gehen wird. Querschnittslähmung ab dem sechsten Halswirbel. In acht Monaten Krankenhaus und Reha-Zentrum muss Amelie feststellen, dass der Ski-Unfall Veränderungen in ihrem Leben mit sich bringt, die weit über das Sitzen im Rollstuhl hinausgehen. Nicht nur ihr Körper verhält sich anders als sie gewohnt ist. Als sie endlich nach Hause kommt, wird ihr zusätzlich klar, dass alle ihre Freunde weg sind. Trotzdem Amelie der Alltag im Rollstuhl schwer fällt, kämpft sie sich ins Leben zurück, kämpft sich in die Schule bis zum Abi und ins Studium. Trotzig, wild und brutal ehrlich erzählt Amelie Ebner in diesem berührenden Bericht über das Leben einer Jugendlichen mit Behinderung. Sie zeigt, was passiert, wenn sich mit einem Moment alles ändert und ein neues Leben beginnt. Eine bewegende Geschichte über das Erwachsenwerden einer jungen Frau mit Behinderung.
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2017
Amelie Ebner
mit Matthias Kohlmaier
Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Amelie ist 17 Jahre alt und eine begeisterte Sportlerin: Sie reitet, tanzt und spielt Fußball. Während eines Skiurlaubs verunglückt sie schwer. Als sie im Schnee liegt, weiß sie schon, dass sie nie wieder gehen wird. Querschnittlähmung. In acht Monaten Krankenhaus und Reha-Zentrum muss Amelie feststellen, dass die Veränderungen in ihrem Leben weit über das Sitzen im Rollstuhl hinausgehen. Nicht nur ihr Körper verhält sich anders, als gewohnt. Als sie endlich nach Hause kommt, folgen weitere bittere Überraschungen. Über Wut, Enttäuschung, Zweifel und Hoffnung schreibt sie auf ihrem Blog zweiterfebruar.blogspot.de, den sie nach dem Tag ihres Unfalls benennt. Aber obwohl ihr der Alltag schwerfällt, kämpft sie sich ins Leben zurück. Sie geht wieder in die Schule und schafft es bis zum Abi und ins Studium. Stark, direkt und eindringlich erzählt sie, was passiert, wenn mit einem Moment alles ganz anders ist.
1 Grauer Himmel
2 Blind würde ich nicht aushalten, aber so ist es okay
3 Das wird nicht wieder?!
4 Es war schlimmer
Einschub: Papa Günther über Amelie
5 Was geht?
6 With a little help from my friends
7 Willkommen zu Hause
8 Ich sehe euch, wie ihr mich seht
9 Hallo Schulhof – hallo Klassenzimmer
Einschub: Schwester Sophia über Amelie
10 Auf vier Rädern
11 Zwei Jahre
12 Da geht noch was
13 Mein Rollstuhl ist kein Accessoire
14 Integration now! Hört mal zu
Einschub: Mama Karin über Amelie
15 Sport – meine Leidenschaft
16 Die Welt ist schief
17 Was wird morgen sein, wenn ich erwachsen bin?
18 Neue Freunde
Einschub: Bruder Lukas über Amelie
19 Lernen, lernen, lernen
20 Abi 2016 – Schluss mit Schule
21 Ein weiter Weg
22 (K)ein Happy End
Bildteil
Augen auf. Ich blicke direkt in den grauen Himmel. Ich liege im Schnee. Sehe nur den Himmel und neben mir ein orangenes Fangnetz. Was ist passiert? Wie bin ich hier hergekommen? Und vor allem: Was wollen die ganzen Leute von mir?
Ich blicke in erschrockene Gesichter. Nehme sie nur verschwommen wahr. Sie scheinen mit mir reden zu wollen, aber ich höre sie nicht. Ihre Münder bewegen sich ganz langsam. Alles vergeht in Zeitlupe. Meine Sicht wird klarer, der Himmel bleibt grau, und die Menschen schauen mich weiterhin erschrocken an.
»Amelie? Kannst du mich hören?«
›Sophie‹, denke ich. ›Ja, ich höre dich. Aber ich verstehe nicht, was hier los ist.‹
Sophie kniet rechts neben meinem Kopf. Ihre schwarzen Locken baumeln vor meinem Gesicht. Sie redet mit mir, nur verstehen kann ich sie nicht. ›Denk nach! Was zur Hölle ist hier los?‹
»Amelie, spürst du das?«
Ein fremder Mann steht bei meinen Beinen. Er hält etwas in der Hand. ›Was hat er da? Er bewegt mein Bein! Warum spüre ich das nicht? Warum kann ich es nicht bewegen?‹
Ich schüttle langsam den Kopf. Panik. Ich kann nicht aufstehen! Warum kann ich nicht aufstehen? Ich versuche, mich aufzurichten, aber mein Körper gehorcht mir nicht.
Ich versuche wieder und wieder, mein Bein zu heben. Auch das funktioniert nicht. Noch mehr Panik.
»Amelie, hör mir gut zu«, sagt Sophie. »Versuche, dich nicht zu bewegen. Bleib ganz ruhig, alles wird gut.« Ihre Stimme klingt nicht so, als ob alles gut werden würde.
Spannend, hollywoodreif und erfunden. Zumindest teilweise, denn ganz so klischeemäßig lief es bei mir nicht ab.
Ich lag tatsächlich da, am frühen Nachmittag des 2. Februar 2013. Über mir der graue Himmel und erschrocken blickende Gesichter. Aber ich wusste sofort, was passiert war. Ich war auf einem Skiausflug die Piste runtergefahren, einem Mann ausgewichen und in den Fangzaun gerast. Mit den Armen voran. Und da sind wir auch schon bei meiner größten Sorge. Meine Arme. Nicht, dass ich nicht aufstehen konnte, meine Beine nicht spürte, meinen gesamten Körper nicht spürte; nein, ich hatte Angst um meine Arme. Das letzte Bild, das ich im Kopf hatte, war, wie ich mit ausgestreckten Armen in diesen orangenen Fangzaun rase. Ich hatte Angst, dass sie gebrochen seien. Ich wollte auf keinen Fall einen Bruch sehen! Mir wurde schon beim Gedanken schlecht. Einmal und nie wieder. In der achten Klasse hatte sich ein Mädchen direkt neben mir den Arm gebrochen. Elle und Speiche komplett durch. Kein schöner Anblick. Nein, nein, nein, nein. Bitte nicht.
Ich atmete tief ein und hob beide Arme an. Sie hingen nur komisch da. Okay, die waren bestimmt gebrochen. Scheiße. Ich legte sie langsam und vorsichtig wieder ab, froh und überrascht, keinen Schmerz zu spüren.
»Sie kann ihre Arme bewegen!«, sagte irgendwer.
Ja, warum nicht?
Langsam richtete ich meine Aufmerksamkeit von meinen mindestens fünfmal gebrochenen Armen auf meine Umgebung. Ich lag im Schnee, neben dem Fangzaun. Trug meine geliebte schwarz-weiß gestreifte Schneejacke, die ich zwei Jahre vorher meinem Cousin für 20 Euro abgekauft hatte. Außerdem diese hässliche schwarze Skihose. Am Abend davor stand ich mindestens zwei Stunden vor dem Spiegel, probierte sämtliche Skihosen und war mit jeder unzufrieden. Ich hatte nur fett machende Skihosen, die alles andere als cool und sportlich aussahen. Ich wollte aber cool und sportlich aussehen und eine schöne enge Skihose tragen. Aber nein, hier lag ich in dieser fetten schwarzen Hose.
Direkt neben meinem Kopf kniete Sophie, ihre Hände vorsichtig auf meinen Arm gelegt. Ihre schwarzen Locken baumelten über meinem Gesicht. »Versuch, dich nicht zu bewegen!«
Rechts neben ihr kniete ein junger, hübscher Mann, den ich noch nie gesehen hatte. In seinem roten Skianzug sah er aus wie ein Skilehrer. Ich lächelte ihn an.
Ich blickte mich weiter um, so gut es eben ging, ohne den Kopf zu bewegen. An meinen Beinen stand der Mann, dem ich gerade noch ausweichen musste. Er nahm mein linkes Bein in die Hand und bewegte es.
»Spürst du das?«
»Nein.«
War mir aber auch ziemlich egal. Hatte denn keiner mitbekommen, dass meine Arme x-fach gebrochen waren? Ich wurde panisch.
»Bleib ruhig, Amelie«, sagte Sophie.
›Wie denn, mit zwei gebrochenen Armen???‹
Um mich herum schienen auch die übrigen Schaulustigen und Tatsächlich-Helfenden langsam panisch zu werden. Vereinzelt sah ich bekannte und unbekannte Köpfe über mir. Meine Sicht war eingeschränkt, da Sophie meinen Kopf stabilisierte. Sie war die Einzige aus unserer kleinen Gruppe, die zu Hause bei den Schulsanitätern war. Das beruhigte mich etwas. Die drei Jungs unserer fünfköpfigen Truppe sah ich nur selten.
»Papa! Ich muss meinen Papa anrufen!«
Die Stimmen um mich wurden lauter.
»Wo ist ihr Handy?«
»In meiner Jackentasche.«
Jemand griff in meine Jacke, holte mein Handy heraus.
»Wie hast du ihn eingespeichert?«
»Papa.«
Ich hörte, wie jemand mit meinem Papa sprach.
»Unfall … Fangzaun … Will Sie sprechen …«
Sophie hielt mir schließlich das Handy ans Ohr.
»Papa, ich kann nicht aufstehen.«
Er sagte nicht viel, blieb ruhig und meinte nur, das würde schon werden.
Ich weiß, es klingt komisch, aber mir war sofort bewusst, was los war. »Ich muss in den Rollstuhl.« Keine Frage, eine Feststellung.
»Nein, musst du nicht!« Sophie versuchte, mich zu beruhigen. Dabei war ich ruhig.
Ich blickte zu dem jungen Mann neben Sophie. Blond, blaue Augen, nicht mein Typ. Ich lächelte ihn trotzdem an. Ich weiß nicht, wieso, aber seine blauen Augen beruhigten mich. Gewöhnlich hasse ich blaue Augen. Fand ich noch nie attraktiv. Aber diese blauen Augen …
»Nummer?«, fragte oder vielmehr krächzte ich.
Er verstand mich nicht. Sprach kein Deutsch.
»Was willst du, Amelie?«, fragte Sophie.
»Seine Nummer.«
Fragende Blicke und ich weiß noch immer nicht, wieso: Aber Sophie fragte ihn nach seiner Nummer, nahm mein Handy und speicherte sie ein. Ja. Ich lag im Schnee, konnte meinen Körper nicht spüren, geschweige denn aufstehen – und holte mir die Nummer von einem Typen.
Und wer jetzt auf irgendein Liebesgeschichtenende hofft: Bis heute ist seine Nummer dort. Gespeichert unter »Stefan vom Skifahren«. Habe mich nie gemeldet. Was hätte ich auch sagen sollen? »Hallo, ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber hier ist das Mädchen, das im Schnee vor dir lag, nicht mehr aufstehen konnte und deine Nummer wollte.« Ich glaube, wir können beide froh sein, dass ich ihn nicht angerufen habe. Blond und blauäugig ist eh nicht mein Ding.
Zurück zum eigentlichen Geschehen: ich, bewegungsunfähig, im Schnee liegend.
Es war das zweite Mal, dass ich an dem Tag hingefallen war. Nur, dass ich beim ersten Mal wieder aufstehen und weiterfahren konnte. Ich war eine gute Skifahrerin und stürzte normalerweise sehr selten. Und dann gleich zweimal an einem Tag! Obwohl ich doch eigentlich meine Freunde mit meinen Skikünsten beeindrucken wollte. Es war nämlich kein gewöhnlicher Skiausflug. Ich war gerade 17 geworden und das erste Mal alleine mit Freunden beim Skifahren.
Meine Eltern haben eine kleine Hütte im Südtiroler Meran, direkt in einem Skigebiet. Dort war ich seit meiner Kindheit jeden Winter Ski gefahren – und konnte es wirklich gut. Nun war der erste Tag, an dem ich Leuten außerhalb der Familie beweisen wollte, wie gut ein Mädchen, das nicht direkt in den Bergen wohnt und nicht Mitglied in einem Skiclub ist, Ski fahren kann. Dementsprechend hatte ich mich auch auf diesen Tag gefreut und sogar das Mittagessen bei meiner Oma abgesagt. Hätte mich dann doch fast für das Familienessen entschieden, weil ich dabei war, eine Erkältung zu bekommen. Zum Glück – na ja, vielleicht auch nicht – ging es mir am Abend vor dem Ausflug wieder gut, und ich konnte mitfahren.
Am nächsten Tag stand ich frühmorgens um fünf Uhr auf und packte meine Sachen. Darunter meine neuen, noch unbenutzten Skier und Skischuhe. Mein Papa, mit dem ich bisher jeden Skiausflug gemacht hatte, sollte mich zum Treffpunkt fahren. Gemeinsam holten wir zwei Freunde ab und fuhren zu unserer Schule, wo der Bus schon wartete. Oli, einer meiner besten Kumpels, war schon da und hatte mir einen Platz am Fenster neben sich in der letzten Reihe reserviert. Seit der Neunten waren wir zusammen in einer Klasse, kannten uns durch einen gemeinsamen Freund aber schon etwas länger und haben oft die Pausen zusammen verbracht. Wir nannten ihn oft Social-Oli, weil er einer der sozialsten und liebsten Menschen dieser Welt ist. (Außer es geht um Fußball oder Politik. Da wird selbst ein Social-Oli mal laut.)
Die Fahrt nach Österreich ins Skigebiet Lofer war lang, aber witzig. Vor Oli und mir saßen die zwei Jungs, die wir in der Früh mitgenommen hatten und die mit mir später auf der Piste eine Dreiergruppe bilden sollten (»Bitte in einer Gruppe von mindestens drei Personen fahren, damit im Notfall einer Hilfe holen kann …«). Oli fuhr in einer anderen Gruppe mit, die eher abseits der Piste im Tiefschnee fahren wollte. Nicht mein Ding.
Auf der Busfahrt fanden wir heraus, dass Sophie und ihr Begleiter nur zu zweit waren. Sie schlossen sich uns an. Eine fünfköpfige Truppe. Da konnte ja nichts schiefgehen.
Das Wetter in Lofer war schlecht bis zum Kotzen. Nebel, Regen, nichts, was das Herz eines Skifahrers erfreut.
Trotzdem fuhren wir mit einer Gondel den Berg hoch und gleich die erste Piste hinab. Und was soll ich sagen: Es war scheiße! Null Sicht, pappiger Schnee und ein schlecht ausgeschildertes Skigebiet. Dauernd kamen wir versehentlich von der Piste ab. Und mussten sogar einmal durch Tiefschnee bergauf stapfen, weil wir uns verfahren hatten. In einem Skigebiet! Oft musste man anschieben, weil der Schnee dermaßen klebte. Geschwindigkeit aufbauen war so gut wie nicht möglich, Spaß haben auch nicht. Und sonderlich beeindrucken konnte ich die anderen vermutlich auch nicht. Ganz im Gegenteil. Ziemlich früh beschlossen wir, eine Hütte zu suchen und erst mal etwas zu essen.
Obwohl ich mich eigentlich schon mehr als ein Jahr vegetarisch ernährte, bestellte ich mir, wahrscheinlich aus Frust, eine Currywurst (jaja, kleine Sünden bestraft der da oben sofort). Einer meiner Kumpels hatte Glühwein mit Schuss dabei. Ich verzichtete, für mich persönlich war es noch zu früh für Alkohol.
Gestärkt stiegen wir die Treppen hinunter zur Toilette (es sollte bis heute die letzte Treppe sein, die ich hinab- und hinaufsteigen konnte) und fuhren schließlich weiter.
Im beheizten Sessellift fiel uns auf, dass es freies WLAN gab. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag. Viel Zeit blieb nicht bis zum Aussteigen, und so schrieb ich meiner Schwester, die gemeinsam mit meiner Mutter und meinem Bruder beim Mittagessen meiner Oma war. »Sitzen gerade in der Gondel. Wetter ist scheiße, aber ist trotzdem lustig. Schreib dir später noch mal.«
Das Witzigste an diesem Tag passierte dann Sophie, die während der Fahrt im Sessellift ihren Skistock verlor. Gemeinsam warteten wir oben am Lift, bis einer der Jungs die Piste nach dem Skistock abgesucht und ihn schließlich zurückgebracht hatte. Bald beschlossen wir, nicht mehr allzu lang zu fahren und uns Richtung Tal zu halten. Nach ein paar weiteren, wegen Pappschnee und Nebel sehr langsamen und langweiligen, Abfahrten steuerten wir auf das Ende des Skitages zu.
Jetzt wurde die Piste endlich etwas steiler und spannender. Nach ein paar Metern kam bereits ein kleines Stück durch engen Wald, und plötzlich war da wieder Tiefschnee. Mein rechter Ski blieb hängen, verdrehte sich – und ich stürzte.
»Alles okay?«, fragte einer meiner Freunde und streckte mir die Hand hin.
»Ja, alles gut. Ich weiß nicht, was heute los ist.« Ich griff nach seiner Hand, und er half mir auf. Ich war sauer. Sauer auf mich, auf das Wetter, auf alles. Wie sollte ich mein Können zeigen, wenn überall dieser Scheißtiefschnee lag und man nichts sah? Die Leute dachten wahrscheinlich, ich wäre eine komplette Null. Aber ich konnte verdammt noch mal sehr gut Ski fahren! Und zwar nicht nur im Schuss. Ich konnte nicht viel, aber Ski fahren sehr wohl!
Mit Wut im Bauch fährt es sich zum Glück am besten. Und nach drei Schwüngen hatte ich meine Wut über die Kanten meiner Ski in den Schnee übertragen. Besser.
Langsam gelang es mir, wenigstens etwas Geschwindigkeit aufzubauen. Nicht so viel wie gewohnt, aber immerhin musste ich nicht mehr anschieben, sondern konnte die Ski endlich laufen lassen.
Dieses Stück Piste sah gut aus, und dieses Kribbeln im Bauch, das ich oft beim Skifahren hatte, wenn die Ski richtig schön liefen und ich große, schnelle Bogen fahren konnte, stellte sich an diesem Tag zum ersten Mal ein. Wirklich ein gutes Gefühl. Dadurch, dass es eine kleine Kurve bergauf ging, konnte ich für einen Moment nicht genau sehen, wie die Piste weiterging. Und als ich den kleinen Hügel überwunden hatte, geschah alles viel zu schnell, und zu viel passierte auf einmal.
Ich sah die scharfe Rechtskurve zu spät, nach der die Piste in ein Flachstück mündete. Ein Mann stand mitten auf der von mir kurzfristig angepeilten Linie. Ich wich aus, eigentlich nichts Besonderes für mich. Doch ich schaffte die Kurve nicht, mein linker Ski streifte den Tiefschnee. Ich sah das orangene Fangnetz auf mich zurasen und streckte in einem Reflex meine Hände nach vorne.
Ich kann mich erst wieder an den Moment erinnern, an dem ich auf der Piste lag und über mir der graue Himmel hing. Wahrscheinlich war ich bewusstlos gewesen. Sophie hat mir später erzählt, ich hätte gerufen, dass ich keine Luft bekomme. Gemeinsam haben Sophie und ein mir unbekannter Skifahrer mich wohl vorsichtig aus dem Fangzaun geholt. Da ich weiterhin kaum Luft bekam, haben sie mir, als ich wieder bei Bewusstsein war, den Helm abgenommen. Auch daran erinnere ich mich nicht.
Erst Minuten später, als ich am Rand der Piste lag und sich schon sämtliche Leute um mich versammelt hatten, setzt meine Erinnerung wieder ein.
Rund eine Stunde später hatte ich die Nummer von dem Typen, meinen Papa angerufen, und irgendwer hatte die Bergwacht verständigt. Die kamen allerdings mit einem Skidoo, einem Motorschlitten mit einer Trage hinten dran. Schnell war klar, dass es für mich zu gefährlich wäre, mit diesem ruckelnden Ding ins Tal gebracht zu werden. Sie forderten einen Hubschrauber an.
Obwohl mir nicht kalt war, wurde ich in so eine goldene Folie eingewickelt. Insgesamt fühlte ich nichts. Keine Kälte, keine Wärme und keinen Schmerz. Nur Durst.
»Bitte gib mir Schnee«, sagte ich zu Sophie.
Sie steckte mir welchen in den Mund, und er tat gut.
»Ich bin müde! Ich will schlafen.«
»Amelie, bleib wach! Du darfst jetzt nicht schlafen.«
Ich wiederholte das ein paarmal. »Ich bin müde, aber ich darf nicht schlafen.«
Allmählich verschwamm alles, und ich dämmerte immer wieder ein wenig weg. Ich sagte noch oft, dass ich im Rollstuhl landen würde. So hat es Sophie erzählt.
Dass ich nicht aufstehen konnte, kam mir nicht unnormal vor. Wie gesagt, ich hatte hauptsächlich Angst um meine Arme. Später hat mir jemand gesagt, ich hätte ein paar Stunden dort im Schnee gelegen. Keine Ahnung. Mir kam es mal länger, mal kürzer vor.
Irgendwann hörte ich endlich einen Hubschrauber. Immer wieder schien er näher zu kommen, um anschließend wieder weiter weg zu fliegen. Der Hubschrauber konnte an der Stelle nicht landen, und so seilten sich nur die Ärzte ab. Genauer gesagt die Ärztin und ein Sanitäter. Sie kamen zu mir, und ab hier verschwimmt meine Erinnerung wieder. Ich weiß nicht, was mir gespritzt wurde, aber es war gut. Ob ich mich bewegen kann, wurde ich gefragt. Wie ich heiße, wo ich wohne und was ich hier mache. Ich konnte auf alles eine recht klare Antwort geben. Nein, Amelie, in München, Ski fahren.
Die Ärztin sagte mir, dass sie mich jetzt vorsichtig auf die Trage legen und dann mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus bringen würden. Ich wurde eingepackt, mein Genick wurde stabilisiert, und gemeinsam mit der Ärztin wurde ich in den über uns fliegenden Hubschrauber gezogen.
Hubschrauber fliegen ist cool, kann ich nur empfehlen. Ich genoss die Aussicht in die Berge. Bei jedem Ruckeln, das der Hubschrauber machte, schaute ich die Ärztin panisch an. Sie beruhigte mich mit ihrem Blick.
Das ist die Geschichte zu meinem Unfall, die nur so mittelemotionale Wahrheit. Keine Panik, keine Verzweiflung und kein Schmerz. Auch kein »Ich hab es knacken gehört«. Nur Angst um meine Arme.
Der Hubschrauber brachte mich direkt in ein Unfallkrankenhaus in Österreich. Ich spürte, wie wir landeten, alles wurde ruhiger. Ich wurde aus dem Hubschrauber getragen und sah eine Handvoll Ärzte, Schwestern, Pfleger und irgendwelche anderen Leute auf mich zulaufen.
Was sie untereinander redeten, verstand ich nicht. Wieder wurde ich gefragt, wie ich hieße, wo ich herkäme, wie alt ich sei und ob ich wüsste, was passiert war. »Ja, weiß ich. Wir waren Ski fahren, und ich bin in den Fangzaun gerast.«
Ich wurde auf der Trage liegend in das Krankenhaus geschoben. Der Himmel war noch immer hässlich grau.
Ich wurde immer müder und war nach wie vor bewegungsunfähig.
Ich bekam noch mit, wie ich in eine weiße Röhre, den Computertomografen, geschoben wurde. Das laute Geräusch erschreckte mich. Ich schaute mich hilfesuchend um und sah eine Schwester, die neben mir stand. Sie beruhigte mich. Warum ich so schreckhaft war, weiß ich auch nicht genau. Zu viele Schmerzmittel wahrscheinlich.
Ich wusste nicht, was die Ärzte redeten, was sie rausgefunden hatten oder was los war, auf jeden Fall ging plötzlich alles sehr schnell. Wieder wurde mir was gespritzt, und alles um mich herum wurde sehr schnell sehr schwarz. Ich sah noch, wie mein Adidas-Pulli aufgeschnitten wurde. Besser gesagt: der Adidas-Pulli meiner Schwester. ›Nein!‹, wollte ich noch rufen. ›Geht das nicht anders? Das ist nicht meiner.‹ Aber da wurde schon alles schwarz, und ich schlief ein.
Ich kann mich an keinen genauen Zeitpunkt erinnern, an dem ich wieder bei Bewusstsein war. Immer wieder öffnete ich die Augen. Sah mal niemanden im Raum, mal Schwestern und Ärzte und auch meine Mutter.
Irgendwann wurde ich richtig wach und konnte mich umsehen. Meine Mutter saß links neben mir. Überall waren Kabel und Schläuche. Mein Bett stand in der linken Hälfte des Raumes, an den rechts ein anderes Zimmer angrenzte. Durch eine geöffnete Tür sah ich dort Menschen in grüner Kleidung. ›Das sind wohl die Schwestern und Pfleger‹, dachte ich in meinem noch halb betäubten Kopf. Die Wände in meinem Zimmer waren grün, wie die Kleidung der Klinikmitarbeiter. Gegenüber von meinem Bett blickte ich auf eine große, breite Tür. Links davon befand sich, von meinem Krankenzimmer abgetrennt, ein weiß gekacheltes Bad.
An meine ersten Worte nach dem Unfall erinnere ich mich nicht. Dafür wusste ich noch immer ganz genau, was passiert war, bevor ich gestürzt bin. Skiausflug, Fangzaun, Hubschrauber, Krankenhaus.
Ich hatte das Gefühl, ich würde noch immer meine Skischuhe tragen, und meine Beine wären deswegen angewinkelt, weil ich die Ski noch angeschnallt hätte. Ich blickte an mir hinunter. Nichts. Eine weiße, flache Decke. Keine Skier, keine angewinkelten Beine.
Meine Arme lagen auf der Decke. Ich war verwundert, dass sie nicht eingegipst waren. Spüren konnte ich sie zwar nicht (glücklicherweise vielleicht, denn an meiner linken Hand hing eine Infusion, und mir wurde schon vom Anblick schlecht), aber sie lagen schön ausgestreckt da und schienen nicht gebrochen zu sein. Wobei »schön ausgestreckt« jetzt eher relativ zu sehen ist. Sie lagen leicht angewinkelt auf meinem Bauch und sahen etwas dick, etwas aufgebläht aus.
Ich versuchte, sie anzuheben. Funktionierte auch, ein wenig zumindest. Sie kribbelten und fühlten sich genauso taub an wie der Rest meines Körpers – vielleicht auch meines Kopfs, denn noch immer vernahm ich keine Spur von Panik. Ich konnte halt nicht mehr aufstehen, ansonsten alles gut.
Ich blickte zu meiner Mutter links neben meinem Bett. Sah, dass sie geweint hatte, und auch, wie sie gerade darum kämpfte, nicht wieder anzufangen.
Sie fragte mich, ob ich wüsste, was passiert war.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin in den Fangzaun gerast, und jetzt kann ich nicht mehr aufstehen.«
Sie nickte.
»Wird das wieder?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und weinte. Ich nickte.
»Jetzt können wir wenigstens auf dem Behindertenparkplatz parken.«
Meine Mutter schaute mich verdutzt an und lachte. Das war schön.
Die Ärzte hatten schon mit meiner Mutter gesprochen, während ich noch weggetreten war. Und irgendjemand hatte mittlerweile wohl den Ärzten Bescheid gegeben, dass ich aufgewacht war. Eine Frau im weißen Kittel kam herein und stellte sich als Frau Dr. Irgendwer vor, habe den Namen vergessen.
»Frau Ebner, wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
»Ganz gut eigentlich.«
»Sie hatten einen Skiunfall.«
»Ich weiß.«
»Wissen Sie denn, was passiert ist?«
Gut, zum achtzigsten Mal: »Ja, ich war mit Schulfreunden Ski fahren und fuhr die Piste runter, habe die Abzweigung zu spät gesehen und musste einem Mann ausweichen. Bin dann in den Fangzaun gerast, und das war’s eigentlich. Dann konnte ich nicht mehr aufstehen.«
»Okay. Es ist so, Sie haben sich dabei wohl den sechsten Halswirbel gebrochen. Der hat Ihr Rückenmark durchtrennt.«
»Okay.«
Sie zeigte mir, wo ich operiert worden war. Man habe den Wirbel an die richtige Stelle zurückgeschoben und stabilisiert. Mit einer Platte, vier Schrauben und einem Stück Knochen aus meiner Hüfte.
»Ich habe hier das Röntgenbild.«
Schnell schloss ich die Augen. »Ne, ne, ich will’s gar nicht sehen. Bei so was wird mir schlecht.«
Das war schon immer so. Beim kleinsten Kratzer wurde mir schon übel und schwindelig. Ich war zum Beispiel mal beim Kieferchirurgen, da waren meine Weisheitszähne bereits gezogen, und der Arzt meinte nur: »Gut, Frau Ebner, nächste Woche geht’s dann ans Fädenziehen.« Ich hab noch mit »Okay« geantwortet, bin aufgestanden und zack, lag ich da, alles um mich schwarz. Also allein der Gedanke, dass da Fäden aus meinem Mund gezogen werden müssen, hat mich so panisch gemacht, dass ich ohnmächtig wurde.
Hab ich von meinem Papa, der ist da genauso. Ein kräftiger Mann, der sich beim Blutabnehmen hinlegen muss, weil ihm schlecht wird, aber seiner vor einem Nervenzusammenbruch stehenden Tochter beim Zahnarztbesuch sagt: »Stell dich nicht so an, ist doch nur eine Spritze.«
Diese Eigenschaft von mir und meinem Papa treibt meine Mama in den Wahnsinn. »Kannst dich mit deinem Papa zusammentun, der ist genauso einer.« Meine Mutter ist da nämlich null empfindlich, genauso wenig wie meine Schwester oder mein Bruder, der zugeschaut hat, wie seine Platzwunde am Knie genäht wurde. Mir wird schlecht allein bei der Vorstellung.
Das Röntgenbild wollte ich also wirklich nicht sehen, so hat die Ärztin es mit einem Nicken weggesteckt.
»Können Sie Ihre Arme heben?«
»Ja, ein bisschen.«
Ich hob meine Arme so weit wie möglich. Sie schwebten kurz etwa zehn Zentimeter über der Bettdecke und sackten dann wieder schlaff herunter.
»Ihre Finger?«
Sie nahm meine Hand wie zum Handschlag.
»Drücken Sie mal zu.«
Ich versuchte es. Nichts passierte.
»Okay, gut. Und Ihre Beine, können Sie die bewegen?«
Sie hob die Decke hoch. Da lagen meine Beine. Ich starrte sie an. Waren das wirklich meine Beine? Ich hatte noch immer das Gefühl, sie seien angewinkelt und ich würde noch meine Skischuhe mitsamt den Skiern tragen. Aber da lagen nur meine Beine, ausgestreckt und in weißen hässlichen Strümpfen, Anti-Thrombose-Strümpfen.
Ich versuchte, sie zu bewegen. Nichts.
»Nein.«
»Okay.«
Sie deckte mich wieder zu. Ich spürte nichts.
»Können die Beine denn wieder werden?«, fragte ich.
»Nein, Ihr Rückenmark wurde durchtrennt, das ist unwahrscheinlich. Möglicherweise ist es nicht komplett durchtrennt, trotzdem sollten Sie sich darauf einstellen, dass es nicht wieder wird.«
»Und die Arme und Finger?«
»Das kann man jetzt auch noch nicht genau sagen. Einen Faden durch ein Nadelöhr zu fädeln, das werden Sie nicht mehr schaffen. Aber mit viel Training können Sie vielleicht wieder etwas schreiben.« Sie lachte. Warum sie lachte, das weiß ich nicht. Ich glaubte ihr ohnehin nicht. Ich war sicher, dass das schon wieder werden würde.
Ich war extrem müde, gegen 14 Uhr schlief ich wieder ein. Als ich eine Stunde später aufwachte, saß meine Mama noch neben meinem Bett. Ich war total erschöpft. Mein Nacken schmerzte, und ich bekam nur schwer Luft. Ich wusste aber, wo ich war und was los war. Noch immer war es für mich normal, nicht aufstehen zu können. Ich wusste, dass ich meine Beine nicht bewegen konnte. Sie sahen komisch aus, wie sie so da lagen, aber es war für mich trotzdem alles in Ordnung.
Eine Schwester kam herein und legte mir ein Armband um, mit meinem Namen darauf.
»Damit wir Sie zuordnen können.«
»Ah, falls ich weglaufe?«
Wieder komische Blicke, dann ein unsicheres Schulterzucken und ein noch unsichereres Lachen. Wenig Humor, diese Krankenhausmitarbeiter.
Meine Mutter und ich redeten ein wenig. Am nächsten Tag sollte die restliche Familie kommen. Mein Papa, meine jüngere Schwester und mein noch jüngerer Bruder.
Meine Mutter und mein Vater waren direkt hierhergefahren, nachdem ich sie noch von der Piste aus angerufen hatte. Meine Geschwister hatten bei Freunden übernachtet. Meine Mutter hatte sich vor Ort in einer Pension ein Zimmer genommen, und mein Papa fuhr wieder heim. Beide waren schon bei mir, als ich noch nicht bei Bewusstsein war.
Vieles von dem Tag, von den ersten Tagen nach dem Unfall habe ich vergessen. Auch an den folgenden Satz, den ich angeblich kurz nach der ersten Operation gesagt habe, erinnere ich mich nicht. Meine Mutter hat ihn aber in mein Tagebuch geschrieben: »Blind würde ich nicht aushalten, aber so ist schon okay.«
Zu Hause fragten viele Menschen nach mir, nachdem sich die Nachricht von meinem Unfall offenbar ziemlich schnell herumgesprochen hatte. Schule, Freunde, Familie, alle waren besorgt und wünschten mir gute Besserung. Meine Mutter zeigte mir Nachrichten auf ihrem Handy, die sie von Leuten bekommen hatte. »Amelie ist stark, sie wird das schaffen!«, schrieb uns meine Taufpatin. Vor allem die beste Freundin meiner Mutter, Andrea, war sehr besorgt. Die beiden kennen sich erst durch mich und ihren Sohn Nikolaj, mit dem ich zusammen in der Krabbelgruppe war. Seitdem sind die beiden unzertrennlich und schlimmer als Schwestern. Wir zwei Familien, wobei zu Andrea noch ihr Mann Marc, die jüngere Tochter Katharina und natürlich Labrador Sam zählen, fuhren mindestens einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Egal ob Skiurlaub in Südtirol oder Sommerurlaub in einem Ferienhaus in Dänemark. Andrea erzählte mir viel später mal, wie schlimm es für sie war, als sie von meinem Unfall erfahren hat.
Irgendwie ist so ein Unfall für Angehörige und Freunde oft viel schlimmer als für den Betroffenen selbst. So war es zumindest bei mir. Und zum Glück hatten wir in diesem Moment jemanden, der einen kühlen Kopf bewahrt hat, während alle anderen wie ferngesteuert die erste Zeit hinter sich brachten: Marc, der Mann von Andrea. Er hat sich um alles gekümmert. Hat beim ADAC angerufen, um einen Transport zu organisieren; hat sich erkundigt, wer für die Hubschrauberrechnung (7000 Euro, die wir nie hätten bezahlen können) zuständig ist und so weiter. Ohne ihn wäre vieles nicht so reibungslos gelaufen, sofern man bei einem Unfall mit folgendem Querschnitt halt von reibungslos sprechen kann. Andrea ist auch für meine Mutter eine riesige Stütze gewesen. Jeden Abend haben die beiden telefoniert.
Und dann war da noch Marie, meine allerbeste Freundin. Seit der sechsten Klasse kennen wir uns und seit der achten waren wir unzertrennlich. Haben fast jeden Tag zusammen verbracht, in der Schule, waren zweimal die Woche im Hip-Hop-Training, sind zu ihrem Pferd gefahren, waren am Wochenende feiern oder haben einfach zu Hause gechillt. Kurz nach dem Unfall konnte ich noch nicht telefonieren, war einfach zu schwach – also hat meine Mutter sie angerufen und ihr gesagt, was mit mir ist. Dass ich meine Beine nicht spürte und nicht bewegen konnte. Marie hat mir später erzählt, dass sie nur noch geweint habe damals. Ich habe sie in dem Moment schrecklich vermisst, eine meiner ersten Fragen war: »Wie geht es Marie?« Und ich freute mich schon, wenn ich wieder in Deutschland sein würde und sie mich besuchen könnte.
Beim Gedanken an Marie habe ich dann zum ersten Mal auch ein kleines bisschen an die Zukunft gedacht. Wenn auch vielleicht nicht an die allerwichtigsten Dinge, objektiv betrachtet. »Wie das wohl mit Freunden und Weggehen wird?«, fragte ich halb mich selbst und halb meine Mama. Sie erzählte von einem Freundeskreis, mit dem sie vor Jahren ein paarmal unterwegs war, da war auch ein Rollstuhlfahrer dabei. »Er wollte auf die Toilette, und ich wollte ihm schon die Tür zum Männer-WC aufmachen, als er auf die Behindertentoilette gezeigt hat. Ich hab’s einfach total vergessen, dass er im Rollstuhl sitzt.«
Es wurde später, ich hatte noch nichts gegessen oder getrunken. Durfte ich nicht. Warum, verstand ich nicht genau, aber irgendwas von wegen »zu große Gefahr, dass Sie sich verschlucken«. Hunger hatte ich zwar sowieso nicht, aber Durst! Mein Mund war staubtrocken, meine Lippen aufgerissen. Mit einem kleinen Schwamm befeuchteten die Schwestern meinen Mund. Ich biss immer drauf, um mehr Wasser zu bekommen. Und bat die Schwestern fast im Viertelstundentakt darum, mir den Mund zu befeuchten.
»Ich habe solchen Durst.«
»Ich weiß«, meinte die Schwester nur, »aber wir dürfen dir noch nichts zu trinken geben, die Gefahr, dass du dich verschluckst, ist viel zu groß. Vielleicht morgen, ich frage bei den Ärzten nach.«
Gegen neun Uhr abends war die Besuchszeit vorbei, und meine Mutter musste gehen. Sie verabschiedete sich von mir und versprach, am nächsten Tag so früh wie erlaubt wieder bei mir zu sein. Der Abschied, auch wenn er nur für kurze Zeit war, fiel uns beiden schwer.
»Ich komme, so früh ich darf. Ab neun ist Besuch erlaubt, also stehe ich pünktlich hier. Hasta la vista«, sagte sie.
»Baby«, antwortete ich.
Eine Schwester kam und gab mir eine kleine Fernbedienung mit einem Knopf, um im Notfall auf mich aufmerksam zu machen. Sie legte die Fernbedienung neben meine Hand. Ich gab mir Mühe, aber meine Hand bewegte sich einfach nicht. »Das geht nicht, ich kann irgendwie nicht zudrücken.«
Sie brachte mir etwas anderes. Eine Kuhglocke, wie sie es nannte. Eine Klingel, mit der man die Schwestern rufen konnte. Sie war nur einfacher zu drücken als die normalen Klingeln, die man mit den Fingern betätigt. Bei dieser hier musste man mit der ganzen Hand auf einen großen roten Knopf schlagen. Ich musste also nur meinen Arm etwas anheben, ihn zur Seite fallen lassen auf diesen Knopf, und ein Läuten ertönte. Aber selbst das war ziemlich anstrengend für mich, und ich brauchte immer einige Versuche, bis ich die Klingel traf, sodass die Schwestern die Tür zum Schwesternzimmer offen ließen, um mich im Blick behalten zu können.
Langsam kehrte Ruhe ein. Zumindest auf der Station. In meinem Kopf sah das ganz anders aus. Ich lag wieder auf dem Rücken. Die Schwestern hatten mich vorher auf die Seite gedreht und mich für eine Weile mit Kissen stabilisiert. Irgendwas von wegen Druckstellen vermeiden, ich hatte nicht genau zugehört, sondern war viel mehr auf meine Beine konzentriert, die bewegt werden mussten, weil ich es nicht selber konnte und ich diese Bewegung nicht einmal spürte. Gruselig.
Mir gegenüber sah ich wieder die grüne Wand, die große hölzerne Tür, Waschbecken und lauter Krankenhauszeug. An der Wand hing ein Kreuz. Und ich bedankte mich.
Ich bedankte mich bei Gott dafür, dass mir das passiert war und nicht einem anderen aus meiner Familie. Hier wurde mir zum ersten Mal dieses Gefühl bewusst, das in dieser Situation völlig fehl am Platz zu sein schien, das sich aber die ganze Zeit hielt: Ich war auf eine seltsame Art glücklich. Ich war glücklich, dass ich hier lag und nicht mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter oder mein Vater. Ich. Und das nahm mir eine große Last.
Meine Psychologin (die einem frisch Verletzten natürlich sofort aufgezwängt wurde) brachte sehr gut auf den Punkt, was ich fühlte: Ich hatte das Gefühl, dadurch einen Aufschub für alles Schlimme, was meiner Familie passieren könnte, gewonnen zu haben. Nach dem Motto: Der Blitz schlägt nie zweimal an der gleichen Stelle ein.
So verging meine erste Nacht. Ich schlief kaum, war nicht müde, klingelte immer wieder nach den Schwestern, um mir den Mund befeuchten zu lassen, und dachte nach – aber über nichts Schlechtes.
Irgendwann gegen fünf Uhr morgens bin ich dann doch ein wenig eingeschlafen. Als ich wieder wach wurde, saß meine Mutter schon neben mir am Bett.
Ich wollte sie begrüßen, bekam aber keinen Ton raus, mein Hals war völlig verschleimt. Ich habe versucht zu husten. Aber alles, was ich zustande brachte, war ein jämmerliches Keuchen. Ich hab’s wieder und wieder versucht, immer wieder nur ein Keuchen. So langsam wäre es schon schön gewesen, wenigstens wieder normal einatmen zu können. Ich bekam immer schwerer Luft, der Schleim in meinem Hals wollte sich einfach nicht lösen. Meine Mutter stand neben mir, wusste nicht, was sie tun sollte, wie sie mir helfen konnte, und klingelte schließlich nach den Schwestern. Langsam wurde ich panisch, weil ich nicht mehr richtig atmen konnte vor lauter Schleim, und ich konnte einfach nicht husten. Eine Schwester kam herein und wusste zum Glück sofort, was zu tun war. Sie packte meinen Brustkorb, meinte, auf drei solle ich noch mal versuchen zu husten. Eins, zwei, sie drückte meinen Brustkorb zu, drei. Der Schleim löste sich etwas. Noch mal. Und der Schleim löste sich, und ich bekam wieder Luft.
Dadurch, dass die Lähmung auch meinen Oberkörper betraf, konnte sich meine Zwischenrippenmuskulatur nicht anspannen. Und versucht mal, ohne Zwischenrippenmuskulatur abzuhusten. Geht nicht.
Auch meine Atmung war nicht die stabilste. Geht alles übers Zwerchfell. Deswegen wurde ich zusätzlich über die Nase mit Sauerstoff versorgt.
Durch die OP sammelte sich viel Schleim in meinem Hals, und immer wieder mussten mir die Schwestern beim Abhusten helfen. Andauernd bekam ich schwer Luft, versuchte vergeblich zu husten. Nach dem gefühlt zehnten Mal innerhalb einer halben Stunde brachte ich nur noch ein »Ich kann nicht mehr« heraus.
Ich konnte wirklich nicht mehr. Vom Abhusten, Brustkorb Zusammenpressen und dem vielen Schleim, der einfach nicht weniger zu werden schien, war mir schwindelig und schlecht geworden.
»Wir werden jetzt die Ärztin rufen, die soll den Schleim absaugen«, sagte eine Schwester endlich. Die Ärztin kam recht schnell und erklärte mir, was jetzt gemacht würde.
»Wir werden Ihnen jetzt etwas spritzen, davon wird Ihnen vielleicht schummrig, und Sie werden kurz wegtreten. Dann werden wir mit einem Schlauch den Schleim in Ihrer Lunge absaugen.«
Okay. Jetzt war ich kurz davor, loszuheulen. Und zwar vor Angst. Schaute panisch zu meiner Mutter, sie versuchte, mich zu beruhigen. Wieder schüttelte mich ein Hustenreiz durch. »Gut, macht, was ihr wollt, mir egal, Hauptsache, es hört auf.«
Die Ärztin hielt eine Spritze in der Hand mit einer milchigen Flüssigkeit und steckte sie an die Infusion in meiner Hand. »Vielleicht spüren Sie jetzt ein leichtes Brennen im Arm.«
Ich spürte nichts, nur den Schleim in meinem Hals.
Da wurde mir auch schon schummrig. Was ich vor mir sah, verschwamm, und ich versuchte, dagegen anzukämpfen – keine Chance. Alles wurde schwarz.
Eine gefühlte Ewigkeit später kam ich wieder zu mir. Ein Blick auf die Uhr verriet mir allerdings, dass ich höchstens eine Viertelstunde weg war. Ich musste mich erst wieder sammeln, um mich standen die Ärztin, zwei Schwestern und meine Mutter. Ich wusste nicht, was es war, aber es war geil! Ich wollte mehr von diesem geilen milchigen Zeug in der Spritze. Und das Beste war, dass ich wieder einigermaßen normal atmen konnte.
»Mein Hals tut weh«, krächzte ich.
»Das ist normal«, erklärte mir die Ärztin. »Das kommt vom Schlauch, mit dem der Schleim absaugt wurde. Wie fühlen Sie sich sonst?«
»Gut.«
»Wenn Sie mich brauchen, geben Sie den Schwestern Bescheid.«
Zu dem Zeitpunkt war es mir noch nicht bewusst, aber hier begann meine »Sucht«. Immer wieder sagte ich in den nächsten Tagen, ich hätte Schmerzen im Hals und könnte nicht mehr richtig atmen wegen des ganzen Schleims. Und immer wieder bekam ich dieses geile Zeug gespritzt, das einen so wunderbar wegbeamt. Weit weg. Ich bekam das Medikament, hörte die Ärzte noch sagen: »Jetzt könnte Ihnen leicht schummrig werden« – und spürte schon, wie ich langsam müde wurde. Leicht benebelt wachte ich jedes Mal wieder auf, aber das legte sich schnell, und ich war wieder klar da in dieser Welt.
Eigentlich war ich noch nie süchtig nach irgendwas (außer vielleicht nach Hunden und Sport)! Eine wirkliche Sucht hatte ich nie, aber wollte sie, um ehrlich zu sein, gern mal haben, einfach um zu sehen, ob ich stark genug wäre, davon loszukommen. Klingt wirr, aber macht ja nichts. Mit 14 habe ich mal geraucht, aber mehr der Coolness halber und weil ich noch nicht »Nein« sagen konnte. Nach fast jeder Zigarette bin ich heim und habe mich übergeben. Irgendwann habe ich dann immerhin gemerkt, dass ich auch ohne Rauchen cool genug war und dass Rauchen außerdem nicht sonderlich cool war. Und jetzt merkte ich zum ersten Mal, wie toll und scheiße zugleich sich eine Sucht anfühlen kann.
Bei jedem »Nein, wir können Ihnen den Schleim jetzt nicht schon wieder absaugen …« (und damit das Propofol spritzen) war ich enttäuscht. Ja, genau, Propofol war das Zeug, an dem Michael Jackson gestorben ist.
Wirklich aufgefallen ist übrigens niemandem, dass ich ziemlich oft danach verlangte und statt »Ihr müsst den Schleim absaugen« nur »Ihr müsst mir das wieder spritzen« sagte. Und mit »oft« ist hier zwei Mal pro Tag gemeint. Oder vielleicht ist es den Ärzten und Schwestern auch aufgefallen, und sie haben gedacht, dem armen, behinderten Mädchen kann man ja mal die eine oder andere Dosis gönnen. Was weiß ich schon.
Vielleicht war der Wunsch nach immer mehr Propofol auch ein Versuch meines Unterbewusstseins, der Realität zu entfliehen. Obwohl es mir den Umständen entsprechend wirklich gut ging.
Am Mittag kam dann auch der Rest der Familie, also mein Papa, meine Schwester und mein Bruder. Ich freute mich riesig, es war zwar erst der zweite Tag im Krankenhaus, also kaum mehr als 24 Stunden her, dass ich sie alle gesehen hatte, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich war sehr aufgeregt und hatte Angst davor, weinen zu müssen, wenn sie hereinkämen. Ich war noch nicht bereit zum Weinen, und vor allem wollte ich meiner Familie gegenüber keine Schwäche zeigen.
»Was, wenn ich weinen muss?«, fragte ich meine Mutter.
»Dann weinst du halt, wir weinen auch.«
Da sah ich durch die Tür schon meinen Papa, ich war so glücklich. Meine Schwester, mein Papa und mein Bruder kamen ins Zimmer und an mein Bett. Mein Papa begrüßte mich, gab mir einen Kuss auf die Stirn, und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich eine Träne in seinem Auge. Meine Mutter hat mir später erzählt, auch zu Hause habe sie ihn das erste Mal richtig weinen sehen. Mein Papa weint nicht. Das hab ich mir wahrscheinlich von ihm abgeschaut, denn auch ich weine nur sehr selten und schon gar nicht vor anderen Leuten. Ich kann auch nicht damit umgehen, wenn Leute in meiner Gegenwart weinen. Deswegen war ich auch sehr glücklich, dass an diesem Tag niemand weinte. Wir hatten zwar alle rote Augen, konnten uns aber gut beherrschen.
Meine Schwester Sophia hatte sich auf einen Stuhl neben meinem Bett gesetzt. ›Gut‹, dachte ich mir, ›war wohl eine anstrengende Fahrt.‹ Ich weiß noch, wie sie plötzlich zu meinem Bruder sagte: »Luki, können wir rausgehen? Mir ist schlecht.« Mein Bruder hat nur den Kopf geschüttelt, da ist sie zu meinem Papa. Der wollte sie dann nach draußen begleiten, zusammen sind die beiden zur Tür, die sich nur durch einen Schalter an der Seite öffnen ließ. So weit kam es aber gar nicht mehr, denn da ist meine Schwester schon zusammengeklappt und lag plötzlich am Boden. Kreislauf. Natürlich sind alle aufgesprungen, um ihr zu helfen.
Ich habe zuerst gar nicht geblickt, was los war, und dachte, sie hätte sich übergeben müssen. Aber sie war in Ohnmacht gefallen. Was mich sehr gewundert hat, denn meine Schwester war vorher noch nie umgekippt. Ich hatte ja an dem Tag eher auf meinen Papa getippt, der wie ich nicht den stabilsten Kreislauf hat, wenn es um Krankenhaus und so weiter geht.