Winterfalke - Alisha Bionda - E-Book

Winterfalke E-Book

Alisha Bionda

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Beschreibung

Winternacht Vor Kälte ist die Luft erstarrt, es kracht der Schnee von meinen Tritten, es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart; nur fort, nur immer fort geschritten! Wie feierlich die Gegend schweigt! Der Mond bescheint die alten Fichten, die sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt, den Zweig zurück zur Erde richten. Frost! Friere mir ins Herz hinein! Tief in das heißbewegte, wilde! Daß einmal Ruhe mag da drinnen sein, wie hier im nächtlichen Gefilde! Nikolaus Lenau (1802-1850) Die titelgebende Geschichte DER WINTERFALKE stammt von Andrea Gunschera. Ihr zur Seite stehen Tobias Bachman, Barbara Büchner, Tanya Carpenter, Nicolaus Equiamicus, Desirée & Frank Hoese, Guido Krain, Elisabeth Marienhagen, Bernd Rümmelein und Sören Prescher. Sie alle laden zu stimmungsvoll-phantastischem Lesegenuss ein.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Table of Contents

Title Page

Impressum

Vorwort

Alinor und die Priesterinnen Arars

Elisabeth Marienhagen

Die Winterjagd

Bernd Rümmelein

Feenkatzen

Tanya Carpenter

Der Winterfalke

Andrea Gunschera

Der dunkle Wald

Nicolaus Equiamicus

Snakewoman

Barbara Büchner

Hawleys Gemälde

Sören Prescher

Im Abbild des Mondes

Tobias Bachmann

Deine Nacht soll niemals enden.

Desirée und Frank Hoese

Geliebte des Winters

Guido Krain

Dragemenn

Tanya Carpenter

Das Geheimnis

Barbara Büchner

Die Herausgeberin

 

WINTERFALKE

Fantastische Erzählungen

Hrsg. Alisha Bionda

Ashera Verlag

 

 

Impressum

Erstausgabe 2019

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Hauptstr. 9

55592 Desloch

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: Fotolia

Innengrafik: Fotolia

Szenentrenner: Fotolia

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

[email protected]

www.ashera-verlag.de

 

 

ISBN: 978-3-948592-10-3

 

 

 

Vorwort

Alisha Bionda

 

Seit über zwei Jahrzehnten versuche ich, als Herausgeberin die auf dem deutschen Markt leider sehr verschmähten Kurzgeschichten und Novellen zu unterstützen.

Warum diese von den Lesern so stiefmütterlich behandelt werden, entzieht sich nach wie vor meiner Vorstellungskraft.

Wann immer eine meiner Anthologien von einem Verlag vom Markt genommen wird, bedauere ich es, dass die Kurztexte dann wieder in den Schubladen der Autoren verschwinden – womöglich auf Nimmerwiedersehen.

Aus dem Grund fasse ich solche Geschichten wieder zu neuen Sammlungen zusammen – und würze sie mit neuen Storys.

So auch in »Der Winterfalke«.

Beim erneuten Bearbeiten der Texte wurde mir bewusst, warum ich sie schon beim ersten Mal erwählt hatte: Sie wissen zu unterhalten.

In diesem Sinne: Lassen Sie sich von dem Winterfalken in fantastische Welten entführen.

 

Alisha Bionda, Oktober 2018

 

 Alinor und die Priesterinnen Arars

Elisabeth Marienhagen

 

 

Onkel und Tante schienen ehrlich betrübt, zugleich aber erleichtert über den Abschied, der ihnen bevorstand. Dass Yann nichts von dem Glück ahnte, Alinor sehr bald in seiner Nähe zu wissen, enthielt sie den beiden kurzerhand vor. Es reichte vollkommen, dass sie die Brieftaube gesehen hatten. Die Nachricht selbst, schludrig und knapp, wie von Yann nicht anders zu erwarten, ersetzte Alinor durch eine eigens verfasste. Nachdem sie seine Krakel ziemlich exakt so hinbekam wie er und ein wenig Tinte verspritzte, bemerkten Liam und Nelly die Fälschung nicht.

Alinor strich eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht und nahm das Papier wieder in Empfang. »Um zur Stadt zu kommen, muss ich mich Richtung Süden halten, nicht wahr?«

»Jetzt setzt dich und iss«, gab ihr Onkel zurück. »Alleine wirst du nirgendwohin gehen.«

»Du willst mich begleiten?« Hoffentlich hörte er die Panik in ihrer Stimme nicht.

»Nur, bis ich eine Reisegruppe finde, der ich dich anvertrauen kann.« Liam schaute auf den dicken Bauch seiner Frau. »So lange will ich Nelly in dem Zustand nicht alleine lassen.«

Die beiden erwarteten ihr erstes Baby, trotzdem hörte Alinor fast jede Nacht ihr lustvolles Stöhnen durch die dünne Bretterwand. Und auch jetzt starrte Liam begehrlich auf die prallen Brüste seiner Frau, die das Oberteil ihres Gewands dank der Schwangerschaft beinahe sprengten. Er war der jüngste Bruder ihrer Mutter, gerade mal zehn Jahre älter als Alinor, die siebzehn geworden war. Und ihr erster Schwarm. Sie mochte ihn immer noch und zu ihrem Erstaunen seine Frau auch.

»Dann schieben wir es nicht hinaus.« Nelly lächelte und griff Alinors Hände. »Ich habe dich sehr gerne um mich und würde dich nie darum bitten wegzugehen. Aber das freie Zimmer können wir gut gebrauchen. Besonders jetzt, wenn meine Schwester kommt.«

»Und später einmal für das Baby. Das weiß ich doch, Nelly. Gleich nach dem Essen packe ich meine Sachen. Und dann muss ich nur noch Silly finden.«

Hatte Durst!

Da war ihr Hermelin also. Alinor spürte ihn. Begeistert sprang und hüpfte er am Ufer des nahen Fischteiches herum und schleckte Schneeflocken auf. Nachdem er sein weißes Winterfell trug, war er für Feinde zum Glück nur schwer zu erkennen.

Was hast du so lange gemacht?, fragte sie.

Silly merkte gleich, dass sie in seinen Gedanken war, und übermittelte ihr freudig die Bilder einer Wieseldame in einem unterirdischen Gang.

Du suchst jetzt schon nach einem Weibchen? Du bist ja optimistisch.

Pff.

Stimmt, dir kann keine widerstehen. Und jetzt komm schnell her, wir gehen morgen zu Yann.

Oh ja! Silly kommt.

Er rannte durch den Schnee.

Wenn sie mit ihm verbunden war, spürte sie seine kräftigen Muskeln und die geschmeidigen Bewegungen. Er liebte die Geschwindigkeit beim Laufen, den Duft der eisigen Erde, ihre Unebenheiten, die Sträucher und Wiesen und vor allem die Mäuse und Hamster in ihren unterirdischen Bauten. Alinor war froh, dass er die Nager nicht weiter beachtete und geradewegs nach Hause rannte. Sie lief trotz der Kälte hinaus und erwartete ihn an seinem Schlafplatz. Aufgeregt wuselte er um sie herum, bis sie ihn schließlich hochhob.

Morgen früh geht es los, versicherte sie ihm, während ihre Finger durch sein weiches Fell glitten.

Kratz fester, weiter oben. Er lenkte ihre Finger dahin, wo er sie haben wollte.

Wenn du eine Katze wärest, würdest du jetzt schnurren, stellte sie belustigt fest.

Pff, machte er und wollte wieder runter.

Alinor suchte ihre Kammer auf, aber an Schlaf war nicht zu denken. Nebenan ging es geräuschvoll zur Sache. Nachdem die Ritzen zwischen den Brettern nicht dicht schlossen und Vollmond herrschte, erkannte sie Nellys Umrisse auf dem Bett. Sie war auf allen vieren. Von hinten umfasste Liam ihre Brüste, liebkoste und knetete sie. Nelly streckte ihm ihr Hinterteil entgegen. Langsam versenkte er sein erigiertes Glied in ihr und bewegte sein Becken vor und zurück. Sie stöhnte jedes Mal auf, wenn er tiefer in sie stieß. Alinor spürte ihre eigene Erregung zwischen den Schenkeln brennen, manchmal stillte sie ihre Lust selbst, heute nicht. Eine Weile sah sie ihnen zu, lauschte dem Staccato des Keuchens und dem lang gezogenen Schrei der Ekstase. Als die beiden fertig waren, schaute Alinor aus dem Fenster ihrer kleinen Kammer und dachte an die Worte, die Yann ihr tatsächlich geschickt hatte.

Komm ja nicht her! Hier ist es gerade sehr ungünstig.

Sehr war drei- und ungünstig viermal unterstrichen. Das schlechte Gewissen wegen ihrer faustdicken Lüge nagte nur kurz an Alinor: Die Vorfreude auf das Abenteuer überwog.

 

 

Am nächsten Morgen brachen Liam und sie in aller Frühe auf. Fest eingepackt in warme Stiefel und Felle. Ihr Onkel schleppte den Proviant. Den Lederbeutel mit ihrer Kleidung trug Alinor selbst. Sogar ein paar Münzen für ihre Geldkatze steckte Nelly ihr noch zu. Die Luft dampfte bei jedem Atemzug und Alinors Wangen brannten. Sie wickelte einen Schal um ihren Mund und marschierte seltsam froh neben Liam durch den harschen Schnee.

 

 

Schon nach zwei Tagen entdeckte sie die Schemen Ararans vor den bläulichen Hügeln. Aber die Ebene, die sie durchqueren mussten, kam ihr schier endlos vor. Sie stapfte trotzdem weiter. Immer das Ziel vor Augen, das anfangs den Eindruck machte, mit jedem Schritt nach vorne einen wegzurücken. Ihr Onkel ließ zwei Karawanen vorüberziehen. Die dritte war nach seinem Geschmack. Er drückte Alinor zum Abschied und winkte. Sie stieg auf den Wagen einer alten Dame, die ihren Enkel besuchen wollte. Sie war sehr nett, legte ihr eine Felldecke über die Beine und redete ein wenig viel. Beim Abschied tätschelte sie Alinors Hand.

Die Stadt mit ihren mächtigen Verteidigungsmauern und Wehrtürmen kam Alinor abweisend und ungastlich vor. Yann war trotzdem als Freiwilliger unter die Soldaten gegangen, mit der festen Absicht, in der Karriereleiter aufzusteigen. Seit über einem Jahr weilte er nun schon in Araran. Ihn zu finden, stellte sicher kein besonders großes Problem dar. Sillys feine Nase würde die Nadel im Heuhaufen aufstöbern. Aber bevor Alinor und ihr Hermelin mit der Suche anfingen, sollte es noch eine Weile unbeschwert herumtollen. Lange Fahrten waren eine Tortur für Silly.

Schau mal! Saftig!

Eine in die Enge getriebene Ratte mit schwarzen Knopfaugen erschien vor Alinors innerem Auge. Behalt du sie, mir schmeckt sie nicht.

Silly stromerte schon seit den frühen Morgenstunden begeistert in den schmutzigsten Gassen der Stadt herum. Es stank bestialisch, wo er seine Nase hineinsteckte. Allerdings roch es auch nicht wesentlich besser, wenn Alinor die Gerüche ausblendete, die er ihr übermittelte. Wie es hier im Sommer stank, daran mochte sie nicht denken.

Schon wieder kamen ihr Gardisten entgegen. Hauben und Stirnbänder der schwarz gekleideten Kerle ließen nur die Gesichter frei. Sie musterten sie ungeniert, pfiffen und grinsten. »Weiter!«, brüllte ihr Anführer. »Marsch!«

Das würde ja lustig werden, wenn sie später nach Yann suchte. Vorher brauchte sie allerdings etwas zu trinken. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Fragend schaute sie die Leute an, die ihr entgegenkamen. Außerdem hoffte sie auf ein Badehaus in der Nähe, in dem sie den Schmutz der Reise abwaschen und die Kleidung wechseln und waschen konnte. Zwei Nächte im Freien, vier im Wagen und tagsüber staubige Wege …

Sie bat eine ältere Frau um Auskunft, die ihr den Weg zum Brunnen wies. Auf einem kleinen Platz standen Menschen um Wasser an. Immer wieder klatschte ein Eimer in der Tiefe auf, es gluckerte und er wurde hochgezogen. Gelegentlich schepperten Krüge oder Kannen. Alinor trat zu zwei älteren Frauen, die über eine andere lästerten, und wartete geduldig. Ab und zu schickte Silly ihr Bilder von Ratten, die er für schmackhafter hielt als den Rest. Wahrscheinlich waren sie blutjung. Besonders gut gefiel es ihr nicht, ihn auf seinen Wegen zu begleiten, aber besser als in der Schlange stehen war es. Gerade quetschte er seinen Kopf durch einen Spalt. Alinor zog unwillkürlich ihren eigenen mit ein und musste lächeln, als sie es merkte. Der Spalt war sehr schmal. Aber Silly probierte es wieder und wieder. Er witterte hinter der Mauer Mäuse und die leckeren Häppchen zog er den wehrhaften Ratten bei Weitem vor.

Lass es sein, riet sie ihm. Warte einfach, bis eine rauskommt. Auf einmal spürte Alinor eine Hand auf ihrer Schulter. Im ersten Moment war sie verwirrt. Sie war so versunken in Sillys Jagd, dass sie die Warteschlange vergessen hatte. Wahrscheinlich ein netter Mensch, der ihr bedeutete, vorzurücken.

Von wegen.

Eine alte Frau packte Alinor am Kinn und drehte ihren Kopf hin und her. »Sie ist geeignet!«

»Loslassen! Hey, Leute, habt ihr das gesehen! Die hat mich angefasst.«

Nicht, dass Alinor großen Beistand erwartet hatte, aber gar keine Reaktion? Sie ließ ihren Blick kurz über die Menge gleiten, einige Leute schauten betreten zu Boden. Das war alles. Auch gut, dann musste sie das selbst regeln. Alinor drückte die Hand der Alten energisch zur Seite. »Was soll das? Pfoten weg. Sonst vergesse ich meine gute Erziehung und …«

Die Frau war nicht allein gekommen. Sie hatte vier nicht ganz so verknitterte Schrullen dabei, die den gleichen verkniffenen Zug um den Mund hatten wie die Alte. Sie trugen sehr unvorteilhafte, makellos weiße Wollmäntel am Leib. Die Umstehenden rückten immer weiter von ihnen ab. Demnach hatte die Alte etwas zu sagen. Alinor schaute erst zur einen, dann zur anderen Seite. Wo waren die Männer in Schwarz, wenn man sie brauchte? Wo war Yann?

Ihr lag es auf der Zunge, ›wenn ihr glaubt, dass ihr mich in ein Freudenhaus kriegt, habt ihr euch geschnitten‹, zu sagen. Nur machten die Frauen nicht unbedingt den Eindruck, als ob sie damit etwas am Hut hatten. Eher im Gegenteil. Aber in eine Frauenkongregation wollte Alinor genauso wenig. Keusch und ohne Männer! Das war nicht ihr Plan. Die Frauen rückten ihr immer dichter auf die Pelle, während die Alte sie von oben bis unten musterte.

»Mit sauberem Gesicht und gekämmten Haaren ist sie geradezu ideal.«

»Wofür?«, zischte Alinor. Zu ihrem Erstaunen erhielt sie Antwort.

»Wir halten nach ausgesucht schönen Jungfrauen für das Fest zu Ehren Aras Ausschau.«

Ob sie aus der Sache rauskam, wenn sie behauptete, dass sie dieses spezielle Gut schon verloren hatte? Einen Versuch war es wert. »Und wenn ich keine mehr bin?«

»Solange du es nicht hinausschreist, interessiert es keinen Menschen. Es sei denn, du hast schon geboren. Hast du?«

Alinor schüttelte automatisch den Kopf.

»Trägst du ein Kind in deinem Leib?«

Was waren das denn für Fragen? Empört platzte Alinor mit der Antwort heraus: »Nein, natürlich nicht.«

»Dann folge uns. Dir wird nichts Schändliches widerfahren. Im Gegenteil, dir wird große Ehre zuteil.«

Na, wenn das so war. Alinor folgte der Alten trotzdem nur zögernd. Erst als die vier anderen immer näher rückten, bewegte sie ihre Beine. Ohne Hast gingen sie durch unübersichtliche Gassen. Ein wenig wärmer war es hier im Vergleich zu dem offenen Platz, auf dem der Wind pfiff. Silly schickte ihr Bilder von einer jungen Maus, die er mit einem Nackenbiss tötete. Schnell und schmerzlos. Alinor wollte es trotzdem nicht sehen und unterbrach die Verbindung. Offensichtlich zu spät. Die Alte blieb so abrupt stehen, dass Alinor beinahe in sie hineingelaufen wäre.

»Du besitzt Fähigkeiten?«

»Ja«, gab sie zu. »Aber nur eine unbedeutende Fähigkeit.«

»Stammst du aus einer Schamanenfamilie?«, fragte die Alte misstrauisch.

»Von der Mutterseite, aber sie war nicht richtig ausgebildet.«

»Wollt Ihr sie wirklich wählen, Erhabene?«, fragte eine ihrer Begleiterinnen. »Sie ist begabt!«

»Unausgebildet, aus einer unbedeutenden Familie. Natürlich nehmen wir sie.«

Im Gegensatz zu dem, was das alte Weib annahm, war Alinor so erzogen, nicht mit ihrer Abstammung von Rhea zu prahlen. Ihre Mutter fand, dass es ungehörig war, die Lorbeeren der Ahnen für die eigenen Belange zu nutzen. Aber sie hatte die einzige Tochter von ihrem zweiten Mann Bron sorgsam ausbilden lassen. Dem Stiefvater war es gelungen, so unterschiedliche Eigenschaften wie unerbittliche Strenge in der Sache mit Humor und unerschöpflicher Geduld zu verbinden. Damals, als Alinor wegen der verstörenden Bilder im Kopf panisch zu ihrer Mutter rannte, deutete er die Zeichen richtig. Er beruhigte sie beide und erklärte geduldig, dass eine Begabte als Empfängerin fremder Gefühle und Empfindungen in der Lage war, ihrerseits Botschaften zu senden. Mit Brons Hilfe schaffte sie es den Verursacher, ein kleines verängstigtes Geschöpf, so weit zu beruhigen, dass es aus der Höhle lugte. Zum Glück erkannte Alinor die Stelle trotz der seltsam verzerrten Sicht, rannte aufgeregt los und hielt wenig später Silly in ihren Armen. Zu Tode erschöpft, abgemagert und krank. Sie päppelte ihn gesund. Seither blieb er meist in ihrer Nähe. Zumindest kehrte er von seinen Ausflügen und galanten Abenteuern immer wieder zu ihr zurück. Dass sie seinen Weibchen nichts abgewann, sah er inzwischen ja ein. Aber er begriff einfach nicht, warum sie auf das unbeschreibliche Vergnügen der Mäusejagd verzichtete.

Neugierig musterte Alinor die Gegend. Die Häuser wurden immer nobler. Der festgestampfte Lehm der Gassen wich breiten Straßen, die dunkelgrau gepflastert waren. Häuser aus weißen Steinquadern säumten sie beidseits. Sie glitzerten im Sonnenlicht und reichten zwei bis drei Stockwerke hoch. In diesem Viertel schwelgten sie im Luxus.

Schau mal die Steine, Silly. Da könntest du mit deinem Dickschädel nichts ausrichten.

Ihr Hermelin antwortete nicht, wahrscheinlich schmollte der Herr, weil sie seine Bilder abgeblockt hatte.

Vor einem dreistöckigen Haus hielt ihr Trupp an. Zwei Diener öffneten eine mit Schnitzereien von rankenden Blumen reich verzierte Tür. »Bringt sie zuerst ins Bad«, befahl die Alte.

»Hier entlang«, sagte eine der Frauen und öffnete eine Tür.

Der Raum war leer, abgesehen von einem Stuhl. »Wo macht man hier … wenn man Wasser lassen muss …?« Alinor schlug ihre Kapuze zurück und legte ihre Habseligkeiten, Schal und bodenlangen Mantel ab. Es war unerträglich warm.

»Dort.« Die Frau wies auf das Möbelstück und verschwand gleich darauf.

Alinor seufzte erleichtert und verrichtete ihr Geschäft unbeobachtet auf dem seltsamen Thron, der eine Aussparung in der Sitzfläche aufwies. Die Tür zum nächsten Raum stand offen. Zwei nackte Mädchen stiegen in ein Becken, in dem das Wasser ihnen ungefähr bis zur Hüfte reichte, und kicherten. »Hallo du, wasch dich ab und komm rein. Das Wasser ist wundervoll warm«, meinte eine Dunkelhaarige mit milchkaffeebrauner Haut. »Ich heiße Evylyn und das ist Luna.«

Alinor nannte ihren Namen.

»Hier drin kann man sitzen, siehst du. Dann schaut nur noch dein Kopf raus.« Neben ihrer dunkelhäutigen Freundin sah Luna sehr blass aus.

Aber beide waren auf ihre Art unglaublich hübsch. Während Alinor ihren Körper einseifte und mit sauberem Wasser abwusch, das in einen Abfluss gluckerte, sah sie verstohlen zu den Mädchen im Becken. Die beiden pressten ihre Münder zu einem leidenschaftlichen Kuss aufeinander. Evylyn löste ihre Lippen von Lunas. Ihr Mund glitt am Hals ihrer Freundin entlang, hinunter zu den Brüsten. Sie saugte an Lunas rechter Brustwarze, während sie die andere mit ihren Fingern liebkoste. Sie wechselte zur linken und knabberte zärtlich, während ihre Hand unter die Wasseroberfläche rutschte. Dem leisen Keuchen nach zu schließen, zwischen die Beine ihrer Freundin. Evylyn bewegte ihren Arm rhythmisch und erzeugte kleine Wellen. Luna schloss die Augen und stöhnte. Abrupt tauchte Evylyns Hand wieder auf.

»Nein!«, keuchte Luna.

»Warte es ab.« Evylyns Kopf versank. Lunas Atem ging stoßweise und immer schneller. Nach vielleicht einer halben Minute tauchte ihre Freundin prustend auf und lachte.

»Nein, nein! Mach weiter! Bring es zu Ende!« Luna versuchte, den Kopf ihrer Freundin nach unten zu drücken.

»Noch lange nicht, Süße. Steh nicht nur rum, Alinor. Mach mit.« Evylyn küsste Luna noch leidenschaftlicher als vorher. Beide schlossen die Augen und Alinor entschied, die Mädchen trotz der freundlichen Einladung lieber nicht zu stören. Sie griff nach ihrer Kleidung. Luna sah auf. »Willst du wirklich nicht mitmachen? Evy ist Perlentaucherin. Wenn sie will, hält sie es länger als drei Minuten aus, ohne Atem zu holen.«

»Danke, nein.« Alinor spürte, dass sie flammend rot wurde.

»Wie du willst. Wenn du was anziehen magst, nimm das, was hinter dir auf der Bank liegt. Es ist für dich. Das tragen hier alle.«

Evylyn lachte. »Es sei denn, sie sind nackt.«

»Sehr warm sieht es nicht aus.«

»Glaub mir, es ist warm genug.«

Alinor streifte das Kleid über, das ihre Figur locker umspielte und kaum etwas wog. Nur, es verbarg fast nichts.

»Halt dich an Damaris, die ist nett«, empfahl Luna ihr. »Und nimm gleich diese Tür. Die, durch die du reingekommen bist, ist längst versperrt …«

Alinor rüttelte an der Klinke und fand Lunas Aussage bestätigt. Unwirsch schritt sie am Becken vorbei und drückte gegen das Holz. Drei auffallend schöne Mädchen drehten die Köpfe nach ihr um, als sie in ein geräumiges Zimmer spähte. Eigentlich war es eher ein Saal. Die drei saßen oder lagen auf bequemen Liegen, zwischen denen ausladende Grünpflanzen aufgestellt waren. Einige trugen gleichzeitig rote Beeren und weiße Blüten, deren süßer Duft die Luft erfüllte.

Alinor trat ein.

Auf kleinen verschnörkelten Tischen standen Leckereien bereit. Schalen mit süßem Konfekt, Obst, Nüssen und Gebäck. Angesichts der Not, die draußen in den heruntergekommenen Gassen teilweise herrschte, war die Auswahl unfassbar. Karaffen waren mit glasklarem Wasser gefüllt. Daneben warteten saubere Gläser. Alinor schnupperte. Verschiedene Säfte gab es in Krügen, sogar Wein. Das alles war zu viel. Zu viel Schönheit, zu viel Essen, zu viel Pracht. Ein Mädchen, deren Locken so dunkel schimmerten, wie ihre hell, war aufgestanden, nannte ihren Namen und lächelte freundlich. Alinor begrüßte sie fasziniert. Wie ungewöhnlich! Die Iris direkt um Damaris‘ Pupillen war braun. Der Rest dagegen grünlich blau. Nicht nur die Augen, eigentlich sah alles an diesem Mädchen perfekt aus: das ovale Gesicht mit der zierlichen Nase und dem kleinen, wohlgeformten Mund. Die graziöse Art, mit der sie auf die Beine gekommen war und ihr zunickte.

Dass Alinor im Vergleich zu Damaris ungeschickt und linkisch wirkte, konnte keinem entgehen. Außerdem waren ihre Augen nur langweilig blau. Sehr, sehr dunkel, aber blau.

»Setz dich zu mir. Ich hätte nicht gedacht, dass sie eine Fremde auswählen«, sagte Damaris leise.

»Wofür?« Das Unbehagen, das Alinor schon seit der Begegnung mit den fünf Frauen begleitete, zog ihren Magen zusammen. »Was ist das für ein Fest, das sie feiern?«

»Sie haben dir nichts gesagt?«

»Nein.« Alinor schüttelte den Kopf.

»Das wundert mich nicht«, warf eine dralle Rothaarige ein. »Mich haben sie auch überrumpelt. Also, mach dich auf was gefasst …«

Diese Andeutungen! Von ihrem Bruder hatte Alinor einige Schauergeschichten gehört. »Wie …? Werden wir etwa … Arar geopfert?«

Damaris schüttelte den Kopf. »Du ängstigt sie ja zu Tode, Aude. So schlimm ist es zum Glück nicht. Wir werden lediglich zu Ehren Arars verlost.«

»Wir werden was?«, ächzte Alinor.

»Verlost«, wiederholte Damaris geduldig. »Damit die Felder reiche Frucht tragen.« Aude griff nach einem Stück Konfekt und nahm neben Damaris Platz. »Sei froh, früher zwang man die sechs schönsten Mädchen der Stadt, ein Jahr lang als Tempelhuren zu dienen.«

»Seit Menschengedenken hielt man es so. Die Männer spendeten dem Tempel Arars je nach Stand ihres Vermögens ein Opfer …«

»Und die Mädchen mussten mit jedem schlafen, der den Obolus entrichtet hatte: alt, schmutzig oder hässlich, vollkommen egal.« Angeekelt verzog Aude das Gesicht.

»Der vorletzte Kommandeur hat die Regeln geändert und seither haben sie es so beibehalten«, erklärte Damaris.

»Wie seine Vorgänger unterhält auch der jetzige nebenbei ein Freudenhaus«, warf Aude ein. »Den Sold der Männer möchte er lieber in seinen Taschen sehen als bei den Priestern im Tempel.«

»Und wir können von Glück sagen, weil wir nur noch einem einzigen Mann zu Willen sein müssen.«

»Wir müssen was?« Alinor krallte ihre Hände in den weichen Bezug. »Niemals! Warum sollten wir bei so etwas mitmachen?«

»Sie nehmen unsere Verwandte als Pfand«, erklärte Damaris leise. »Wenn ein Mädchen nicht gefügig ist, wird ein Mitglied ihrer Familie als Blutopfer gewählt.«

Luna und Evylyn traten ins Zimmer, die Arme hatten sie um ihre Hüften geschlungen.

»Der Tribut an Arar wird gezahlt.« Evelyn griff nach einer Karaffe. Eine blutrote Flüssigkeit gluckerte in die Gläser.

»So oder so«, sagte Luna.

Damaris fand ihr Lächeln wieder. »Aber du hast Recht, Alinor. Dich können sie nicht erpressen. »Leider doch.« In Alinors Kopf wirbelten die Gedanken. Sie war von den Wachen beim Stadttor gefragt worden, zu wem sie wollte. Wenn die Alte das gehört hatte und Yann etwas geschah, weil sie flüchtete … oder bei der Verlosung Theater machte. Eine Gänsehaut überlief sie.

Wo steckst du? Silly schickte ein Bild von einer dunklen Gasse.

In der Klemme. Alinor ließ das Haus in ihrem Kopf entstehen. Hier bin ich. Kannst du bitte Yann suchen?

Silly zeigte ihr grimmige mit Spaten bewaffnete Männer in Schwarz.

Sie werden dich schon nicht töten, wenn du aufpasst. Und jetzt los!

»Ist dir nicht gut?«, fragte Damaris besorgt. »Soll ich dir Wasser bringen?«

Alinor schüttelte den Kopf.

»Dieses eine Jahr geht vorbei, sage ich mir immer.« Aude wählte noch ein Stück Konfekt aus und steckte es in den Mund.

»Ja, das hoffe ich auch«, murmelte Damaris. »Also, durchhalten und danach suchen wir uns Kerle nach unserem Geschmack.« Aude lehnte ihren Kopf an Damaris Schulter. »Ach, wem mache ich hier was vor. Ich habe Angst.«

»Und wann beginnt dieses Fest?«, fragte Alinor.

»Morgen, in aller Frühe.«

Dann blieb nicht einmal Zeit für Fluchtpläne. Es sei denn, Yann tauchte wie durch ein Wunder rechtzeitig auf und sie entkamen gemeinsam.

»Überlegst du zu fliehen? Überall sind Gitter …« Ein hochgewachsenes Mädchen, das Yva hieß, schlenderte an ihnen vorbei ins Bad. »Hier kommt nicht einmal eine Maus raus.«

Alinor hielt es nicht länger auf dem mit weichem, blauem Samt bezogenen Diwan. Ruhelos tigerte sie durch das Zimmer, im Vorbeigehen pflückte sie Beeren vom Obstteller und steckte alle auf einmal in den Mund. Stundenlang lief sie im Kreis herum, ohne, dass ihr ein brauchbarer Plan einfiel. Und von Silly kam auch kein Ton, kein Bild, nichts. Sie dachte an die letzte Nachricht, die er ihr geschickt hatte. Die Männer in Schwarz auf Wieseljagd. Viel fehlte nicht und sie wäre in Tränen ausgebrochen.

 

 

Die Nacht schritt fort, aber Schlaf fand Alinor keinen. Erst gegen Morgen nickte sie auf einer der Liegen ein und fuhr erschrocken hoch, als jemand sie weckte. Im Nu war das Zimmer voller Frauen, die Alinor und die anderen Mädchen in noch zartere Gewänder kleideten und ihnen die Haare frisierten und hochsteckten. Zuletzt mussten sie zierliche Schuhe anziehen, ihnen wurde ein Cape umgehängt, und die Priesterinnen verfrachteten sie in einen geschlossenen Wagen.

Die kalte Luft versetzte Alinor einen Schock. Vermutlich brauchte sie niemals irgendeinem zu Willen zu sein. Sie würde vorher erfrieren. Jedenfalls zitterte sie und ihre Zähne klapperten erbärmlich. Lange dauerte es nicht, bis die Alte das Zeichen zur Abfahrt gab. Der Wagen rumpelte los. Umrahmt von den Priesterinnen und geschützt von Männern in Schwarz, die immer wieder einen Blick riskierten, stiegen sie wenig später wieder aus. Vor ihnen lagen die Stufen einer Empore, die sie eine nach der anderen emporkletterten. Alinors Schritte stockten kurz, als sie die Menschenmenge sah. Sie wählte den Platz neben Damaris und hob stolz den Kopf. Aber sie fand es schwieriger als gedacht, vor derart vielen Menschen zu stehen. Und so zu tun, als ob es ihr nichts ausmachte. Tatsächlich sah sie alles verschwommen, atmete kalte Luft viel zu tief ein und Wölkchen aus. Nach einiger Zeit spürte sie, dass Wut die Angst verdrängte. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Zuschauer. Aus manchen Gesichtern las sie Mitleid, aus anderen Gier. Ihr Blick glitt über die Reihen und blieb an einem jungen Mann hängen, der ihren suchte. Er starrte sie an und sie starrte zurück. Sie wusste nicht, wie lange sie so dastand oder warum ihr Herz auf einmal schneller schlug. Damaris berührte sie leicht am Arm und löste den Bann. Und das war gut so! Alinor brauchte gerade keinen Mann, der sie verwirrte.

»Kennst du ihn?«, fragte ihre Freundin leise.

»Nein!« Alinor schüttelte den Kopf und vermied es, in seine Richtung zu sehen. Ein Stück vor dem Podest bauten Männer der Stadtwache einen Tisch auf. Die Priesterinnen stellten Strohkörbe darauf, die sie sorgsam zurechtrückten.

»Darin sind die Lose«, erklärte Damaris. »Kennst du den Mann wirklich nicht? Er guckt die ganze Zeit zu dir rüber.«

»Nein!« Aus den Augenwinkel musterte Alinor ihn. Sein kantiges Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase gefiel ihr. Er war kein Junge mehr, sondern schon etwas älter, vielleicht drei- oder vierundzwanzig. So groß wie Yann kam er ihr nicht vor, aber klein war er auch nicht. Die mittelbraunen Haare trug er kurz. Gerade sprach er mit einem Uniformierten und lachte. Als er wieder zu ihr schaute, sah sie hastig weg. Direkt in Damaris Augen, die verständnisvoll lächelte.

»Ich bin verrückt, oder?« Von jetzt ab würde Alinors Sorge nur noch Silly und Yann gelten. Dem finsteren Gesicht der alten Priesterin nach zu schließen, wäre es der Alten wahrscheinlich lieber gewesen, wenn die Auserwählten überhaupt keinen Mucks gemacht und still und sittsam auf das Ziehen der Namen gewartet hätten. Aber was wollte die Schreckschraube tun, wenn sie miteinander redeten? Das Podest stürmen?

Damaris zog ihre Stirn in Falten. »Wieso soll es schlecht sein, nach jemand zu schauen, wenn es dich ablenkt.«

»Und du? Hast du einen Jungen, an den du denkst?«

»Er ist bei der Stadtwache.«

»Und weiter, wie heißt er? Ist er hier? Wird dir warm, wenn du an ihn denkst?«

»Ich habe ihn noch nie gesprochen. Aber er lächelt immer, wenn er mich sieht«

Allie, wo bist du? Silly klang verstimmt. Er hatte offensichtlich das Haus der Priesterinnen gefunden. Nur, dass Alinor dort nicht mehr war. Das hatte seine feine Nase gerochen.

Sie haben mich zu einem Festplatz gebracht, dort stehe ich auf der Tribüne. Lauf einfach den Leuten nach, dann findest du uns bestimmt. Hast du Yann gefunden?

Uns? Silly dachte an eine hübsche Hermelindame.

Andere Mädchen und mich. Wir stehen auf der Tribüne und sind die Festattraktion.

Yann ist bei Silly.

Das ist gut. Beeilt euch! Was genau Yanns Anwesenheit bei der Verlosung ändern sollte, wusste Alinor allerdings nicht.

»Sie beginnen gleich«, flüsterte Damaris mit gepresster Stimme.

Ungeduldig hielt Alinor Ausschau. Zwei Mal begegnete sie dabei dem Blick des Fremden. Sie hätte gerne seinen Namen gewusst, wenn ihre Gedanken schon so oft auf ihn gerichtet waren. Wir sind da!, verkündete Silly nach ein paar Minuten stolz. Yann trägt mich. Was machst du da oben?

Wo? Wo seid ihr?

Warte, Silly fragt Yann. Es dauerte einen Moment, bevor es weiterging. Dritte Reihe, rechts.

Alinor wandte den Kopf und stellte fest, dass ihr Bruder und der Fremde plötzlich direkt nebeneinanderstanden.

»Yann!« Sie winkte ihm zu und strahlte ihn für einen Augenblick an. Aber er sah ernst und auch wütend zurück. Der Fremde zog die Stirn kraus und wandte keinen Blick von ihr.

»Du kennst seinen Namen?« Damaris war blass geworden. »Ist er dein Geliebter?«

»Wie kommst du denn darauf?«, antwortete Alinor verblüfft. »Er ist mein Bruder.«

»Ihr seht euch nicht sehr ähnlich, da habe ich gedacht …«

»Streng genommen sind wir auch nicht miteinander verwandt. Meine Mutter hat seinen Vater geheiratet, als wir noch klein waren. Wir sind zusammen aufgewachsen und nach dem Tod unserer Eltern haben meine Verwandten ihn genauso aufgenommen wie mich.«

Dass Yann trotz dieser Großzügigkeit so schnell wie möglich unabhängig sein wollte, stand auf einem anderen Blatt.

»Ach so.« Röte überflutete das Gesicht ihrer neuen Freundin und Alinor ging ein Licht auf.

»Ist er es, den du magst?«

»Ja, warum soll ich es dir verschweigen?« Damaris eiskalte Finger griffen nach Alinors Hand. Inzwischen sammelten Priesterinnen und genauso ältliche Priester das Geld Interessierter ein und teilten im Gegenzug Lose aus. Die Regeln waren denkbar einfach. Wer einen Namen zog, der gewann das dazugehörige Mädchen. Alinor hoffte nur, dass Yanns Ersparnisse reichten, wenigstens eine von ihnen zu erlösen. Und der Losgott ihnen wohlgesonnen war. Aude und Yva hatten die Priester schon an den Mann gebracht und Luna und Evylyn wurden gerade auseinandergerissen.

»Gleich werden wir es wissen …«, flüsterte Damaris.

Alinors Herz schlug bis zum Hals. Wer von diesen Männern?

Yann rollte ein Los auf. Hatte er wirklich nur eins gekauft? Er warf einen kurzen Blick darauf. Zu wem sah er eigentlich? Zu Damaris oder ihr? Letztlich war es egal. Er schüttelte den Kopf.

Einige Männer waren schon gegangen, andere kontrollierten ihre Lose noch. Der Hübsche auch, aber Alinor wagte nicht darauf zu hoffen, dass er einen Namen zog. Vielleicht doch? Er musste wahnsinnig viele Lose gekauft haben, nach dem Haufen achtlos weggeworfener Zettel zu schließen. Von Weitem sah der kleine Hügel nach Schnee aus, aber in der Stadt lag keiner. Ein Los steckte er in seine Jackentasche. Aber er ging nicht vor, um seinen Gewinn abzuholen. Er öffnete alle, die er noch hatte. Auf einmal sah er auf. Direkt zu ihr hin und Alinors Herz trommelte wie verrückt. Offensichtlich war sie zu keiner anderen Reaktion imstande, wenn sie seinem Blick begegnete. Der Fremde holte den Zettel, den er eingesteckt hatte, wieder vor und reichte das Los an Yann. Ihr Bruder machte ein verblüfftes Gesicht, während er es entgegennahm. Jede seiner Regungen verfolgte Alinor wie gebannt. Er las den Namen. Noch im selben Augenblick ging ein Strahlen über sein Gesicht. Aufgeregt sprach er mit dem Fremden und schien ihm tausend Mal zu danken. Schließlich lief er vor. Die alte Priesterin prüfte den Zettel, den er ihr reichte, und nickte zustimmend.

»Komm!« Alinor hoffte, dass er sie meinte. Aber ihr Bruder streckte die Hände nach Damaris aus, hob sie von der Tribüne und reichte Silly zu Alinor hoch. »Knie dich mal hin. Ich will dir was sagen.« Yanns Bartstoppeln kitzelten sie am Ohr. »Der Kerl ist völlig verrückt, Allie. Der hat sein ganzes Geld ausgegeben, nur um dich zu kriegen. Und er hatte irre viel.«

Wenn dieser Mann tatsächlich sein ganzes Geld wegen ihr verpulvert hatte, fand Alinor das ziemlich bedenklich in Hinsicht auf die Dinge, die er als Gegenleistung verlangen würde. Dass es mehr als einen Weg gab, einen Mann zu befriedigen, hatte sie dank der Lampen, die Liam gerne entzündete, um den nackten Körper seiner Frau zu sehen und der Ritzen in der Bretterwand des Öfteren mitverfolgt. Und es anfangs nicht fassen können, dass Nelly den aufgerichteten Penis ihres Mannes bis zum Anschlag in den Mund nahm, um ihren Kopf erst langsam und dann immer schneller vor und zurück zu bewegen. So lange, bis Liam seine Hände in ihren Haaren vergrub, stöhnend mithalf, die Geschwindigkeit zu steigern und schließlich am ganzen Körper bebend vor Lust seinen Samen in Nellys Mund, auf ihr Gesicht oder ihre Brüste ergoss. Wobei sie hinterher immer schimpfte, wenn er sein Glied nicht rechtzeitig vor dem Orgasmus zurückzog und sie den Samen schlucken musste. Er schmeckte ihr wohl nicht so besonders gut. Ob der Fremde so etwas von Alinor erwartete? Sie spürte eine Hitzewelle über ihre Wangen rollen und war froh, dass niemand ihre Gedanken lesen konnte. Auch nicht die alte Schrulle im weißen Mantel.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie ihren Bruder. »Wo willst du mit Damaris hin?«

»Wenn du nichts dagegen hast«, warf ihre Freundin ungewohnt schüchtern ein. »Könnten wir fürs Erste im Haus meiner Eltern leben.«

»Gerne, wenn sie einverstanden sind. Dir ist kalt.« Völlig selbstverständlich legte Yann seinen Arm um die Schultern des Mädchens und wickelte sie in seinen Umhang mit ein. »Eigentlich sollte ich dir böse sein, Allie. Ich hatte dir extra geschrieben. Aber ich kann es nicht. Dank dir steht die Frau meiner Träume neben mir. Ich glaube, dein Verehrer kommt.«

Alinor hatte es selbst gesehen.

---ENDE DER LESEPROBE---