Wir sind die Nacht - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Wir sind die Nacht E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Eine Nacht verändert alles im Leben der jungen Lena. Sie wird von Louise gebissen, der Anführerin eines weiblichen Vampir-Trios, und gibt sich von nun an hemmungslos den Verlockungen der Unsterblichkeit hin. Als sie sich aber in den jungen Polizisten Tom verliebt und der Vampir-Clique den Rücken kehren will, kennt Louises Zorn auf die Verräterin keine Grenzen. Lena muss sich zwischen der Liebe und dem ewigen Leben entscheiden.

Keine Falten, kein Älterwerden, kein Montagmorgen! Die drei Vampire Louise, Nora und Charlotte treiben in Berlin ihr nächtliches Unwesen. In einer Edeldisco trifft Louise eines Nachts auf Lena, die sich auf Diebestour in der Stadt herumtreibt, und beißt sie auf der Damentoilette. Lenas Körper verändert sich, und sie muss akzeptieren, dass sie zum Vampir wird. Erst genießt sie den Luxus, die Partys, die grenzenlose Freiheit, doch dann machen ihr die Mordlust und der Blutdurst ihrer Gefährtinnen immer mehr zu schaffen. Gleichzeitig sind Lenas Schwarm Tom und die Polizei den Vampirfrauen auf den Fersen. Lena offenbart sich Tom, dessen Liebe stärker als die Pflicht ist – was Louise eifersüchtig beobachtet ...

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Seitenzahl: 828

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Inhaltsverzeichnis
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
PROLOG
Die Gulfstream flog zu tief und zu schnell, so als wollte sie verzweifelt vor dem Gewittersturm fliehen, dessen letzte Ausläufer sie ein Viertelstunde zuvor hinter sich gelassen hatte. Die kleinen, aber äußerst leistungsstarken Triebwerke arbeiteten längst an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. Wo die messerscharf gepfeilten Flügel die Wolken zerteilten, die die Gewitterfront - einer kleinen Armee stummer Kundschafter gleich - vorausgeschickt hatte, da schienen sie manchmal wie die Hitzekacheln einer Raumfähre beim Wiedereintritt in die Atmosphäre aufzuglühen. Dann und wann flogen Funken aus einer der beiden gewaltigen Rolls-Royce-Turbinen. Sie erloschen, bevor sie dem vergänglichen Versteck in den Wolken entfliehen konnten, in dem das sterbende Flugzeug Zuflucht gesucht hatte, aber ihre Zahl nahm nicht wirklich ab. Auch wenn der rasende Fahrtwind - mehr als achthundert Stundenkilometer schnell und eisig wie die Hölle - die Schleppe aus Öl und schwarzem Qualm mit sich riss und verteilte, hinterließ der unsichtbare Schleier eine schmierige Ölspur auf der sonst strahlend weißen Flanke der Maschine. Die Gulfstream lag im Sterben. Zwar gab es niemanden, der ihre Wunden hätte sehen können, aber sie waren trotzdem tödlich.
Im Inneren des Cockpits plärrten zahlreiche Instrumente und akustische Warnhinweise nach Aufmerksamkeit, die sie nie wieder bekommen würden: Höhen- und Geschwindigkeitsmesser, Druckanzeiger und Annäherungsradar und ein Dutzend weiterer Apparaturen, deren genauen Zweck bösen Stimmen zufolge nicht einmal die Konstrukteure des Jets kannten, verlangten alle zugleich, gehört und zufriedengestellt zu werden. Überbrüllt wurde das gesamte elektronische Crescendo von einer hysterischen Männerstimme, die aus dem Funk drang und dem Piloten in immer schwärzeren Farben eine Zukunft ausmalte, in der er nur mit sehr viel Glück lediglich seine Fluglizenz verlor, wenn er nicht sofort das Tempo drosselte und sowohl die vorgeschriebene Mindestflughöhe als auch den richtigen Kurs wieder einschlug.
Nichts davon interessierte den Piloten, auch nicht die - vollkommen ernst gemeinte - Warnung, dass in diesem Augenblick bereits zwei Kampfjets der Bundeswehr von ihrem vierzig Kilometer entfernten Fliegerhorst aufstiegen, die den Befehl hatten, die Gulfstream abzuschießen, wenn weiter jeder Versuch einer Kontaktaufnahme ignoriert und der Kurs auf das Stadtzentrum beibehalten wurde.
Die beiden Männer hinter dem ebenso komplizierten wie kleinen Instrumentenpult reagierten auch darauf nicht. Ein Teil der hektisch blinkenden Lämpchen und Schalter vor dem Piloten erlosch, als Blut aus seiner aufgerissenen Halsschlagader darauf tropfte und einen kleinen Kurzschluss auslöste. Funken sprühten, und ein einzelnes grünliches Flämmchen schlug aus dem Instrumentenpult, erlosch aber, bevor es die automatische Löschanlage aktivieren oder auch nur Alarm auslösen konnte. Der Kurzschluss löste nach einigen wenigen Sekunden jedoch eine weitere Reaktion aus. Ein sanfter Ruck ging durch die Gulfstream, kaum deutlicher als der, mit dem ein gut gefederter Wagen über eine Bodenwelle glitt. Noch mehr Instrumente und Warnlampen erloschen, und auch die hysterische Stimme aus dem Funk verstummte. Ein ganz schwacher Geruch nach schmorendem Gummi drang aus dem Instrumentenpult und wurde von der emsig summenden Klimaanlage weggesaugt, bevor er sich in der Luft verteilen konnte.
Die blonde Frau in dem eleganten Kleid, die auf der anderen Seite der geschlossenen Tür stand, nahm ihn trotzdem wahr, genauso deutlich wie sie die Stimme aus dem Funk gehört hatte und die Schnelligkeit spürte, mit der das Blut des Kopiloten abkühlte; seltsamerweise weitaus schneller als das seines Kollegen.
Kampfflugzeuge? Sie wusste nicht genau, wie schnell diese hier sein konnten und wie viel Zeit dann noch verging, bis sie tatsächlich das Feuer eröffneten, oder ob überhaupt. Aber die Zeit würde auf jeden Fall reichen.
Langsam wandte sie sich von der geschlossenen Tür ab und ging durch die luxuriös eingerichtete Kabine in Richtung Heck. Es war sehr still, obwohl mehr als jeder zweite Platz des Privatfluges besetzt war: der übliche Querschnitt durch Alter und Aussehen, den man an Bord eines Flugzeuges wie diesem erwarten würde. Geschniegelte Geschäftsleute in dezenten Maßanzügen, vor denen teure Edelhandys oder aufgeklappte Laptops standen, genauso geschniegelte Frauen meist schon fortgeschritteneren Alters in nicht annähernd so dezenten Kleidern, ein junges Mädchen, das gerade nicht mehr als Kind durchging und neben einem grauhaarigen Geschäftsmann saß, der gut ihr Großvater sein konnte, sehr viel wahrscheinlicher aber ihr Sugardaddy war, und eine schwarzhaarige Schönheit in einer dunkelblauen Stewardessenuniform. Keiner von ihnen rührte sich, obwohl sich die Gulfstream jetzt immer heftiger zu schütteln begann, so als wäre aus der sanften Bodenwelle jetzt eine von Schlaglöchern verheerte Kopfsteinpflasterstraße geworden. Der Gestank nach Tod und warmem Blut lag in der Luft, so durchdringend, dass selbst die Klimaanlage davor kapituliert hatte, und hier und da tropfte es rot auf den dicken Velours des Bodens, wo die Sitze sich zu sehr mit Blut vollgesaugt hatten, um noch mehr davon aufnehmen zu können.
Was für eine Verschwendung.
»Es wird Zeit«, sagte die blonde Frau.
Die Passagierin auf dem hintersten Sitz war nicht tot. Sie saß nur reglos da und las ein Buch, und das tat sie auch noch weitere zwanzig oder dreißig Sekunden. »Noch zwei Seiten«, sagte sie dann. »Ich will wissen, wie es ausgeht.«
»Keine Chance«, antwortete die blonde Frau.
Noch einmal vergingen vielleicht zehn Sekunden, dann erklang ein leises, enttäuschtes Seufzen, und das Buch wurde gesenkt. Es war ein sehr edles, sehr altes Buch - offensichtlich ein Original -, und das Gesicht dahinter war ebenso schön wie das der Blonden, wenn auch vielleicht eine Spur jünger. Darüber hinaus verband sie nichts. Während die blonde Frau einen eleganten Mantel und darunter ein teures Sommerkleid und farblich darauf abgestimmte Schuhe trug, war sie zwar ebenfalls elegant gekleidet, aber ganz und gar nicht passend für diese Umgebung, sondern im Stil der frühen Zwanziger: Hut, Kleid und Handschuhe aus schwarzer Gaze. Als hätte sie ihre Kleidung auf das Buch abgestimmt, das sie nun nicht mehr zu Ende lesen konnte.
Sie wirkte sehr enttäuscht, aber sie kam nicht mehr dazu, erneut zu widersprechen, denn in diesem Moment wurde der Vorhang, der den Passagierraum von der winzigen Küche und der Toilette trennte, beiseitegeschlagen. Eine dritte Frau kam herein, schwer mit Tüten und Einkaufstaschen beladen, auf denen die Namen der alleredelsten Edelboutiquen und Geschäfte prangten. Sie war jünger als die beiden anderen und wiederum völlig anders gekleidet, angefangen von ihrer strubbeligen Unfrisur bis hin zu den verschiedenfarbigen Schuhen. Durchgeknallt wäre wohl noch die am ehesten zutreffende Bezeichnung gewesen.
Sie musste die Worte gehört haben, jedenfalls hob sie demonstrativ die Einkaufstaschen und machte ein noch demonstrativer enttäuschtes Gesicht, aber die Antwort bestand lediglich aus einem stummen Kopfschütteln.
»Aber wozu sind wir dann denn extra nach Paris gejettet, um einzukaufen?«, beschwerte sie sich.
Diesmal bekam sie immerhin eine Antwort, wenn auch wahrscheinlich nicht die, auf die sie gehofft hatte. »Du hättest den Piloten nicht umbringen sollen. Das war dumm.«
»Ich hatte Hunger!«
»Ja, und jetzt bekommst du sogar noch die Gelegenheit, deinen Durst zu stillen«, sagte die blonde Frau unwillig und machte eine noch unwilligere Geste in Richtung Kabinentür. Sie wollte losgehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und legte lauschend und mit halb geschlossenen Augen den Kopf auf die Seite.
Wortlos drehte sie sich herum, schlug den Vorhang mit einem Ruck endgültig zur Seite und trat an die Toilettentür heran. Sie war verschlossen und sah aus, wie aus massivem edlem Holz gemacht, bestand in Wirklichkeit aber aus einem leichten Verbundmaterial, das für sie nicht mehr als Papier bedeutete.
Die Zeit wurde allmählich knapp, aber sie verwendete trotzdem eine geschlagene Sekunde darauf, das Gesicht gegen das Holzimitat zu pressen und den verlockenden Duft einzuatmen, den sie dahinter wahrnahm, den so unendlich süßen Geruch der Furcht. Sie öffnete die Tür, indem sie das Schloss herausbrach, und ließ sich dann in die Hocke sinken, damit sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem der Stewardess befand, die zitternd in einem Winkel der winzigen Toilette hockte und sie aus Augen anstarrte, die schwarz vor Angst waren.
»Schschsch«, machte sie beruhigend. »Du musst keine Angst haben, Kleines. Es ist alles in Ordnung.«
Die Stewardess begann leise zu wimmern und versuchte noch weiter von ihr wegzukriechen. Die blonde Frau streckte die Hand aus, streichelte der Stewardess vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Wange und tastete dann über das Gesicht der Frau, die Augen und die Stirn.
»Du musst keine Angst haben«, sagte sie noch einmal. »Es ist alles in Ordnung: Niemand wird dir wehtun, das verspreche ich dir.«
Und damit brach sie ihr mit einer einzigen schnellen Bewegung das Genick. Es ging so schnell, dass die Stewardess ganz bestimmt nichts gespürt hatte.
»Jetzt sag bitte nicht, ihre Augen waren einfach zu schön«, sagte die Frau in den Zwanzigerjahre-Kleidern, als sie zu ihr und der anderen zurückkam. Ein wenig Blut klebte in ihrem Mundwinkel. Sie leckte es mit der Zungenspitze auf und machte dann eine knappe Geste zur Tür.
»Los!«
Dem ersten, eher halbherzig geführten Hieb der schmalen Hand in dem dünnen Gazehandschuh hielt die Kabinentür noch stand. Doch dann schlug sie noch einmal mit aller Gewalt mit dem Handballen zu, und dieser Hieb sprengte die Tür nicht nur auf, sondern riss sie komplett aus dem Flugzeugrumpf heraus. Die Gulfstream bäumte sich auf, legte sich auf die Seite und begann zu kreischen wie ein lebendiges Wesen, das Schmerzen litt. Das Licht flackerte, und ein schrilles Heulen klang auf, das dann im Kreischen des hereinströmenden Orkans unterging. So schnell, dass sie einfach von einem Sekundenbruchteil auf den nächsten zu verschwinden schienen, traten die drei unterschiedlichen Frauen hintereinander durch die Tür und begannen ihren anderthalbtausend Meter langen Sprung in die Tiefe.
1
Das Handy war wirklich spitze.
Prinzipiell war Lena so etwas wie das Gegenteil eines Technikfreaks - was weder daran lag, dass sie eine Frau, noch dass sie blond war. Vielmehr beruhte es auf langer, leidvoller Erfahrung, jedwedem Gerät mit mehr als einem Knopf oder Schalter zu misstrauen, weil die meisten einem ohnehin nur dabei halfen, mit Problemen fertigzuwerden, die man ohne sie erst gar nicht bekommen hätte. Andererseits brachte es schon ihr Beruf mit sich, dass sie mit diesem Hightechspielzeug für Erwachsene in Berührung kam - Handys, Laptops, Blackberrys und iPods und in letzter Zeit auch immer häufiger mit diesen albernen Netbooks. Und da sie nicht nur tüchtig, sondern auch klug war, kannte sie sich zwangsläufig mit genau der Technik aus, die sie im Grunde zutiefst verabscheute.
Aber bei diesem Teil hätte sogar sie schwach werden können.
Lena experimentierte jetzt seit drei Tagen mit dem unscheinbaren Smartphone herum - schwarz, ohne eine einzige Taste, nicht viel größer als eine Scheckkarte und auch kaum dicker -, und sie hatte immer noch nicht alle seine Funktionen herausgefunden. Widerwillig musste sie zugeben, dass es wirklich ein Prachtstück war: edel, chic, unglaublich praktisch und vermutlich auch unglaublich teuer. Der Kerl, dem sie es geklaut hatte, würde es bestimmt bitter vermissen.
Gerade hatte sie eine neue Funktion entdeckt, von der sie noch nicht sagen konnte, ob sie sie nun faszinierend fand oder so überflüssig wie einen Kropf: Wenn man auf ein bestimmtes Symbol auf dem berührungsempfindlichen Display drückte, konnte man mit dem Ding sogar fernsehen. Die Qualität war erstaunlich gut, und obwohl der frühere Besitzer dieses Bonzenspielzeugs rücksichtslos genug gewesen war, die dazugehörigen Hightechkopfhörer in einer anderen Jackentasche zu tragen, so dass sie das edle Teil damit beleidigen musste, es mit Zwei-Euro-Kopfhörern aus dem Penny-Markt zu koppeln, war selbst der Ton akzeptabel. Das briefmarkengroße Konterfei einer stylish geschminkten Nachrichtensprecherin berichtete von einem Flugzeugabsturz, der sich vergangene Nacht nur ein paar Kilometer außerhalb der Stadt ereignet hatte. Wie es aussah, war ein Privatjet nur einen knappen Flugzeugwurf vor den Toren der Stadt in einen See gestürzt, und die hochgetunte Pay-TV-Tussi gab mit Leichenbittermiene den üblichen Sermon von sich: keine Überlebenden, die Ursache noch ungeklärt, was für ein unglaubliches Glück die ahnungslosen Bewohner der Stadt doch gehabt hätten, dass die Maschine nicht in einer bewohnten Gegend abgestürzt sei und bla und bla und bla.
Lenas Mitleid hielt sich in Grenzen. Sozialneid war ihr normalerweise fremd - wenigstens behauptete sie das -, aber wer reich genug war, um sich einen Trip in einer gecharterten Gulfstream zu leisten, der sollte eigentlich auch die paar zusätzlichen Scheine hinlegen, um die Mühle anständig warten zu lassen. Vielleicht tat es ihr um die Besatzung ein wenig leid. Schließlich machten die Jungs nur ihren Job - wenn auch einen, bei dem sie im Monat vermutlich mehr verdienten, als sie in einem ganzen Jahr zusammenstehlen konnte.
Jemand rempelte sie so unsanft und mit solcher Wucht an, dass sie beinahe das Smartphone fallen lassen hätte. Hastig machte sie einen halben Schritt zur Seite, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Lena holte Luft zu einer geharnischten Schimpfkanonade, verschluckte sich nun aber endgültig an dem doppelten Kaugummi, den sie seit zwei Minuten so enthusiastisch weich kaute, dass ihre Kiefer schon wehtaten.
Wahrscheinlich war es auch besser so.
Der blonde Typ, der sie angerempelt hatte, besaß zwar nicht den Anstand, sich zu entschuldigen, drehte aber im Gehen den Kopf und sah zu ihr zurück. Lena konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, den Kaugummi herunterzuschlucken, und senkte ihrerseits rasch den Blick, so dass ihr Gesicht unter der Kapuze ihrer schwarzen Fleecejacke verschwand.
Immerhin registrierte sie zweierlei: Der Blondschopf betrachtete sie auf genau die leicht abfällige Art, die sie von einem Yuppie-Arsch in Designerklamotten wie ihm erwartet hätte; der mit einem Straßenköter in abgewetzten Kleidern zusammenstieß, welcher die Unverschämtheit besaß, einfach so auf dem Bürgersteig zu stehen, der doch von Rechts wegen ganz allein anständigen Menschen wie ihm gehörte.
Außerdem war es ein verdammt süßer Yuppie-Arsch.
Lena erinnerte sich rechtzeitig daran, dass sie zum Arbeiten hergekommen war, nicht um auf Männerjagd zu gehen. Sie drehte sich gerade schnell genug weg, um es nicht zu auffällig werden zu lassen. Es war Blödsinn, wegen einer Lappalie Streit anzufangen und sich dadurch womöglich eine gute Gelegenheit entgehen zu lassen. Falls es sie denn überhaupt gab.
Lena war sich längst nicht mehr sicher, dass die Wahl dieses Standortes nicht ein kräftiger Griff ins Klo gewesen war. Sie war sich mächtig schlau vorgekommen, nicht in einem der besseren Viertel der Stadt auf die Jagd zu gehen, sondern in einer ganz durchschnittlichen Gegend. Aber vielleicht war sie ja einen Tick zu schlau gewesen.
Wäre nicht das erste Mal, dachte sie missmutig. Auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht so aussah, schien es sie eher in eine typische Arme-Leute-Gegend verschlagen zu haben, die sich nur redliche Mühe gab, ein bisschen besser auszusehen. Die meisten Häuser waren sauber, es gab keine eingeschlagenen Fensterscheiben oder gar Türen, und auch die Anzahl echter Rostlauben unter den am Straßenrand abgestellten Wagen lag nicht besonders weit über dem Durchschnitt … aber das war nur der äußere Schein.
Wenn man genauer hinsah, dann war der betagte Geldautomat, der in diesem Moment das Objekt ihrer Begierde darstellte der einzige im Umkreis von vier oder fünf Blocks, und das mit Abstand größte Geschäft war die Aldi-Filiale, vor der sie Aufstellung genommen hatte, um besagten Geldautomaten in der Spiegelung der Schaufensterscheibe möglichst unauffällig im Auge zu behalten.
Nicht dass es sich bisher gelohnt hätte. Lena lungerte nun schon seit geschlagenen zwanzig Minuten vor dem Supermarkt herum (was genau genommen so ziemlich alles war, nur nicht unauffällig), und in all dieser Zeit hatte nicht ein einziger Passant den EC-Automaten benutzt. Die Leute in dieser Gegend misstrauten jedweder Technik entweder noch mehr als sie, oder sie hatten ihre Konten allesamt so weit überzogen, dass sie Angst hatten, das Ding würde ihre Karten fressen.
Lena war sich nicht ganz sicher, wonach ihr Blick eigentlich suchte. Jedenfalls war es nicht der EC-Automat. Verwirrt registrierte sie, dass sie die seitenverkehrten Spiegelbilder der Passanten hinter sich beobachtete, und zwar auf eine Art, als suchte sie nach jemand Bestimmtem …
Sie rief sich in Gedanken zur Ordnung. Der Junge hatte wirklich süß ausgesehen (und einen niedlichen Hintern gehabt), aber ihr lief die Zeit davon. Wenn sie mit leeren Händen nach Hause kam …
Nachdenklich wog sie das Smartphone in der Hand, während sie ihren Beobachtungsposten vor den Auslagen des Billig-Discounters aufgab und den Geldautomaten ansteuerte.
Die gestohlene EC-Karte, die sie aus der Tasche zog, war seit zwei Monaten gesperrt, aber sie erfüllte ihren Zweck: Während sie so tat, als würde sie sie in den Automaten schieben und die Geheimnummer eintippen (sie hütete sich, auch nur eines von beidem wirklich zu tun, denn sie wusste, dass ein einziger Tastendruck die versteckte Kamera aktivierte, und sie war nun wirklich nicht scharf auf ihr Pin-up-Foto in den Fahndungscomputern der Polizei), spuckte sie den Kaugummi in die hohle Hand und klatschte den klebrigen Batzen auf die Rückseite des Smartphones. Dann klebte sie es so unter den Rand des Automaten, dass die 4-Megapixel-Kamera das gesamte Tastenfeld aufnehmen konnte. In einer perfekten Pantomime entnahm sie dem Automaten sowohl ihre niemals hineingeschobene Karte als auch das vermeintliche Geld, steckte ihre virtuelle Beute ein und schlenderte auf die andere Straßenseite. Jetzt war die oberste Tugend eines Diebes angesagt: Geduld.
Eine Menge Geduld.
Lena setzte sich rittlings auf ein Mäuerchen, das den Gehsteig von den vertrockneten Resten eines Grünstreifens trennte, der sich unter den Betonpfeilern der Hochbahn dahinzog, und behielt die Treppe zur Haltestelle im Auge, so als wartete sie auf jemanden, der mit der Bahn kam. In Wahrheit beobachtete sie aus den Augenwinkeln ausschließlich den Geldautomaten.
Niemand schien sich für das verdammte Ding zu interessieren, abgesehen von einem vielleicht fünf- oder sechsjährigen Jungen, der eine Zeit lang auf dem Gehsteig davor auf und ab hüpfte und sich schließlich trollte.
Lena sah ihm mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen nach, dessen sie sich selbst nicht bewusst war. Sie liebte Kinder, auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, niemals selbst Kinder in eine Welt zu setzen, in der es schon den meisten Erwachsenen schwerfiel, über die Runden zu kommen. Ihr Blick folgte dem Knirps, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war, und kehrte dann zum Geldautomaten zurück.
Die Hochbahn kam, hielt an und fuhr wieder ab, ohne dass sich auch nur eine Seele für den EC-Automaten interessierte. Lena begann sich allmählich zu fragen, was wohl zuerst aufgeben würde - der Akku des geklauten Handys, der Speicherplatz der eingelegten SD-Karte oder ihre Geduld -, als endlich ein Kunde an den Automaten trat, eine ältliche Frau mit strähnigem grauem Haar, ausgelatschten Schuhen und Kleidern, die ihre besten Tage schon etliche Jahre hinter sich hatten.
Lena seufzte lautlos. Das war niemand, den sie bestehlen würde. Vielleicht hatte sie doch das falsche Jagdrevier gewählt.
Sie beschloss, die nächste Bahn noch abzuwarten und dann ihr Handy zu holen und sich zu verkrümeln, wenn sich nichts änderte. Vielleicht sollte sie doch einen Automaten wählen, der neben einer Joop-Filiale lag, nicht neben einem Aldi.
Die Bahn kam, spuckte eine Handvoll Fahrgäste aus, und Lena verlängerte ihre sich selbst gewährte Frist noch einmal so lange, wie sie brauchte, um in Gedanken langsam bis hundert zu zählen, bevor sie endgültig aufgab. Immerhin hatte sie heute etwas gelernt. Auch wenn sie selbst noch nicht so genau wusste, was.
Gemächlich schlenderte sie über die Straße zurück, betrachtete mit perfekt geschauspielertem Desinteresse die bunten Prospekte mit den Angeboten der Woche im Schaufenster und machte dann mitten im Schritt kehrt, als hätte sie das Schnäppchen ihrer Träume im letzten Moment doch noch entdeckt.
Es waren zwei völlig unterschiedliche Gründe, die sie so jäh die Richtung wechseln ließen. Der eine war das total absurde, aber schon fast körperlich spürbare Gefühl, beobachtet zu werden, nicht beiläufig und desinteressiert wie von einem Passanten oder einem gelangweilten Verkäufer, der aus dem Laden auf die Straße heraussah und sich fragte, wie viele endlose Minuten er noch ertragen musste, bis dieser Tag endlich um war, sondern von etwas Lauerndem, Misstrauischem und Tückischem. Der Instinkt der Diebin, der sie warnte, dass hier irgendetwas schrecklich schiefging. Lena hatte gelernt, auf diesen Instinkt zu hören, einen Instinkt, der sie vermutlich schon ein paarmal genarrt, ihr aber schon ebenso oft den Hals gerettet hatte.
Und zweifellos hätte sie auch diesmal auf die mahnende innere Stimme gehört, wäre nicht im gleichen Augenblick eine Haustür direkt neben dem Geldautomaten aufgegangen und der Russe herausgekommen.
Lena hätte nicht sagen können, woher sie wusste, dass es ein Russe war, aber sie wusste nicht nur das, sondern mit vollkommener Sicherheit auch noch eine Menge mehr. Der Kerl war ein Riese, an die zwei Meter groß und vermutlich drei Zentner schwer - ohne ein einziges Gramm Fett. Vermutlich wohnte er in einer Muckibude - Maßanzug, Rolex und teure Klunker an acht von zehn Fingern und beiden Handgelenken. Ganz kurz sah sie einen rötlichen Schimmer aus dem Haus fallen, bevor dieser Boris die Tür hinter sich ins Schloss zog, und - möglicherweise - ein Stück weiblicher Haut, die nur von sehr wenig schwarzer Spitze verhüllt war. Während sie den Russen in der spiegelnden Fensterscheibe genau im Auge behielt, stellte sie sich die alberne Frage, ob es in dem getarnten Puff neben dem Aldi-Markt wohl auch ein Sonderangebot der Woche gab, aber dann machte ihr Herz einen regelrechten Satz, und sie konnte ihr Glück kaum fassen, als ihr klar wurde, dass der Kerl keinen der geparkten Wagen am Straßenrand ansteuerte, sondern den EC-Automaten.
Gut, das war eine Beute, die sie ohne die geringsten Gewissensbisse ausnehmen konnte. Aufmerksam sah sie zu, wie dieser Igor die Karte in den Schlitz schob, den Automaten um zweihundert Euro in Fünfzigern erleichterte und die Brieftasche dann nachlässig in die Jackentasche stopfte, was fast schon einer Einladung gleichkam. Nicht nur ein Zuhälter, sondern auch noch ein blöder Zuhälter. Dem Idioten tat es nicht nur nicht weh, wenn sie ihn ausnahm, es geschah ihm recht.
Zwei Sekunden nachdem Iwan Iwanowitsch seine Brieftasche eingesteckt und den ersten Schritt gemacht hatte, war sie am Automaten, um das Smartphone zu holen. Das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war, klopfte noch einmal bei ihr an, aber sie hatte jetzt einfach nicht mehr die Zeit, darüber nachzudenken.
Vergiss die ganze Chose, flüsterte eine hartnäckige Stimme hinter ihrer Stirn. Hier stimmt doch was nicht! Hau ab!
Statt auf sie zu hören, schwenkte sie mit einer raschen Bewegung herum, holte zu Stepan Stepanowitsch auf und schnitt ihm dann mit einem blitzschnellen Haken den Weg ab, während sie gleichzeitig den linken Arm hob, um einem nicht existenten Bekannten auf der anderen Straßenseite zu winken. Prompt prallte der Oleg so unsanft gegen sie, dass sie stolperte. Die Hand, die in seine Jackentasche glitt, um ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, hätte er nicht einmal dann bemerkt, wenn sie sich weniger geschickt angestellt hätte.
»He, verdammt!«, polterte sie los, während sie die geklaute Brieftasche unter der Jacke verschwinden ließ. »Pass doch auf!«
Pjotr glotzte sie an, und Lena konnte regelrecht sehen, wie ihre Worte in sein Bewusstsein tröpfelten und den Teil erreichten, der darüber entschied, ob er nur verwirrt sein oder doch so wütend werden sollte, um auf den »Wut«-Knopf zu drücken; der groß und rot war und natürlich auf Kyrillisch beschriftet.
Lena machte sich keine besonderen Sorgen, aber sie spürte trotzdem den bitteren Kupfergeschmack des Adrenalins, das in ihren Kreislauf schoss: Der bullige Kerl war ungefähr dreihundertmal so stark wie sie und konnte sie vermutlich mühelos mit zwei Fingern zu Mus quetschen. Aber Lena wusste auch, wie schnell sie war, und seine Körpersprache war für sie wie ein offenes Buch, das nicht kyrillisch geschrieben war.
Er würde mit der linken Hand nach ihr greifen und gleichzeitig einen Schritt nach rechts machen - schlau wie er nun mal war -, sollte sie erwartungsgemäß in diese Richtung ausweichen, und Lena bedauerte es fast, sein dummes Gesicht nicht sehen zu können, wenn sie einfach unter seiner Pranke wegtauchte und mit Warp sieben davonflitzte.
Dann änderte sich Stanislawskis Gesichtsausdruck, und seine Augen wurden groß, während sich sein Blick auf einen Punkt hinter ihr richtete.
Eigentlich hätte sie sich gar nicht mehr herumdrehen müssen, um zu begreifen, dass sie dieses Mal wirklich besser beraten gewesen wäre, auf ihre innere Stimme zu hören.
Wenn es sie denn je gegeben hatte, so war ihre Glückssträhne jetzt zu Ende.
Dass sie die Situation mit einem einzigen Blick im Bruchteil einer Sekunde erfasste, lag vermutlich daran, dass sie alles schon vorher wahrgenommen hatte; nur hatte sie es in ihrer Gier einfach nicht sehen wollen: den unauffälligen Zivilwagen, der ganz und gar nicht unauffällig neben ihr in zweiter Reihe parkte und damit einen schwarzen Jaguar blockierte, der vermutlich Iljitsch gehörte und aus dem genau in diesem Moment zwei Burschen ausstiegen, die die gleiche Muckibude besuchen mussten wie er; die beiden anderen Burschen, die bisher genauso gelangweilt wie sie vor dem Schaufenster herumgelungert hatten und mit einem Mal ganz und gar nicht mehr gelangweilt wirkten; und last but not least ein dicklicher Mittvierziger mit beginnender Glatze, der zu gut gekleidet war, um zum Fußvolk zu gehören, aber dennoch im Stechschritt auf Boris zuhielt.
Und seinen Begleiter natürlich nicht zu vergessen, den niedlichen Blondschopf von vorhin, bei dem sie sich jetzt sicher war, dass er sie nicht versehentlich angerempelt hatte.
Lena benötigte eine Sekunde, um all das zu begreifen und zu sortieren: dass sie diese dilettantisch aufgestellte Falle nicht nur nicht gesehen hatte, sondern auch noch mit offenen Augen hineingetappt war!
Erst dann kam sie auf die Idee, ihre begonnene Bewegung so abrupt und getreulich fortzusetzen, als hätte das Schicksal für eine Sekunde auf die Pausentaste gedrückt und die Zeit einfach angehalten. Sie tauchte unter Boris’ grapschend ausgestreckter Hand hindurch und wäre vielleicht tatsächlich entkommen, wäre der Russe nicht haargenau im selben Moment ebenfalls aus seiner Schockstarre erwacht und mit der Eleganz einer anfahrenden Planierraupe losgestürmt. Lena wurde von den Füßen gerissen und gute anderthalb Meter zurück zu Boden geschleudert. Sie rollte sich über die Schulter ab, und gerade als sie wieder auf die Beine kam, prallte Rasputin gegen die beiden Zivilbullen und rannte sie einfach über den Haufen. Möglicherweise wäre er damit sogar durchgekommen - der Kerl war tatsächlich so stark, wie er aussah -, aber schon im nächsten Augenblick waren auch die beiden anderen Bodybuilding-Typen herangenaht, und auf dem Bürgersteig brach ein Handgemenge aus, das jedem Jackie-Chan-Film zur Ehre gereicht hätte; nur dass es nicht annähernd so lustig war. Und dass an seinem Ausgang kein Zweifel bestand. Einer gegen vier funktionierte vielleicht in einem Kung-Fu-Film, aber selten in der Realität.
Immerhin gab es ihr die Möglichkeit, das zu tun, was sie schon vor zwanzig Minuten hätte tun sollen, nämlich von hier zu verschwinden.
Blitzschnell wirbelte sie abermals herum, machte einen Schritt und blieb erneut stehen, als ihr Blick dem des heranstürmenden Glatzkopfs begegnete.
Nur dass er nicht den Russen im Visier hatte, sondern sie.
Das war entschieden zu viel der Ehre, dachte sie verdutzt. Okay, die Art, auf die sie ihren Lebensunterhalt und den ihrer Mutter bestritt, würde ihr niemals eine Einladung zur Weihnachtsfeier der Polizei einbringen - aber gleich das halbe SEK aufzufahren, um eine kleine Taschendiebin zu stellen, war dann doch des Guten zu viel. Sie blickte kurz zu Igor zurück, der noch immer sein Bestes tat, um die vier Bullen zu beschäftigen. In was zum Teufel war sie da hineingeraten?
»Bleib mal stehen, Junge«, sagte Halbglatze. »Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Wir sind von der Polizei.«
Was für eine Überraschung, dachte Lena. Eine oder zwei Straßen entfernt begann eine Polizeisirene zu heulen, wie um die Worte des Dicken noch zusätzlich unter Beweis zu stellen. Auf der anderen Straßenseite bildete sich bereits ein kleiner Menschenauflauf. Eine Frau kreischte. Dabei war es doch Iwan, der die Prügel einsteckte.
»Keine Angst«, fuhr das Dickerchen fort. »Wir haben nur ein paar Fragen an dich, Junge.«
Ja, darauf wette ich, dachte Lena. Der Blick des Jüngeren (er sah immer noch genauso niedlich aus wie vorhin, sogar jetzt, wo sie wusste, was er war) sagte etwas anderes. Lena senkte trotzdem den Kopf, schlurfte mit hängenden Schultern auf ihn und seinen schmerbäuchigen Begleiter zu und überschlug dabei blitzartig ihre Chancen. Sie standen nicht besonders gut. Lena wusste, dass sie schnell war, verdammt schnell sogar, aber auch der Blondschopf sah nicht gerade schlapp aus. Mittlerweile hatte sich zu der ersten Sirene eine zweite gesellt, die aus der anderen Richtung näher kam. Außerdem wimmelte die Straße inzwischen von Neugierigen, und irgendein aufrechter Bürger würde sich ganz bestimmt dazu berufen fühlen, ihr ein Bein zu stellen oder etwas ähnlich Unerfreuliches zu tun. Vor ihr war nur noch Glatzkopf und sein gut aussehender Begleiter, und dazwischen die Automatiktür des Aldi, die genau in diesem Moment mit einem in den Zähnen schmerzenden Quietschen vor einer schwer mit Plastiktüten beladenen Frau auseinanderglitt. Perfekt.
Lena wartete, bis die Frau durch die Tür getreten war, machte ihr höflich mit weiter gesenktem Kopf Platz und spurtete im buchstäblich allerletzten Moment los, als die Tür mit einem beinahe noch erbärmlicheren Quietschen wieder zuglitt.
Hinter ihr gellte ein wütender Schrei auf, dann erbebte die Glastür unter einem gewaltigen Anprall. Ganz wie gehofft, hatte der Glatzkopf zu spät begriffen, dass sich der Ausgang nur von innen öffnete.
Sein jüngerer Kollege sah nicht nur besser aus, sondern war auch eindeutig cleverer. Blitzschnell schwenkte er zur Seite und stürmte durch den Eingang herein. Immerhin reagierte die Automatik träge genug, um ihn eine gute Sekunde lang aufzuhalten, und mehr Zeit brauchte sie nicht.
Der Laden war genau so überfüllt, wie die Straße draußen gerade noch leer gewesen war: ein halbes Dutzend Kassen, an denen sich ausnahmslos lange Schlangen gebildet hatten. Noch perfekter. Ohne langsamer zu werden, spurtete sie auf die nächste Kasse zu, sprang mit einem Satz auf das Fließband, surfte mit ausgebreiteten Armen über das Scannerfeld und hinterließ nicht nur eine Bugwelle aus umherfliegenden Cornflakes-Packungen, Toilettenrollen und Tampons, sondern auch einen Chor empörter Schreie und wütender Rufe. Am Ende des Laufbandes setzte sie mit einem perfekten Salto über ein halbes Dutzend Köpfe und mindestens ebenso viele Kopftücher hinweg und kam am Ende der Schlange wieder auf dem Boden auf. Aus dem Fach unter der Kasse schnappte sie sich eine Handvoll Plastiktüten. Eine davon stopfte sie sich hastig unter die Jacke, die anderen verteilte sie großzügig auf dem Boden hinter sich, während sie bereits im Zickzack weiterstürmte und mit dem freien Arm wahllos Lebensmittelpackungen, Shampooflaschen, Tütensuppen, Kinderspielzeug und Hygieneartikel aus den Regalen fegte, um jedwedem Verfolger das Leben möglichst schwer zu machen. Sie sah über die Schulter zurück und wurde mit einem Anblick belohnt, der sie im gleichen Maße mit Schadenfreude erfüllte, wie er sie erschreckte.
Der für die Schadenfreude zuständige Teil amüsierte sich am Anblick des Schmerbauchs, der wie eine lebende Kanonenkugel in eine der Schlangen an den Kassen hineingeknallt und prompt darin stecken geblieben war.
Sein jüngerer Kollege erwies sich tatsächlich als cleverer, oder doch zumindest lernfähig, denn er ahmte Lenas kleinen Stunt von gerade mit beunruhigendem Geschick nach; vielleicht nicht ganz so elegant und ohne den Salto als krönenden Abschluss, aber dennoch schnell genug, um sie zu dem Schluss kommen zu lassen, dass der Anblick seines netten Gesichts und seiner fast katzenhaften Bewegungen es doch nicht wert waren, geschnappt zu werden.
Sie stürmte weiter, verteilte großzügig noch mehr Pampers-Kartons, Plastikflaschen mit Apfelsaftschorle und Aldi-Tüten hinter sich und wurde mit dem zufriedenstellenden Anblick des Blondschopfs belohnt, der zwar rasend schnell zu ihr aufholte, dann aber urplötzlich den Boden unter den Füßen verlor und auf den Rücken knallte. Es ging doch nichts über Plastiktüten auf poliertem Granitboden. Schmierseife war nichts dagegen.
»Polizei!«, brüllte der Glatzkopf hinter ihr. »Verdammt, haltet den Jungen auf!«
In einer Gegend wie dieser war das vielleicht kein besonders cleverer Spruch, einmal ganz davon abgesehen, dass Lena weder ein Junge war, noch sich aufhalten zu lassen gedachte. Mehr schlitternd als laufend, erreichte sie das Ende des Gangs, schwang sich herum, indem sie sich mit der linken Hand an einem Regal festhielt, das zwar bedrohlich schwankte, zu ihrer Enttäuschung aber nicht umfiel. Dieses Mal hörte sie auf ihren Instinkt, der sie auf einmal vor einer Gefahr auf der anderen Seite warnte.
Statt also blindlings um die Ecke zu stürmen, ließ sie sich fallen, schlitterte mit den Füßen voran über den glatten Boden und fegte so eine Gestalt in einem weißen Kittel aus dem Weg, die sofort zu Boden ging. Lena sprang auf die Beine und entdeckte endlich, worauf ihr ganzer verzweifelter Fluchtplan überhaupt gründete: eine breite Doppeltür aus halb durchsichtigem Plastik, über dem ein roter Schriftzug NUR FÜR ANGESTELLTE verkündete. Lena spurtete darauf zu, sah währenddessen ein rotes Aufblitzen auf einem der Wühltische und schlug einen blitzschnellen Haken, um etwas an sich zu reißen und unter ihre Jacke zu stopfen, von dem sie nur hoffte, dass es das war, wonach es aussah.
Das wütende Gebrüll hinter Lena mobilisierte noch einmal all ihre Kräfte, um schneller zu laufen. Mit gesenktem Kopf stürmte sie durch die Schwingtür vor sich und ahnte die Gefahr eindeutig mehr, als dass sie sie sah. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie über einen fast meterhohen Stapel aus Milchkartons hinweg, der so dicht hinter der Tür stand, dass es schon fast an eine Falle grenzte. Sie hoffte, dass ihr Verfolger vielleicht nicht ganz so schnell reagierte wie sie, schlug einen Haken nach links, um einem weiteren Hindernis auszuweichen, das sie regelrecht anzuspringen schien, und stürmte fast blind weiter. Das Lager war nicht nur so vollgestopft und unordentlich, dass es sie an eine Art Hauptquartier der europäischen Messie-Vereinigung erinnerte, sondern auch dunkel. Unter der Decke brannten nur ein paar trübe Energiesparbirnen, und es gab kein Fenster. Außerdem roch es schlecht.
Lena hörte, wie die Plastiktür hinter ihr aufgestoßen wurde, dann ertönte ein lautstarker Fluch und ein länger anhaltendes Poltern und Scheppern. Sie stolperte im Halbdunkel schnell weiter und sah endlich den Notausgang, nach dem sie gesucht hatte. Das vom Gesetz vorgeschriebene Hinweisschild darüber brannte nicht, und Lena schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Leiter dieser Filiale nicht genauso paranoid wie geizig war und den Notausgang aus Angst vor diebischen Angestellten abgeschlossen hatte. Wenn, dann war sie erledigt. Lena glaubte nicht, dass die beiden Bullen sonderlich viel Verständnis für die Art aufbrachten, auf die sie ihre freundliche Einladung ausgeschlagen hatte.
Wie um ihren Befürchtungen neue Nahrung zu geben, nahm das Poltern und Rumoren hinter ihr noch einmal zu, und eine aufgebrachte Stimme rief irgendetwas, was sie im Moment nicht zu verstehen vorzog. Mit einem Satz erreichte sie den Ausgang und hätte vor Erleichterung am liebsten laut aufgeschrien. Die breite Klinke gab unter ihrem Griff nach, die Tür schwang auf, sie stürmte hindurch - und fand sich auf einem winzigen, an drei Seiten von zweieinhalb Metern hohen Mauern umgebenen Hof wieder.
Diesmal schrie sie wirklich laut auf - vor Enttäuschung und Frust.
Sie war einer Falle entkommen, nur um in die nächste zu tappen. Es gab keine Tür, keinen zweiten Ausgang, sondern nur den Notausgang hinter ihrem Rücken und eine Reihe vergitterter schmaler Fenster, die in unerreichbaren vier Metern Höhe über ihr lagen. Blondschopf und sein schmerbäuchiger Kollege brauchten sie nur noch einzusammeln.
Hinter ihr wurde das zornige Gebrüll noch lauter. Rasche Schritte näherten sich. Als sie die schwere Metalltür hinter sich ins Schloss warf, gab es einen dumpfen Knall; vielleicht eine oder zwei Sekunden zu früh, wie ihr der für Logik und das Verpissen zuständige Teil ihres Verstandes klarmachte. Hätte sie den richtigen Moment abgepasst und dem Blondschopf die Tür ins Gesicht geknallt, dann wäre er erst einmal mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen als damit, sie zu verfolgen …
Aber seltsamerweise wollte sie das gar nicht.
Die Behörden - und allen voran die Polizei - waren so etwas wie ihr natürlicher Feind, solange sie denken konnte, aber irgendetwas … war an diesem jungen Polizisten. Sie wollte ihm nicht wehtun.
Was natürlich nichts daran änderte, dass sie es, ohne zu zögern, tun würde, wenn er sie dazu zwang.
Lena schüttelte den Gedanken ab, sah sich noch einmal gehetzt auf dem winzigen Hof um - er maß kaum zehn Schritte in jede Richtung und war womöglich noch unordentlicher als das Lager, vollgestopft mit leeren Kartons, Verpackungen, Paletten und Plastikmüll - und erwog in dem kurzen Moment, den diese Bewegung brauchte, ein halbes Dutzend Ideen, von denen eine verrückter war als die andere: Sie konnte ihre Beute einfach wegwerfen und darauf hoffen, dass die Bullen sie in all dem Chaos nicht fanden (was lächerlich war), damit sie einfach die ebenso Ahnungslose wie Unschuldige spielen konnte; sie konnte sich irgendwo unter all dem Gerümpel und Müll verstecken und darauf hoffen, dass der Blondschopf sie nicht fand (was noch lächerlicher war); oder sie wartete, bis er hinter ihr durch die Tür gerannt kam, stellte ihm ein Bein und versuchte in umgekehrter Richtung durch den Laden zu fliehen - was vielleicht die lächerlichste aller Ideen war.
Aber es gab noch einen Ausweg, der zwar so verrückt war, dass sie den Gedanken nicht einmal in Betracht gezogen hätte, den ein anderer Teil von ihr jedoch einfach tat: Während die Tür hinter ihr aufflog und ein nun wirklich sehr zorniges Gebrüll laut wurde, spurtete sie los, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang mit weit ausgestreckten Armen an der Wand hoch; zweieinhalb Meter glatt verputzter Beton, an dem nicht einmal eine Fliege Halt gefunden hätte.
Anders als ihr Verfolger schrie Lena zwar nicht vor Überraschung und Unglauben auf, als ihre Hände an der Mauerkante sicheren Halt fanden, aber sie war mindestens genauso erstaunt wie er. Sie wusste, wie schnell und geschickt sie war, wenn es wirklich sein musste, aber dieser Sprung hätte nicht einmal ihr gelingen dürfen. Es musste wohl die sprichwörtliche Kraft der Verzweiflung gewesen sein, die ihr diesen unmöglichen Satz doch ermöglicht hatte.
Lena gedachte allerdings nicht, dieses großzügige Geschenk des Schicksals auszuschlagen. Sie konnte sich später noch ausgiebig darüber wundern, wie sie dieses Kunststück fertiggebracht hatte.
Hastig zog sie die Knie an den Leib, als der Blondschopf seine Überraschung endlich überwand und auf die naheliegende Idee kam, nach ihren Fesseln zu greifen, mobilisierte noch einmal all ihre Kräfte und streckte die linke Hand aus, um sich endgültig auf die Mauerkante hinaufzuziehen. Blondie fluchte, weil seine grapschenden Finger ins Leere stießen, und Lena zog sich rasch weiter nach oben. Auch mit der anderen Hand suchte sie nach einem sicherem Halt, schrie aber im nächsten Moment vor Schmerz auf, weil sie das Gefühl hatte, direkt in eine gespannte Bärenfalle gegriffen zu haben. Irgendetwas spießte ihre Hand auf, durchschlug sie ohne die geringste Mühe und schickte Strahlen aus reinem Feuer ihren Arm und die Schulter bis in den Schädel hinauf, wo sie in einer weißglühenden Lohe direkt zwischen ihren Schläfen explodierten. Jedenfalls fühlte es sich so an.
Was sie sah, war nicht annähernd so dramatisch, aber schlimm genug: Irgendein Hirni hatte die gesamte Mauerkrone mit scharfzackigen Glasscherben gespickt - wahrscheinlich der paranoide Filialleiter, der Angst hatte, dass man ihm den Müll aus seinem Hof stahl -, und sie hatte selbstverständlich gezielt in eine dieser Scherben hineingegriffen. Ihre Hand war zwar nicht durchbohrt, aber es tat so ekelhaft weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
Mindestens genauso wütend auf sich selbst wie auf den Vollidioten, der sich diesen Schwachsinn hatte einfallen lassen, ballte sie die Hand zur Faust. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung blinzelte sie die Tränen weg und starrte eine Sekunde lang beinahe verständnislos auf das sonderbar hellrote Blut, das aus ihrer geschlossenen Hand tropfte.
Irgendetwas stimmte damit nicht, dachte sie verwirrt. Es war zu hell und zu dünnflüssig, und obwohl der Schmerz im ersten Moment eher noch schlimmer wurde, kam er ihr zugleich beinahe … angenehm vor.
Nein. Angenehm war das falsche Wort. Das Gefühl war … unheimlich.
Verwirrt starrte sie weiter ihre Hand an, und vielleicht hätte sie es auch noch länger getan, hätte es nicht plötzlich hinter ihr lautstark gescheppert.
Der Blonde war zu ihrem Bedauern nicht dumm genug, ihr Kunststück nachmachen zu wollen und sich dabei vielleicht freundlicherweise den Fuß zu verstauchen, dafür aber erschreckend pragmatisch: Inmitten all des Chaos hatte er tatsächlich eine gelbe Plastikmülltonne entdeckt, die er jetzt mit einem Fußtritt gegen die Wand beförderte, und aus der gleichen Bewegung holte er Schwung; vermutlich um hier den Nijinski zu geben und mit einem einzigen Satz zu ihr heraufzuspringen. Der Bursche war hartnäckig, das musste sie ihm lassen.
Und er würde sie kriegen, wenn sie noch lange hier herumhockte und seine Hartnäckigkeit und die Eleganz seiner Bewegungen bewunderte.
Schnell, aber sorgsam darauf bedacht, sich nicht noch mehr an den Glasscherben zu verletzen, schwang sie sich vollends über die Mauer. Mit einer eleganten Rolle kam sie auf der anderen Seite wieder auf die Beine und hörte eine Mischung aus Schmerzensschrei und Fluch über sich. Offensichtlich war der Blondschopf doch nicht ganz so clever, wie sie geglaubt hatte. Jetzt waren sie schon zu zweit, um ein Wörtchen mit dem Architekten dieser Todesfalle zu reden.
Sie war in einem weiteren, an allen Seiten von Mauern umschlossenen Hinterhof herausgekommen, der allerdings weitaus größer (und aufgeräumter) war und vor allem einen Ausgang hatte: eine schmale, weit offen stehende Durchfahrt, hinter der die Straße auf der Rückseite des Häuserblocks zu sehen war. Noch ein paar Schritte, und sie hatte es geschafft. Sie war sich sicher, dass sie schnell genug rennen konnte, um dem Blondschopf zu entkommen.
Der übrigens genau in diesem Moment mit einem erschreckend eleganten Satz hinter ihr von der Mauer sprang und kaum weniger schnell wieder auf den Beinen war als sie gerade.
»Verdammt, Junge, bleib doch stehen!«, keuchte er. »Du machst es doch nur schlimmer, und wir kriegen dich sowieso!«
Aber bestimmt nicht heute, dachte Lena, wirbelte auf dem Absatz herum und raste los, und statt weiter Unsinn zu reden, stieß der junge Bulle ein überraschtes Keuchen aus, als er offensichtlich zum ersten Mal begriff, wie schnell sie wirklich war.
Lena hatte es nie ausprobiert, weil sie so etwas nun wirklich nicht interessierte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie die hundert Meter unter acht Sekunden laufen konnte, und in einem Moment wie diesem wahrscheinlich sogar noch deutlich schneller. Sie würde ihren Vorsprung verdoppelt haben, noch bevor sie die Durchfahrt erreichte, und auf der anderen Seite hatte sie ihn vermutlich ganz abgehängt.
Oder war tot, je nachdem.
Der Lkw tauchte nicht nur wie aus dem Nichts am anderen Ende der Einfahrt auf, er füllte sie auch so perfekt aus, als wäre er zu keinem anderen Zweck konstruiert worden. Der Fahrer musste ein wahrer Meister seines Fachs sein, denn er jagte nahezu ungebremst in die Einfahrt hinein, obwohl auf beiden Seiten kaum noch Platz für den sprichwörtlichen Bierdeckel blieb.
»Um Himmels willen, Junge - pass auf!«, schrie der Bulle hinter ihr. In seiner Stimme lag echte Panik, ein Gefühl, das dem ziemlich nahekam, was auch Lena in diesem Moment verspürte. Sie war zu schnell. Der Lkw sprang ihr regelrecht entgegen, ein riesiges weiß lackiertes Ungeheuer, das die schmale Durchfahrt ausfüllte wie ein Korken den Flaschenhals, zwanzig Tonnen Stahl, die alles zermalmen mussten, was sich ihnen in den Weg stellte; sie selbst eingeschlossen.
Irgendetwas geschah mit der Zeit. Sie schien plötzlich anzuhalten und zugleich mit zehnfacher Schnelligkeit dahinzurasen, so dass sie alles mit übernatürlicher Klarheit wahrnahm, aber auch vollkommen außerstande war, irgendwie zu reagieren, so als hätte eine stärkere Macht die Kontrolle über ihre Handlungen übernommen, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Der Lkw raste weiter heran. Die Luftdruckbremsen zischten, als der Fahrer die schmale Gestalt in der schwarzen Kapuzenjacke auf sich zujagen sah und ebenso verzweifelt wie vergebens auf die Bremse trat, um den 20-Tonnen-Koloss doch noch zum Stehen zu bringen, ein Laut wie das Fauchen eines wütenden Drachen. Hinter ihr schrie der junge Bulle so gellend auf, als wäre er es, der im nächsten Moment überrollt werden musste, und sie konnte den Ausdruck von blankem Entsetzen im Gesicht des Fahrers hinter der verdreckten Scheibe des Führerhauses erkennen. Etwas in ihr krampfte sich in Erwartung des Aufpralls zusammen. Sie fragte sich, ob es wehtun würde, aber seltsamerweise hatte sie überhaupt keine Angst.
Statt vom verchromten Kühlergrill des Monster-Trucks zerschmettert zu werden, tat Lena etwas ganz und gar Unglaubliches: Kaum fester als ein fallendes Blatt berührte ihr linker Fuß die bullige Stoßstange und katapultierte sie in die Höhe, Finger- und Zehenspitzen fanden Halt im gerippten Chrom des Kühlergrills, den Scheibenwischern und dem getönten Plastik des Sonnenschutzes, dann war sie an der Fahrerkabine hinauf und schlitterte durch den schmalen Spalt zwischen dem Dach und der gemauerten Decke der Toreinfahrt. Es reichte nicht. Es konnte nicht reichen. Die Lücke war kaum fünf Zentimeter hoch, wenn nicht weniger. Sie würde einfach zerquetscht werden, zu roter Schmiere auf dem Wagendach und unter der Decke verteilt.
Stattdessen glitt sie lautlos und so schnell wie ein Schatten über das Dach, turnte mit völlig unmöglicher Geschicklichkeit über den Auflieger und die überdimensionale Stoßstange am Heck des Sattelzuges und kam so leichtfüßig und elegant wie eine Ballerina am Ende eines harmlosen Übungshüpfers auf dem Bürgersteig auf. Funken sprühten. Aus dem Zischen und Wispern in ihren Ohren wurde jäh das gepeinigte Kreischen von Metall, und der Lkw kam mit einem so harten Ruck kaum einen halben Meter hinter ihr zum Stehen, als wäre er gegen eine Mauer geprallt. Jemand schrie, und nicht besonders weit entfernt begann schon wieder eine Sirene zu wimmern.
Lena rannte los.
2
Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgend. Etwas. Stimmte. Hier. Ganz. Und. Gar. Nicht.
Lena machte auf dem Absatz kehrt und hielt auf einen auffallend lackierten Motorroller zu, bei dem einladend der Schlüssel steckte, als sie den blau-silbernen Streifenwagen sah, der die Straße auf ganzer Breite blockierte und gleich einen doppelten Stau produzierte: einen Mob wütender Autofahrer, die nach Kräften ihre Hupen ausprobierten, auf der einen und eine kaum weniger laute (und rasch anwachsende) Menschenmenge auf der anderen Seite, die ihrer Verärgerung darüber Ausdruck verlieh, nur einzeln und nach einer ausgiebigen Gesichtskontrolle passieren zu dürfen.
Statt ihrem Fluchtinstinkt nachzugeben, zwang sie sich, die fremde Maschine vom Ständer zu schieben und sie hinter einem Gemüsekarren vorbeizusteuern, um sie dann hinter dem Streifenwagen zu starten und in aller Ruhe loszufahren. Ihre Gedanken rasten dafür umso schneller. In welches Wespennest hatte sie da gestochen?
Wie es aussah, hatten Schmerbauch und sein gut aussehender Kollege nicht nur die gesamte Polizei der Stadt aufgeboten, sondern auch noch das SEK, die GSG9, den Großteil der Bundeswehr und vermutlich noch ein paar Bataillone Fremdenlegionäre; und vielleicht auch noch ein paar Taliban, die sich ein bisschen Taschengeld dazuverdienen wollten, um neue Bomben zu basteln. Das ganze verdammte Viertel war abgeriegelt, und in der Ferne rückten noch mehr Sirenen an.
Natürlich war ihr längst klar, dass der Aufwand nicht ihr galt. Hier lief eine ganz andere und viel üblere Kiste ab, die vermutlich etwas mit dem Russen zu tun hatte, dessen Brieftasche in ihrer Jacke wie ein Stück weißglühendes Eisen brannte. Sie war im falschen Moment am falschen Ort gewesen, so einfach war das.
Unglückseligerweise half ihr diese Erkenntnis nicht im Geringsten dabei, aus dieser Falle zu entkommen. Unterm Strich war es auch einerlei, ob sie absichtlich oder ganz aus Versehen unter die Räder kam - wenn die Bullen sie erwischten, ob mit oder ohne die geklaute Russenmafia-Brieftasche, dann war ihre Bewährung futsch, und sie würde ihre nächsten beiden Geburtstage in einer gemütlichen Vierbettzelle mit Gittern vor den Fenstern und zwei übergewichtigen Lesben und einer Crack-Süchtigen auf Dauerentzug als Gesellschaft feiern. Herzlichen Dank auch.
Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, tauchte am anderen Ende der Straße ein weiterer Streifenwagen auf. Lena reagierte blitzschnell, schwenkte nach rechts und verschwand in einer schmalen Lücke zwischen zwei Häusern, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.
Das Heulen der Polizeisirene, das sie bisher vermisst hatte, gellte nun umso lauter in ihren Ohren. Mit kreischenden Reifen kam der Streifenwagen kaum ein Dutzend Schritte hinter ihr zum Stehen. Sie zog den Gasgriff auf, und der kleine Roller jagte mit einem so gewaltigen Hüpfer los, dass sie erschrocken wieder Gas wegnahm. Gehetzt blickte sie über die Schulter zurück.
Die Türen des Streifenwagens waren aufgeflogen, und ein verdammt gut aussehender junger Polizeibeamter mit blondem Haar und in leicht ramponierten Designerklamotten stürzte so hastig heraus, dass er beinahe über die eigenen Füße gestolpert wäre. Er fing sich aber sofort wieder und jagte hinter ihr her.
Verdammt, war der Junge gut! Zwar war es der unpassendste aller denkbaren Momente, aber wenn sie schon verhaftet werden würde, dann am liebsten von jemandem wie ihm.
Am allerliebsten allerdings gar nicht.
Lena erreichte das Ende der Gasse, und sofort sank ihr Mut wieder. Vor ihr befand sich zwar kein weiterer Streifenwagen (nicht einmal ein kümmerlicher Schützenpanzer, der mit einer Zwillingsflak auf sie zielte), sehr wohl aber ein Hindernis, das sich als genauso unüberwindlich erwies: Sie hatte den Kanal erreicht. Vor ihr lag ein lebensgefährlicher Hindernisparcours aus Steinen, Bauschutt, Müll und kümmerlichem Grün, der zu einem schmutzig grauen Band hinabführte, auf dem sich nur hier und da ein silberner Lichtsplitter brach … kein Fluchtweg weit und breit. Und in spätestens zehn Sekunden würde Blondie hinter ihr aus der Gasse stürmen.
Sie sprang blitzschnell vom Motorroller ab und steppte nach links, um wenigstens für die letzten zehn Sekunden Freiheit, die ihr noch blieben, unsichtbar zu sein, erinnerte sich daran, etwas Großes und Schwarzes in der Hand ihres Verfolgers gesehen zu haben, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es keine Pistole war. Vermutlich hatte sie ihn wütend genug gemacht, damit er das Ding auch benutzte.
Ihre Gedanken rasten. Bis zum Kanal hinunter waren es kaum drei Dutzend Schritte, aber die Idee, kurzerhand hineinzuspringen und ihm davonzuschwimmen, verwarf sie beinahe schneller, als sie ihr kam. Wasser war nicht unbedingt ihr Element, und wütend wie der Blondschopf mittlerweile war, traute sie ihm durchaus zu, dass er sein Yuppie-Outfit endgültig ruinierte, indem er ihr einfach hinterherkraulte, um sie in der Flussmitte einzuholen und wie eine widerspenstigste Katze zu ersäufen.
Zeit für Plan B.
Von allen verrückten Ideen war das vermutlich die allerverrückteste, aber ihre gesamte Logik und Vernunft hatten bisher nur dazu geführt, dass ihre Situation sekündlich schlimmer wurde. Und was hatte sie zu verlieren?
Ohne langsamer zu werden, riss sie ihre rote Wühltischbeute unter der Jacke heraus, klemmte sich die Aldi-Tüte zwischen die Zähne und schlüpfte im Rennen aus der Jacke. Noch fünf Sekunden. Wenn sie Glück hatte. Keine Chance.
Sie versuchte es trotzdem, jagte, so schnell sie konnte, auf einen der kümmerlichen Büsche am Ufer zu und schlüpfte in einer einzigen, fließenden Bewegung aus Jeans, Sneakers und T-Shirt, und als wäre das allein noch nicht unmöglich genug, gelang es ihr sogar noch, in das gestohlene Sommerkleid zu hüpfen, Hose und Jacke in die Plastiktüte zu stopfen und sich auf das Handy und Iwanowitschs Brieftasche zu setzen, bevor der Blondschopf hinter ihr aus der Gasse gestürmt kam. Der allerletzte Teil ihres Plans funktionierte nicht ganz: Die Aldi-Tüte mit ihrer Diebesmontur verfing sich an ihrem kleinen Zeh, statt wunschgemäß im schmutzigen Wasser des Kanals zu versinken, aber damit musste sie leben. Hinter ihr polterten schwere Schritte aus der Gasse heraus und brachen dann abrupt ab. Das Allerletzte, was sie sich jetzt leisten konnte, war eine hastige Bewegung. Auch wenn sie sich nicht die winzigste Chance ausrechnete, mit diesem Rollentausch durchzukommen. Sie versuchte die Tüte unauffällig mit dem Fuß unter Wasser zu drücken, mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass sich die darin eingesperrte Luft aufblies und das verdammte Ding nur noch auffälliger wurde.
Wieder hörte sie Schritte, die näher kamen, zögerten, sich abermals näherten und dann ganz abbrachen. Sich nicht herumzudrehen und zu ihrem hartnäckigen Verfolger hochzusehen, kostete sie nahezu alle Kraft, die sie noch aufbringen konnte. Sie musste schlicht den Verstand verloren haben, auch nur eine einzige Sekunde lang zu glauben, dass sie mit dieser hirnrissigen Idee durchkam!
»Hi!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Eine sehr angenehme Stimme, deren bloßer Klang ihr ein Kribbeln über den Rücken jagte, das nun wirklich nicht hierher gehörte.
Lena versuchte den Gedanken zu verscheuchen und ballte zusätzlich die Hand zur Faust, um den Schmerz erneut zu entfachen. Es funktionierte. Das dumpfe Pochen in der tiefen Schnittwunde hätte ihr zwar fast die Tränen in die Augen getrieben, vertrieb aber auch alle anderen Gedanken und erinnerte sie daran, was hier auf dem Spiel stand.
Betont langsam drehte sie den Kopf und blinzelte in ein Gesicht hinauf, das ihr noch deutlich näher war, als sie sowieso schon befürchtet hatte.
»Hi«, antwortete sie mit einiger Verspätung und selbst ein bisschen erstaunt, wie beiläufig ihre Stimme klang. Sollte sie noch einmal auf die Welt kommen, dachte sie, dann würde sie ernsthaft eine Karriere als Schauspielerin in Betracht ziehen.
»Hast du hier’nen Typen vorbeikommen sehen?«, fragte der Blondschopf und hob die Hand, um eine Größe anzuzeigen, die so genau der Lenas entsprach, als hätte er nachgemessen. »So groß etwa, Kapuzenjacke, Jeans und ziemlich neue Sneakers?«
Die jetzt gerade untergehen und damit endgültig ruiniert sind. Er war nicht nur süß, sondern offensichtlich auch noch ein ganz ausgezeichneter Beobachter.
Lena tat so, als müsste sie einen Moment lang nachdenken, und reagierte dann mit einer Mischung aus einem Kopfschütteln und einem bedauernden Achselzucken. »Tut mir leid.«
Blondie legte den Kopf auf die Seite und sah sie so durchdringend an, dass ihr schon wieder ein kalter Schauer über den Rücken lief, wenn auch jetzt aus vollkommen anderen Gründen. Er spielte nur mit ihr, begriff sie. Der Uferstreifen war menschenleer, und er war nur wenige Sekunden nach ihr aus der Gasse gestürmt. Dass er einen Jungen in Jeans und schwarzer Jacke verfolgt hatte und nun einem jungen Mädchen in einem dünnen roten Sommerkleid gegenüberstand, mochte ihn ein bisschen verwirren, aber mehr auch nicht. Schließlich war er nicht blöd. Wer so gut aussah, konnte nicht blöd sein.
Lena war ein ganz kleines bisschen enttäuscht. Okay, er hatte sie, aber sich noch über sie lustig zu machen, das … gehörte sich einfach nicht, basta!
Statt jedoch hinter sich zu greifen und in typischer Hollywood-Manier ein Paar verchromter Handschellen aus dem Hosenbund zu ziehen, legte er nur den Kopf auf die andere Seite, sah sie eine weitere Sekunde lang auf dieselbe unangenehm durchdringende Art an, ließ ihren Blick dann endlich los und seufzte; tief und ehrlich enttäuscht. Wenn er schauspielerte, dachte sie, dann eindeutig noch besser als sie.
Unschlüssig sah er sich um, setzte dann dazu an, sich wegzudrehen, und tat es schließlich doch nicht, sondern hob stattdessen die Hand. Was sie in ihrer Panik für eine Pistole gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als altmodisches Funkgerät, wie sie das letzte Mal in einem zehn Jahre alten Fernsehkrimi eines gesehen hatte.
»Hier Tom. Wie sieht’s aus? Habt ihr ihn?«
»Negativ«, drang die verrauschte Antwort aus dem kühlschrankgroßen Museumsstück. Alles andere hätte Lena auch gewundert.
Tom. Der Name passte zu ihm. Wahrscheinlich hieß er in Wahrheit Thomas oder Torsten, aber Tom gefiel ihr eindeutig besser. Tom, der schon wieder den Enttäuschten spielte und sich nachdenklich einmal im Kreis drehte, bevor sich sein Blick wieder auf sie einpendelte und er wahrscheinlich angestrengt darüber nachdachte, an welchem Handgelenk er die Handschelle befestigen sollte. Warum hörte er nicht endlich mit diesem unwürdigen Theater auf?
Lena versuchte unauffällig, die Aldi-Tüte mit ihren verräterischen Kleidern vom Zeh zu schütteln, und begriff gerade noch rechtzeitig, dass ihm die Bewegung unmöglich entgehen konnte. Aber gut, besser eine Aldi-Tüte am Zeh als Handschellen an den Armen.
Tom seufzte noch einmal und noch tiefer, sah sich mit demonstrativ gerunzelter Stirn um und steckte dann das Kreidezeit-Funkgerät ein. Lena schöpfte schon fast Hoffnung (vermischt mit einem ganz leisen Gefühl völlig absurder Enttäuschung), dass er jetzt aufgeben und endlich verschwinden würde, doch stattdessen wandte er sich nun endgültig zu ihr um. Er zog eine Grimasse und hob die linke Hand vor das Gesicht. Der Schnitt darin war nicht annähernd so tief wie der in Lenas Rechter, sah aber übel genug aus.
»Darf ich mich einen Moment zu dir setzen … Ich darf doch du sagen, oder?«
Er wartete die Antwort nicht ab, wischte sich mit der unversehrten Hand den Schweiß von der Stirn und setzte sich mit angezogenen Knien auf einen schmierigen Stein neben sie. Adieu, Boss-Hose. Jetzt waren sie wenigstens quitt, was ihre sauteuren Sneakers anging, die sie vor nicht einmal einer Woche geklaut hatte.
Lena selbst nutzte die Gelegenheit, die Aldi-Tüte endgültig abzuschütteln und die Knie an den Leib zu ziehen, und es funktionierte auch ganz wunderbar. Noch besser wäre es allerhöchstens gewesen, hätte er die blau-gelbe Plastiktüte nicht bemerkt, die langsam vom Ufer wegtrieb und Fahrt aufnahm, als sie in die Strömung geriet. Gottlob war sie zu schnell, als dass er sie noch hätte herausfischen können.
Er versuchte es auch erst gar nicht, sondern umschlang die Knie mit beiden Händen, blickte dann verdutzt auf den schmierigen Blutfleck hinab, den seine linke Hand auf dem weißen Stoff hinterlassen hatte, und starrte schließlich ebenso verwirrt auf Lenas nackte Füße.
»Du siehst ganz schön fertig aus«, sagte sie vielleicht eine Spur zu hastig. Sein Atem ging immer noch schnell und ein bisschen rasselnd, und nicht nur seine Stirn war nass vor Schweiß.
»Bin ich auch«, antwortete er mit einem leicht verlegenen Lächeln. »Anscheinend werd ich langsam alt. Der Mistkerl war einfach zu schnell.«
»Was hat er denn gemacht?«, fragte Lena.
»Wer?«
»Der Mistkerl, der einfach zu schnell für dich war«, antwortete sie.
Tom grinste flüchtig und sah sie noch einmal ausgiebig von Kopf bis Fuß an, wobei sein Blick vielleicht einen Sekundenbruchteil zu lange auf dem zugegeben atemberaubenden Ausschnitt ihres geliehenen Kleides hängen blieb.
»Eigentlich war das niemand Besonderes«, sagte er. »Ein kleiner Straßenköter, mehr nicht. Der arme Hund hatte einfach nur das Pech, an den Falschen zu geraten.«
»An dich?«, stichelte Lena.
Tom schüttelte ungerührt den Kopf. »Er hat’nen russischen Zuhälter beklaut, den wir gerade hochnehmen wollten.«
»Oh«, machte Lena. Was für eine Überraschung.
»Oh«, bestätigte Tom. »Ich wette, der Idiot hatte keine Ahnung, wessen Brieftasche er da mitgehen lässt.«
»Wahrscheinlich war es ihm egal«, sagte Lena.
»Du meinst, dass er uns fast den Einsatz versaut hat?« Tom wiegte den Kopf. »Oder dass er sich mit der Russenmafia angelegt hat? So was kann verdammt ins Auge gehen. Die Burschen verstehen nicht für zehn Cent Spaß.«
Lena zog es vor, gar nichts dazu zu sagen. Im Stillen überschlug sie, wie ihre Chancen standen, wenn sie jetzt die nächste Runde einläutete und einfach aufsprang und sich zu ihrem Motorroller durchschlug. Sie tendierten gegen null.
»Im Grunde ist dieser Junge völlig uninteressant für uns«, fuhr er fort. »Ein kleiner Fisch, nicht der Rede wert.«
»Weil du dich nur für die richtig großen Fische interessierst«, sagte Lena.
»Weil sich die Soko nur für die richtig großen Fische interessiert«, antwortete Tom sehr ernst. Etwas in seinem Blick änderte sich. Lena konnte nicht genau sagen, was, aber es war nicht einmal unangenehm. »Für den Russen, zum Beispiel.«
»Aber ihr habt ihn doch«, antwortete Lena. Sie konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, sich selbst zu ohrfeigen, und fügte hastig hinzu: »Du hast doch gesagt, er hätte euch fast den Einsatz versaut. Also habt ihr ihn erwischt, oder?«
»Den Russen, ja«, antwortete er. »Aber seine Brieftasche wäre beinahe genauso wichtig.«
»Weil ihr eine Spende für die Witwen- und Waisenkasse braucht?«
Tom lachte nicht. »Weil ein paar Dinge darin sind, die für uns von großem Interesse wären. Ziemlich wichtige Dinge. Ich meine: Wenn ich die Brieftasche hätte …« Er sah einen Moment lang in die Richtung, in der die Aldi-Tüte davongeschwommen war. »… oder wüsste, wo sie ist, dann wäre dieser kleine Straßenköter eigentlich nicht mehr so interessant für mich. Vielleicht würde ich ihn sogar laufen lassen.«
Sicher, dachte Lena. Und an Heiligabend kommt der Weihnachtsmann.
Tom sah sie ein paar Sekunden lang an … und dann streckte er plötzlich die Hand aus und sagte: »Tom.«
Lena war einfach zu perplex, um irgendetwas anderes zu tun, als die dargebotene Hand zu ergreifen und zu antworten: »Lena.«
Wie intelligent. Warum nannte sie ihm nicht gleich noch ihre genaue Adresse und die Personalausweisnummer?
Copyright © 2010 by Wolfgang Hohlbein
Nach dem Drehbuch von Jan Berger basierend auf dem Drehbuch The Dawn von Dennis Gansel zur Rat Pack Filmproduktion Wir sind die Nachtim Verleih der Constantin Film www.wirsinddienacht.film.deCopyright © 2010 by Rat Pack Filmproduktion GmbH/ Constantin Film Verleih GmbH Deutsche Erstausgabe im Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Herstellung: Helga Schörnig
eISBN: 978-3-641-05013-9
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