Wir sind nur noch wenige - Guy Stern - E-Book

Wir sind nur noch wenige E-Book

Guy Stern

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Beschreibung

Von Camp Ritchie zum Campus

Als Guy Stern am 14. Januar 1922 in Hildesheim geboren wurde, war die Welt noch eine andere. Ein Krieg war gerade vorbei, ein anderer stand bevor. Heute, 100 Jahre später, blickt er auf ein Leben zurück, das unglaublicher nicht sein könnte: Geflohen vor der Judenverfolgung in Nazideutschland, kehrt er als Ritchie Boy – als Feindaufklärer der US-Army – 1944 nach Europa zurück, entlockt deutschen Kriegsgefangenen Informationen und trägt damit zum Sieg der Alliierten bei. Diese zwei kurzen Jahre, in denen er Persönlichkeiten wie Stefan Heym und Marlene Dietrich begegnet, formen den jungen Guy Stern. Eine glänzende Karriere als weltweit renommierter Germanist folgt.

Als letzte Stimme der Ritchie Boys lässt Guy Stern nun in seiner Autobiographie jene Ereignisse und ein ganzes Jahrhundert wieder lebendig werden.

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Seitenzahl: 378

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Über das Buch

Als Guy Stern am 14. Januar 1922 zwischen zwei Weltkriegen in Hildesheim geboren wurde, war Europa noch das wichtigste und stärkste Kraftfeld der Politik. Heute, 100 Jahre später, blickt er auf ein Leben zurück, das unglaublicher nicht sein könnte: Geflohen vor der Judenverfolgung in Nazideutschland, kehrt er als Ritchie Boy – als Feindaufklärer der US-Armee – 1944 nach Europa zurück und arbeitet für seine neue Heimat und damit gegen die alte, die ihn nicht haben wollte. Doch nach dem Krieg lässt er die Verbindung zu Deutschland nicht abreißen und erweist sich, über seine Rolle als Literaturwissenschaftler hinaus, als Vermittler zwischen den Welten. Seine scharfen Beobachtungen einer Gesellschaft im Wandel und Begegnungen mit Menschen wie Stefan Heym, Marlene Dietrich, Thomas Mann, Lotte Lenya, Günter Grass oder James Baldwin gewähren tiefe Einblicke in die europäische und US-amerikanische Gesellschaft vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Zugleich erzählt Guy Stern das ganz persönliche Jahrhundert eines außergewöhnlichen Lebens.

Über Guy Stern

Guy Stern ist Literaturwissenschaftler und ehemaliger Ritchie Boy. 1937 emigrierte er in die USA und lehrte nach dem Krieg an amerikanischen und deutschen Universitäten. Er ist u.a. der Direktor des Instituts für Altruismusforschung am Holocaust-Museum in Detroit und Präsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Er ist Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Hildesheim, Ritter der französischen Ehrenlegion und erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter das Große Verdienstkreuz der BRD und die Goethe-Medaille. Er ist mit Susanna Piontek verheiratet und lebt in Michigan.Susanna Piontek, geboren 1963 in Bytom/Polen, ist Schriftstellerin und Journalistin. Nach dem Studium an der Ruhruniversität Bochum folgte eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität des Saarlandes und eine Ausbildung zur Journalistin und Rundfunkredakteurin. 2006 emigrierte sie in die USA. Ihre Kurzgeschichten und Gedichte sind in Europa, den USA und Israel erschienen.

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Guy Stern

Wir sind nur noch wenige

Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys

Aus dem Amerikanischen von Susanna Piontek

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Vorwort

Kapitel 1: Ein beinahe idyllischer Anfang

Kapitel 2: Die Nazis ergreifen die Macht

Kapitel 3: Ankunft in Amerika

Kapitel 4: Ein Ritchie Boy im Zweiten Weltkrieg – Kriegsvorbereitungen

Kapitel 5: Im Krieg

Kapitel 6: Nachkriegsjahre – Mein Leben als Student und darüber hinaus

Kapitel 7: Unterrichten

Kapitel 8: Forschung und wissenschaftliche Arbeit

Kapitel 9: Susanna

Kapitel 10: Arbeiten jenseits der Neunzig – Ein Salut an das Holocaust Memorial Center

Kapitel 11: Frankreich-Besuch 2016

Kapitel 12: Auf der Suche nach der Vergangenheit

Kapitel 13: Beifall wie noch nie

Nachwort

Danksagung

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Bildteil

Impressum

Wer von diesem Buch beeindruckt ist, interessiert sich auch für ...

Gewidmet meiner Frau Susanna Piontek, geliebter Gefährtin im Leben, kluger Beraterin und Schriftstellerkollegin

Vorwort

Nachdem ich den unwiderruflich letzten Satz dieser Autobiographie in ihrer ersten, der englischen Fassung beendet hatte, dachte ich über einen passenden Titel nach. Drei kamen in die engere Wahl. Einer beschrieb Ereignisse, die meinem Leben immer wieder eine neue Richtung gaben – und davon gab es reichlich. Nur wenige dieser Vorkommnisse waren vorhersehbar. Ich nannte sie »Zufallsbegegnungen«, und für eine Weile dachte ich, mein Buch würde diesen Titel tragen.

Ich nenne hier nur eine Auswahl an Ereignissen, die diesen Titel so passend erscheinen ließen, um die Berg- und Talfahrt meines Lebens zu beschreiben; dazu gehören zahlreiche Zufallsbegegnungen mit Fremden, die an verschiedenen Wendepunkten auftauchten: Als ich 15 Jahre alt war, rettete mir die Begegnung mit einem gütigen amerikanischen Konsul das Leben. Meine Familie wurde ermordet, nachdem ein engstirniger Rechtsanwalt in St. Louis ihre Rettung vereitelte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden meine Pläne durcheinandergewirbelt. Eines der seltenen Treffen mit einem meiner militärischen Vorgesetzten, der im Zivilleben als Ressortleiter für die New York Times arbeitete, brachte mich nach New York. Ein kurzes Telefonat förderte den Aufenthaltsort eines lange vermissten Cousins zu Tage. Meiner Frau begegnete ich nur, weil man sie in letzter Minute überredet hatte, einen meiner Vorträge zu besuchen. Einen bis dahin unbekannten Zweig ihrer Familie machte ich ausfindig, indem ich mich eines Nachts in der Schweiz nahe Locarno verlief. Als ich diese Autobiographie schrieb, holten mich ferne Kriegserinnerungen ein, ausgelöst durch die Zufallsbegegnung mit einem britischen Gentleman, der früher in Bristol gelebt hatte: Wie wir die größte Invasion in der Geschichte vorbereiteten, tauchte in allen Einzelheiten wieder in meiner Erinnerung auf. Anders als Einstein meint, würfelt Gott – oder ist es das Schicksal? – vielleicht doch.

Eine andere Titelidee lautete: »Von Leben, Leid, Liebe und Literatur«, daran gefiel mir vor allem der wohlklingende Stabreim. Während meines langen und ereignisreichen Lebens bin ich von vielen Weggenossen überreich mit Liebe beschenkt worden. Für viel zu kurze Zeit überwiegend von Eltern und Geschwistern. Mein Leid lässt sich mit dem Holocaust und dem viel zu frühen Tod meines Sohnes Mark und meiner Frau Judy zusammenfassen. Was die Literatur angeht, so tauchte ich schon als Kind in die Bücherwelt ein. Ich wurde Professor für Literatur, und Literatur hielt mich auch als Emeritus fest im Griff. Sprache war die Leidenschaft meines Lebens und Rettungsring zugleich. Die Fähigkeit, mit Worten zu überzeugen, hat sich mein ganzes Leben hindurch in gefährlichen Situationen als hilfreich erwiesen. Zum Beispiel gelang es mir während meiner Zeit als Dekan in den 1960er Jahren, einen eskalierenden Studentenaufstand zu beruhigen, indem ich an die Vernunft der Protestierenden appellierte. Viele Jahre zuvor, 1937, stand ich vor einem US-amerikanischen Konsularbeamten und bat ihn um ein Visum für Amerika als Zufluchtsort. Damals 15 Jahre alt, stammelte ich die richtigen Antworten auf seine Fragen in leidlichem Englisch, erhielt den nötigen Stempel in meine Papiere und entging dadurch dem Schicksal meiner Großmutter und meiner Eltern und Geschwister – sie alle kamen im Holocaust um.

Immer war mir Sprache Stütze und Inspiration, Arbeit und Muße, Leitstern und Liebe. Neue Wörter haben mich stets fasziniert: Als Kind saugte ich sie auf wie ein Schwamm und brachte manchmal die Erwachsenen mit meinem reifen Wortschatz aus der Fassung. Die Besitzer der Zigarrengeschäfte in meiner Vaterstadt Hildesheim, die wir Kinder unaufhörlich wegen Sammelbildern nervten, verscheuchten meine Spielkameraden meistens barsch aus ihren Läden. Aber mich hörten sie oft an, wahrscheinlich, weil meine gehobene Ausdrucksweise sie amüsierte. Und so landeten etliche der begehrten Karten mit Bildern von Autos, Tieren, Länderflaggen und Städten in meinen Alben.

Zwei Quellen speisten meinen unersättlichen Appetit auf sprachliche Leckerbissen: Zum einen las ich mich quer durch alle Regale und verschlang alles von Cowboygeschichten bis zu deutschen Klassikern. Aber wichtiger noch waren die beständigen Gespräche mit meiner Mutter. Mein Deutsch ist im wahrsten Sinne des Wortes meine Mutter-Sprache. Sie war eine unerhört kluge Frau mit einem unfehlbaren Gespür für das richtige Wort. In unserer ganzen weitverzweigten Familie war sie die Gelegenheitsdichterin. Anlässlich meiner Bar Mizwa stellte sie ein umfangreiches Gedichtalbum zusammen, in dem sie liebevoll die Eigenheiten aller Abendgäste – und es waren einundzwanzig – aufs Korn nahm. Auch mich verschonte sie nicht: »Zigarrentabak schmeckt auch aus der Pfeife.« Ich hatte einmal eine der Zigarren, die mein Vater für Kunden bereithielt, aufgedröselt und aus einer tönernen Spielzeugpfeife zu rauchen versucht.

Mein eigenes Bemühen, jemanden zu veräppeln, konnte viel zügelloser ausfallen, so bei der einzigen – und ziemlich beschämenden – Begegnung mit Ausländern in meiner Kindheit. Offenbar waren wir Hildesheimer wohl etwas provinziell und fremdenfeindlich. Eines Tages, ich war 14 Jahre alt, begegnete ich zwei jungen französischen Damen, die elegant angezogen und sorgfältig geschminkt waren. Sie überquerten den Marktplatz vor der St.-Andreas-Kirche. Eine beträchtliche Anzahl von Jugendlichen und Erwachsenen umkreiste sie wie Satelliten. Noch nie hatten wir geschminkte Frauen gesehen, und darum ließen wir um die Wette witzige (nein, ehrlich gesagt: dämliche) Kommentare los. Ich selber bot den Damen meinen Malkasten an. Wenn ich an diesen Jugendstreich zurückdenke, färbt sich mein Gesicht röter, als das Rouge auf den Wangen der beiden armen Französinnen. Aber mein Sprach-Gusto wurde bei dieser Gelegenheit befriedigt. Eine der Damen antwortete mit einem Ausdruck, den ich im Französischunterricht noch nicht gehört hatte. »Ta gueule«, sagte sie zu mir. Als ich den Marktplatz verließ, dämmerte mir, was mir da energisch gesagt worden war: »Halt’s Maul!« Natürlich war ich erst einmal betreten. Aber zuletzt war ich stolz wie Oskar: Ich hatte einen Ausdruck gelernt, der in meiner Französischstunde verpönt gewesen wäre. Nur ein Jahr später wurde ich wie meine jüdischen Mitbürger zum Ziel von Beleidigungen.

Als ich 14 Jahre alt wurde, nahmen meine Eltern mich zu Stücken für Erwachsene in unserem Stadttheater mit. Ich kann mich noch immer an vereinzelte Szenen erinnern, so aus einem Drama mit dem Titel Onkel Bräsig. Ich weiß noch, dass der Darsteller der Titelrolle immer dann aufs Hinterteil plumpste, wenn man es am wenigsten erwartete, und ich habe die komische Aufforderung behalten, die er dauernd seinem Freund an den Kopf warf: »Dass du die Nas’ ins Gesicht behältst!« Ich begriff nicht, warum sich das Publikum an dieser Stelle vor Lachen ausschüttete. Aber da mag etwas Zweideutiges im Text oder im Spiel gewesen sein, das sich dem Verständnis des Vierzehnjährigen entzog.

Kein Zweifel, meine Besuche im Hildesheimer Stadttheater waren eine gute Vorbereitung für ein Leben als Literaturprofessor. Hätten meine Eltern weiterleben dürfen – sie wären stolz darauf gewesen, welchen Beruf ich ergriff und was ihre prägende Rolle dabei gewesen war. Das macht mich natürlich traurig, aber unendlich viel mehr quält es mich, wenn ich mir vorstelle, wie sie, die die deutsche Sprache liebten, ebendiese Sprache wahrscheinlich in den Momenten vor ihrem Tod durch Mörderhand in ihrer niederträchtigsten Form zu hören bekamen. Ein Satz, den mein verstorbener Kollege Robert Kahn von der Rice-University prägte, drückt das kurz und bündig aus: »Ich hasse die Sprache, die ich liebe.«

Ich kann nur mutmaßen, wie meine Eltern oder mein Bruder Werner oder meine Schwester Eleonore »liquidiert« worden sind, um es im Nazi-Jargon zu sagen. Auch Werner wird wohl bei seinem Tod die geliebte und verhasste Sprache gehört haben. Es war das Todesurteil für ihn mitsamt seinen jugendlichen Traumvorstellungen. Als ich mich von dem knapp Elfjährigen verabschiedete, konnte ich seine Talente noch gar nicht ermessen. Aber vor Jahren erhielt ich den Brief eines mir unbekannten Arztes im Ruhestand aus dem Rheinland: »Ich war ein Klassenkamerad Ihres Bruders am Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Ich muss Ihnen sagen, im Sport war Ihr Bruder eher linkisch. Aber immer, wenn unser Deutschlehrer wünschte, dass ein Gedicht vollendet vorgetragen werden sollte, rief er Werner auf. Er verhalf selbst schlechten Gedichten zu Glanz.« Mehr als 70 Jahre, nachdem ich meinen Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, las ich diesen Brief voll Verzweiflung. Es scheint, dass Werner eine eindeutige Begabung hatte, die sich nie erfüllen durfte. Wir beide waren von unseren Eltern so sorgsam gefördert worden. Manchmal schäme ich mich dafür, der einzige Überlebende meiner unmittelbaren Familie zu sein – und somit der Einzige, der das Vermächtnis meiner Eltern fortführen kann.

Für die amerikanische Ausgabe dieses Buches entschied ich mich letztendlich für den Titel »Invisible Ink«, also »Unsichtbare Tinte«. Das muss ich erklären: Wenn es einen heftigen Einschnitt in meinem Leben gab, dann gewiss die Machtergreifung der Nazis 1933. Ich war damals elf Jahre alt. Als Ende Januar die bittere Nachricht ausgegeben wurde, dass ein Diktator und Demagoge nun unser Heimatland regieren würde, richtete mein Vater eine Ansprache an seine kleine Familie. Er hielt nur selten feierliche Reden. Als unverbesserlicher Optimist neigte er nicht zur Verzweiflung, aber er war auch nicht naiv. »Auf uns kommen schwere Zeiten zu«, sagte er. »In den nächsten Jahren wird es zwingend notwendig sein, keinerlei Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Wer auffällt, fällt rein. Wir alle müssen sein wie unsichtbare Tinte. Bleibt unauffällig, bis wir wieder in Erscheinung treten und uns zeigen können, wie wir sind.«

Ich befolgte seinen Rat während der Jahre von 1933 bis 1937, die ich noch in Deutschland unter der Nazi-Herrschaft erlebte. Ja, selbst noch, nachdem ich in die USA gekommen war, das Land der Freiheit, konnte ich mich nicht davon lösen. Wenn man erst einmal eine Tarnkappe aufgesetzt hat, ist es schwierig, sie wieder abzunehmen. Das gelingt nur schrittweise. Einige wichtige Schritte sind mir in Erinnerung geblieben. Zum ersten Mal konnte ich die Tarnkappe einen Tag nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten etwas lüften: Als wir auf der Bahnfahrt von New York nach St. Louis in Chicago umsteigen mussten, bummelten wir in der Wartezeit kurz durch die Stadt. Dabei kam ich zum Maxwell Market. Das war eine Art Flohmarkt, auf dem sich hauptsächlich jüdische Händler im Kaftan tummelten. Ihre freie und lockere Art, begleitet von gutmütigem, lautem Lachen, ließ mich zum ersten Mal ahnen, was das amerikanische Versprechen »Freiheit für alle« bedeutete. Noch ein Stück weiter konnte ich meine Tarnkappe während meiner Jahre an der Soldan High School in St. Louis absetzen. Da nahm mich einmal mein Sozialkundelehrer, »Doc« Bender, ein feinfühliger frommer Jude, kurz beiseite: »Ich freue mich, dass du über meine Scherze lächelst. Aber du darfst ruhig laut lachen, wie der Rest der Klasse auch.« Das merkte ich mir gut.

Langsam änderte ich mich, doch mir war bewusst, dass ich ein Stück weit immer noch etwas vortäuschte oder spielte, wenn ich mich als aufgeschlossener Teenager gab. Aber eine Woche vor meinem Abschluss an der Highschool im Juni 1939 wurde ich weit selbstbewusster. Ich konnte nicht zum Abschlussball gehen, weil ich an jenem Abend als Abräumkellner im Chase Hotel arbeiten musste. Der Ball fand ebenfalls im Chase Hotel statt, in einem der Säle direkt neben »meinem« Fiesta Grill. Ich brachte tatsächlich die Frechheit, Unverfrorenheit, Chuzpe auf, in Hilfskellner-Uniform in den Ballsaal zu marschieren. Das war mindestens so auffällig, als wäre ich im Sportleibchen meiner Highschool erschienen.

Meine Jahre in der Armee und als Hochschullehrer taten ihr Übriges. Sowohl ein Feldwebeldienstgrad als auch ein Dozent, der Erstsemester unterrichtet, sollte besser lebenszugewandt und durchsetzungsfähig sein. Und so verschwanden an mir die letzten Spuren »unsichtbarer Tinte«, die mein Vater mir als Überlebensmaxime eingebläut hatte. Oder doch nicht?

Nein: Der letzte Schritt war, dieses Buch zu schreiben. Ich neige zur Zurückhaltung, aber wenn man eine Autobiographie schreibt, kann man sich schlecht verbergen. Daher ist es in Ordnung, wenn ich mich auf den folgenden Seiten nicht an diese Ermahnung halte. Und ich hoffe inständig, dass kommende Generationen nicht unter einer Tyrannei leben müssen, die es erforderlich macht, wie unsichtbare Tinte zu sein.

Wenn ich mich aber selbst von den letzten Spuren dieser unsichtbaren Tinte dadurch befreien konnte, dass ich meine Lebenserinnerungen in englischer Sprache aufschrieb, dann erscheint es mir auch angemessen, die deutsche Übersetzung dieser Memoiren unter einem anderen Titel folgen zu lassen: »Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys«. Als ich 1943 mit Kameraden in Camp Ritchie, Maryland, auf einen Kriegseinsatz in Europa vorbereitet wurde, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass wir »Ritchie Boys« so viele Jahrzehnte später einige Berühmtheit erlangen sollten. Dass erst spät über uns gesprochen wurde, lag auch an unserer Schweigepflicht über den Einsatz, an die wir nun nicht mehr gebunden sind. Meines Wissens gibt es von den ursprünglich etwa 15 000 Ritchie Boys (es waren kaum Frauen dabei) nicht einmal mehr 200. Wir sind in der Tat also nur noch wenige. Umso größer erschien mir die Verpflichtung, als einer der letzten Veteranen der Truppe Zeugnis abzulegen über ein außergewöhnlich langes, ereignisreiches Leben. Nach dem Krieg wurde ich Hochschullehrer und bewegte mich auf dem Campus so mancher amerikanischen und deutschen Universität. Als Germanist machte ich die Pflege der Exilliteratur zu meinem Herzensanliegen. Im Krieg wie im Frieden ließ Deutschland mich nicht los, auch nicht als amerikanischen Staatsbürger. Und ich hoffe, in meinem langen Leben zu einem Vermittler und Versöhner zwischen beiden Völkern geworden zu sein.

Kapitel 1

Ein beinahe idyllischer Anfang

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert galt die Entfernung, die die Heimatstädte meiner Eltern trennte – etwa 250 Kilometer –, als gewaltig. Die Orte lagen in einer ländlichen Umgebung, und der Weg zwischen ihnen war beschwerlich. Es überrascht mich selbst heute noch, wenn sich im Laufe eines Gesprächs, ob in den USA oder Deutschland, Erkennen in den Zügen meines Gegenübers spiegelt, wenn ich die Ortsnamen Vlotho in Westfalen oder Ulrichstein in Hessen erwähne. Vlotho, der Geburtsort meiner Mutter, breitet sich entlang der Weser aus. Nur eine Straßen- und eine Eisenbahnbrücke überspannten den Fluss; das ist immer noch so. Und Ulrichstein konnte sich, wie heute, der Tatsache rühmen, dass es »Hessens höchstgelegene Stadt« und sein Naturpark Hoher Vogelsberg eine »Grüne Lunge« sei.

Und doch trafen sich mein Vater und meine Mutter trotz Entfernung und Unzugänglichkeit, sonst hätte diese Chronik nicht das Licht der Welt erblickt. Ich könnte weder berichten, dass ich mit 14 die Weser durchschwommen, noch, dass ich den Vogelsberg erklommen habe, getrieben von väterlichem Ehrgeiz bezüglich meiner körperlichen Entwicklung.

Wie trafen sich denn Hedwig Silberberg, Tochter eines erfolgreichen Kaufmanns aus Vlotho, und Julius Stern, Sohn des Besitzers eines kleinstädtischen Bekleidungsgeschäfts? Mein Vater wurde von seinem älteren Bruder Hermann großgezogen, nachdem ihr Vater starb, als Julius erst zehn Jahre alt war. Zunächst besuchte er Klassen in der Dorfschule, ergänzt durch jüdischen Unterricht in einem Wohnhaus von 1849, gleich neben einem anderen Gebäude, damals und heute kurzerhand »Das Judenbad« genannt.

Papa wechselte später für zwei Jahre auf eine Oberschule in einer etwas größeren Stadt, zeigte aber wenig Neigung dafür. Die Grundlagen für seinen späteren Beruf erlernte er dadurch, dass er in dem Geschäft aushalf, das sein Bruder Hermann weiterführte. Er kannte sich aus mit Textilien! Ich wäre niemals eingedrungen in das geheimnisvolle Vokabular von Stoffen und Kleidungsstücken wie Beiderwand, Paletot und Schlüpfer, wenn mein Vater diese Ausdrücke nicht ständig benutzt hätte.

Für meinen Vater war die Mitarbeit bei seinem Bruder natürlich nur ein Anfang. Er brauchte mehr kaufmännische Erfahrung. Einer von Onkel Hermanns Geschäftsfreunden, ein Handelsreisender, wusste von einer offenen Gesellenstelle im Textilgewerbe im Kaufhaus Rüdenberg im malerischen Vlotho. Papa mochte den Ort, erzählte er mir, und seine spätere Position als Erster Verkäufer sagte ihm zu. Aber das war nicht der einzige Grund.

Hedwig war der Augenstern von Israel und Rebekka Silberberg. Sie hatten sehnsüchtig die Ankunft einer Tochter erwartet, nachdem ihnen in relativ schneller Folge drei stramme Jungen geboren worden waren. Hedwig und Julius trafen sich gewissermaßen über den Ladentisch hinweg: Meine zukünftige Mutter machte einen kleinen Einkauf bei Rüdenberg, und mein zukünftiger Vater bediente sie. Fotos bezeugen, dass sie ein glückliches, attraktives Paar waren, gut aufeinander eingespielt, doch uns Kindern haben sie nie von ihrer Romanze erzählt. Es wäre ihnen nicht im Traum eingefallen, über Intimes zu sprechen. Es war eine Zeit, in der der steife Kragen, den mein Vater an fünf oder sechs Tagen in der Woche trug, nicht nur ein Kleidungsstück war, sondern auch ein Symbol für soziale Tugendhaftigkeit. Jedenfalls lässt sich beweisen, dass das Treffen über den schicksalhaften Ladentisch hinweg ein glückliches Vorzeichen für die beiden darstellte: Kein halbes Jahr danach besaß mein Vater die Kühnheit, sich einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis zu stellen.

Das Hindernis hieß Israel Silberberg. Mein ehrwürdiger Großvater war die Verkörperung eines deutschen Patriarchen, dessen Wort in der Folgezeit des Ersten Weltkriegs Gesetz war. Der Kaiser hatte abgedankt, doch die unanfechtbare Autorität der Familienoberhäupter blieb. Macht und Ansehen zierten nun diese kleinen Herrscher. Und da Macht kein Vakuum duldet, hatte nun in allen Familienangelegenheiten mein Großvater das Sagen. Der war zwar vom Temperament her ein kleinerer Tyrann als der Kaiser, aber sein Wille war dennoch Gesetz. Hatte er nicht seinen jüngsten Sohn Benno nach Amerika verbannt, als der Heranwachsende in seiner jugendlichen Aufsässigkeit frech geworden war? Und nun wollte mein künftiger Vater ihn um die Hand der Augapfel-Tochter bitten, die er erst einige Jahre zuvor auf eine Höhere Töchterschule geschickt hatte? Das war ein Schultyp der oberen Mittelschicht, in dem edle Fächer wie Kunst und Literatur mit Hauswirtschaftslehre kombiniert wurden. Soweit ich mich erinnere, lag Mutters Schule im nahe gelegenen Bielefeld. Ein Buch über Mädchenerziehung in dieser Zeit deutet darauf hin, dass solche Schulen nicht sehr anspruchsvoll waren. Unerschrocken trat mein Vater dem Patriarchen entgegen – und der gab tatsächlich seinen Segen zur Eheschließung. Zwei Jahre später erblickte ich das Licht der Welt im katholischen Krankenhaus von Hildesheim. Meine Begegnung mit dem Katholizismus setzte sich fort, als ich mein Studium an einer Universität der Jesuiten begann.

Diese einleitenden Sätze zu schreiben, war einfach: Ich konnte mich dabei auf die Schilderungen meiner Eltern, Verwandten und Freunde verlassen. Doch auf meine eigenen Erinnerungen zurückgeworfen, trat mir bald eine Erkenntnis wieder ins Bewusstsein, die Goethe vor mehr als 200 Jahren verkündet hat. Er bezeichnete seine Rückschau als »Fragmente einer großen Beichte«. Auch ich bedauere, wie zersplittert meine Erinnerungen mitunter ausfallen, und ich gebe zu, dass sie gelegentlich Geständnissen ähneln, die natürlich nie weit entfernt sind von Selbstreflexion. Und ein Geständnis gleich vorweg: Der Mörtel, der die Fragmente zusammenhält, besteht aus Vermutungen, Notbehelfen und Schlussfolgerungen.

Von Beginn an war das Leben meiner Eltern von unermüdlicher Arbeit geprägt. Und ihre Mühe zahlte sich aus – bis die Inflation zuschlug. Jahre später erzählte mir meine Mutter, wie es dabei zugegangen war: »Ich stand an der Tür, schon in Hut und Mantel, Einkaufstasche in der Hand, und wartete darauf, dass dein Vater nach Hause kam. Er rannte die Stufen herauf, drückte mir seinen Tagesverdienst in die Hand, und ich lief zum Markt. Nach einer Stunde wäre das, was dein Vater eingenommen hatte, schon nichts mehr wert gewesen.«

In schlechten wie in guten Jahren behielt meine Mutter ihre Sorgen für sich und auch mein Vater machte sich nur selten Luft. Wir drei Geschwister, geboren in Hildesheim, hatten nie das Gefühl, uns mangele es an etwas. Das lag unter anderem daran, dass meine Mutter einfache Speisen in Leckerbissen verwandeln konnte. Gelegentlich stellte sie mit Milch gefüllte Suppenteller ans Fenster, bis Sauermilch daraus geworden war. Sie fügte etwas Obst und eine Schicht Zucker hinzu, und das Saure und Süße vermischte sich zu einem hervorragenden Abendessen. Das gelang ihr ganz ohne einen modernen Kühlschrank, so, wie er heute selbstverständlich ist. Auch konnte sie kulinarische Hexereien allein durch Worte bewirken. Wenn mein Vater manchmal mit übrig gebliebenen Butterbroten von der Arbeit nach Hause kam, benutzte meine Mutter die märchenhafte Bezeichnung »Hasenbrot« dafür: Brot, das man einem Hasen abgejagt hatte. Mein Bruder und ich wetteiferten um solche Zauberhappen. Mit Liebe schmeckt alles.

Meine Eltern kämpften sich nach oben. Eine Anschaffung macht sichtbar, wie klein die Schritte waren, in denen sich ihr mühsamer Aufstieg vollzog: Als sie die Möbel für ihre Hildesheimer Wohnung kauften, gönnten sie sich nur einen bequemen Polstersessel. Beide liebten es, sich an Feiertagen in ihm auszuruhen – und so beschlossen sie, sich abwechselnd in seine einladenden Arme sinken zu lassen. Aber als Vaters Geschäft nach den Inflationsjahren einträglicher wurde, warfen sie wirtschaftliche Bedenken über Bord, kauften den gleichen Sessel noch mal und feierten ein Fest, als er geliefert wurde.

Selbstverständlich wurde 1938 das gesamte Eigentum meiner Familie, wie das aller Juden, von der Nazi-Regierung beschlagnahmt, und meine Familie wurde in ein sogenanntes Judenhaus abgeschoben. Shakespeare verdanken wir die poetische Bemerkung, dass »der, der meine Geldbörse stiehlt« (oder aber meine Sessel), »einen Dreck stiehlt«. Aber kann man das so gelassen sehen, wenn so viel Schweiß für die »bloßen« Gegenstände vergossen wurde?

Wenn ich unseren Wochenablauf rekonstruiere, kann ich heute ermessen, wie sehr meine Eltern sich abrackerten.

Papa stand als Erster auf, kurz vor sechs, Mutter ein paar Minuten später. Sie steckte die belegten Brote, die sie am Abend zuvor eingepackt hatte, in seine Manteltaschen, mahlte schnell einige sorgfältig abgezählte Kaffeebohnen und schenkte ihm ein Glas frisch gepressten Orangensaft ein. Lange bevor Säfte in Deutschland alltäglich wurden, hatte sie darüber gelesen, wie gesund das sei. Mein Vater trank den Saft und eine Tasse Kaffee zu seinem Marmeladenbrot und machte sich auf den Weg. Er nahm zwei Koffer mit, einen großen und einen kleinen, die mit Stoffmustern der Modesaison gefüllt waren. Diese Proben legte er Stammkunden wie auch möglicher neuer Kundschaft vor. Für die kleinen Töchter besonderer Kunden nahm er auch eine Reihe von Stoffmustern doppelt mit. Aus diesen »Puppenlappen« ließen sich elegante neue Kleider für die Puppengarderobe schneidern. Und schwer waren diese Koffer! Kurz bevor ich – nach den Regeln der jüdischen Religion – im Alter von 13 Jahren zum Mann wurde, wollte ich beweisen, wie männlich ich schon war. Aber ich fand heraus, dass ich jeden Muskel anspannen musste, um einen dieser Koffer auch nur ein paar Schritte weit zu tragen. Da halfen meine ganzen Turnübungen nicht. Vater, knapp fünfzigjährig, kleingewachsen, schleppte beide Koffer vier Stockwerke runter, drei Straßen weit zur nächsten Straßenbahnhaltestelle und weiter zum Bahnhof. Dort bestieg er einen Zug nach Elze, Gronau oder Nordstemmen – Ortschaften, die auch heute noch auf Karten des Landes Niedersachsen wenig Raum einnehmen. Ich begleitete ihn ein- oder zweimal während der Schulferien auf so einer Fahrt und hatte Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten, vor allem, wenn er von einem Bauernhof zum nächsten raste. Einmal schlug ich ihm vor, ein Auto zu kaufen. »Das würde unseren ganzen Gewinn verschlingen«, antwortete er. Was immer man auch sonst über die Weimarer Republik sagen kann – die Züge verkehrten erfreulicherweise pünktlich!

Vater kehrte in der Regel zwischen sechs und sieben Uhr abends nach Hause zurück, es sei denn, er war in Orten wie Gronau, wo er zahlreiche Kunden hatte. Dann übernachtete er in einer Pension. Ansonsten tauchte er kurz vor dem Abendessen bei uns auf. Werner und ich aßen dann zusammen mit unserem Dienstmädchen in der Küche, und unsere Eltern nahmen die Abendmahlzeit alleine ein. Es gab Suppe, Fisch, Kartoffeln und Gemüse, zubereitet nach ständig wechselnden Rezepten. Natürlich mussten sich beide nicht nur körperlich stärken, sondern auch geistig erholen. Mama hatte in der Zwischenzeit den Haushalt bewältigt, zwei Jungen gezähmt und ihre Hausaufgaben beaufsichtigt, und nicht zuletzt hatte sie sich um Kunden gekümmert, die während eines Stadtbummels bei uns vorbeischauten, anstatt die regelmäßige Ankunft unseres Vaters bei ihnen zu Hause abzuwarten.

Den Nachtisch durften wir gemeinsam mit den Eltern essen. Papa erkundigte sich, wie es uns in der Schule ergangen war, und dabei ging es nicht darum, ob sich meine Noten in Algebra verbessert hätten. Er wollte auch wissen, ob ich immer noch jeden Tag mit diesem garstigen Klassenkameraden Heuer raufte. Er zahle kein Schulgeld dafür, knurrte mein Vater, dass ich zwischen den Schulstunden Mitschüler verhaue oder von ihnen verhauen werde und mit einem blauen Auge heimkomme.

Nach dem Gottesdienst am Samstag erledigten Mama und Papa den Versandhandel des Geschäfts. Sie packten die Waren ein, die während der Woche bei Papa bestellt worden waren. Zu dritt trugen wir sie nach unten auf einen »firmeneigenen« Handwagen. Den zogen Vater und ich zu einem Gasthaus, das etwa eineinhalb Kilometer entfernt lag. Dort wurden die Pakete dem Fuhrmann ausgehändigt, der am Wochenende seine endlosen Runden zwischen Hildesheim und den umliegenden Dörfern vorbereitete. Er fuhr mit einem Pferdewagen umher, später bediente er sich der Pferdestärken eines Lastwagens. Anscheinend hatte er ein gutes Auskommen, weil er die Postgebühren unterbot. Das war natürlich auch der Grund, warum Papa ihm seine Pakete mitgab.

Sonntags unternahm Vater mit der Familie Ausflüge. Er folgte damit einem stadtweiten Brauch, und so wurden unsere Streifzüge immer wieder durch Begegnungen mit Nachbarn oder Mitgliedern der jüdischen Gemeinde unterbrochen. Werner und ich wurden mit Erwachsenen-Klatsch berieselt, den wir vor dem Einschlafen zu kapieren versuchten. Aber das Hauptvergnügen war die sonntägliche Kaffeestunde in einem der Cafés im Freien, am Ende eines strammen und ausgedehnten Spaziergangs durch den Park. Papa bestellte exotische Kuchen, zum Beispiel mit Erdbeeren und Schlagsahne, dazu Kaffee und Kakao. Zur Abwechslung packte Mama belegte Brote für unser sonntägliches Abendessen ein. Wir nahmen sie mit in einen nahe gelegenen Gasthof, bestellten Getränke dazu und kamen erst Stunden nach unserer üblichen Schlafenszeit nach Hause. Ich finde diesen Brauch reizvoll; in Münchner Biergärten darf man immer noch mitgebrachtes Essen verzehren. Und das tun meine Frau und ich, wenn wir uns dort mit Freunden treffen.

Montags begann der Alltagstrott immer wieder von Neuem. Er unterschied sich nicht wesentlich von dem meiner jüdischen Klassenkameraden – wobei sich natürlich etliche Familien, die sehr viel finanzkräftiger waren, einen aufwendigeren Lebensstil erlauben konnten.

Eine meiner Klassenkameradinnen, ein Mädchen aus einer Familie der Oberschicht, machte sich über unsere Lebensweise als »tägliches Milchreismampfen« lustig. Ich wusste es besser: Der Milchreis enthielt auch manche herrlichen Früchte.

Meine Eltern gehörten einem Kulturverein für Theaterbesucher an, der Zweigstellen in praktisch allen deutschen Städten hatte. Als ich über typische Kindervorstellungen wie Peterchens Mondfahrt hinausgewachsen war, kauften meine Eltern für ihren Sohn, der schon damals das Theater liebte, Karten zusätzlich zu ihrem Abonnement. Nachdem ich Friedrich Schillers Wilhelm Tell gesehen hatte, las ich das Drama immer wieder, bis ich ganze Passagen deklamieren konnte, sehr zum Leidwesen meines Vaters, dem manche Verse des Dramatikers zu hochgestochen waren. Meine Eltern nahmen mich auch zu musikalischen Veranstaltungen mit. Ironischerweise (aus meiner heutigen Sicht) hatten sie ein offenes Ohr für Wagner und hörten bei Kurt Weill weg. Als Abschiedsgala für eine beliebte Hildesheimer Schauspielerin, die an eine Berliner Bühne verpflichtet worden war, hatte unser Stadttheater Weill-Brechts Dreigroschenoper angesetzt. Dazu nahmen mich meine Eltern nicht mit, denn sie befürchteten anrüchige Sprache und Bühnenszenen – was sich für sie auch bewahrheitete. Als sie nach der Vorstellung nach Hause kamen, haderten sie noch immer mit dem Stück: »Wie konnte sich diese große Schauspielerin zum Abschied nur solch einen Schund aussuchen?«

Meine Mutter hat auch Richard Wagner nicht unkritisch über sich ergehen lassen; freilich vermute ich, dass sie nichts von seinem himmelschreienden Antisemitismus wusste: Mama und Papa hatten mich im zarten Alter von sechs Jahren zu meiner ersten Oper mitgenommen. »Wir haben dir die Geschichten von Siegfried vorgelesen, jetzt kannst du das im Opernhaus in Hannover sehen.« Was soll ich sagen? Der Junge war ganz aus dem Häuschen. Während der Zugfahrt nach Hause frohlockte ich über Lohengrins Tapferkeit, seine Kühnheit im Duell, als er Friedrich von Telramund zerschmetterte, und seine harte Haltung gegenüber Elsas Blauäugigkeit. »Na ja«, sagte meine Mutter, »das war aber sicher keine ritterliche Art, Elsa ohne stichhaltigen Grund zu verlassen.« Damals kam mir zum ersten Mal zu Bewusstsein, dass es eine feministische Sichtweise von Literatur gibt.

Mit 14 Jahren kam ich in den Stimmbruch; ich wurde vom Kind zum Jugendlichen. Meine Liebe zur Musik blieb. Und als unser Kantor Joseph Cysner kundgab, dass er zusammen mit Frau Moses, der Gattin des Vizepräsidenten der Synagogengemeinde, und Herrn Rubenstein, einem begabten Geiger und angesehenen Gemeindemitglied, Haydns Kindersymphonie aufzuführen plante, war ich buchstäblich der Erste, der mitmachen wollte. Ich wählte als mein Instrument die Kindertrompete aus. Natürlich wusste damals niemand von uns, dass Haydns angebliche Komposition gar nicht von ihm stammte – das ergab erst die spätere Forschung.

Dem Probespiel sah ich mit gewisser Beklommenheit entgegen. Aber wie sich herausstellte, war das unnötig, da mein Instrument, wie die meisten Spielzeuginstrumente dieser Symphonie, nur einen einzigen Ton von sich gab. Die Probe war entsprechend einfach. »Ich spiele jetzt den Anfang der Kindersymphonie, und ihr hebt die Hand, wenn ich den siebten Takt erreiche«, sagte Frau Moses. Hektisch begann ich den Rhythmus zu schlagen – und bestand den Test. Wir traten gegenüber der Synagoge im vollbesetzten Saal des jüdischen Gemeindehauses auf. Ich blies begeistert auf meiner Tröte und erntete lauten Beifall von der Familie Stern. Meine Freunde und ich sonnten uns in unserem musikalischen Triumph, bis ein älterer Freund – zur Hölle mit ihm – unsere Selbstzufriedenheit über diese virtuose Darbietung dämpfte. »Glaubt ihr etwa, dass all diese Leute gekommen sind, um euch spielen zu hören? Denkt noch mal nach! Wisst ihr nicht, dass Katie Moses bei ihren Auftritten in der Öffentlichkeit jeden Mann zwischen 20 und 70 anzieht?« Der Begriff »Sexbombe« war mir damals nicht geläufig, allenfalls ahnte ich, was eine »flotte Biene« sein könnte. Ich nannte meinen Freund einen Zyniker.

Dass ich pubertierte, konnte man auch daran sehen, dass ich neuerdings zur Aufsässigkeit neigte, insbesondere gegen Religiosität. Bei einem der Besuche im Haus meiner Großeltern begann ich, Moses Mendelssohn und seine Anhänger zu lesen. Dabei entdeckte ich einige der vielen verstandesgesteuerten Widerlegungen der Bibel, die zur Zeit der Aufklärung üblich waren. Die Sichtweise, die in diesen Texten vertreten wurde, passte exakt mit der Geringschätzung zusammen, die mein Großvater gegenüber den Wundererzählungen hegte, mit denen das Alte Testament durchsetzt ist. Er war überzeugt: Dergleichen konnte sich einfach nicht zugetragen haben. Die Zweifel, die die Philosophen und er geweckt hatten, fielen bei mir auf fruchtbaren Boden. Ich zögerte auch nicht, meine aufkeimenden Ketzereien unter meinen Zeitgenossen zu verbreiten. Mein Glaubensabfall fiel bald in der ganzen Gemeinde missliebig auf. Die Säulen unseres Glaubens schwankten! Unser Jugendleiter, Kantor Cysner, von uns liebevoll »Seppl« genannt, wurde eingespannt, um mir meine abwegigen Vorstellungen auszutreiben. Er nahm mich nach einem unserer Samstagstreffen beiseite. Als guter Debattierer erklärte er meine Quellen für fragwürdig. Aber ich gab nicht nach. Seppl missbilligte meine Sturheit. Aber darunter konnte ich spüren: Er respektierte, dass ich bereit war, meinen eigenen Weg zu gehen. Meine Ketzerei hielt auch weiterhin den Argumenten von Rabbinern und Priestern stand, die zu verschiedenen Zeiten zufällig meinen eigenwilligen Lebensweg kreuzten.

Kapitel 2

Die Nazis ergreifen die Macht

Aber all dieses knabenhafte Nachsinnen wurde von einem Ereignis überschattet, das das Ende der Welt verhieß, in der wir gelebt hatten. Bald würde es auch das Ende meiner Kindheit und Jugend bedeuten. Am 31. Januar 1933 gaben alle Klassen unseres Gymnasiums ihre Stundenpläne auf. Die meisten meiner Lehrer und Mitschüler verhielten sich, als wäre der Messias in unsere Mitte getreten und hätte ein Ereignis verkündet, das den Ruhm des Vaterlandes wiederherstellen würde. Unsere Lehrer gaben bekannt, dass am kommenden Abend in jeder Stadt Deutschlands eine Parade aller wahren Patrioten zum öffentlichen Zeugnis dessen stattfinden werde, dass Adolf Hitler nun die Geschicke unserer Nation lenke. An der glorreichen Demonstration sollte ausnahmslos jeder Schüler teilnehmen. Wir jüdischen Schüler beobachteten, dass unser Mathematiklehrer Dr. Heinrich leise in seine Klasse kam und lediglich verkündete, dass die gegebene Hausaufgabe auf die nächste Zusammenkunft verschoben werde; dann verließ er den Raum wie auf Zehenspitzen. Wurde das auch von meinen nicht-jüdischen Klassenkameraden bemerkt?

Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern todernst. Uns Jungen wurde mitgeteilt, dass wir die Wohnung unter keinen Umständen verlassen dürften. Dann klingelte das Telefon. Einer der örtlichen Kunden meines Vaters war am Apparat. Seine enthusiastische Stimme war im ganzen Wohnzimmer hörbar. »Meine Frau und ich kommen heute Abend zu Ihnen rüber! Sie haben einen besseren Blick auf diesen unvergleichlichen Fackelzug!« Es gab keine Möglichkeit, diese Selbsteinladung abzulehnen. Ohne es eigentlich zu wollen, blickten wir also abends alle aus unserem Wohnzimmerfenster und wurden Zeugen dieses Marsches nationaler Überheblichkeit. Im Zwielicht jener einschüchternden Zurschaustellung ungezügelter Macht erschien eine bunt gemischte Gruppe von Jugendlichen, die Hildesheimer Gymnasiasten – keine Mädchen. Ich entdeckte sogar einige meiner Schulkameraden. Sie marschierten nicht im Gleichschritt. Bald würden sie es lernen.

Die Nazis machten sich eine stetig gesteigerte Ikonographie zu eigen, eine Symbolik von Feuer und Zerstörung. Erst Jahre später, als ich über diesen berüchtigten Abend nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich Zeuge eines ersten Schritts geworden war. Flammen und Brände begleiteten das Dritte Reich von seinem schrillen Anfang bis zum apokalyptischen Untergang. Ein endloser Fackelzug hatte die Nacht in meiner Heimatstadt und in ganz Deutschland zum surrealen Tag gemacht. Am 27. Februar desselben Jahres verzehrten die Flammen des Reichstagsbrandes auch die letzten Spuren der Weimarer Verfassung; am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis Bücher; fünf Jahre später, am 9. und 10. November 1938, zündeten sie die Synagogen an. 1939 fingen sie an, europäische Städte zu bombardieren und niederzubrennen; 1942 wurden die Krematorien der Vernichtungslager entzündet, und zwischen 1942 und 1945 gingen ganze deutsche Städte in Feuer und Rauch auf, einschließlich der Leiche des Hauptbrandstifters dieses Weltenbrands.

Jener Januarabend im Jahr 1933 leitete den Ausschluss von Juden aus der deutschen Zivilgesellschaft ein und zwang sie in einen ausgestoßenen Zustand, »an outcast state«, um Shakespeare zu zitieren. Die Vernichtung unserer Wurzeln erfolgte dabei eher allmählich. Spielkameraden und beste Freunde wurden von ihren Eltern, und wahrscheinlich auch von Lehrern, angewiesen, uns zu ignorieren. Sie begannen, ohne Gruß an uns vorbeizugehen. Wir wurden aus unseren Sportvereinen und Jugendorganisationen hinausgeworfen, verbannt aus Schwimmbädern, von der Teilnahme an Naturwanderungen und Diskussionsgruppen. Die bitterste Trennung war für mich der Ausschluss aus meinem geliebten Turnverein Eintracht. Das tat weh. Und deshalb erinnere ich mich besonders lebhaft daran: Im Frühling 1934 war ich 12 Jahre alt. Hitler war seit etwa einem Jahr an der Macht. Wir saßen an einem sonnigen Sonntagmorgen am Frühstückstisch. Meine Eltern, mein Bruder und ich tranken noch eine Tasse Kaffee, meine kleine Schwester lag in ihrem Kinderbettchen. Wir waren entspannt; man konnte immer noch, wenn auch nur kurz, die schlechten Nachrichten ausblenden, die im Radio zu hören oder in den Zeitungen zu lesen waren. Plötzlich schellte es an der Tür. Wer könnte an einem Sonntagmorgen so früh klingeln? Die Außenwelt brach plötzlich über uns herein, fegte wie ein Windstoß ins Haus und hatte Angst in ihrem Gefolge. Mein Vater ging zur Tür. Aber die fünf Personen, die vor unserer Wohnung standen, waren nicht von der gefürchteten Geheimpolizei. Papa erkannte Männer des Sportvereins Eintracht, dem ich angehörte. Sie kamen herein, meine Mutter bot ihnen Plätze an, aber sie blieben stehen. Verlegen standen sie da, in ihrer Sonntagskleidung, und schließlich begann ein Delegationsmitglied, Herr Stöwesandt, mit stockender Stimme zu sprechen. Er war mir vertraut. Er war der Vater von Heinz, einem guten Freund von mir. Wir waren beide in einer Jungen-Fußballmannschaft, und als ich ein Tischfußball-Set mit kleinen Metallspielern als Geburtstagsgeschenk erhalten und Mannschaften zusammengestellt hatte, kam Heinz zu uns nach Hause, um das Spielzeug einzuweihen (ich schlug ihn 8:7).

Herr Stöwesandt kaute auf seinen Worten herum: »Wissen Sie, wir mögen Ihren Günther sehr. Er ist ein ziemliches As auf dem Turnpferd. Bloß am Barren ist er nicht so gut. Und Ihr Günther hat so wunderbare und lustige Berichte über die Ausflüge geschrieben, die Herr Behrens organisiert hat. Aber sehen Sie, wir haben Befehle von ganz oben, nämlich die Mitgliedschaft aller Juden in unserem Verein zu beenden.«

Ich konnte es nicht glauben. Ich war ein guter Sportler und, soweit ich wusste, der einzige Jude im ganzen Verein. Könnten sie nicht eine Ausnahme machen? Die Stimme meines Vaters schnitt in diese unreifen Gedanken hinein. Entschieden sagte er: »Wir verstehen Ihren Standpunkt.« Und dann gingen sie fort. Aber an der Tür drehte sich Herr Stöwesandt noch einmal um und sagte: »Günther, wenn du in unser Stadion kommen und die Bahnen benutzen willst, ist das für uns in Ordnung.« Ich habe es nie getan.

Natürlich änderte sich auch unser Unterricht im Klassenzimmer. Der Nazi-Begriff lautete, er musste »gleichgeschaltet« sein, der Nazi-Linie folgen. Überall wurden nationalsozialistische Kulturamtsleiter eingesetzt, und Köpfe rollten, bis hinunter zu den Kindergärtnerinnen. Unser Gymnasialdirektor wurde in die tiefste Provinz verfrachtet, und pflichtbewusst wurde ein Parteigenosse statt seiner eingesetzt. Doch zur Überraschung unserer Eltern waren die von ihm vorgenommenen Änderungen, mit einer bemerkenswerten Ausnahme, rein kosmetischer Natur. Als Universitätsverwalter im späteren Leben fand ich eine offensichtliche Erklärung für seine Zurückhaltung. Seine verwaltungstechnischen und pädagogischen Fähigkeiten entsprachen nicht denen seines Vorgängers, der ein vorbildliches Gymnasium aufgebaut hatte. Der Neuankömmling, der anfangs nicht einmal jüdische Eltern von Elternabenden ausschloss, übernahm einfach eine reibungslos funktionierende Einrichtung und schrieb mit rhetorischen Ausschmückungen alle Tugenden der Schule seiner Führung zu.

Die einzige Ausnahme war seine Auswahl von Kandidaten für freie Lehrerstellen. Wir alle kicherten über den Lehrer, der letztendlich für den Anfangsunterricht in Französisch eingesetzt wurde. An seinem ersten Unterrichtstag ließ er uns ein Diktat schreiben. Nicht einmal unser bester Schüler in Französisch, ein Nachfahre von Hugenotten, hatte die geringste Ahnung, was uns der Lehrer mit seinem kümmerlichen Französisch zu vermitteln suchte. Noch ärger fiel die Wahl des neuen Direktors für einen Erdkunde- und Kunstlehrer aus. In seiner ersten Unterrichtsstunde fragte uns dieser Lehrer nach einer Definition deutscher Volkskunst. Unsere Klasse, die an Fangfragen gewöhnt war, verhielt sich vorsichtshalber ruhig. Nachdem er unsere Dummheit getadelt hatte, gab er uns seine eigene ausufernde Deutung. Ich erinnere mich nur an einen Grundgedanken seiner wackeligen Offenbarung: »Aus all diesen Gründen kann kein Jude jemals deutsche Volkskunst produzieren.«

Bald folgten andere propagandistische Einflechtungen in unsere Lehrpläne. Vielleicht als Folge der Nazi-Bücherverbrennung kamen weitere Befehle »von oben«, um unser Geschichtslehrbuch zu verfälschen. Gegen Ende 1933 betrat unser Geschichtslehrer, Herr Schwerdtfeger, das Klassenzimmer mit mehreren Paketen voller Handzettel und, wie wir kurz darauf merkten, mehreren einschneidigen Rasierklingen. Er begann, Nummern an die Tafel zu schreiben. »Ich händige jetzt Rasierklingen aus. Nehmt Eure Lehrbücher und trennt alle an der Tafel angegebenen Seiten ab. Achtet aber darauf, dass Ihr an den Rändern genügend Platz lasst, um Ersatzseiten einzukleben«. Wir taten, was uns gesagt wurde. Alle positiven Errungenschaften von Juden, anderen »minderwertigen Rassen« und politischen »Abweichlern« wurden herausgeschnitten und durch historische Verzerrungen und Unwahrheiten ersetzt. Und dann geschah etwas noch Schlimmeres. In Shakespeares Sinn – »Angst macht uns alle auch zu Feiglingen« – fühlten wir uns gezwungen, die Zensoren, oder besser gesagt, die Bücherverbrenner von Teilen unserer eigenen jüdischen Gemeindebibliothek zu werden. Unter Anleitung von Kantor Cysner, der nicht viel älter war als wir, hatten wir in den Regalen des Sitzungssaals für die nachmittäglichen Treffen an Samstagen eine solide Sammlung sozialpolitischer Bücher zusammengetragen. Während der Gottesdienste am Samstagmorgen machte ein erschreckendes Gerücht die Runde: Mehrere unserer Gemeindeführer waren verhaftet und ihre Häuser durchsucht worden. Wir Jugendlichen versammelten uns in der Eingangshalle der Synagoge. Angst hatte uns ergriffen. Würden unsere Väter die nächsten sein? Was könnten die Bluthunde der Gestapo finden? Jemand erwähnte unsere Bibliothek im Gemeindehaus auf der anderen Straßenseite. Nach Nazi-Standards konnten mehrere Bücher als demagogisch oder zersetzend angesehen werden. Wir eilten über die Straße, fingen an, Bücher zu sortieren, und entzündeten ein Feuer im Ofen des Versammlungsraums. All das in völliger Stille. Dann stürmte jemand mit lauter Stimme in den Raum. Zu unserer Erleichterung war es unser Schammes, der Synagogendiener Herr Kaminsky, Hausmeister unseres Gemeindehauses. »Was macht ihr da?« schrie er. »Ihr macht ein Feuer am Sabbat?« Seine anklagenden Worte trugen die Überzeugung der Orthodoxie in sich. Einer von uns schleuderte ihm eine Redensart des in diesem Saal gelernten Pirkei Avot (Sprüche der Väter) entgegen: »Die Rettung von Leben hat Vorrang vor Regeln.« Bücherwurm, der ich war, zitierte ich das Kapitel und den Vers als Quelle. Herr Kaminsky zog sich zurück; das Feuer brannte weiter. Georg Prager, einer der Jüngsten unserer Gruppe, übergab sich, kurz nachdem das letzte Schmuggelbuch zu Asche zerfallen war. Seine Empörung über unsere Vorsichtsmaßnahme kam der meinen gleich. Aber meine Rolle als »unsichtbare Tinte«-Person hielt mich davon ab, meinen Zorn herauszuschreien, obwohl ich das Gefühl hatte, diese Flammen würden auf mich überspringen.

Als ich am folgenden Montag in meine Schulklasse zurückkehrte, fand ich eine winzige Atempause in der üblichen Feindseligkeit meiner Klassenkameraden. Es gab einen Mitschüler in unserer Klasse, mit dem ich mich seit Schuleintritt immer wieder geprügelt hatte. Mein Vater hatte mich mehrmals ermahnt, damit aufzuhören. Das war nicht leicht; unsere Klassenkameraden feuerten uns ständig an. Aber nachdem wir drei jüdischen Schüler erniedrigt und schikaniert worden waren, ließ er sich nicht mehr zu einem Angriff anstacheln. Es war eine kleine Geste, aber ist man von Feindseligkeit umgeben, dann ist ein Zeichen des Anstands ein großer Trost.

Ein heiterer Junitag im Jahr 1933 schien uns vergällt durch einen Aufmarsch der Hitlerjugend, der uns im Hause festhielt. Aber da umfing uns ein neuer frischer Morgen, oder vielmehr, er brach über uns herein. Er kündigte sich an durch vier junge Männer aus Hannover, der größten Stadt in der Nähe Hildesheims. Ich erinnere mich noch an drei ihrer Namen. Der offensichtliche Führer war Herbert Sichel, vorgestellt als Hesi. Mit ihm kamen Peter Heller und Eto (das war die Abkürzung für »Ententeich«; dieser Spitzname stand dafür, dass ihn seine Kameraden wegen seines unmöglichen Verhaltens einmal ins Wasser geworfen hatten).

An jenem Sonntagmorgen klingelten sie an unserer Tür und verkündeten, dass sie ein Empfehlungsschreiben bei sich hatten von Herrn Rehfeld, dem Vizepräsidenten unserer jüdischen Gemeinde. Einmal hereingelassen, nahmen sie gegenüber meinen Eltern eine Art militärischer Förmlichkeit an, unterstrichen durch ihre Uniform aus makellos weißen Hemden und dunkelblauen kurzen Hosen. »Wir vertreten den Hannoveraner Zweig einer deutsch-jüdischen Jugendgruppe«, begannen sie, wobei die Betonung eindeutig auf dem Wort »deutsch« lag. »Wir sind hier, um bei der Gründung einer Hildesheimer Gruppe des Schwarzen Fähnleins zu helfen. Wir wollen Ihren Günther als eines unserer Gründungsmitglieder«, schlossen sie. Ich konnte meine Augen nicht abwenden von diesen athletischen, kraftvollen Musterbildern. Ich idealisierte sie. Die Ein-Wort-Charakterisierung »zackig«, in jener Zeit in Mode, durchdrang mein Gehirn. »Wir lassen uns nicht von einer Bande von Verbrechern unseres Deutschseins berauben«, erklärten sie. Die vier Helden verbreiteten die Ideale des Schwarzen Fähnlein.

Das gefiel meinen Eltern. »Nun«, sagte mein Vater, »wenn Sie von Herrn Rehfeld empfohlen wurden und Günther mitmachen will, haben wir nichts dagegen!« Und dann fragte er, ob sie schon einen Gruppenführer gefunden hätten. Ja, das hatten sie: Fritz Schürmann, den Sohn eines ehemaligen Arbeitgebers meines Vaters. Das gab den Ausschlag. »Günther wird beitreten!«