Windstärke 15 - Thomas Bickhardt - E-Book

Windstärke 15 E-Book

Thomas Bickhardt

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Beschreibung

Die Norwegen-Sehnsucht trieb Thomas Bickhardt schon früh an, bis er seinen Traum mit Anfang 30 verwirklichte und einen Leuchtturm im rauen Norden pachtete, auf einer steilen Klippe, von der Nordsee umspült. Hier ist er auf sich selbst zurückgeworfen, er kämpft mit den Elementen, dem Job des Leuchtturmwärters, dem Scheitern von Plänen und den Rückschlägen des Alltags. Doch gewinnt er in der Natur und der täglichen Konfrontation mit ihrer ungezähmten Macht auch einen ganz neuen Blick auf sich selbst. In seiner neuen Heimat lebt er ein ganzes Leben, er heiratet, eröffnet ein Hotel, bekommt mit seiner Frau ein Leuchtturmkind und sieht seine Liebe auch wieder zerbrechen. Am Ende von 30 Jahren im sturmausgesetztesten Haus Norwegens macht ihn das Wissen stark, dass es den Stillstand nicht gibt, dass das Leben und das Meer sich immerzu verändern und der nächste Tag immer die Chance in sich trägt, ganz anders zu werden.

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Seitenzahl: 347

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Der Traum vom Leben auf der Klippe – eine intensive Begegnung mit den Naturgewalten

Thomas Bickhardt erfüllt sich einen Lebenstraum, als er einen Leuchtturm in Norwegen pachtet, auf einer steilen Klippe, vom Nordatlantik umspült.

Hier ist er auf sich selbst zurückgeworfen, er kämpft mit den Elementen, dem Job des Leuchtturmwärters und den Rückschlägen des Alltags. Doch gewinnt er in der Natur und der täglichen Konfrontation mit ihrer ungezähmten Macht auch einen ganz neuen Blick auf sich selbst. Nach 30 Jahren im sturmausgesetztesten Haus Norwegens macht ihn das Wissen stark, dass es den Stillstand nicht gibt, dass das Leben wie das Meer sich immerzu verändern und der nächste Tag immer die Chance in sich trägt, ganz anders zu werden.

Ein Leuchtturm auf einer Klippe in Norwegen – das ist ein Ort, an dem man mit sich selbst konfrontiert wird und die eigene Unbedeutsamkeit im Angesicht von Naturgewalten atmet und lebt. Ehrlich, nachdenklich und unterhaltsam erzählt Thomas Bickhardt von dieser einzigartigen Erfahrung.

»Das Meer kann alles sein: ruhig, sanft und zärtlich fast, dann wieder tobend, wild und zerstörerisch. Das Meer ist voller Extreme, in denen ich mich wiederfinden kann. Es ist ein Spiegel, der mir meine Grenzen und Möglichkeiten, meine Fähigkeiten und Schwächen zeigt. Und doch ist es kein Lehrmeister im klassischen Sinn – das Meer will nichts. Es hat kein Ziel. Es ist einfach. Und wie es sich für einen guten Spiegel gehört, sehe ich mich selbst: ungeschönt, authentisch und ehrlich. Mit meinen Macken, meinen Lach- und Sorgenfalten und mit meinen Ängsten. Das Meer ist die Projektionsfläche meines Selbst.

Ich mag mich am Meer.«

Biographie:

Nach einer Ausbildung zum Seemann und dem Studium der Psychologie erfüllt sich Thomas Bickhardt seinen Kindheitstraum, wandert an die Westküste Norwegens aus und pachtet den alten Leuchtturm Kråkenes fyr. Der Betrieb eines kleinen Leuchtturmhotels macht ihn in der ganzen Welt bekannt. Als Sturmfotograf zeigt er in mehreren erfolgreichen Büchern die Welt, die ihn umgibt. Nach 30 Jahren in Norwegen kehrte Thomas Bickhardt 2023 mit fast 60 Jahren nach Deutschland zurück, wo er heute Trainings gegen Seekrankheit durchführt und als Coach für Führungskräfte arbeitet.

Thomas Bickhardt

Windstärke 15

Wo die Freiheit wohnt – Mein Leben im Leuchtturm am Ende der Welt

mit Mirko Kussin

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Originalausgabe 4/2024

Copyright © 2024 by Ludwig Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: boos for books, Evelyn Boos-Körner

Umschlaggestaltung: Martina Eisele unter Verwendung eines Fotos von Thomas Bickhardt

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31453-8V001

www.Ludwig-Verlag.de

Inhalt

1  Prolog

2  Der Rat des Adlers

3  Es wird ernst

4  Erste Tage

5  Hello Loneliness

6  Erntezeit

7  Bygdedyret 1

8  Grundsee

9  Bygdedyret 2

10  Einmal zurück nach Hamburg und zurück

11  Die Leuchtturmkönigin

12  Das zweite Jahr

13  Windstärke X

14  Wie ein neues Leben

15  Großes Glück und großer Ärger

16  Zwischenzeit

17  Windstärke 14

18  Der Fotologe

19  Bygdedyret 3

20  Die Leuchtturmhochzeit

21  Neue Aussichten

22  Meereskind

23  Dr. Seekrank

24  Enigma

25  Im Aufbruch angekommen

26  Illegal

27  Das Super-Studio-Galerie-Workshop-Haus

28  Dagmar

29  Bygdedyret 4

30  Es wird wieder ernst

31  Bildteil

1  Prolog

Sittin’ on the dock of the bay

In meinem Kopf summt Otis Redding leise seinen Soulklassiker. Ich sitze auf einem Poller am Hamburger Hafen und schaue auf die Schiffe. Langsam pflügen sie durch das trübe Wasser, ziehen ein paar Möwen und weiße, langsam im Grau verschwindende Wellenlinien hinter sich her. Die roten Ausleger der Lastkräne stehen zur Ausfahrt stolz Spalier.

Watching the ships roll in

Ich mag es, den langsam dahingleitenden Schiffen auf dem Wasser zuzuschauen, während hier an Land alles viel lauter und schneller erscheint. Irgendwo bei den Kränen schlägt in unregelmäßigen Abständen mit lautem Dröhnen Stahl auf Stahl. Ich höre die ruppigen Rufe einiger Hafenarbeiter auf der anderen Seite der Elbe. Fußgänger und Fahrradfahrer rauschen an mir vorbei, ein paar Werftarbeiter kommen in ihren Blaumännern von der Schicht. Aus der Fischbude ein paar Meter weiter plärren aus einem Radio Schlager auf die Straße. Ich rieche Fritten und altes Öl. Jeder um mich herum scheint möglichst schnell von A nach B zu wollen. Nur die dicken Pötte am Horizont kriechen millimeterweise durch die Szene.

Ich mag diese Gegensätzlichkeit, denn ich kenne sie ganz genau aus meinem Inneren. Und irgendwo zwischen der Langsamkeit da hinten und der Hektik um mich herum sitze ich auf dem Poller hier und bin glücklich und im Reinen mit meiner Entscheidung. Stand jetzt.

I’m just sittin’ on the dock of the bay wastin’ time

Nach erlebnisreichen dreißig Jahren an Norwegens stürmischer Westküste bin ich erneut ausgewandert. Oder besser: zurückgewandert nach Deutschland. Und anders als in den wilden Jahren in Norwegen kann ich jetzt meine Zeit auch mal verschwenden. An mich, an meine Freunde und die Familie. Und ich genieße jetzt das Zusammensein mit ihnen und das trubelige Leben unter Menschen. Die Jahre in Skandinavien waren … anders. Mit viel weniger Menschen und einer Lebendigkeit, die ihren Ursprung vor allen Dingen in der Natur, dem unberechenbaren, sich ständig ändernden Meer hatte.

Während ich weiter meinen Gedanken nachhänge, stakst eine Möwe mit forderndem Blick an mir vorbei und fixiert mich kurz mit den typischen, immer etwas griesgrämig dreinblickenden Augen. Als sie bemerkt, dass es bei mir weder Eiswaffeltüte noch Fischbrötchen zu holen gibt, zieht sie missmutig weiter, um sich einen anderen unfreiwilligen Brötchengeber zu suchen.

Look like nothin’s gonna change

Ich habe viel zu tun: Meine Therapie gegen Seekrankheit ist hier in Deutschland stark nachgefragt, viel mehr als all die Jahre in Norwegen. Wahrscheinlich, weil mein Ansatz nach meiner Zeit an der wilden Westküste so ganz anders ist als das, was in Deutschland praktiziert wird. Auch die Geschichte über mich, den Leuchtturm und die Auswanderung findet immer wieder in Vorträgen ihr Publikum und stößt auf großes Medieninteresse. Ich bin als beratender Psychologe gefragt, auch hier scheint die Klarheit, die das Leben in der Einsamkeit am Meer in mir erzeugt hat, für viele Menschen hilfreich zu sein. Mein Terminkalender ist voll, und an manchen Tagen treffe ich in wenigen Stunden mehr Menschen als in einem Monat in Norwegen.

Everything still remains the same

Das Beste aus Westnorwegen habe ich mitgenommen. Das Negative habe ich versucht dort zu lassen. Aber wenn es so einfach wäre und der bloße Wunsch schon ausreichte, um die negativen Erfahrungen hinter sich zu lassen, wäre ich als Coach und Psychologe wahrscheinlich arbeitslos. Alles, was ich dort an der stürmischen Küste erlebt habe, hat mich geprägt. Die schönen Momente genauso wie die herausfordernden. Mir ist bewusst, dass ich heute ein anderer Mensch bin als der, der vor mehr als dreißig Jahren Hamburg und Deutschland den Rücken kehrte. Was mein früheres Ich und mein heutiges Ich verbindet, liegt direkt vor meinen Augen. Eine wichtige Konstante: das Wasser. Am liebsten natürlich das Meer. Das ist immer da, beständig in seiner fortwährenden Veränderung. Aber in Hamburg reicht mir auch schon die Elbe, weil sie hier bereits die großen Ozeane erahnen lässt.

Watchin’ the tide roll away

Das Meer kann alles sein: ruhig, sanft und zärtlich fast, dann wieder tobend, wild und zerstörerisch. Das Meer ist voller Extreme, in denen ich mich wiederfinden kann. Es ist ein Spiegel, der mir meine Grenzen und Möglichkeiten, meine Fähigkeiten und Schwächen zeigt. Und doch ist es kein Lehrmeister im klassischen Sinn – das Meer will nichts. Es hat kein Ziel. Es ist einfach. Und wie es sich für einen guten Spiegel gehört, sehe ich mich selbst: ungeschönt, authentisch und ehrlich. Mit meinen Macken, meinen Lach- und Sorgenfalten und mit meinen Ängsten. Das Meer ist die Projektionsfläche meines Selbst.

Ich mag mich am Meer.

Sittin’ on the dock of the bay.

2  Der Rat des Adlers

Es ist ein ungemütlicher, kühler Frühlingstag im April 1994, als ich in der Küche des Leuchtturms Kråkenes fyr, direkt an der stürmischen Westküste Norwegens, stehe und durchs Fenster auf eine hellgraue Fläche schaue. Ob das da hinter der Scheibe der Himmel oder das Meer ist und wo das eine aufhört und das andere beginnt, kann ich nicht genau sagen. Die Grenzen verschwimmen im Trüben. Irgendwo hinter dem Trüben liegt Island. Hinter Island Grönland. Und hinter Grönland Kanada. Das sehe ich natürlich nicht, aber ich weiß es.

Ich lasse einen Kugelschreiber durch die Finger meiner Hand gleiten, drehe ihn hin und her. Mein Daumen drückt die Mine mit leisem Geräusch aus ihrem Kunststoffgehäuse.

Drückt sie dann zurück.

Und noch mal.

Vor mir liegt – schwarz auf weiß – mein größter Traum: der Pachtvertrag für den Leuchtturm, der eigentlich gar kein Turm ist, sondern ein ganz normales zweistöckiges Gebäude, in dem ein paar irre hell leuchtende Glühbirnen den Schiffen auf See verschiedenfarbige Sektoren anzeigen. Im Normalfall zeigt der weiße Sektor die sichere Ansteuerung auf ein Ziel oder eine Umrundung, was immer der Seekarte zu entnehmen ist. Grüne und rote Sektoren sind Warnsektoren und weisen auf die Abweichung von der sicheren Ansteuerung hin. Rot kann hingegen auch vor Gefahren wie Untiefen warnen. Wieder hilft dem Kapitän der Blick in die Seekarte.

Kråkenes fyr ist also ein Haus mit Sektorenfeuer. Aber der Begriff Leuchtturm klingt einfach romantischer.

Egal ob Turm oder Haus: Ich kann die Anlage für zwei Jahre pachten, ich muss nur unterschreiben. Unten auf der letzten Seiten des Vertrags ist die gestrichelte Linie, auf die ich meinen Namen setzen sollte – und dann würde mein Traum wahr. Ein Traum, der mich seit dem Sommer 1986 nicht mehr loslässt, als ich mit Øystein zum ersten Mal hier war.

Damals stand ich kurz vor dem Beginn meines Psychologiestudiums. Øystein, ein norwegischer Freund, hatte mich auf eine Tour durchs Westland eingeladen. Mit meinen Eltern war ich meistens weiter im Norden unterwegs gewesen. Das zerklüftete Westland hatten sie im wahrsten Sinne des Wortes links liegen gelassen.

Tagelang fuhren wir in seinem alten Volvo durch die »Pampa«, besuchten Freunde von ihm, einige seiner sieben Geschwister und Menschen, bei denen ich nicht sicher war, ob Øystein sie überhaupt kannte. Wir ließen uns treiben. Øystein zeigte mir Jotunheimen, den höchsten Gebirgszug Skandinaviens, und das Küstendorf Kvalheim. Er erzählte Geschichten von Trollen, dunklen Wäldern und tiefen Fjorden. Und mit jeder Geschichte und jedem neuen Eindruck verliebte ich mich mehr in diese Landschaft. Es fühlte sich an, als gehörte ich genau hier hin, als hätte ich hier schon immer gewohnt, als sei dies meine Heimat.

»Magst du eigentlich Leuchttürme?«, hatte er mich an einem Nachmittag gefragt und seinen Volvo die Serpentinen einer engen Straße hinab Richtung Küste gelenkt. »Heute zeige ich dir die Krähennase.« Einige Momente lang überlegte ich, was er mit Krähennase meinte und womit der Abstecher in diese Einöde zu rechtfertigen wäre. Beim Horst eines Seeadlers hätte ich es verstanden. Irgendeine Höhle, in der es den Legenden nach von Trollen wimmelte, das wäre es gewesen. Aber eine Krähennase?

»Kråkenes liegt auf Vågsøy, einer Insel direkt neben dem Westkap. Und das ist übrigens ein echtes Kap, nicht so eine Touristenfalle wie das Nordkap«, erklärte Øystein. »Ein Kap muss nämlich auf dem Festland sein, um so genannt werden zu dürfen. Und der nördlichste Punkt Europas ist das Nordkap auch nicht. Aber die Touristen lieben es.«

»Also ist Kråkenes ein Ort?«, fragte ich.

»Ort? Weiß ich nicht. Es ist eine Landzunge, auf der ein paar Häuser und Höfe stehen und wo etwa zwanzig Menschen leben.«

»Und was wollen wir da?«

»Kråkenes hat einen Leuchtturm, Kråkenes fyr. Eigentlich ist es ein Leuchthaus oder Feuer, wie wir hier sagen. Aber bei euch im Fischkopfland ist es ja so flach, dass ihr immer einen Turm bauen müsst. Brauchen wir hier nicht. Wir haben Natur. Wir haben Berge.«

Und dann tauchten plötzlich die beiden Häuser auf der Klippe vor unseren Augen auf. Vierzig Meter über dem Meer. Wir parkten auf dem Vorplatz, gingen um die beiden Gebäude, und irgendetwas zog mich, nach nur wenigen Momenten, in ihren Bann. Schönheit war es sicher nicht. Bereits 1986 trugen die Mauern der Häuser viele Spuren des täglichen Kampfes gegen Wind, Salz und Sturm in sich. Risse im Beton, vergilbte, blätternde Anstriche, rostende Armierungen.

Nein, es war eine Faszination über die Urgewalten, die auf diesen Ort einwirkten. Jeder Stein dort an der Klippe schien Respekt und Demut vor dem Meer einzufordern. Das dort, das war außergewöhnlich.

So habe ich den Leuchtturm kennengelernt.

Wieder bemerke ich, wie ich nervös die Kugelschreibermine immer und immer wieder drücke. Zum dritten Mal lese ich Abschnitt für Abschnitt des Vertrags, ohne dass der Inhalt wirklich in meinem Kopf ankommt. Ich weiß, was dort steht. Nach jedem Satz blicke ich durch das Fenster, das von einer Salzschicht überzogen ist, die die Welt da draußen weichzeichnet.

Ich blättere auf die zweite Seite des Vertrags. Ich schiebe das Papier zur Seite, drehe mich um und lasse meinen Blick noch mal durch die runtergekommene Küche schweifen. Ich sehe blätternde Farbe an den Wänden und Spinnweben. Ich sehe die Einbauschränke aus Holz, deren Fronten mit einer Ölfarbe gestrichen sind, die vielleicht irgendwann einmal leuchtend grün war und jetzt nach unzähligen gekochten Mahlzeiten und noch mehr gerauchten Zigaretten einen matten Ton angenommen hat. Ich rieche die muffig-feuchte Luft, die dieses Haus auszuatmen scheint. In meiner Nase kitzelt der Staub von Jahrzehnten. Ich sehe das Potenzial und gleichzeitig die viele Arbeit. Aber meine eigene innere Stimme sagt: »Das ist nicht nur der Traum vom Haus am Meer, den ich mein Leben lang geträumt habe. Das ist das Crescendo dieses Traumes, die unwirkliche Übertreibung dessen, was ich immer in mir trug, aber in der Form nicht mal zu träumen gewagt hätte.«

Aber werde ich das alles hinbekommen? Werde ich die Kraft und Ausdauer haben, hier in Norwegen ein Projekt durchzuziehen, das bereits in heimischen Gefilden – ohne Sprachbarrieren und mir nicht bekannte Regeln und Verordnungen – eine echte Herausforderung wäre? Mein Blick fällt auf den Küchentisch. Einfach und alt. Wie alles hier. Aber auch: robust und stabil. Bin ich eigentlich komplett verrückt? Und dann noch das Klima, das ebenfalls nicht gerade einladend daherkommt. Zwar gilt die Region Vestland mit einer Durchschnittstemperatur von 11 °C als eine der wärmsten in ganz Norwegen, aber auch die Region mit den meisten Niederschlägen. Für beides ist der draußen vor der Küste langsam auslaufende Golfstrom verantwortlich. Und er sorgt auch für die fischreichen Gewässer, die die ganze Westküste seit Jahrhunderten mit Nahrung, Arbeit und Einkommen versorgen.

»Du kannst nichts! Du bist ein Spinner! Ein Träumer ohne Plan!«, sagte eine Stimme in meinem Innern viele Jahre lang. Ganz vertraut klang sie, wie die Stimme meines Vaters. Und ich habe ihr geglaubt – und das viele Jahre lang. Ich blieb ein Stück weit Kind, Sohn, klein.

Aber genau jetzt ist irgendetwas anders: Ich beginne an meinen Zweifeln zu zweifeln. Vielleicht liegt es an den mehr als 1 200 Kilometern zwischen mir und der Heimat meiner Kindheit. Vielleicht hat sich die Stimme meines Vaters irgendwo auf dem Weg hierher verirrt. Oder der stürmische Wind hat sie aufs Meer hinausgetragen und im Trüben verschwinden lassen. Oder ich bin einfach unbemerkt auf der Fahrt durch die grünen Hügel meiner Kindheit entwachsen. Bin erwachsen, gewachsen. Bereit für das, was meine Intuition mir zu sagen hat. Bereit für eigene Entscheidungen. Bereit für ein zögerliches, aber zuversichtliches Ja als Antwort auf die Frage: Kannst du das? Ich möchte den Sprung wagen. Ich möchte für etwas verantwortlich sein.

Als mein Blick erneut aus dem Fenster schweift, sehe ich erst einen großen Schatten, dann schwebt ein riesiger Seeadler vorbei. Mit seiner Flügelspannweite von gut zwei Metern steht er fast in der Luft, lässt sich majestätisch vom Seewind tragen. Für einen Moment blicken wir uns tief in die Augen. »Los jetzt, Kleiner«, höre ich irgendwo in meinem Kopf. »Lerne fliegen!«

Ich habe keine Ahnung, wer da gerade gesprochen hat. Der Adler? Meine eigene innere Stimme? Immerhin: Sie klingt nicht nach meinem Vater. Ich atme einmal tief ein, drehe mich um und greife zum Vertrag.

Ein letztes Mal drücke ich die Mine des Kulis aus ihrer Plastikröhre und setze mit viel Schwung meinen Namen auf die gestrichelte Linie. Da gehört er hin. Und ich ab jetzt auf diesen Leuchtturm.

Das glaube und hoffe ich.

Der kleine Junge in mir darf zuschauen, aber die Entscheidungen trifft ab jetzt ein erwachsener Mann. Beide Anteile gehören zu mir. Der eine ist mir sehr vertraut, den anderen lerne ich gerade erst kennen.

Ich lege den Kugelschreiber neben den Vertrag, schaue noch einmal auf das Papier, als müsste ich mich vergewissern, dass ich wirklich unterschrieben habe. Mein Blick wandert zum Fenster. Der Adler ist längst verschwunden und hat den trüben Himmel zurückgelassen. Ich atme tief aus, als müsste ich mich von etwas befreien.

Als ich einige Minuten später das Haus verlasse, fühle ich Leichtigkeit in mir, und Anspannung und Neugier und Aufregung und ein bisschen Angst fühle ich auch, und wahrscheinlich ist da noch sehr viel mehr in mir, was ich gerade gar nicht benennen kann. Vor allen Dingen freue ich mich aber auf Kråkenes fyr. In ein paar Monaten werde ich an diesen Ort ziehen und Deutschland hinter mir lassen.

Ich lerne fliegen, denke ich. Und schließe die knarzende Holztür hinter mir.

3  Es wird ernst

Mit lautem Heulen beschwert sich der Motor, als ich aufgrund des stetig langsamer werdenden Wagens in den dritten Gang schalte.

»Hatten die keine lahmere Gurke?« Uli schaut etwas genervt zu mir rüber. »So kommen wir ja nie an.«

Ich zucke mit den Schultern und schaue hilflos zu ihm auf dem Beifahrersitz rüber. »Was soll ich denn machen? Die Karre hat 60 PS, für mehr hat das Geld nicht gereicht.« Fast entschuldigend tätschele ich das Armaturenbrett des VW Bulli. Der Wagen ist eigentlich wirklich gut in Schuss und gepflegt. Weder besonders alt noch ein technisches Wrack. Ihn als »Karre« und »Gurke« zu bezeichnen, tut mir fast etwas leid. »Er ist einfach etwas schwach auf der Brust«, sage ich zu Uli in mütterlich-entschuldigendem Tonfall. »Und du musst zugeben, dass es gerade auch wirklich ziemlich steil bergauf geht.«

Uli seufzt nur und guckt wieder aus dem Seitenfenster.

Es ist der 1. Juni 1994, und Uli und ich quälen uns in einem voll beladenen, untermotorisierten Transporter über die norwegischen Berge, um an die Westküste zu gelangen. Unser Ziel: Kråkenes fyr. Der Leuchtturm, für den ich vor ein paar Monaten einen Pachtvertrag über zwei Jahre unterschrieben habe.

Mir ist es ganz recht, dass unsere Reise nach Kråkenes im Schneckentempo verläuft, denn die Landschaft ist einfach überwältigend. Über die Hochebene der Valdresflya, die noch im ganz zarten Frühlingskleid daherkommt, fahren wir über Lom und das Strynefjell auf die andere Seite der Berge ins Westland. Wir lassen die steilen, schroffen Berge mit ihren zerklüfteten Gipfeln und einigen schneeweißen Gletschern hinter uns. Sehen Lawinenkegel, die die Bergflanken durchziehen. Viele Hänge sind frisch von den letzten Abgängen im Frühjahr zerfurcht. Sie münden mal in flache, bereits sommergrüne Täler, mal in azurblaue Seen, mal in einen der unzähligen Fjorde, die die Gletscher im Laufe der Zeit in die Landschaft geschnitten haben.

Ich kenne dieses Strecke von früheren Reisen und weiß, was als Nächstes kommt. Und trotzdem überwältigt mich diese Landschaft aufs Neue und berührt mich tief. Der kleine Junge in mir kommt aus dem Staunen nicht heraus. Es ist der gleiche Junge, der – vielleicht im Alter von elf, zwölf Jahren – im Sommerurlaub mit seinen Eltern erstmals die Schönheit dieser Landschaft begriff, auch wenn wir in diesen Jahren nicht hier an der Westküste waren, sondern einige Hundert Kilometer nördlich davon. Dem wirklich bewusst wurde, wie schön dieses Fleckchen Erde war. Es ist die gleiche Landschaft. Und es ist immer noch das gleiche Staunen. Schon damals spürte ich den Wunsch, irgendwann einmal hier zu leben. Dauerhaft. Nicht nur für ein paar Sommerferienwochen, die immer viel zu schnell endeten. Nein, für immer! Ich wollte bereits damals viel lieber ein Norweger sein. In meiner kindlichen Fantasie war das norwegische Leben einfach viel aufregender, freier und unbeschwerter. Und alle Menschen, denen man begegnete, wirkten ebenfalls unbeschwert und zufrieden. Irgendwann werde ich auch dazugehören, dachte ich schon damals. Und einer von diesen tollen Menschen werden.

In mir freut sich dieser Teenager und betrachtet begeistert die Natur, als wären Berge, Wiesen und Fjorde die Wunder einer unentdeckten Welt. Ein Teil in mir ist zwölf Jahre alt geblieben.

Aber ganz anders als damals, und anders als auf all meinen späteren Reisen nach Norwegen, fahre ich jetzt mit der Gewissheit, dass ich bleiben werde. Mein Kindheitstraum wird gerade wahr. Und diese Gewissheit lässt mich die Landschaft, die träge an unserem Gefährt vorbeizieht, ganz fühlen. Ich kenne die Straße, kenne die großen Landmarken und die kleinen beschaulichen Dörfer. Aber sie fühlen sich ganz anders an. »So wie jetzt war ich noch nie hier. Es ist, als würde ich das alles zum ersten Mal erleben«, sage ich halb zu mir, halb zu Uli. Er antwortet auch gar nicht auf meinen Gedanken. Wenn man so viele Stunden gemeinsam in einem Auto verbringt, wird der Drang, sich zu unterhalten, einfach kleiner. Und man ist froh, wenn man sich einfach so in seinen Gedanken verlieren kann, ohne sprechen zu müssen.

In Hamburg leben Uli und ich gemeinsam in einer WG. Zwei Zimmer, Wohnküche, Diele, Bad. Und ein Balkon, den man eigentlich gar nicht nutzen kann. Immer hört man das Dröhnen der Autobahn. Dazu gesellt sich der Lärm einer sechsspurigen Straße, während ein paar Meter über unseren Köpfen im Viertelstundentakt die Flugzeuge im Landeanflug gestresste Geschäftsleute nach Hamburg transportieren.

Eine Partnerin, die meinen mutigen Schritt nach Norwegen emotional ungleich schwieriger gemacht hätte, habe ich gerade nicht. Bis vor Kurzem steckte ich noch in einer langjährigen On-off-Beziehung. Ohne einander wollten wir irgendwie nicht, miteinander konnten wir aber irgendwie auch nicht. Als meine Auswanderungspläne zunehmend konkreter wurden, ging es endgültig in die Brüche. Es war klar, dass sie mich nicht begleiten würde, und so war unsere Trennung eine logische Konsequenz, die passierte, ohne dass wir beide viel darüber sprachen.

Ein kleiner Schmerz durchzuckt mich, wenn ich an unsere gemeinsame Tochter denke. Sie werde ich seltener sehen. Sehr viel seltener. Mindestens ein halbes Jahr lang gar nicht. Der kleine Schmerz ist mein schlechtes Gewissen. Mehr als einmal habe ich mich im vergangenen Jahr gefragt, ob meine Auswanderung nicht auch eine Flucht ist und ich mich vor der Verantwortung drücke. Und die Antwort auf diese Frage bleibe ich mir bis heute schuldig.

Uli und ich haben uns während unserer gemeinsamen Zeit auf der Seefahrtschule in Finkenwerder kennengelernt. Das war Anfang der 1980er-Jahre. Die Seefahrt haben wir mittlerweile längst hinter uns gelassen. Ich ging zur Uni und studierte Psychologie, Uli wurde Fotoassistent. Ich glaube, für die Seefahrt muss man geboren sein. Und sosehr ich auch das Meer liebe und mich alles Maritime heute noch begeistert, es hat nicht für ein ganzes Berufsleben auf hoher See gereicht. Und doch hat mich die Zeit in Finkenwerder geprägt. Noch heute kann ich in meinem VW-Transporter sitzen, durch die norwegische Landschaft fahren, und sobald das Gespräch auf die Seefahrtschule kommt, habe ich diesen ganz bestimmten Schulgeruch in der Nase: ein bisschen Bohnerwachs und ein bisschen Muff. Diese Mischung hing in den dunklen Fluren des in den 1930er-Jahren eröffneten Gebäudes. Und wie es bei vielen Gebäuden aus jener Zeit ist: Der Geist dieser schrecklichen Zeit wurde in Beton gegossen, ins Mauerwerk verfugt und in Türen, Fenstern und Fassaden eingearbeitet. Das kann man auch Jahrzehnte später noch spüren. Weil man sich klein fühlt in solchen Gebäuden. Weil sie Ehrfurcht erzwingen, statt Freiheit zu lehren. Grässlich.

»Ich bin gespannt, wie weit wir mit der Renovierung in den kommenden zwei Wochen kommen«, sage ich zu Uli, um mich von der Seefahrtschule abzulenken. »Danke, dass du mit mir gemeinsam den Anfang machst. Das wird ein ganz schön großes Projekt.«

»Ja, da hast du dir was vorgenommen, Thomas.«

»Hhmm.«

»Ich hätte an deiner Stelle zumindest einen Sprachkurs gemacht. Nur ein paar Brocken. Aber das würde die Sache ein wenig einfacher machen.«

»Das wäre Zeitverschwendung gewesen. Eine Sprache lernt man am besten, wenn man sie nutzen muss, im Alltag. Und nicht aus irgendwelchen Büchern mit Deklinationen, Konjunktionen und unregelmäßigen Verben. Und außerdem waren andere Sachen wichtiger. Ich habe sowieso schon kein nennenswertes Startkapital für eine große Sanierung des Gebäudes. Da musste ich zumindest ein paar Mark verdienen, damit ich die ersten Wochen und Monate irgendwie über die Runden komme.«

Sosehr ich mich darüber freue, mir diesen Traum zu erfüllen, ist auch eine riesige Portion Unsicherheit in mir. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst vor meiner eigenen Courage. Das begeisterte Herz und mein kühler Kopf liegen regelmäßig im Clinch. »O mein Gott, wir werden auf einem Leuchtturm leben«, sprudelt das Herz.

»Im Ausland. Unter fremden Menschen, deren Sprache du nicht kannst«, antwortet der spielverderberische Kopf.

»Unter netten Menschen, die mir bestimmt helfen werden. Und die Sprache lernen wir schnell.«

»Müssen wir auch. Weil unser Startkapital nicht lange halten wird.«

»Ach Quatsch, das wird alles genau so werden, wie wir es uns erträumen.«

»Oder wir kehren nach ein paar Monaten, gescheitert und pleite, nach Deutschland zurück.«

Uli unterbricht das Wortgefecht in meinem Kopf, fast so, als hätte er die Streitereien zwischen meinem Herzen und dem Verstand satt.

»Und wie soll das jetzt genau laufen? Was machen wir alles in den kommenden zwei Wochen?«, fragt er mit etwas sorgenvoller Stimme.

Als ob ich einen konkreten Plan hätte.

»Die beiden Häuser schön machen und dann Seminare anbieten, weißt du doch.«

»Und das heißt genau was? Ein bisschen lüften, feucht durchwischen und Fenster putzen? Oder tapezieren, streichen und Teppich verlegen? Wann wirst du die ersten Seminare anbieten können, damit wieder Geld reinkommt?«

Er macht mich wahnsinnig mit der Fragerei. Weil er zielgenau die Wunden findet, in denen auch mein zweifelnder Verstand ständig rumpult.

»Also durchzuwischen wird nicht reichen. Ich denke mal, dass ich ein, zwei Monate renovieren werde und dann im Herbst das erste Seminar im Haus geben kann. Wird sich aber zeigen. Bis zum Winter komm ich noch hin mit dem Geld, wenn ich nicht zu viel in die Häuser stecken muss.«

»Ist das realistisch?«

»Erst mal ankommen und loslegen. So lange im Voraus zu planen, ergibt eh keinen Sinn. Immerhin habe ich bereits Interessenten für ein Führungskräfteseminar im Leuchtturm. Das wird klasse, da kann ich prima die Umgebung, das Meer und den Wind thematisch mit einarbeiten. Da können die Herren und Damen Abteilungsleiter und Manager mal Persönlichkeitsarbeit vor dem Hintergrund einer Naturkulisse machen, die ihnen Ehrfurcht und ein Gefühl für ihren Platz im Universum vermittelt.«

»Oh, das klingt nach viel und harter Arbeit, wenn ich so an einige Chefs denke, die ich kennengelernt habe«, sagt Uli mit süffisantem Unterton. »Das hätte damals auch das halbe Lehrerkollegium aus Finkenwerder gut gebrauchen können. Aber Demut und Ehrfurcht konnten sie nicht so gut.«

»Wahrhaftig nicht«, sage ich seufzend und blicke auf die Tachonadel, die langsam nach unten sinkt, obwohl ich das Gaspedal bis zum Bodenblech durchdrücke. »Oh, diese Steigungen machen mich fertig. Ich will endlich ankommen.«

»Dauert halt alles etwas länger, mit 60 PS.«

»Auf jeden Fall muss ich erst mal einen Platz für die Jungs zum Übernachten haben. Damit steht und fällt mein Plan mit den Seminaren. Das Stromnetz ist auch richtig schlecht, aber immerhin ist die Firma, die nach Wasser gebohrt hat, fündig geworden. In fast hundert Metern Tiefe. Aber es gibt noch keine Pumpen und Tanks. Das ist das Erste, worum ich mich kümmern muss.«

»Klingt nicht so, als wäre das in ein, zwei Monaten zu schaffen.«

»Das wird ja kein Fünf-Sterne-Hotel, die Attraktion ist der Ort selbst. Wirst du schon sehen, wenn wir da sind. Einfache Unterkunft, die karge Natur und fast immer eine steife Brise im Gesicht. Das ist der Plan. Das werde ich ihnen verkaufen. Wenn denn die Häuser mal so weit sind.«

»Und wenn sie es denn nicht sind, also die Häuser. Wenn sie nicht fertig werden vor dem Herbst?«

»Ach Uli, wird sich alles zeigen. Das löse ich dann, wenn es so weit ist. Erst mal ankommen.«

Schweigend fahren wir weiter. Ulis Nachfragen haben den Kampf von Angst gegen Courage nur kurz unterbrochen. Auf geht es in die nächste Runde. Ist es wirklich klug, was ich hier tue? »Ist es vernünftig?«, fragt mich eine innere Stimme erneut, die sich verdächtig nach meinem Vater anhört. Gott sei Dank muss ich mich jetzt stärker auf die enge, kurvige Straße konzentrieren, die das Westland wie eine Schlange aus Asphalt durchzieht.

»Ich müsste dann mal für kleine Königstiger.« Ulis Stimme holt mich aus meinen Gedanken zurück.

»Na mal sehen, wo ich halten kann«, sage ich ein wenig skeptisch. Hier im Westland sind die Straßen so schmal, dass man nicht mal eben rechts ranfahren kann, ohne den Verkehr zu behindern. Aber wir haben Glück: Ich sehe einen kleinen Parkplatz direkt am Nordfjord. Das ist der Fjord, der bei Måløy ins Meer mündet. Und Måløy ist die nächstgelegene Stadt vom Leuchtturm aus. Das Ziel liegt also schon greifbar vor uns, auch wenn wir bestimmt noch eine Stunde fahren müssen.

»Mach schnell«, sage ich, weil ich es plötzlich eilig habe und endlich ankommen will. Ankommen. Loslegen. Da sein. Nicht mehr unterwegs sein, nicht mehr in diesem Zwischenstadium sein, in dem ich die vergangenen Monate seit der Vertragsunterschrift verbracht habe. Das soll jetzt alles real werden.

Während ich den Bulli so schnell wie möglich über die schmalen Straßen quäle, erinnere ich mich an Øystein und den Spätsommer 1986, als ich das hier alles zum ersten Mal kennenlernte: die schroffen Berghänge und die grünen, sanften Hügel, die man so auch in Irland sehen könnte. Aber anders als in Irland ist hier alles zerklüftet durch die zahlreichen, sich tief ins Landesinnere fressenden Fjorde. Von Westen nach Osten schneiden sie behäbig und ausdauernd, gleichsam kraftvoll, riesige Kerben in die Landmasse. Fährt man hier hoch in den Norden, überquert man laufend das Meer und kann nach ein paar Kilometern bereits nicht mehr sagen, ob man sich gerade auf dem Festland befindet oder auf einer Insel. Auf mich wirkt der Westen Norwegens beizeiten so, als würden Land und Meer einen fortwährenden Kampf führen und darum ringen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Die Gegensätze bilden hier eine diffuse Übergangszone, die sich klaren Zuschreibungen entzieht. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich mich in dieser Gegend so zu Hause fühle.

»Hey, gleich sind wir in Måløy, hier können wir einkaufen«, sage ich zu Uli und hole mich damit aus meinen Erinnerungen zurück.

»Einkaufen? Mann, ich will endlich ankommen.«

»Sei nicht so ungeduldig, wir sind ja bald da.«

In Måløy kaufen wir das Nötigste für die nächsten Tage ein. Hinter Måløy kommt nichts mehr. Zumindest keine Einkaufsmöglichkeiten. Merkt man im Leuchtturm, dass man die Butter vergessen hat, muss man entweder die halbstündige Fahrt auf sich nehmen oder eben keine Butter essen. Mir gefällt diese Nicht-Verfügbarkeit der Dinge. Dadurch bekommen sie einen Wert, der in unserer Überflussgesellschaft etwas verloren gegangen ist. Zumindest in der Theorie gefällt mir dieses reduzierte Angebot. Aber ich bin gespannt, wie es wirklich sein wird, wenn ich denn mal die Butter vergessen werde.

Mit vollen Einkaufstüten, die wir in die letzten verbliebenen Lücken des beladenen Transporters gequetscht haben, starten wir zur finalen Etappe auf unserem Weg nach Kråkenes fyr. Über die Provinzstraße 617 geht es am Westufer des Ulvesunds entlang nördlich Richtung Raudeberg, einem malerischen Dörfchen, in dem immerhin eine der beiden Kirchen auf der Insel zu finden ist. Jetzt ist es Uli, der staunend in die Landschaft schaut. »Das ist ja der Hammer – und das Licht.«

Die schmale Straße schlängelt sich entlang der Steilküste, und alles erinnert irgendwie an Schottland. Plateaus, von irre grünen Weiden bedeckt, wechseln sich mit schroffen Felspartien ab. Hinter Raudeberg biegen wir Richtung Westen ab, und aus der sowieso schon schmalen Landstraße wird ein noch schmalerer Asphaltstreifen, der sich durch die Landschaft windet und ein paar Gebirgskämme überquert. Weiter oben hügeliges Heideland ohne Bäume, das dann wieder in grüne Hänge übergeht, auf denen Schafe weiden. Zwischen den Felsformationen ist jetzt immer das Meer zu sehen.

Der VW-Bus kriecht über die letzte Bergkuppe. Ich sehe im Norden das Westkap und ganz am Ende die vertraute Landzunge mit dem bekannten weißen Punkt, meinem Leuchtturm.

»Da, schau, da ist er.«

Ich stelle den Wagen am Straßenrand ab – wird schon nix passieren – und zeige meinem Freund die Leuchtturmanlage am Horizont.

»Wo, was, der weiße Punkt?« Ungläubig schaut er auf die Landzunge, und ich bin mir nicht sicher, ob er den Leuchtturm in diesem Landschaftswimmelbild überhaupt bereits entdeckt hat. »Wow, fahr mal jetzt«, sagt er, »… und das Licht … ich fasse es nicht!«

Dass Uli mit seiner Schwärmerei übers Licht überhaupt nicht mehr aufhören kann, kommt nicht von ungefähr. Wir kennen uns von der Seefahrtschule in Hamburg, klar, aber verbunden hat uns bis heute unsere Liebe zur Fotografie. Und da spielt das Licht einfach eine entscheidende Rolle.

Bergab zeigt unser Bus, was er kann. Wir preschen eigentlich viel zu schnell über den schmalen Weg, der inzwischen nur noch eine geschotterte Piste ist. Die Reifen schleudern Steine unter den Wagen, die mit dumpfen Schlägen gegen das Bodenblech knallen. Klonk, klonk, klonk geht es. Vorbei an grünen Wiesen, den Felsabbrüchen und durch die Heidelandschaft. Vorbei an Kråkenes, dem Dorf, das genau so heißt wie der Leuchtturm. Ich will jetzt endlich ankommen.

Ein bärtiger Mann steht vor seinem Haus, dem letzten, ganz am Ende des Dorfes, und nickt uns kurz zu. Der Schotterweg schlängelt sich an den Felsen entlang, direkt darunter das Meer.

»Da, guck.« Uli ist sichtlich beeindruckt. »Ist er das?«

Er hat sich im Beifahrersitz aufgesetzt.

»Na, nach was sieht es denn aus?« Ich könnte platzen vor Freude, endlich wieder hier zu sein.

»Und weißt du was, ich habe den Schlüssel in der Tasche.« Auf einmal erfüllt mich Stolz. Ich bin der Hausherr und kann mich hier frei bewegen. Das ist alles meins. Vielleicht nicht im Sinne von »Ich bin der Eigentümer«, denn ich habe die Gebäude ja nur gepachtet. Aber für all das bin ich jetzt verantwortlich. Kann gestalten, einrichten und neues Leben in die alten Gemäuer bringen und endlich meinen Traum vom Leben am Meer wahr werden lassen.

Ich mache den Motor aus, lasse Uli begeistert aus dem Auto springen und atme einmal tief aus. Sein Kopf schaut ungläubig nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Seine Hände wühlen durch die strubbelige, dunkelblonde Kurzhaarfrisur, als stünde er gerade vor einer neu entdeckten Welt, die es zu erforschen gilt. Dann schenke ich mir eine Minute, um anzukommen. Es ist spät geworden, aber immer noch ganz hell. Ich bin erschöpft von der langen Fahrt. Ich bin glücklich. Auch ein bisschen aufgeregt. Und der Respekt vor dem, was da auf mich zukommt, ist auch noch da. Also geht es mir eigentlich nicht viel anders als vor zwei Stunden. Und doch habe ich das Gefühl, dass es jetzt – endlich – so richtig losgehen kann.

Ich steige aus dem Wagen und gehe gemeinsam mit Uli einmal ums Haupthaus, entlang der massiven Mauer, an die schon unzählige Wellen ihre Gischt gespuckt haben. Wir bleiben an der äußersten Stelle stehen und schauen schweigend aufs Meer. Weiter raus geht nicht. Es riecht nach Meer, Tang und Salz, ein paar Möwen segeln ums Haus.

Wir sind angekommen.

Ich bin angekommen.

Ein paar Minuten später stecke ich den Schlüssel ins Schloss der Haustür. Ihn hatte ich bereits im April mit dem Pachtvertrag erhalten. Mit ein wenig Rütteln und Kraftaufwand öffnet sich die Haustür, und sofort empfängt uns der Geruch von alten Linoleumböden, stehender Luft und feuchten Holzmöbeln. Erstaunlicherweise ist es warm in dem massiven Gebäude. Obwohl Sommer ist, sind alle Heizkörper voll aufgedreht. Ich zeige Uli das Haus in einer Mischung aus Stolz und Unsicherheit. Die letzten Wachleute, auch ambulierende Leuchtturmwärter genannt, haben die typischen 1950er-Jahre-Möbel hinterlassen. Tisch, Stuhl, Lampe, Plastikteppich und Plastikblumen. Alles wirkt hier so, als hätte es die vergangenen vierzig Jahre nicht gegeben.

»Gemütlich geht anders« sage ich zu Uli, um seinem strengen Urteil zuvorzukommen und zu signalisieren, dass mir bewusst ist, wie es hier aussieht. Der ist aber schon wieder mit der Aussicht beschäftigt. Er steht am Wohnzimmerfenster, das dem Meer nach Süden zugewandt ist, und schaut durch die beschlagene Scheibe. Feuchtigkeit und Salz liegen zwischen dem eigentlichen Fenster und der einen Zentimeter dicken Plexiglasscheibe, die vor das Fenster geschraubt ist, um den Wellenschlag abzuhalten.

»Ganz schön dick«, sagt er. »Glaubst du, das ist hier oben nötig? Das sind doch locker 30, 40 Meter runter zum Meer.«

»45 Meter, um genau zu sein.«

»Und glaubst du echt, dass die Wellen es hier hoch schaffen?«

»Keine Ahnung. Also, es soll hier schon wild stürmen. Aber wahrscheinlich ist es in erster Linie zur Sicherheit, dass auch wirklich nichts passieren kann.«

Uli schüttelt den Kopf. Fast senkrecht fällt der Fels unter ihm ab. »Wie auf’m Boot, das gibt es ja gar nicht.«

Ich kann seine Begeisterung verstehen. Mir ging es im April, als ich die Gebäude besichtigte, ganz ähnlich. Man betritt das Haus, ein scheinbar ganz normales Haus eben, und geht durch das Wohnzimmer über den geflochtenen Plastikteppich auf das Fenster zu. Je näher man den Scheiben kommt, desto mehr öffnet sich der Blick. Man sieht Meer, Meer, Meer. Verschwommen nur, wegen der versalzten Plexiglasplatte. Kein Land scheint unter einem zu sein. Zumindest findet das Auge nichts dergleichen. Und vor dem unscharfen Blaugrau des Europäischen Nordmeers, direkt auf dem Fensterbrett: eine immer blühende Plastikosterglocke. Draußen eine sich laufend wandelnde See, immer in Bewegung, kraftvoll und lebendig. Hier drinnen in Plastik gegossene Unvergänglichkeit von zweifelhafter Schönheit. Surrealer geht es kaum.

Es ist spät geworden, wir essen noch eine Kleinigkeit, dann zeige ich Uli sein Zimmer. Ich habe ihm das Leuchtturmzimmer zugedacht. Es ist nach Nordwesten ausgerichtet und dem Leuchtturmfeuer zugewandt. Auch die Möbel in diesem Raum haben ihre besten Tage schon lange hinter sich gelassen. Aber für den Anfang wird es gehen. Allerdings sind die Farben der Wände gewöhnungsbedürftig: ein pastelliges Schweinchenrosa und ein ebenso pastelliges Mintgrün. Das sind, warum auch immer, die üblichen Leuchtturmfarben in Norwegen. Die verpachtende staatliche Behörde muss tonnenweise davon eingekauft haben, denn in den Häusern fast aller Leuchttürme des Landes findet man diese Farbkombination an den Wänden.

Blink. Blink. Blink.

Durch das Fenster unter der Dachschräge erhellt das Leuchtfeuer in gleichmäßigen Abständen Ulis Zimmer. Es strahlt nicht mit der vollen Stärke ins Zimmer, da es von der seitlichen Begrenzung am Turm abgeschirmt wird. Aber es ist schon ziemlich hell.

»Na hoffentlich werde ich bei der Lichtshow schlafen können. Falls nicht, komme ich zu dir.«

»Oc WRG 6s«, sage ich, und Uli schaut mich an, als wäre ich verrückt geworden.

»Wie bitte?«

»Oc WRG 6s. Hast du die Lektion in der Seefahrtschule vergessen, oder warst du da krank? Das ist die Lichtfrequenz von Kråkenes fyr«, sage ich in übertrieben belehrendem Ton. »Mit dieser Info schicke ich dich in die Nachtruhe. Oc steht für unterbrochenes Licht, WRG bezeichnet die Farben der einzelnen Sektoren, Weiß, Rot und Grün. Und 6s ist die sogenannte Wiederkehr, das bedeutet, dass sich der Leuchtrhythmus alle 6 Sekunden wiederholt.«

»Mensch, danke, Thomas. Ohne diese Info hätte ich bestimmt nicht schlafen können heute Nacht. Und falls mich das Geblinke da draußen wach halten sollte, kann ich ja mal überprüfen, ob es wirklich sechs Sekunden sind. Nicht dass man dir nen Oc WRG 6s verpachtet hat, der aber eigentlich ein Oc WRG 7s ist. Das kannst du dann sofort bemängeln.«

Als ich das Licht anschalten will, fällt mir der schwarz verkohlte Schalter auf. Er klemmt fürchterlich und lässt sich kaum betätigen. An der Seite ist das Plastik komplett geschmolzen, als hätte jemand das Teil mit einer brennenden Kerze oder einem Feuerzeug bearbeitet. Ich blicke mich im Zimmer um und sehe, dass die Steckdosen in einem ähnlichen Zustand sind. »Das ist nicht gut«, sage ich halb zu mir, halb zu Uli.

»Sieht ganz so aus, als wäre da irgendwann mal etwas zu viel Strom durch die Leitungen geflossen«, antwortet er pragmatisch. »Vielleicht hat es irgendwo einen Kurzschluss gegeben. Warum auch immer.«

Uli schaut fasziniert unter die Decke, an der die kleine Lampe in der Leuchtturmfrequenz von sechs Sekunden heller und dunkler wird.

»Scheiß Stromnetz«, sage ich zu Uli.

»Hmmm. Ist derselbe Rhythmus wie das Leuchtfeuer, nur umgekehrt.«

Wir schauen uns an. Die starke Birne des Leuchtturms zieht anscheinend so viel Strom, dass die Stromstärke im ganzen Haus im selben Rhythmus schwankt. Schnell wünsche ich Uli eine gute Nacht und lasse ihn allein, ich will nicht länger als unbedingt nötig in das rhythmisch flackernde Licht schauen müssen. Das befeuert nur meine Zweifel. Wenn ich jetzt noch neue Stromleitungen verlegen lassen muss, ist mein Plan, in ein, zwei Monaten hier Seminare anzubieten, bereits am ersten Tag gestorben.

Etwas später liege ich auch, unten im kleinen Raum neben dem Wohnzimmer, in meinem provisorischen Bett und versuche in den Schlaf zu finden. Das an ein Aquarellbild erinnernde Sommerlicht der norwegischen Nacht scheint durchs Fenster und macht die Sache nicht einfacher. Dazu jede Menge Gedanken, Hoffnungen und Befürchtungen. Und trotzdem bin ich glücklich. Es wird vielleicht anstrengender werden als geplant. Und es wird Herausforderungen geben, auf die ich mich nicht eingestellt habe, aber in mir überwiegt die Freude, endlich hier zu sein. In meinem Leuchtturm. Angekommen!

4  Erste Tage

»Na, gut geschlafen?«, frage ich Uli, der strubbelig und verschlafen in die vom Morgenlicht durchflutete Küche kommt.

»Ja, irgendwie schon, aber es ist komisch, hier aufzuwachen. Das Möwengeschrei kenne ich ja aus Dänemark, aber dann der Blick aus dem Fenster! Wahnsinn. Mann, ich realisiere erst jetzt so richtig, was du dir da ausgesucht hast. Echt klasse. Aber sag mal, wie ist es denn mit Kaffee und Zähne putzen? Haben wir Wasser?«

Jetzt, wo Uli das sagt, kriege ich auch richtig Lust auf Kaffee. Warum habe ich gestern beim Einkaufen nicht daran gedacht?

»Nee, haben wir nicht. Aber ich habe oben in den Bergen einen Bach gesehen, und ein Kanister ist auch im Keller, ich hole gleich welches.«