Wir treffen uns wieder in meinem Paradies - Christel Zachert - E-Book

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies E-Book

Christel Zachert

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Beschreibung

"Ich mache so vielen Menschen Mut und nehme ihnen mit meiner frohen Ausstrahlung vielleicht die Angst vor dem Tod."

Isabell ist gerade 15 Jahre alt, als sie die grausame Diagnose erfährt, die für sie das Todesurteil bedeutet: Krebs. Ihr Leben ändert sich radikal, und der Wettlauf mit dem Schicksal beginnt. Mit beispielloser Energie, mit Mut, Kraft und Liebe kämpfen ihre Familie und Freunde um ihr Leben. Durch die Krankheit reift Isabell zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit heran, wächst über sich hinaus und hat trotz des Leids, das sie immer wieder erfahren muss, nicht zuletzt durch ihren Glauben genug Kraft, ihr Leben positiv zu sehen. Die Hoffnung, diese schwere Prüfung zu überstehen, gibt sie nicht auf.

Emotional, tiefgründig und bewegend: Die ergreifende Schicksalsgeschichte von Isabell, übersetzt in mehr als 30 Sprachen, hat unzähligen Menschen Kraft, Mut und Hoffnung geschenkt. Zum 40. Todestag von Isabell erscheint nun eine Neuausgabe mit einem neuen Nachwort von Christel Zachert.

Christel Zachert gründete nach dem Krebstod ihrer Tochter die Isabell-Zachert-Stiftung, die sich für krebskranke Kinder und deren Familien einsetzt. Für ihr langjähriges Engagement erhielt sie 2022 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.



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Seitenzahl: 326

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Zehn Jahre danach

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies

BELLIS TAGEBUCH

40 Jahre später

Nachwort von Matthias Zachert

Nachwort von Dr. Benedikt Geldmacher

Ein Vermächtnis wird eingelöst

Die Isabell-Zachert-Stiftung wird gegründet

Bilder

Adressen

Über die Autorin

Impressum

Christel und Isabell Zachert

Wir treffen uns wiederin meinem Paradies

Eine 15jährige nimmt Abschiedvon ihrer Familie

Ich widme dieses Buch meinem Mann und unseren beiden Söhnen Christian und Matthias.

Ich danke Dr. Töbellius für seine Freundschaft und Frau von Löbbecke für ihre mütterliche Fürsorge.

Christel Zachert

»Ich hatte mir immer gewünscht,dass er in meiner Todesstunde meine Hand haltenwürde. Er hatte so eine lustige Lache!Ich nannte ihn Töbi. Ob ich das wohl durfte?Aber schließlich war er ja nicht irgendeinTöbi, er war mein Töbi!«

15. November 1982

Zehn Jahre danach

Meine geliebte Tochter!

Ich bin angekommen – in den Ardennen – in dem Ferienhaus einer lieben Freundin von mir. Ich freue mich auf dich, auf die vielen Gespräche und Gedanken, die wir austauschen werden. Hier habe ich die Ruhe, um mich ganz fallen zu lassen – in die Erinnerung.

Vor zehn Jahren bist du uns vorausgegangen – in dein Paradies. Und du hattest recht: Wir haben dich nicht verloren. Wie hast du uns getragen und beschützt mit deiner Zuversicht und Stärke! Als ich uns allen in den Stunden deiner Bewusstlosigkeit das erste Mal dein Tagebuch der letzten Wochen vorlas, das du extra für uns geschrieben hattest, war es von Anfang an mein inniger Wunsch, dieses Vermächtnis anderen Menschen zuteil werden zu lassen. Ich bin sicher, dass das auch dein Wunsch ist.

Hoffentlich finde ich den stärkenden Brunnen der Erinnerungen und nicht das trostlose Tal der Tränen. Aber die Umstände sind gut. Ich fühle mich geborgen in der Fürsorge einer mütterlichen Freundin, die du nicht mehr kennengelernt hast, der ich aber von dir erzählt habe. Sie hat mich in meinem Vorhaben sehr bestärkt, hat mich in ihr Ferienhaus in den Ardennen eingeladen, sorgt für mein leibliches Wohl und passt auf, dass ich mich mit meinen Gedanken nicht in das Tal der Tränen verliere.

Ich will versuchen, das intensivste Jahr meines Lebens, das letzte Jahr deines Lebens – es war dein fünfzehntes, sechzehntes Lebensjahr –, meinem Herzen folgend, zu durchwandern. Es war ein Jahr mit Höhepunkten und unsagbarem Schmerz, ein Jahr voll verlockender Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Bei allem Schweren war es für uns ein Jahr großer Faszination. Wir erlebten, wie sich aus dir – einem lebensfrohen, jungen und so ganz normalen Mädchen – innerhalb eines Jahres eine reife Frau entwickelte. Alle Ärzte und Schwestern, überhaupt alle Menschen, die in dieser Zeit an deinem, an unserem Schicksal teilhatten, wurden von dieser Kraft angezogen. Dass du wie eine Königin gestorben bist, die bewusst Abschied nahm von all ihren Lieben und die Feier des Abschieds sozusagen noch selbst gestaltete, das war die Gnade deines Schicksals.

Auf denn! Ich will es versuchen. Wenn ich an meinem Lebensende vom Herrgott gefragt werde, wie ich das Geschenk des Lebens genutzt habe – und dazu gehört für mich auch, das, was du uns durch dein Leben und Sterben schenktest, an andere weiterzugeben –, möchte ich nicht mit einer Ausrede vor ihm stehen.

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies

Vater und ich kamen aus Rom zurück. Wir hatten die erste Reise ohne unsere Kinder unternommen. Du und deine beiden Brüder, Christian und Matthias, ihr wart ganz stolz, dass wir euch für eine Woche alleine gelassen hatten. Wir fühlten uns, als hätten wir einen neuen Lebensabschnitt in unserer Ehe erreicht. Bereichert mit schönen Eindrücken und erfüllt von großer Freude kamen wir nach Hause zurück.

Es war Samstagabend. Wir wollten rechtzeitig zu Hause sein, da Matthias vierzehn Jahre alt wurde. Christian und Matthias begrüßten uns freudig, aber du, so sagten uns die Jungs, seist schon ins Bett gegangen und würdest schlafen. Wir wunderten uns sehr und respektierten es. Nach einer Weile musst du aber doch aufgewacht sein und kamst aus deinem Zimmer, blass und erschöpft, wie ein schwerkranker Mensch. Wir mühten uns um dich. Am Sonntagmorgen fuhr Vater gleich mit dir zu unserer Hausärztin. Verschleppter grippaler Infekt war die Diagnose, Penizillin die Therapie, die Lungen nach Abklingen des Fiebers röntgen zu lassen die Empfehlung.

Der Sonntag war ausgefüllt mit Erzählungen über Rom und mit bohrenden Fragen an euch. Irgendetwas musste doch schuld sein, dass du so eine schwere »Grippe« bekommen hattest. Du warst auf einer Party, aber das konnte es nicht gewesen sein. Zwei Tage zuvor warst du im Club, bist zweitausend Meter geschwommen, warst hinterher in der Sauna und bist mit dem Fahrrad zurückgefahren. – Das Fahrrad, ja das alte Hollandfahrrad, es hat keine Gangschaltung, und es fährt sich so schwer – ja, das wird schuld daran gewesen sein. (Das alte Hollandfahrrad hält Matthias heute noch in Ehren und fährt damit immer zur Uni.) – Ein Satz von dir machte uns jedoch schon am Sonntag stutzig: »Wenn ich wirklich krank bin, dann bin ich sehr krank und das schon längere Zeit.«

Am Montag und Dienstag ging das Fieber zwar zurück, aber du wurdest immer schwächer. Auch zeigte sich eine Beule auf deinen Rippen, die nicht blau war, und wir wussten auch nicht, woher sie kam. Auf der Klassenfahrt – vier Wochen zuvor – hattest du dich an dieser Stelle einmal gestoßen. Am Mittwoch fiel dir das Sprechen schon schwer. Du saßest im Bett und schnapptest nach Luft. Ich rief Vater an, er kam aus dem Dienst, und wir fuhren mit dir ins Krankenhaus; wir mussten doch wissen, ob es eine einfache oder eine doppelseitige Lungenentzündung war. Nach einer Stunde schon wussten wir: Es war ein bösartiger Tumor.

Schon nach dem Durchleuchten der Lunge sagte man uns, du müsstest sofort stationär behandelt werden, da du in akuter Lebensgefahr schwebtest. Der Oberarzt wurde gerufen. Deine Lunge musste sofort punktiert werden, damit du nicht ersticktest. Wir wichen nicht von deiner Seite, sahen, dass die Flüssigkeit, die man aus deiner Lunge absaugte, rot war. Als Dr. Petri die zweite Kanüle ansetzte, schickte er die erste ins Labor zur Untersuchung und funkte den Chef des Krankenhauses, Dr. Töbellius, an. Er sagte: »Hier ist ein junges Mädchen, ich glaube, das wird Sie interessieren.« Die Behandlung verlief in großer Konzentration und Ernsthaftigkeit, aber ohne eine Erklärung. Vater und ich bemühten uns, ruhig zu bleiben. Du warst ganz tapfer. Nach zwei oder drei Kanülen durfte man nicht mehr Flüssigkeit aus den Lungen absaugen, damit dein Kreislauf nicht kollabierte. Inzwischen hatte man für dich ein Bett bei einem anderen jungen Mädchen im Zimmer vorbereitet.

Nachdem wir dich versorgt wussten, suchten wir die Ärzte. Wir fanden Dr. Petri unten im Labor und fragten ihn direkt nach seiner Einschätzung. Er sagte uns ebenso direkt, dass es auf alle Fälle ein bösartiger Tumor im Endzustand sei. Um welche Art von Tumor es sich dabei handele, könne man noch nicht sagen. Wir waren von der Nachricht wie erschlagen. Vater und ich rangen um unsere Fassung. Blitzartig kam mir ein Erleben in Erinnerung, das schon zweiundzwanzig Jahre zurücklag: Als die behandelnden Ärzte meiner Mutter und uns vier Geschwistern – ich war damals neunzehn Jahre alt – sagten, dass unsere Mutter einen Tumor in der Lunge habe und noch nicht einmal der liebe Gott mit einem Wunder sie retten könne. Zwei Wochen später war sie tot. Ich begriff sofort die Ernsthaftigkeit deines und unseres Schicksals. Wir durften und wollten unsere Ängste nicht auf dich übertragen und in dein Herz pflanzen. Du musstest alle Kraft einsetzen, um mit deinen Schmerzen und Beschwerden zurechtzukommen. Wir konnten dir noch nicht sagen, was wir schon wussten.

Dieser Tag war eigentlich als ein sehr glücklicher geplant. Oma – Papas Mutter – kam an diesem Tag von ihrer Japanreise zurück. Ursprünglich hatten wir vor, sie vom Flughafen abzuholen und ihre Rückkehr zu feiern. Für Oma hatte diese Reise eine große Bedeutung. Sie hat viele Jahre ihres Lebens in Japan gelebt, hat eine japanische Mutter und einen deutschen Vater. Noch heute spricht sie ein exzellentes Japanisch. Opa (Zachert-sen-sei) hat an der Hochschule in Matsumoto ganze Jahrgänge von Japanern in der deutschen Sprache und Kultur unterrichtet und wird noch heute in Japan als Japanologe verehrt. Diese Verehrung des verstorbenen Sen-seis wurde auch Oma zuteil, so dass sie voll des Glücks, dankbar, eine so großartige Reise mit 74 Jahren noch gemacht zu haben, nach Deutschland zurückkam.

Vom Krankenhaus aus hatten wir nun alles abgesagt und neu organisiert. Aber jetzt am Abend – du warst erschöpft und müde – wollten wir zu Oma, um mit ihr zu sprechen. Ich glaube, wir erwähnten das Wort Tumor noch nicht, sondern sprachen nur von einer sehr schweren Krankheit. Sie gab uns für dich einen goldenen Amulettanhänger vom Inageschrein aus Kawasaki mit. Dieser Schrein gehört der Familie Ichikawa. Herr Konoske Ichikawa war ein ehemaliger Student von Opa. Das Amulett sollte dir Glück bringen, sagte Oma uns.

Auf dem Rückweg fuhren wir noch einmal ins Krankenhaus. Ein junger Mann hatte Nachtdienst auf der Station. Er bot uns an, dich noch einmal zu sehen, aber wir hatten nicht den Mut. Wir standen nur ein paar Minuten vor deiner Tür. Der junge Mann tröstete uns und meinte, du schläfst. Zu Hause gaben wir den Jungs nur die nötigsten Auskünfte. Matthias und Christian waren fassungslos. Auch sie konnten es nicht begreifen und wussten nicht, was auf sie zukam. Ich spürte, dieser Tag war für beide das Ende ihrer Kindheit und Jugend!

Vater und ich weinten und überlegten, was wir dir und den anderen sagen sollten; irgendwann schliefen wir ein.

Der nächste Tag war von vielen Aktivitäten geprägt. Du wurdest mit allen möglichen medizinischen Techniken weiter untersucht. Wir hatten die Aufgabe, alle von dir vorhandenen medizinischen Berichte, Röntgenaufnahmen und Untersuchungsergebnisse zusammenzutragen, und davon gab es bei dir eine ganze Menge. Die letzte Untersuchung war erst vier Wochen alt: eine Röntgenaufnahme deiner Rippen und ein großes Blutbild. Der Anlass zu dieser Untersuchung war dein Bericht von deiner Klassenfahrt mit dem Boot auf den holländischen Kanälen. Als du von der Reise zurückkamst, erzähltest du von einer extrem schmerzhaften Prellung an den rechten Rippen. Deshalb schickten wir dich damals zur Hausärztin. Aber zum Glück war keine Rippe gebrochen, und die Ergebnisse waren alle in Ordnung.

Dann gab es noch die ganzen Berichte von deiner Knöcheloperation. Du hattest im Sommer eine Nekrose, die so schmerzhaft war, dass sowohl die Uniklinik als auch Professor Dederich zur Operation rieten. Zum Glück war die Gewebeuntersuchung negativ. Trotzdem empfandest du diese Operation schon als Schicksal, weil sie dein ganz elementares Bedürfnis nach sportlicher Tätigkeit und körperlicher Bewegung einschränkte. Am schlimmsten war für dich, dass du nicht mehr Tennis spielen durftest – wo du doch eine begeisterte Tennisspielerin warst! Noch heute habe ich deine Pokale im Schrank. Aber auch Joggen war für alle Zeiten verboten. Dies zu akzeptieren war für dich sehr schwer. Als du nach der Operation den Gips los warst, versuchtest du, langsam wieder zu schwimmen und auch Rad zu fahren. Aber damals reichte dir das noch nicht für das weitere Glück deines Lebens. – Wie viel Bescheidenheit haben wir doch noch lernen müssen!

Wir besorgten uns sogar die Unterlagen von 1968 aus der Kinderklinik. Du hattest im Alter von zwei Jahren einen beinahe tödlichen Sturz überlebt. Mit einer sehr schweren Gehirnerschütterung pflegten wir dich ein Vierteljahr. Damals hatten wir das Gefühl, der liebe Gott habe uns unsere Tochter zum zweiten Mal geschenkt.

Die Berichte hatten wir zwar alle, aber ich glaube, die Ärzte konnten wenig damit anfangen.

Am Nachmittag wussten die Ärzte aufgrund der aktuellen Untersuchungen, dass der Tumor sich bereits im ganzen Körper befand. Das wussten wir noch nicht. Am Abend kam Dr. Töbellius zusammen mit dem Chef der Chirurgie an dein Bett. Ich beobachtete sie beide. Sie saßen hinter deinem Rücken auf deinem Bett und untersuchten deine Rippen. Sie sprachen nicht, sondern verständigten sich nur mit Blicken. Aber zum Ende der Untersuchung strich der Chirurg beinahe liebevoll über deinen Rücken und formulierte stumm mit seinen Lippen die Silbe »voll«. In diesem Moment kannte ich seine Diagnose. Die beiden Ärzte beschlossen, dich zu operieren, um eine Gewebeprobe zu erhalten. Man wollte die Art des Tumors bestimmen. Zunächst aber musste die Lunge durch einen Dauerkatheter trockengelegt werden. Das war die Aufgabe der nächsten Tage.

Am Freitag hatten wir das erste längere Gespräch mit Dr. Töbellius. Er war sehr einfühlsam. Aus medizinischer Sicht war die Diagnose, glaube ich, hoffnungslos brutal. Es war ein Sarkom, ein Bindegewebstumor, einer von der ganz aggressiven Sorte. Aber Dr. Töbellius bemühte sich, uns die Hoffnung zu lassen.

Ich fragte ihn: »Wie lange kann unsere Isabell noch leben?« Er gab keine Antwort. Ich bohrte nach und sagte: »Wenn der körperliche Verfall unserer Tochter so weitergeht, lebt sie keine fünf Tage mehr.« Er guckte mich nur mit seinen großen braunen Augen an. Ich wusste, dass er medizinisch nur noch in Tagen rechnete, wenn nicht ein Wunder geschah. Aber diesen Glauben an ein mögliches Wunder, den pflanzte er in uns ein. Und was noch viel wichtiger war: Er machte uns deutlich, dass wir ihn auch dir vermitteln müssen. Von diesem Tag an verspürten wir ein großes Vertrauen zu diesem Mann.

Am Montag sollte die Gewebeentnahme sein. Wir waren jede Minute bei dir. Du hattest scharenweise Besuch. Jeder wollte dich noch einmal sehen. Zum Glück gab es für dich so viel Ablenkung, dass du nicht zur Ruhe kamst und uns keine Fragen stelltest.

Am Samstag Nachmittag kam aus Mannheim mein jüngster Bruder Siegfried mit seiner Frau Ulli und dem vier Wochen alten Töchterchen Sascha zu dir ins Krankenhaus. Er hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Aber glücklicherweise hatte er – wie immer – seine Kamera dabei. Er guckte dich nur durch die Kameralinse an und machte Bilder von dir. Und du konntest zum Glück nicht in seinen Augen lesen. Du hattest viel Spaß an der kleinen Sascha. Ich glaube, es war für dich etwas Wunderschönes, ein so kleines Baby in den Händen halten zu dürfen. Es war das Sinnbild des Lebens schlechthin. Siegfried und Ulli spürten das, und sie wollten ein wenig von der Kraft dieses jungen Lebens auf dich übertragen.

Du fingst an, Briefe zu schreiben. Am Freitag schon schriebst du an deine Patentante Ines. Sie hatte seit einem halben Jahr Krebs, und du warst ihr schon vorher eng verbunden.

14. 11. 1981

Liebe Ines!Ich bin schon wieder im Krankenhaus, aber ich will dir alles der Reihe nach erzählen.

Wie Du vielleicht weißt, sind die Eltern für eine Woche nach Rom gefahren, die gute Gelegenheit ausnutzend, da Rolli, der ja jetzt ein Seminar in Rom hat, gerade in den USA und die Wohnung also leer war.

Sie sind mit Freunden per Auto am 29. abgefahren und haben uns fünf Kindern die Verantwortung in die Hand gedrückt. Wir waren deshalb fünf, weil:

1. wir drei Geschwister

2. ein Gastmädchen (Marie) für ein Jahr. Sie ist Französisch sprechende Belgierin, und wir verstehen uns prima mit ihr (zwanzig Jahre)

3. ich hatte eine Freundin bei mir aus Belgien, bei der ich in meinen Herbstferien war (Caroline Hopchet).

Da Christian und Matthias sich aber nicht sehr verantwortlich fühlten und man Gästen schlecht die Verantwortung aufbürden kann, hab' ich sie halt getragen, wobei Marie mir aber nett geholfen hat.

In der Woche habe ich dann von Tag zu Tag mehr Atembeschwerden bekommen und bin natürlich nicht zum Arzt gegangen, weil ich dachte, es sei eine Bronchitis, und außerdem musste ich mich ja um die Wohnung und die Jungen kümmern. Am Freitag sind Caroline und Marie abgefahren. Die Woche über hat Caroline mich in die Schule begleitet.

Am Samstag habe ich dann die Wohnung sauber gemacht, und am Abend kamen die Eltern voll mit Eindrücken aus Rom wieder.

Ich muss ihnen einen ganz schön großen Schreck eingejagt haben, denn ich war angeblich kreideweiß, taumelte und habe nach Luft gerungen.

Am Sonntagvormittag hat Papa mich auch sofort zu unserer Hausärztin gebracht, und sie hat gesagt, es sei eine beginnende Lungenentzündung. Das Fieber und das ganze andere Zeug wurden besser, aber ich bekam immer weniger Luft, und meine rechte Schulter schmerzte, egal in welcher Lage. Mittwochnachmittag hat uns dann unsere Hausärztin einen Röntgentermin im Krankenhaus besorgt, und kaum hatten sie mich geröntgt, als sie uns eröffneten, dass ich mich vor einem lebensgefährlichen Stadium befände, da meine ganze rechte Lunge mit Wasser angefüllt sei und Herz und linken Lungenflügel zusammendrücke. Sie haben mich gleich dabehalten und punktiert. Am Donnerstag haben sie mich dann weiter untersucht, um die Ursache herauszufinden. Sie haben mir auch Rückenmark durch eine Spritze abgepumpt und am Freitag einen Dauerkatheter zwischen Lungen- und Rippenfell gelegt.

Dass ich so etwas Scheußliches mal mit mir machen lassen muss, hätte ich auch nicht gedacht.

Aber alle hier im Krankenhaus sind unheimlich nett. Ich war ja jetzt schon oft im Krankenhaus, aber keines war so nett.

Oma kam am Mittwoch auch aus Japan wieder und hat uns allen schöne Sachen mitgebracht, und Bolko, meinem Onkel, hat sie einen Walkman, das ist so ein ganz kleiner Kassettenrecorder mit Kopfhörer, mitgebracht, und gestern hat er mich besucht und mir einfach das Ding geschenkt. Das fand ich schrecklich nett. Mutti und Vater besuchen mich auch sehr viel, und Christian und Matthias kommen viel. Bis jetzt waren pro Tag immer so mindestens sieben Leute da oder sogar einmal fünfzehn. Alle sind so lieb zu mir. Das ist schön.

Ich bin noch ganz oft auf Deine Uhr angesprochen worden, wie chic die wäre. Ich benutze sie jeden Tag mit viel Freude.

Grüße und Küsse an alle Deine Lieben. Alles erdenklich Gute für Dich, meine liebe Ines.

Deine Krankenhausbelli

PS: Ich habe Schmerzen und kann deshalb nicht so gut schreiben.

Am Montag war die Gewebeentnahme. Die Narkose hattest du kreislaufmäßig zum Glück überstanden. Du bekamst nach der Operation ein Einzelzimmer, und die Schwestern stellten uns ein zweites Bett hinein, so dass Vater oder ich auch in der Nacht bei dir bleiben konnte. Jetzt fingen die Überlegungen an. Es war eine Zeit intensivster Gespräche, bohrendster Gedanken und dunkelster Albträume. Wird man dich behandeln können? Hast du eine Chance? Wie lange wirst du noch leben? Kannst du noch einmal gesund werden? Vor dir versuchten wir, diese Fragen und Gedanken fernzuhalten, aber Vater und ich tauschten unsere Sorgen und Fragen durch Blicke aus und gingen für Minuten aus deinem Krankenzimmer. Vielleicht gingen dir die gleichen Fragen durch den Kopf. Du hattest noch eine große Scheu, sie zu formulieren. Vielleicht warst du aber auch zu schwach, dich diesen Fragen zu stellen.

Wenn ich nachts bei dir wachte, kam die Erinnerung an die letzten beiden Wochen meiner Mutter, an ihr unsagbares Leiden, ihre peinigenden Schmerzen, an ihr hoffnungsloses Flehen um den baldigen Tod. All das ging nicht aus meinem Kopf. Ich lag nachts wach neben dir und beugte mich über dich, um deinen leisen und schwachen Atem zu spüren. Ein furchtbarer Gedanke quälte mich. Sollte ich dich, mein geliebtes Isabellchen, nicht vor diesem grausamen Schicksal bewahren? Die Hoffnung auf ein Wunder hielt mich zum Glück zurück. Es ist so schwer, einen geliebten Menschen leiden zu sehen. – Auch Vater dachte in der Nacht an dich.

Bonn, den 17. 11. 1981Hans Zachert

Mein Liebstes!Bevor ich zu Bett gehe, noch ein kleiner Plausch mit Dir. Hoffentlich kann ich einschlafen, denn Dein Gute-Nacht-Kuss fehlt mir! Hätte ich ihn, könnte ich getrost schlummern; so überlege ich, was Du machst, ob Du schon schläfst oder ob Dich Schmerzen quälen. Mich beruhigt, dass Mama bei Dir ist. Könnte ich Dir doch einen Teil deines Fiebers und Deiner Schmerzen abnehmen, mein Liebes, ich tät' für Dich alles, damit Du bald gesundest. Möge das Gefühl Dir Kraft verleihen, dass wir alle Dich unsagbar lieben, mein gutes Kind. Als Dein Vater liebe und verehre ich Dich als unser kleines Geschöpf, das so viel Gutes, Liebenswertes und Beglückendes uns bereitet hat. Werde schnell gesund, damit wir Dich zu Hause wieder bei uns haben. Du fehlst uns sehr!

Ich küsse und umarme Dich unsagbar zärtlich in Gedanken und werde hoffentlich von Dir träumen. Ich bin überwältigt von innigster Liebe zu Dir.

Dein Papa

Es dämmerte, der neue Tag kam. Heute hatten wir wieder ein Gespräch mit Dr. Töbellius. Er versuchte, uns zwei Dinge klarzumachen. Zum einen, dass wir es fertigbringen müssten, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Und die Wahrheit war grausam. Es war eine tödlich verlaufende Krankheit. Realistisch betrachtet ging es wohl nur noch um die Verlängerung deines kurzen Lebens. Mit Therapie vielleicht ein paar Wochen oder bestenfalls Monate, ohne Therapie vielleicht ein paar Tage. Festlegen wollte und konnte sich niemand. Zum anderen, dass wir uns den Glauben an die Hoffnung, den Glauben an ein Wunder erhalten sollten. Er hätte schon einige Krankheitsfälle erlebt, deren Heilung die Mediziner sich nicht erklären konnten. Und er erzählte uns einige Beispiele und machte uns Mut. Wir fragten nach den Umständen und Möglichkeiten einer Chemotherapie. Er hoffte auf einen Therapieplatz an der Kölner Klinik bei Professor Jäger. Wir baten und bettelten, dass du doch im Bonner Krankenhaus bleiben könntest. Aber Dr. Töbellius blieb bei seiner Entscheidung. Wenn du überhaupt eine Chance haben solltest, dann nur auf der Tumorstation von Professor Jäger. Dass du deine Haare verlieren würdest, dass sich die Patienten unter einer Chemotherapie sehr schlecht fühlen können und sie mehrmals wiederholt werden muss, sagte er uns auch. Wir waren am Boden zerstört. Was und wie sollten wir es dir sagen? Er versprach, uns dabei zu helfen.

Am Nachmittag saßen wir zu viert auf deinem Bett. Dr. Töbellius informierte dich über die Befunde und die Schwere deiner Krankheit. Nicht einmal sprach er das Wort »Krebs« aus, sondern bezeichnete die Krankheit konsequent als Tumor. Auf deine Frage, ob es Krebs sei, antwortete er ruhig, dass Krebs eine Form des Tumors sei; du hättest ein Sarkom.

Er fragte dich, ob du behandelt werden möchtest; wenn man nichts unternähme, würdest du sehr bald sterben. Du sagtest, du wolltest leben und behandelt werden. Nun versuchte er, dir die Kölner Klinik näher zu bringen. Du batest und betteltest, im Bonner Krankenhaus bleiben zu dürfen, aber er blieb fest. Er hatte sich schon mit Professor Jäger in Verbindung gesetzt und ein Bett für kommenden Montag in Aussicht. Er tröstete dich, indem er von seinem Freund Professor L. erzählte, der Oberarzt bei Professor Jäger sei und sich persönlich deiner annehmen werde. Wir wären alle drei lieber im Bonner Krankenhaus geblieben.

Wir kannten die Zukunft nicht. Wir waren alle drei nur Opfer. Und für jedes kleine Stück Chance waren wir bereit, alles zu tun. Dr. Töbellius versprach, dich in Köln zu besuchen. Mit deinem Charme nahmst du ihm zusätzlich ein Versprechen ab, das er später auch einhielt: Wenn man in Köln die richtige Therapie gefunden hat, dann könne man dich doch auch in Bonn weiterbehandeln. Er versprach dir, in einem solchen Falle immer ein Krankenbett für dich zu haben.

Bonn, den 19. 11. 1981Hans Zachert

Mein liebstes Isabellchen!Heute hat Dir und uns gemeinsam Dr. Töbellius gesagt, was Du hast. Wie tapfer und beherrscht hast Du alles aufgenommen. Ich bin so stolz auf Dich! Meine liebe Tochter hat viel bessere Nerven als ich, obwohl Du selbst die Betroffene bist. Was bist Du doch für ein großartiges Wesen. Mama und ich sind sehr in Sorge um Dich, doch zutiefst davon überzeugt, dass Du in besten Händen bist und Hilfe und Heilung erhalten wirst. Wir müssen jetzt gemeinsam unsere Kraft konzentrieren, damit Du wieder gesund wirst. Wir glauben fest daran und wollen alles tun, um dies zu bewirken.

21. 11. 1981

Mein liebster Vater!Dein Brief hat mich so unsagbar glücklich gemacht, weil in seinen Zeilen so viel Liebe steht.

Manchmal wundere ich mich, dass ich es wert sein soll, so viel Liebe zu erhalten. Aber solche Situationen sind wichtig. Sie müssen ab und zu den Alltag aufreißen, um uns allen zu zeigen, wie sehr wir uns doch in Wirklichkeit lieben und nur die Nichtigkeiten des Alltages diese so große Liebe unter uns zudecken.

So bereue ich es jetzt oft, doch sehr schnell ungeduldig mit Matthias gewesen zu sein. Ich habe immer gedacht, er mag mich nicht, aber jetzt ist er so lieb und süß, dass ich halt erkennen muss, wie viel Unrecht ich ihm angetan habe.

Ich bin auch immer wieder aufs Neue überrascht, mit wie viel Liebe Du mich umsorgst. Du versuchst, mir jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Mutti bin ich auch sehr dankbar. Oft war ich grantig, und sie hat ihre Geduld mit mir nie verloren.

Christian hat sich zu einem so lieben und verständnisvollen Bruder verwandelt, und Marie hilft überall.

Ihr seid alle die liebsten Menschen!

Ich liebe Dich ganz doll und genieße Deine Liebe. Wie sehr sie mir fehlt, habe ich bemerkt, als ich bei Lou war.

Tausend Küsse, Deine Dich liebende, ganz doll liebende Tochter

21. 11. 1981Hans Zachert

Eben habe ich Deinen goldigen und inhaltstiefen Brief an mich gelesen. Ich war sehr gerührt und dankbar über Deine lieben Worte. Ich habe so recht gemerkt, dass man sich brieflich vielleicht doch noch einiges inniger sagt, als wenn man miteinander spricht, weil man seinen Gefühlen mehr Ausdruck gibt. Ich werde Dir noch oft schreiben und versuchen, Dir so nahe und verbunden zu sein, wie es halt so geht, mein gutes Kind. Es ist nicht so, dass erst jetzt, wo Du im Krankenhaus bist, unser aller Herz so für Dich schlägt. Uns Eltern war schon immer klar, dass wir in Dir ein allerliebstes und liebenswertes Kind besitzen. Man sagt dies im Alltag nicht den Kindern, doch in Zeiten der Sorge und Gefahr soll dieses Wissen Dich auch stärken und Dich glücklich machen. Könntest Du in mein Herz schauen, so haben Mama und Du einen ganz besonderen Platz, die Jungs auch, aber meine Liebe zu diesen ist doch etwas anderer Art.

Mein unendlich geliebtes Kind, wir erbitten auch Gottes Hilfe für Deine Heilung. Sei ganz innig lieb und zärtlich umarmt und geküsst von Deinem Vater

Die verbleibenden Tage im Bonner Krankenhaus waren ausgefüllt mit vielen Besuchen. Am Samstag durften wir dir noch einmal die Haare waschen. Wir hatten uns noch nicht getraut, dir zu sagen, dass du sie verlieren wirst. Am Sonntag kam Siegfried noch einmal und machte eine ganze Serie von Fotos. Fotos von Belli mit Mähne, mit Schopf, mit fliegenden Haaren, mit zurückgeworfenem Kopf und kokettem Blick. Dann kamst du auf eine Idee. Dich quälten die noch nicht vorhandenen Weihnachtsgeschenke. Immerhin war in fünf Wochen Weihnachten. Wir überlegten, ein Familienfoto zu verschenken. Natürlich waren Christian und Matthias von der Idee auch angetan; und dann ging das Blitzlichtgewitter noch etwas weiter. So verlebten wir den letzten Sonntag im Bonner Krankenhaus. Und keiner traute sich, einen traurigen Gedanken auszusprechen oder ein gereiztes oder böses Wort zu sagen, obwohl unsere Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren.

Am Montag früh war der Krankentransport bestellt. Zwei junge Männer brachten uns mit dem Krankenwagen zur Kölner Klinik. Es war eine furchtbare Fahrt, denn dir wurde schlecht. Wir mussten auf der Autobahn anhalten, du musstest raus und dich übergeben. Dir war schlecht, auch ohne Chemotherapie.

In Köln angekommen, es war mittlerweile der 23. November, hieß es erst einmal warten. Ein Bett bekamst du in einem Zimmer mit einer alten Dame. Professor Jäger war auf einem Seminar im Ausland, sollte aber im Laufe der Woche zurückkommen. Der Stationsarzt war ein unbedeutender junger Mann. Ich habe seinen Namen vergessen; er hatte einen schwarzen Bart. Du weißt schon, wen ich meine. Er hatte unglaublich platte Antworten, so in der Art: »Wir müssen alle einmal sterben, keiner weiß genau wann.« Der war bei dir gerade an der richtigen Adresse. Professor L. kam am Nachmittag. Er war der erste Lichtblick in Köln: ein väterlicher, souveräner Arzt. Eine Therapie veranlassen konnte er noch nicht, er musste erst auf die Rückkehr des Chefs warten, und es waren auch noch einige Untersuchungen erforderlich.

Für den nächsten Tag war eine Computertomografie angesetzt. Vater kam nach dem Dienst zu dir. Wir waren sehr traurig, dass wir in der Nacht nicht bei dir bleiben konnten, aber wir hatten kein Einzelzimmer bekommen können. Die Station war eine alte, kleine Privatstation, die den heutigen Bedürfnissen nicht mehr entsprach. Der Schock, dort für Wochen leben zu müssen, war nach dem modernen und freundlichen Bonner Krankenhaus umso größer. Die Schwestern waren nach jahrelanger Pflege von Nur-Tumorpatienten abgehärtet und ihre Kräfte fast aufgezehrt. Sie gaben sich trotzdem alle erdenkliche Mühe. Aber wenn die Narben eine Hornhaut auf deiner Seele bilden, weil du die Umstände auf Dauer anders nicht ertragen kannst, kannst du nicht gleichzeitig sensibel und fröhlich sein. An diesem Abend war uns das Herz schwer, als wir von Köln nach Hause fuhren.

Als ich am nächsten Morgen wieder nach Köln kam, warst du schon zur Computertomografie im Haupthaus. Dein Bett war leer, aber ich fand einen Briefumschlag »An Eltern Zachert« auf deinem Bett.

24. 11. 1981

Meine so lieben Eltern!Ich hatte Euch gerade so viel zu sagen, aber dann bin ich gestört worden und wieder eingeschlafen, weil ich die Schlaftablette nicht wegschlafen konnte.

Jetzt, wo Ihr nicht mehr jeden Moment in meiner Nähe sein könnt, fühl' ich mich so verlassen und alleine, klein und krank. Ich fühle, wie wichtig Ihr für mich noch seid. Wie ich Euch brauche und so stark vermisse unter diesem ganzen Trubel hier.

Hier, wo ich der Besserung schon viel näher bin, glaube ich, Euch verlieren zu können, weil ich denen hier doch eigentlich egal bin, aber Euch nicht.

Ich liebe Euch so unendlich

Belli

Während der ganzen Woche in Köln füllte sich deine Lunge wieder mit Wasser. Von Tag zu Tag konntest du schlechter sprechen. Du bekamst wieder Sauerstoff. In diesen Tagen las ich dir den Kleinen Prinzen von Saint-Exupéry vor – oft mit zitterndem Herzen.

Am Donnerstag kam Professor Jäger, ein Arzt von großer Persönlichkeit, mit dem ganzen Schatz seiner Erfahrung. Ihr beiden begegnetet euch mit großem Respekt. Für dich war er der Mensch, von dem du das Wunder erhofftest. Du warst für ihn mit zunehmender Zeit eine außergewöhnliche Patientin. So zurückhaltend er war, hatte ich doch manchmal das Empfinden, dass er dich wie eine Enkeltochter ansah.

Er erklärte uns, er habe noch keine Erkenntnisse über die Struktur des Tumors. Aufgrund der Gewebeentnahme dauere das ein paar Wochen. So lange könne man aber bei dir nicht warten. Er wäre jetzt in der Situation des Jägers, der bei Dunkelheit in den Wald schießt und trotzdem treffen muss. Er entschied sich für das HOK'sche Schema. Am Donnerstag noch legten sie dir den Subclaviakatheter. In dieser Nacht, vor dem Beginn der ersten Therapie, mussten wir dich wieder alleine lassen. Es muss für dich eine schlimme Nacht gewesen sein, denn das Unbekannte, die Fragen und Ängste, die Schmerzen und Beschwerden – du hattest einen schlimmen Fieberanfall, der deinen ganzen Körper schüttelte – waren so groß, dass du darum gebeten hast, den diensthabenden Nachtarzt zu holen. Was er dir gesagt hat, weiß ich nicht, aber was er bei dir angerichtet hat, spürte ich am nächsten Tag. Er hat dich jedenfalls gründlich aufgeklärt, auch darüber, dass du deine Haare verlieren wirst. Mir war am nächsten Morgen sofort klar, dass es ein sträflicher Fehler von uns war, mit dir darüber nicht gesprochen zu haben. – Aber Mut ist eine Gabe, die man sich nicht kaufen oder befehlen kann. Mut muss in einem wachsen.

27. 11. 1981

Liebe, liebe Lou!Als ich Eure Briefe bekommen hatte, musste ich weinen, weil ich mich so darüber gefreut habe. Ich freue mich schon auf die Erholungstage irgendwann bei Euch.

Erholung habe ich im Moment ganz schön nötig. Ich bin doch nach Köln verlegt worden, in diese ekelhaften Uni-Kliniken. Dort liege ich bei Herrn Prof. Dr. Jäger, einem berühmten Arzt, in einem ganz abgelegenen alten Bau, und von Montag bis gestern, also Donnerstag, musste ich zu Untersuchungen immer wieder hinüber in den anderen Trakt. Die Kliniken haben einen sehr schlechten Haustransport, kleine Kombis, auf die ich im »Bettenhaus«, so heißt das moderne Gebäude, bis zu einer Stunde warten durfte.

Und gerade gestern hatte ich wieder zwei schwere und schmerzhafte Untersuchungen. Um 10.30 Uhr haben die mich hinübergebracht und dann wurde mir erst mit einer Spritze Gewebe aus der Lungenwand entnommen und danach noch ein kleiner Katheter durch meine rechte Schlüsselbeinvene zum Herzen hin eingeführt und der Schlauch an die Haut angenäht. Und jetzt guckt aus mir immer 10 cm Schlauch raus. Nachdem das gestern beides gemacht wurde, es war mittlerweile 12.30 Uhr, wurde ich noch geröntgt, und dann durfte ich bis 14.30 Uhr auf meinen Rücktransport warten. Da bemerkte ich plötzlich, dass der ganze Schlauch voll Blut war. Der Schlauch hing an einem Tropf, den ich immer mit einem Ständer durch die Gegend mit mir nehmen musste. Das war natürlich sehr schlecht, weil der Schlauch durch das Blut verstopfte und jetzt erst wieder gesäubert werden musste. Ich gehe so schnell zumindest nicht mehr in dieses ekelhafte Haus. Es ist so groß, dass man es in Ebenen eingeteilt hat -2; -1; 0; 1; ...; 4; ...; 18. Ich denke immer, ich bin in einem Flughafen. Wenn meine Eltern nicht so ausgesprochen lieb und hilfsbereit wären und mich so oft wie möglich besuchen würden – auch Oma und gute Freunde, das wird immer abgesprochen –, würde ich in dieser ersten Woche zerbrochen sein. Am Dienstag musste ich mich ganz doll bei Mutti ausweinen. Ich hatte so ziemlich Pech seit dem Aufstehen, das mit Kreislaufstörungen begann, und dann wurde ich das erste Mal hinübertransportiert, und da kannte mich niemand. Die hatten keine Unterlagen, und ich musste mir alles erkämpfen. An diesem Tag ist mir auch klar geworden, wie schwer krank ich bin, und ich war so unglücklich wie selten in meinem Leben.

Du wirst in diesem großen Krankenhaus aber richtig kaputtgemacht. Ich will hier so schnell weg, wie ich darf. Nach der ersten Therapie darf ich für vier bis sechs Wochen weg, wahrscheinlich wieder ins Bonner Krankenhaus, wo ihr mich besucht habt, was mich so sehr gefreut hat.

Ihr wisst ja gar nicht, wie sehr ich Euch alle mag. Ihr könntet für mich eine zweite Familie sein. Mit Caroline habe ich mich so herzlich verstanden, und Manöelle hat mich in der einen Woche bei Euch ganz lieb umsorgt.

Oder ich kann vielleicht sogar nach Hause. Ich muss aber sehr vorsichtig sein, weil die Therapie Nebenwirkungen hat, die man noch nicht weiß. Vielleicht fallen mir alle Haare aus, was ich mir wünsche, wenn ich dafür keine anderen Nebenwirkungen habe.

Die Fotos waren sehr nett, denn ich konnte gleich sehen, wo es ist. Wenn ich Euch das nächste Mal besuchen kommen darf, werde ich so viel helfen, wie ich darf und kann.

Bitte grüße alle Deine Lieben. An Caroline schreibe ich selber. Seid alle ganz ganz doll gedrückt und herzlichst geküsst

Eure Isabell

Am Freitag ging es los. Du vertrugst die Therapie blendend, im Verhältnis zu dem, was man sonst wohl gewohnt war. Auch hattest du jetzt ein Einzelzimmer, und einer von uns konnte auch nachts bei dir bleiben.

Am Sonntagmittag kam Vater mit Matthias und Christian. Die Freude, dass wir fünf endlich wieder einmal zusammen waren, war auch bei dir sehr groß. Christian, der eine Lehre in einem Sportgeschäft machte, hatte vier oder fünf Trainingsanzüge für dich zur Auswahl mit, was du sehr lieb von ihm fandest. Am größten war aber unser aller Glück, dass es deiner Lunge nach zwei Therapietagen offenbar schon so viel besser ging, denn du hattest die Sauerstoffzufuhr bereits gestern abgestellt. Du konntest seit heute wieder kräftig und deutlich sprechen und wolltest selbst aus einem Buch weiter vorlesen. Noch nie in meinem Leben habe ich erlebt, dass Glück so anstrengend sein kann. – Ich war schweißgebadet.

Am Nachmittag machten Vater und ich »Stabwechsel«. So nannten wir es, wenn wir uns an deinem Bett ablösten. Ich fuhr mit den Jungs zu Tante Eva und ihrem Mann, wo wir mit Oma zum ersten Adventssonntag eingeladen waren. An diesem Tag trug ich alle Hoffnungen der Welt in meinem Herzen.

Wir hatten sehr schnell begriffen, wie wichtig es war, dass wir während der Therapie immer bei dir waren, und wie sehr wir den Erfolg dadurch unterstützten. Wir versuchten, mit unserem Bei-dir-Sein deine Angst zu mildern und, wenn möglich, gesprächsweise deine Gedanken auf schöne und hoffnungserweckende Dinge zu lenken. Wenn es die Möglichkeit gab, dir eine Freude zu machen, so versuchten wir alles, es zu tun. Das HOK'sche Schema dauerte acht Tage und war ein voller Erfolg. Jetzt mussten wir anfangen, uns zu organisieren. Wie sollten wir unsere Zeit einteilen? Vater und ich wollten sichergehen, dass einer von uns immer bei dir sein konnte. Ich war beruflich nur halbe Tage eingespannt, Vater wurde im Dienst voll gebraucht. Den einzigen zeitlichen Joker hatte also ich in der Hand.

Ich überlegte, meine Arbeit zu kündigen, aber da erhobst du entschiedenen Protest. Du wolltest, dass unser Leben so normal wie nur irgend möglich weiterläuft. Auch wusstest du um die Bedeutung der Arbeit für mich. Jede einschneidende Veränderung unserer Lebensform hättest du als Verunsicherung empfunden.

Zwischenzeitlich hatte sich um uns ein Kreis von Freunden geschart, die uns alle halfen. Es war die Hilfe bei den praktischen Dingen des Lebens, die uns bei der Bewältigung unseres großen Problems half. Es fing zum Beispiel damit an, dass ein befreundetes Ehepaar uns seinen Zweitwagen zur Verfügung stellte; damit konnten wir unseren »Stabwechsel« viel flexibler und zeitsparender gestalten, oder dass unsere Nachbarin, Frau Braun, die Wäsche auf dem Trockenboden abnahm und sie mir gebügelt hinlegte. Inge, eine Freundin von uns und die Mutter deiner besten Freundin Maren (Marens Vater Hans-Jürgen und dein Vater haben schon in Japan als kleine Kinder miteinander gespielt, eine Freundschaft in dritter Generation; die Oma und Marens Großeltern sind heute noch befreundet), freute sich, dich zu besuchen, obwohl Maren querschnittsgelähmt im Rollstuhl saß. Mit Maren gingst du von Anfang an in die gleiche Klasse im Amos-Comenius-Gymnasium, und schon als Fünfjährige wart ihr miteinander befreundet. Erst im Alter von acht Jahren erkrankte Maren schwer.

5. 12. 1981

Meine liebe Maren!Deine Briefe sind immer so Kraft gebend. Ich danke Dir für sie. Das Gedicht ist auch wunderbar. Ich werde es mir aufhängen.

Euer Weihnachtskalender bereitet mir sehr viel Freude. Vor allem das kleine Igelchen und das runde Medaillon.

Ich finde es ganz lieb, dass meine Musiklehrerin, Frau Bell, an mich geschrieben hat. Sag ihr bitte, ich habe mich sehr über ihren Brief gefreut, der mich auch aufgebaut hat. Sie hat sich sehr viel Mühe gegeben. Du warst es, so glaube ich, die meine Gedanken in meinen ganz schlimmen Tagen am besten verstehen konnte. Deshalb gibst Du mir ja auch so viel Kraft.

Gestern durch das Telefon hörte ich, dass es Dir nicht so gut geht. Ich und auch jemand anders denken viel an Dich.

Meine gute Maren, sei umarmt, grüße Deine liebe, gute Familie

Deine Belli

Wann immer Inge ein paar Stunden für dich Zeit hatte, kündigte sie es an, damit ich in der Zeit in den Dienst fahren konnte. Inge hat auch das Problem mit den ausgehenden Haaren gelöst. Nach fünf bis sechs Tagen Therapie hattest du nur noch einen ausgefransten Mottenkopf. Kämmen konnte man das verfilzte Haar nicht mehr. Aber abschneiden? Wir konnten noch nicht einmal darüber sprechen. Ich musste dir deine rote Baskenmütze von zu Hause mitbringen. Unter diese wurde das verbleibende Haargewurschtel gestopft. Mit Galgenhumor erzähltest du, du würdest jetzt aussehen wie ein Papagei. Einen gelben Pyjama hattest du auch schon an. Inge konnte das nicht ertragen. Sie besprach mit dir, ob es nicht besser wäre, das Haar abzuschneiden. Zum Glück, es ward getan.