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Harald Stutte

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Beschreibung

Die DDR in den 80er Jahren. Harry und seine Freunde stoßen ständig an Grenzen. Der Staat will sie schon mit 11 auf eine Armeelaufbahn verpflichten. Sie selbst wollen die Freiheit, Punk und New Wave zu hören, Gängelung und der grauen Nachkriegs-Tristesse entfliehen. Es sind aber auch flirrende Zeiten – geprägt von TV-Serien wie «Rauchende Colts» und «Dallas», von Bands wie The Sweet und den Sex Pistols, geklauten Büchern, einer Giftküche, ritualisiertem Kotzen und Nächten in der Nobel-Disco Eden. Nur noch das Abitur – dann die Lücke im Eisernen Vorhang finden. Aber die Flucht endet tragisch, in Stasi-Knast und Strafvollzug. Harry wird freigekauft und erfährt, wie es ist, einfach so durch Europa zu reisen. Atmosphärisch dicht erzählt Harald Stutte von Kindheit und Jugend in Leipzig.

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Seitenzahl: 322

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Harald Stutte

Wir wünschten uns Flügel

Eine turbulente Jugend in der DDR - und ein Fluchtversuch

 

 

 

Über dieses Buch

Die DDR in den 80er Jahren. Harry und seine Freunde stoßen ständig an Grenzen. Der Staat will sie schon mit 11 auf eine Armeelaufbahn verpflichten. Sie selbst wollen die Freiheit, Punk und New Wave zu hören, Gängelung und der grauen Nachkriegs-Tristesse entfliehen. Es sind aber auch flirrende Zeiten – geprägt von TV-Serien wie «Rauchende Colts» und «Dallas», von Bands wie The Sweet und den Sex Pistols, geklauten Büchern, einer Giftküche, ritualisiertem Kotzen und Nächten in der Nobel-Disco Eden. Nur noch das Abitur – dann die Lücke im Eisernen Vorhang finden. Aber die Flucht endet tragisch, in Stasi-Knast und Strafvollzug. Harry wird freigekauft und erfährt, wie es ist, einfach so durch Europa zu reisen. Atmosphärisch dicht erzählt Harald Stutte von Kindheit und Jugend in Leipzig.

Vita

Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, der „Süddeutschen Zeitung“ oder der „Welt am Sonntag“ erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Iain Masterton/Alamy; Bild vom Autor

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01515-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Pa, das unbekannte Wesen.

I was born with the wrong sign

In the wrong house

With the wrong ascendancy

I took the wrong road

That led to the wrong tendencies

I was in the wrong place at the wrong time

For the wrong reason and the wrong rhyme

On the wrong day of the wrong week

I used the wrong method with the wrong technique

 

Martin L. Gore, Depeche Mode, Wrong

Babyboomer

Als Kind habe ich stets bedauert, nicht in einer anderen Zeit zu leben: im Mittelalter zum Beispiel, als Ritterheere umherzogen. In der Zeit der großen Entdeckungen. Oder in der Zukunft, weil ich überzeugt war, in jedem Wohnzimmer sähe es dann aus wie auf der Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise. Die Zeit, in der ich lebte, fand ich langweilig. Schon das Jahr meiner Geburt, 1964, war seltsam gesichts- und beinahe geschichtslos.

All die Ereignisse, die wir heute mit den 60er-Jahren verbinden, 1964 fanden sie nicht statt. Die Mauer wurde drei Jahre zuvor gebaut. Die Kubakrise war 1962. Im Jahr darauf wurde John F. Kennedy ermordet, Amerika wurde Kriegspartei in Vietnam, und die Beatles feierten ihren weltweiten Durchbruch 1963. Woodstock, sexuelle Revolution, Studentenproteste, Mondlandung, Martin Luther Kings und Robert Kennedys Ermordung – etwas turbulenter ging es in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre weiter. Nur 1964 passierte – fast nichts, mal abgesehen von der Absetzung des sowjetischen Staatsoberhaupts Nikita Chruschtschow. Und abgesehen davon, dass Chemie Leipzig, der grün-weiße Underdog aus dem Norden meiner Heimatstadt, zum ersten und einzigen Mal ostdeutscher Fußballmeister wurde. Aber das war schon kein Ereignis mehr auf Weltniveau …

Und dennoch ist das Jahr 1964 aus heutiger Sicht ein Meilenstein in der mitteleuropäischen Geschichte; es markiert eine Trendwende, deren Folgen unsere Gesellschaft bis heute prägen. Bis zu diesem Jahr war die Bevölkerung im Herzen des alten Kontinents Europa jahrhundertelang konstant gewachsen. 1964 erreichte diese demografische Tide ihr Allzeit-Hoch – um in den folgenden Jahrzehnten bis zum heutigen Tag kontinuierlich zu sinken. Nie zuvor und vermutlich nie wieder danach kamen in Deutschland so viele Babys auf die Welt: 1357304, eines davon war ich. Und allein unsere Vielzahl verleiht uns «64ern» ein Gewicht, eine Bedeutung, die uns bis heute trägt. Wir sind viele, wir sind stark, von nun an ging’s bergab.

Ein echter 64er musste sich allerdings durchbeißen, im Zweifel wurde er überhört oder übersehen in diesem Meer von Kindern. Ein 64er lernte, sich in Geduld zu üben, ebenso im Wegstecken von Niederlagen. Unsere Kindheit glich einer nicht enden wollenden «Reise nach Jerusalem», weil es stets mehr Hintern als bereitstehende Stühle gab. So wetteiferte stets ein Überangebot an motivierten Jungs um die limitierten Plätze im Startaufgebot der Fußballmannschaften auf den Hinterhöfen. Man musste gut sein, sonst versauerte man als Reservespieler am Rand der wenigen Rasenflächen, die wir als Bolzplätze umpflügen durften, bis uns Erwachsene mal wieder davonjagten.

Hinter jedem Busch, so schien es, kroch ein Kind hervor. Und immer gab es Zoff, weil die Erwachsenen keine Zeit hatten, sich um diese Kinderherden zu kümmern. Zumal in Ostdeutschland, wo die Mütter fast ausnahmslos berufstätig waren. Wenn man sie nicht ignorierte, wurde mit Kindern zumeist gemeckert. Unter uns galt recht unverfälscht das sozialdarwinistische Recht des Stärkeren. Also kloppte man sich oft und hatte mitunter aufgeschlagene Knie. Unsere Klamotten wurden ausgebessert. Blieben wir beim Klettern über einen Gartenzaun mal wieder an einem Nagel hängen, dann wurde das Dreieck im Hosenstoff anschließend geflickt.

Fast jeder 64er hat eines oder mehrere Geschwister, was dazu führte, dass einem von Eltern und Verwandten nie übermäßig viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Narzissmus ist uns eher fremd. Eitelkeit auch. Weil wir mitunter die Klamotten der Älteren auftragen mussten, in meinem Fall war dies der ein oder andere Mädchenpullover oder knallbunte Anorak. Denn ich habe eine Schwester, sie ist zweieinhalb Jahre älter. Wir hatten zu lernen, vielen Versuchungen zu widerstehen. Näherte sich am Wochenende die ungeduldige Kinderhand an der in Sachsen so verbreiteten Nachmittags-Kaffeetafel dem Kuchenteller, dann gab es auch schon mal was auf die Finger. Die Botschaft war eindeutig: Warts ab, erst mal die Erwachsenen, du bist nichts Besonderes …

Und das war ich auch nicht, wäre da nicht mein Geburtstag gewesen. Der immerhin machte den klitzekleinen Unterschied aus. Weil stets Feiertag war. Und es sollen in der Stunde meiner Geburt am Leipziger Himmel tatsächlich Blumensträuße aus buntem Licht zu sehen gewesen sein, erzählte meine Mutter später. Denn es war der 7. Oktober, und die Mächtigen feierten mit einem aufwendigen Feuerwerk den 15. Jahrestag der Gründung ihres seltsamen Staates. Stets an einem Feiertag Geburtstag zu haben, hatte ich allen voraus, die ich kannte. Wenn ich jedoch als Kind mit aufrechtem Stolz berichtete, ich hätte am «Tag der Republik» Geburtstag, bekam ich oft verschämt lächelnd zu hören: «Ja, ja, du bist schon ein Glückspilz, an so einem großartigen Tag geboren zu sein …» Die Häme, die da mitunter mitschwang, erschloss sich mir nicht. Auf meinen Geburtstag war ich wirklich stolz. Was auch darauf fußte, dass an jenem 7. Oktober das Einheitsgrau des ostdeutschen Alltags stets von bunten Farbtupfern belebt wurde, denn überall in den Straßen wehten Flaggen – rote und kunterbunte. Es verlieh dieser Stadt im matten Herbstlicht ein freundlicheres Antlitz. Ich empfand das als großes Glück, zusammen mit meiner Heimat Geburtstag feiern zu dürfen, welche zu lieben und zu ehren wir Kinder stets angehalten wurden.

Abgesehen von solchen Farbtupfern spielte sich meine Kindheit in der Rückschau betrachtet in einer Palette der Grautöne ab. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es heute nur noch Schwarz-Weiß-Fotos aus dieser Zeit gibt; jedenfalls läuft in meiner Erinnerung stets ein ziemlich farbloser Film ab. So grau wie die bröckelnde, poröse Haut der betagten Häuser. Changierend zum eher rötlichen Grau der vom Industrieschmutz befleckten Dächer. Und dann war da dieses dunkle Grau des mächtigen, fast 100 Meter hohen Völkerschlachtdenkmals, welches sich in seiner düster-martialischen und klobigen Wucht über unserem Stadtteil Marienbrunn aufbaute wie der japanische Monster-Drache Godzilla. Nachts leuchteten am oberen Ende dieses Granit-Kolosses je zwei rote Lichter, die wie zwei böse glühende Augen in alle Himmelsrichtungen blickten.

Grau waren die Straßen mit ihrem rissigen Belag. Grau waren die Hemden der Polizei. Grau war die Wäsche, die zum Trocknen vor den Häusern auf den Leinen hing und die uns nass ins Gesicht klatschte, wenn wir beim Herumtoben den Kopf nicht tief genug senkten. Grau vom Wind, der die von Aschepartikeln schwangere Luft mal aus dem südlich gelegenen Böhlen und Espenhain mit ihren Kohlekraftwerken, mal aus den nördlich gelegenen Chemiewerken Wolfen und Bitterfeld nach Leipzig wehte. Selbst die wenigen Autos, die sich damals in unseren Triftweg verirrten, changierten im Spektrum der Grautöne – zwischen «delphingrau», «lichtgrau», «silbergrau» und «marmorweiß», wie es in der offiziellen Farbpalette des Einheitsautos der Marke Trabant hieß. Grau und müde wirkten auch die Gesichter der Menschen, im DDR-Sprech Werktätige genannt, die mit 40 schon wie Rentner aussahen, mit 60 wie Greise.

Für die wenigen Farbtupfer in diesem Meer aus Grau sorgten neben den erwähnten Fahnen an den Feiertagen auch die Propagandatafeln, weiße Schrift auf rotem Grund, die in den Betrieben, Schulen und wo auch immer für gute Laune sorgen sollten: «Die Deutsche Demokratische Republik – Retter des Friedens» oder «Unser Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden». Kampf, Frieden, Arbeit, Sozialismus, Volk – der Wortschatz der Mächtigen war überschaubar.

In all diesem Grau wirkte die Region, in der ich aufgewachsen bin, dennoch geradezu heiter. Marienbrunn wurde erst 1913 von kreativen Architekten nach dem Prinzip der Gartenstadt konzipiert. Ein Gebiet im Südosten Leipzigs, welches hundert Jahre zuvor, 1813, Schauplatz der entscheidenden Niederlage Napoleons gewesen war. Die kleinen Häuschen, vielfach in Kletterpflanzen gehüllt und eingebettet in Vor- und Hinterhausgärten, schienen tatsächlich einmal geplant worden zu sein, damit sich Menschen darin wohlfühlen. Vermutlich ist Marienbrunn das einzige Viertel in Leipzig, in dem die Straßen durch all die wechselnden Zeiten hindurch ihre Namen nie ändern mussten. Egal ob in Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazizeit oder DDR: Rotkäppchenweg, Rapunzelweg, Froschkönigweg und Märchenwiese überdauerten sie alle. Marienbrunn blieb Marienbrunn, bemüht heiter und weitgehend ideologiefrei. Ein Kleinod, verglichen mit den zerfallenden Nachbarstadtteilen Connewitz oder Stötteritz, ganz zu schweigen vom tristen Osten der Stadt. Es gehörte zum Sound dieses Stadtteils, dass aus dem geöffneten Fenster eines der Häuser mitunter Klaviermusik auf den Dohnaweg flutete, während mich meine Mutter aus dem Kindergarten abholte; dazu war ein Bariton zu hören. Musiker wohnten hier, Wissenschaftler, Selbstständige und Menschen wie wir.

Meine Eltern waren unauffällige Leute – so unauffällig, wie es sich in dem kleinen Land der kleinen Leute ziemte. Mein Vater war 1933 in dem winzigen Thüringer Dorf Trügleben geboren worden, in dem man den Eindruck hatte, die Unbilden der Zeit – Nationalsozialismus, Krieg und Kommunismus – hätten es links liegen lassen. Ich glaube, etwas von dieser Weltabgewandtheit gehörte auch zum Wesen meines Vaters, den es als jungen Bauingenieur in die «Großstadt» Leipzig verschlagen hatte, wo er über einen Freund meine Mutter kennengelernt hatte, eine gebürtige Leipzigerin.

Mutter war die älteste von drei Töchtern eines Leipziger Tischlermeisters, der es in den 20er- und 30er-Jahren zu einem soliden bürgerlichen Wohlstand gebracht hatte. Wie fast alle Mütter in Ostdeutschland arbeitete sie, in einem Großhandel für Obst und Gemüse war sie als Sachbearbeiterin beschäftigt. Das Jahr ihrer Hochzeit, im selben Jahr hatte sich ihr kleines neues Heimatland eingemauert, erfüllte das junge Paar die vom Staat gesetzten Erwartungen – meine Schwester wurde geboren, zweieinhalb Jahre später ich. Was sie wiederum zu den glücklichen Mietern einer kleinen Wohnung im Stadtteil Marienbrunn werden ließ, das war der Deal, der für alle Angepassten galt. Mama hätte ihre Heimatstadt, aber auch ihre Eltern, Schwestern, Verwandtschaft ohnehin nie verlassen – wohl auch nicht unter den unerträglichsten politischen Umständen.

Wir wohnten am Triftweg in einem der dort in den 20er-Jahren errichteten dreistöckigen Mietshäuser mit Spitzdach, zu denen ein Garten im Hinterhof gehörte. Die Wohnungen hatten wenig Komfort, einen mächtigen gemauerten Ofen im Wohnzimmer, der einen Großteil des Raumes ausfüllte, dazu ein Kinderzimmer mit einem kleineren Ofen und eine Küche mit Gasherd, das Wasser floss dort nur kalt. Die beiden Öfen mussten in den kälteren Jahreszeiten täglich mit Braunkohlenbriketts beheizt werden, sonst wäre die Wohnung kalt geblieben. «Fußkalt» war sie dennoch, wie unsere alte Tante Lies gern sagte, auch durch die Ritzen der Fenster, auf deren Glas der Frost im Winter gern Eisblumen zeichnete, blies es kalt. Warmwasser gab es nur, wenn einmal wöchentlich am freitäglichen Badetag der dritte Ofen im Badezimmer beheizt wurde.

Trügleben

Damals, als ich klein war, erschien mir alles riesig. Meine Geburtsstadt Leipzig zum Beispiel und auch dieser eingemauerte Bonsai-Staat DDR, den ich später als Jugendlicher das Gehege nannte. Unser Trabant sowieso. Geradezu gigantisch erschien mir der Inselsberg im Thüringer Wald, vor dessen sanfter Rundung wir, meine ältere Schwester und ich, alljährlich den Großteil unserer Sommerferien verlebten. Ich vermute, es war ein Akt der Notwehr, der viele Eltern ihre Kinder irgendwo parken ließ, denn diese schulfreien Sommer zogen sich endlose acht Wochen lang hin, und die Möglichkeiten zu urlauben waren begrenzt. Was an den limitierten Reisemöglichkeiten lag, an der enormen Nachfrage nach den wenigen Unterkunftsplätzen an der Ostsee, zu guter Letzt aber auch an den verhältnismäßig wenigen Urlaubstagen, auf die die Werktätigen im selbsternannten Arbeiter-und-Bauern-Staat Anspruch hatten.

Also wurden wir zur Oma geschickt, was in der Regel keine allzu große Begeisterung auslöste. Denn schon diese drei, vier Wochen waren eine verdammt lange Zeit, die wir dort weitgehend ohne die Gesellschaft anderer Kinder verbrachten, von denen es im Dorf nur wenige gab, und sie mochten uns Großstadtkinder auch nicht besonders.

Natürlich fügten wir uns dennoch brav, wie wir das eben gewohnt waren. Und immerhin ging von diesen Besuchen stets auch ein Zauber aus, der meine Fantasie beflügelte, auf den ich noch näher eingehen werde. Denn das Dorf Trügleben lag fernab von Zeit und Raum in Thüringen, eine gefühlte Ewigkeit weg von unserer Stadt. Es glich einer Reise ins Mittelalter, oder dem, was ich als Fan einer Fernsehserie, die «Die Melchiors» hieß, darunter so verstand.

Aufregend war schon die Hinfahrt. Heute kaum vorstellbar: Für die 180 Kilometer lange Strecke in das kleine Dorf bei Gotha benötigten wir bis zu vier Stunden – über holprige Straßen in unserem schlecht gefederten, verwinkelten, lauten, zudem schwachbrüstigen Trabant aus volkseigener Produktion. Schon am Vorabend packten meine Eltern die Taschen, füllten und verstauten einen großen Kanister mit Benzin im engen Kofferraum des Duroplast-Vehikels, denn es gab zu wenige Tankstellen in der DDR. Die Gefahr, ohne Sprit auf halber Strecke zu stranden, war also groß. Meine Mutter nahm auf solchen Reisen stets Brotpakete, Würste und gekochte Eier mit, denn Raststätten waren ebenfalls rar. Und auf Restaurants war im Arbeiter-und-Bauern-Staat kein Verlass – entweder waren sie geschlossen oder überfüllt. Oder sie verwalteten den üblichen Mangel.

Also tuckerten wir in dem mit vier Personen und vielen Taschen bis hart an seine Raum- und Leistungsgrenze beladenen Trabant aus dem Leipziger Süden in Richtung Westen, vom Schlachtfeld der Napoleonischen Kriege über die Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges bei Lützen bis hin zu den Schlachtfeldern des Bauernkrieges in Ostthüringen. Jeder Quadratmeter mitteldeutschen Bodens Geschichte, gedüngt mit Soldatenblut.

Ich freute mich stets, wenn wir endlich die Autobahn erreichten. Denn das waren Transitstrecken, dort pulsierte das Leben. Autobahn – das bedeutete kunterbunte Reisebusse aus der Bundesrepublik oder Skandinavien, große Lastwagen mit Bildern von Bären mit Milchkannen auf der Seite und coole Autos mit Stern. Ich sah Busse mit riesigen Scheiben, hinter denen gut gekleidete Menschen auf uns Kinder herabgafften, die wir uns auf der Rückbank des kleinen, lauten und hässlichen Autos duckten.

Ich spornte meinen Vater zu höherem Tempo an, falls er mich im Lärmpegel des jaulenden Trabi-Motors überhaupt verstand, und triumphierte, wenn wir dann doch einmal einen Mercedes überholten, der sich aus Angst vor den Abzockern von der Volkspolizei an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h hielt. Ich freute mich vor allem, meinen Freunden etwas erzählen zu können, wenn die Schule wieder losging. Denn «Westautos», wir kannten sie alle, schließlich lebten wir ja in der gut besuchten Messestadt Leipzig, waren immer ein dankbares Jungenthema.

Die Autobahnen waren damals noch in ihrem Ursprungszustand aus der Nazizeit, bestanden also aus verlegten Betonplatten. Und weil die sich witterungsbedingt und im Lauf der Zeit gehoben oder gesenkt hatten, machte unser Trabi in unregelmäßigen Abständen kleine Hüpfer. Bald quälte uns Kinder die Endlosigkeit dieser Fahrten. Meine Schwester musste regelmäßig kotzen. Noch heute kann ich die Reihenfolge der zu passierenden Autobahnabfahrten – Jena-Lobeda, Arnstadt, Weimar, Erfurt – im Schlaf herunterspulen. Unterbrochen wurde diese Monotonie von am Fenster vorbeiziehenden Ritterburgen wie den Drei Gleichen zum Beispiel oder dem Panzerschrottplatz im Südosten Gothas, nachdem man die Autobahn verlassen hatte. Da standen ausgemusterte sowjetische Panzer, deren entschärfte Kanonenrohre nun sinnlos in den Himmel wiesen. Wie auf einer Berg-und-Tal-Bahn ging es danach über die Fernverkehrsstraße 7, die ehemalige Reichsstraße 7, scharf in Richtung Westen. Erster Vorbote des nahen Ziels war die auf dem Krahnberg über Omas Dorf gelegene «Russenkaserne». Sie war in der damaligen Wahrnehmung ein verwunschener Ort, über den die Menschen mehr flüsterten als sprachen. Nichts war darüber in der Zeitung zu lesen. Obwohl die Kaserne vermutlich mehr Menschen beherbergte als das Dorf mit seinen knapp 300 Seelen.

Gut durchgeschüttelt erreichten wir schließlich Trügleben, die Einheimischen nannten es «Driläben». Das Dorf liegt westlich von Gotha in einer extremen Hanglage und wird im Norden lediglich von der wenig frequentierten Fernverkehrsstraße 7 tangiert, die noch heute Gotha und Eisenach verbindet, aber vor Jahren zur Landesstraße 3007 degradiert wurde. Oma bewohnte ein kleines, gedrungenes Häuschen, erbaut am Ende des 19. Jahrhunderts, an dem der Zahn der Zeit nicht mehr nur nagte, sondern bereits mit großem Appetit fraß. Putz fiel von der Wand, Schindeln lösten sich aus dem Dach. Ein schweres, fast drei Meter hohes Holztor versperrte die Sicht auf die unbefestigte, stets von tiefen Traktorspuren zerpflügte Dorfstraße. Die schräg stehende und das Häuschen überragende Scheune war einsturzgefährdet, eine Wand wurde durch einen angelehnten, schweren Stahlträger provisorisch gestützt. Die morschen Holzbretter auf dem Heuboden trugen keinen Menschen mehr, man drohte schlicht hindurchzufallen. In der Scheune hingen, lagen, standen Geräte und Dinge, die heute ein Heimatmuseum füllen könnten: Dreschflegel, antiquierte Sicheln und Sensen, geflochtene Tragekörbe, Petroleumlaternen.

Auf dem uneben mit Feldsteinen gepflasterten Hof tapste eine Handvoll Hühner umher, die aus einem alten Wehrmachtskochgeschirr Futter pickten. In meiner Erinnerung war das Alleinstellungsmerkmal dieses Dorfes sein Geruch, an den man sich nach wenigen Stunden gewöhnt hatte. Es roch nach Dung, nach Landwirtschaft, nach Gülle. Nicht einmal unangenehm, aber so komplett anders als das, was wir aus unserer Stadt mit ihrem penetranten Odem aus verbrannten Braunkohlebriketts, Industrieabluft und Abgasen der Zweitakt-Verbrennungsmotoren kannten.

Hühnergegacker, Entengeschnatter, Hundegebell, das einmalige Schlagen der Kirchturmuhr zur halben und das die Uhrzeit zählende Schlagen zur vollen Stunde bildeten den Sound der Trüglebener Wochen. Die Tage waren eine ewige Wiederkunft des Gleichen. Morgens trieb pünktlich ein Schäfer seine Herde die Dorfstraße hinauf, dessen zwei aggressive Hunde sich dann heftigste Bell-Duelle mit Omas Mischlingsrüden Mohrle lieferten; das Hoftor verhinderte die physische Entladung der tierischen Gewalt.

Gegen Mittag kam die Milchfrau Hedwig, ihren Karren schiebend und aus einem großen, mit einem Gummipfropfen verschlossenen Metallbehälter Milch schöpfend. Kurz darauf erschien, von Oma ersehnt, die Postfrau Steffi. Mit einer schweren Tasche behängt, war ihre Ankunft für Oma stets Anlass zu einem langen Plausch. Das waren Omas überschaubare soziale Kontakte. Als junges Paar waren Oma Marie und ihr August, noch nicht 30, in das Haus gezogen, in dem ihre betagte, verwitwete Mutter allein lebte, vermutlich der günstigen Lebenshaltungskosten im Dorf wegen und der Nähe zu Gotha. August kam aus dem hessischen Gladenbach, keine 200 Kilometer westlich. Für uns Spätergeborene blieb es das Land «hinter den Hörselbergen», gelegen irgendwo da, wo die Sonne unterging, im unerreichbaren Westen. Hier in Thüringen bekam der Landschaftsarchitekt eine Anstellung, Oma kümmerte sich fortan um ihre betagte Mutter, das Haus und die kleine Landwirtschaft. Im August 1933 wurde ihr einziges Kind geboren, mein Vater. Ich vermute, dass die Zugezogenen im Dorf stets als Fremdkörper empfunden wurden. Das änderte sich auch nicht nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Mannes sowie dem Wegzug des Sohnes. Oma blieb eine Außenseiterin.

Jeden Mittwoch kam ihr Schwager aus dem nahen Gotha zu Besuch, Onkel Hermann, Hermann Buck, damals verwitwet und bereits jenseits der 90. Er kam mit dem einzigen Bus am Vormittag, blieb zum Mittagessen, hielt dann einen Mittagsschlaf und fuhr mit dem Nachmittagsbus wieder zurück. Hermann war ein sparsamer Schwabe, dem aber nachgesagt wurde, dass der ehemalige Malermeister sagenhaft reich sei. Er saß im Garten auf einem Stuhl, las die Zeitung, sprach wenig – und war der erfolgreichste Fliegenfänger der Welt. Er klatschte Fliegen mit der flachen Hand weg, indem er die Hand über dem Insekt minutenlang bedrohlich ruhen ließ, immer näher kam – und blitzartig zuschlug. Jeder Schlag ein Treffer.

Über die meisten Dörfler sprach Oma wenig schmeichelhaft. Was sicher auch an ihrem und auch deren kauzigen Wesen lag, aber zugleich Produkt eines unterkühlten Miteinanders der Dörfler war in dieser von Neid und Missgunst einerseits, andererseits aber von pflichtgemäßer Solidarität und Verantwortung füreinander geprägten Welt. Echte Freunde hatte Oma im Dorf nicht, aber sie war Teil dieser Gemeinschaft. Die alte Frau hatte gelernt, sich Hilfe zu organisieren, wenn nötig. Und sie wurde ihr von den Bauern, argwöhnischen und eigensinnigen Leuten, auch stets gewährt. Der Umgang miteinander war nicht freundlich, die Rauheit des Lebens hatte auf das soziale Miteinander abgefärbt. Aber man wurde im Zweifel auch nicht alleingelassen.

In Omas Haus gab es kein fließendes Wasser, sodass sie täglich mit zwei schweren Emaille-Eimern zum Dorfbrunnen laufen und den Schwengel bedienen musste, um das kostbare Nass zu bekommen. Erst 1979 wurde das Dorf an die regionale Wasserversorgung angeschlossen. Waren wir Kinder da, übernahmen wir die Schlepperei. Die alte Frau, Jahrgang 1900, war ausgesprochen genügsam, lebte von 165 Ostmark Mindestrente und schaltete ständig das Licht aus, das wir Kinder brennen ließen. Nie wurden Lebensmittel weggeworfen, alles wurde irgendwie verwertet. So bekam der Hund die Wurstpelle, die Hühner hart gewordenes Brot, die Kaninchen Kartoffelschalen. Fast nichts landete im Müll. Gewöhnungsbedürftig war das Waschen in einer Schüssel mit kaltem Wasser und der Gang aufs Plumpsklo quer über den Hof, zumal bei Dunkelheit. Unsere Eltern gaben uns stets ein paar Rollen Toilettenpapier mit. Denn Oma benutzte aus alter Gewohnheit die gelesenen Zeitungen. So erfüllte «Das Volk», so der Name der einzigen Tageszeitung des Bezirks Erfurt, neben seiner propagandistischen Aufgabe im Omas Haus auch eine sehr menschliche.

Oma hatte keinen Kühlschrank, Lebensmittel lagerten im Schrank, die Butter legte sie an sehr heißen Tagen in einen Eimer mit kaltem Wasser. An kalten Tagen wurde nur das Wohnzimmer von einem kleinen «Kanonenofen» beheizt, dessen Wärme aber nicht bis ins Obergeschoss drang. Der Steinboden im Untergeschoss war stets kalt, «fußkalt». Die Zimmerdecken waren so niedrig, dass hochgewachsene Menschen den Kopf einziehen mussten. Die kleine Oma jedoch konnte mühelos stehen und gehen, wir Kinder natürlich auch. Und manchmal dachte ich, vielleicht hatte sie sich nach dem Erwerb dieses Hauses entschieden, nicht weiterzuwachsen, weil alles so viel praktischer war. Ungemütlich war es auch, sich nachts über knarrende Dielen in ein kaltes, dunkles Zimmer zu tasten. Eine elektrische Heizdecke machte den Gang ins Bett erträglicher. Begleitet vom Gongen der Kirchturmuhr vis-à-vis zu jeder vollen und halben Stunde schlief ich ein – doch oft hatte ich Angst in diesem verwinkelten, knarrenden Haus.

Schön war es, durch Wiesen und Wälder zu streifen. Teile davon aber, wie das sogenannte Berlach, waren gesperrt, weil die Soldaten der auf dem Krahnberg gelegenen russischen Kaserne den Forst als Übungsgelände nutzten. Die Russen, die gelegentlich in schmutzigen Uniformen durchs Dorf marschierten, waren in den Augen der Dörfler Aliens. Dabei waren «die Russen» nur in seltenen Fällen Russen, viele der jungen Burschen stammten aus Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, aus den unermesslichen Weiten des Sowjetimperiums. Die Bauern bezichtigten sie, Diebe und Vergewaltiger zu sein, von vollstreckten Todesurteilen in der Kaserne munkelte man hinter vorgehaltener Hand. In Wahrheit waren es halbe Kinder, die oft gar nicht wussten, wohin es sie verschlagen hatte.

Wir ahnten damals nicht, dass die in dieser Region stationierten sowjetischen Soldaten in der Logik des Kalten Krieges auserkoren waren, im Fall eines heißen Krieges den Hauptstoß in die weiche Flanke der NATO hinter dem Eisernen Vorhang zu führen – in die sogenannte Fulda Gap in Osthessen mit Ziel Frankfurt. Hier in Thüringen waren die schlagkräftigsten Einheiten der Russen stationiert, das 172. Garde-Motor-Schützenregiment und das 87. Garde-Panzerartillerieregiment. Sie alle gehörten zur 8. Gardearmee. Was nach belanglosem Militärkauderwelsch klingt, hat eine interessante Vorgeschichte, denn diese 8. Gardearmee trug im Zweiten Weltkrieg als 62. Armee der Sowjets in der Schlacht von Stalingrad die Hauptlast. Weshalb sie auch nie den Namen «Stalingrader Armee» ablegte. Hier auf dem Krahnberg hielt sie sich also bereit, um durch jene Senke vorzustoßen, die sich hier im ansonsten für Panzerverbände eher schwer passierbaren Thüringer Wald auftat. Historiker nennen das heute die vermutlich «heißeste Stelle des Kalten Krieges».

Sowjetsoldaten vom Krahnberg machten sich mitunter auf, um ihre eigene «Fulda Gap», also ihre Lücke im Eisernen Vorhang, zu finden. Ausnahmslos scheiterte das und endete überwiegend mit dem Tod der Fahnenflüchtigen. Die Oma erzählte, ihr seien bei ihren täglichen Spaziergängen mehrfach solche gehetzt wirkenden Menschen über den Weg gelaufen. Kam es zur Flucht eines Soldaten, dann wurde im Dorf eine Art Alarmzustand ausgelöst. Sowjetische Feldgendarmerie und ostdeutsche Volkspolizei schwärmte aus, um der «Verräter» habhaft zu werden. Oma erzählte, sie habe stets verneint, wenn sie gefragt wurde, ob sie einen der Flüchtigen gesehen hatte. Und sie hätte wohl gern mehr für diese armen Kerle getan.

Oma warnte uns eindringlich vor Spaziergängen ins Berlacher Wäldchen. Das beflügelte meine Fantasie: Der verbotene Wald übte eine Faszination aus, vergleichbar mit der des Landes hinter den Hörselbergen, wo damals die innerdeutsche Grenze verlief. Ich stellte mir vor, im Wald mit seinen umgestürzten Bäumen lägen versteckte Reichtümer. Wenn die Russen auf den Ladeflächen der dunkelgrünen GAZ-Lastwagen durch das Dorf gefahren wurden, kletterte ich oft auf das Hoftor, schaute in ihre Kindergesichter und winkte ihnen zu. Auch ich hatte Mitleid mit diesen Jungen, über die hier im Dorf gesprochen wurde, als seien es Tiere. Nein, diese stoppelhaarigen Knabengesichter waren liebe, bedauernswerte Menschen, die nach jeder freundlichen Geste dürsteten, das spürte man. Ich winkte ihnen also zu und fand es faszinierend, dass diese Menschen aus einer Welt stammen sollten, die so anders als jene war, die ich kannte.

Oma sagte, manchmal kämen Russen vorbei, sich ängstlich umblickend, um Geschäfte zu machen. Sie böten ihre klobigen russischen Uhren feil, oder Messer, manchmal auch Feuerzeuge – Dinge, die Oma aber nicht brauchte. Sie gab ihnen dennoch, was sie begehrten: eine Flasche Bier, mal Zigaretten, mal was zu essen. Sie hatte im Schubfach ihres Schreibtisches sogar extra eine Packung Zigaretten der besseren Sorte «Club» liegen, die sie dann an Russen verteilte – oder an einen Dorfmenschen, der ihr bei einer kleinen Dienstleistung half, falls mal ein Haken aus der Wand fiel. Die Menschen waren damals genügsam.

Mitleid empfand Oma auch mit den Hunden, die in den Nachbarhöfen jaulten, weil sie geprügelt wurden oder tagelang an der Kette hingen, die an einer umgekippten Regentonne befestigt war, ihrer Hütte. Manchmal fasste sie sich ein Herz und ging rüber. Zu Schellenberg, Ortlepp oder Wagenführ. «Günter, warum schlägst du den Hund? Lass doch das arme Tier zufrieden.» Wagenführ knurrte dann zurück: «Höll dinn Mul, das geht dich nichts an, Mariechen. Kümmere dich um deine Sachen. Und selbst wenn ich den Köter totschlage, dann ist das meine Sache! Hast du verstanden?» Sie hatte verstanden und wusste, dass sich nichts ändern würde, dass der Graben, der sie seit fünfzig Jahren von diesen Bauern trennte, niemals würde zugeschüttet werden können. Sie war eine Schiffbrüchige umgeben von einem Ozean der Borniertheit.

In Omas Haus ging ich auf Schatzsuche, las in alten, in Frakturschrift gedruckten Büchern, die ich in schweren Truhen aufspürte: über den Aufstand der «Hottentotten» in Südwestafrika und über den Burenkrieg. Die Kämpfe spielte ich mit Elastolin-Soldaten nach, die in Kisten auf dem Dachboden lagen. Es gab Geschütze und zwei Blechpanzer. Papas Spielzeugsoldaten zogen in den Krieg gegen meine Kautschukindianer, Kontinente und Jahrhunderte wurden übersprungen. Panzer kämpften gegen Reiter, es wurde viel gestorben. Meine Oma mochte diese Massaker nicht und schickte uns lieber vor die Tür. Auf unseren vielen Spaziergängen erklärte uns Oma die Pflanzen – Scharfgarbe, Spitzwegerich, Schachtelhalm, Hirtentäschel. Ich kenne sie noch heute. Ich lernte, Rotkehlchen von Dompfaffen zu unterscheiden. Oder den Ruf des Eichelhähers zu idenjpgizieren, der die anderen Vögel des Waldes vor unserem Nahen warnte. Und manchmal saßen wir auf der großen Wiese, die Oma außerhalb des Dorfes besaß, unter einer kleinen Gruppe von Eschen, blickten auf den Inselsberg und sangen der Sonne, die goldgelb hinter den Hörselbergen versank, ein Abschiedslied.

Die Trüglebener Sommerwochen waren eine Zeitreise, die uns lehrte, elementare Dinge des Lebens zu schätzen: das Wasser, das wir vom Brunnen schleppten. Das Holz, welches wir für den Ofen hackten. Die Tiere, die wir mit dem auf den Wiesen und Feldern eingesammelten Grünzeug fütterten. Und die von Zeit zu Zeit auf unseren Tellern landeten. Oma half, das Chaos in meinem Kopf zumindest etwas zu entwirren. Ich hatte so unendlich viele Fragen. Und diese kleine, unterkühlte und belesene Frau half, Antworten zu finden. Mitunter sprach die Oma in einer veralteten Sprache, benutzte Worte, die mich schmunzeln ließen. Zum Beispiel sagte sie immer: «Wichs doch mal die Schuhe.»

Meine Schwester hatte im Dorf mehr Anschluss, während ich mich in Büchern verirrte oder Krieg spielte. Es gab ein paar ältere Mädchen, Margit zum Beispiel, mit der verschwand sie mitunter den ganzen Tag. Ich, der kleine Bruder, durfte natürlich nicht dabei sein. Sie hörten dann Musik auf klobigen, rasselnden Kassettenrekordern oder fuhren schon morgens in die «Stadt», womit Gotha gemeint war. Immerhin konnte man da Eis essen.

Wir alle waren Indianer

Wir Kinder machten uns die Welt bunt – indem wir uns zum Beispiel bunte Federn in die Haare steckten oder das Gesicht bemalten. Carsten Blasig aus dem Nachbarhaus, der etwas ältere Frank, der am liebsten allein spielte, Jordis und ich. Wir alle waren nämlich Indianer. Damals nannte man Amerikas indigene Bevölkerung noch ganz selbstverständlich so, wir wussten es ja nicht besser. Die heutige Kontroverse über das verquere Bild der amerikanischen Indigenen, welches ganzen Generationen vermittelt wurde, finde ich richtig und wichtig. Dennoch verwende ich hier das aus der Zeit gefallene Idiom Indianer weiter, weil es eben unsere damalige Lebenswirklichkeit authentischer beschreibt – mit all ihren Irrungen.

Der gesamte Hinterhof der Reihe des Triftwegs mit den ungeraden Hausnummern glich einem Indianerreservat. Kinder mit Gänsefedern im weißblonden Stoppelhaar schlichen geduckt durch die Kleingärten «Am Denkmalsblick», bewaffnet mit Plastik-Tomahawks aus der Produktion des VEB Vereinigte Erzgebirgische Spielwarenwerke in Olbernhau, um dann laut jaulend über ihre Opfer herzufallen. Ja, es herrschte Krieg! Und ich vermute mal, nicht nur in Marienbrunn. Tokei-ihto, Tecumseh, Chingachgook, Osceola, Ulzana – was für Nichteingeweihte wie die mysteriösen Beschwörungsformeln einer Geheimsprache klang, waren für uns, die in den 60er-Jahren geborenen Ost-Kinder, die «Viel-zu-vielen» der Baby-Boomer-Generation, Namen von Helden, mit denen wir in unseren Träumen ritten, kämpften, johlten.

Und bei Licht besehen hatten alle diese Indianer-Häuptlinge ein und dasselbe Gesicht: jenes von Gojko Mitić, dem «Chefindianer» der ostdeutschen Filmgesellschaft DEFA, in dessen alljährliche Kinopremieren wir mit pochenden Herzen zogen wie die Dakota in die Schlacht. Niemand blieb so cool, auch wenn wir diesen Begriff damals nicht kannten, während die Pfeile der verfeindeten Huronen den Umriss seines Luxuskörpers im Holz des Marterpfahls markierten. Keiner schoss schneller, ritt tollkühner, starb dramatischer – und sah dabei stets so umwerfend gut aus.

Indianer mit ihren langen Haaren, den nackten Oberkörpern, diesem wilden Outfit waren irgendwie sexy – auch dies freilich ein Begriff, der uns damals hätte rätseln lassen. Und sie bildeten damit den schärfsten Kontrast zum DDR-Alltag, der eben genau das nicht war: aufregend. In unserer Freizeit zwang man uns in Pionier-Uniformen, unsere Papis fuhren Trabi, den Urlaub verbrachten wir in den Bettenbaracken der FDGB-Ferienheime an Müritz und Ostsee. Wer träumt da nicht von den Black Hills oder der Prärie?

Diese Indianerwelt, die sich uns da in Form von Filmen, Comics oder Spielzeug öffnete, war wie ein vom System geförderter Fantasieritt in das Jenseits hinter dem Grau des Alltags. Und anders als die Mythen vom Kampf der längst zu SED-Apparatschiks mutierten Anjpgaschisten wurden die indianischen Helden von der Jugend auch tatsächlich angenommen. Gojko Mitić war einer der wenigen vom staatlichen Filmverleih DEFA kreierten Helden, dem es gelang, sich in unsere Jungenherzen zu schleichen – neben den «West-Helden» Marshal Matt Dillon und Festus aus der Serie «Rauchende Colts», den Cartwrights aus «Bonanza» oder Daniel Boone. Zwischen 1966 und 1975 entstanden zehn Indianerfilme der DEFA, für uns Jungen und mutmaßlich auch viele Mädchen stets die Highlights eines jeden Kinojahres. Sie hatten sogar noch in der qualitativ unvergleichlich schlechteren Schwarz-Weiß-Variante des Fernsehens das Zeug zum Straßenfeger. Lief einer dieser Streifen mit seinem serbischen Hauptdarsteller im Fernsehen, dann wurde bei uns zu Hause mal Ostfernsehen eingeschaltet, was sonst eher selten geschah.

Unsere fast schon wahnhafte Indianerbesessenheit wurde über diverse Kanäle gefüttert. Zu Geburtstagen und Weihnachten bekam ich Indianer-Figuren aus Kautschuk geschenkt, im Laufe der Jahre kam eine gewaltige Streitmacht zusammen. Mit Carsten aus dem Nachbarhaus spielte ich dann die Indianerfilme nach – und korrigierte im Spiel das Drehbuch, weil doch zu oft am Ende das Böse triumphierte. Wir bauten Schlachtpanoramen auf, Hunderte von Figuren lieferten sich da blutige Gefechte. Es wurde, wie im Film, reichlich gelitten und gestorben. Und natürlich gewannen immer die Indianer, was allein schon daran lag, dass das Angebot an Figuren, die überwiegend von kleinen ehemaligen Familienunternehmen im «Sonneberger Spielzeugwinkel» in Südthüringen hergestellt wurden, klar Schlagseite hatte: Zwei Drittel waren Indianer, nur ein Drittel «Bleichgesichter». Letztere hatten jedoch den Vorteil, als Verteidiger eines Forts, einer Festung, deren Palisaden wir aus leeren Kofferradio-Batterien bauten (die damals noch die Größe von Deo-Rollern hatten), strategisch im Vorteil zu sein. Das Ungleichgewicht zwischen Roten und Weißen tarierten wir zudem aus, indem die Cowboys durch Wehrmachtssoldaten aus Elastolin verstärkt wurden, dem Spielzeug meines Vaters, der einer Generation entstammte, die offenbar im Herzen nie Indianer gewesen ist.

Und so kam es zu einer «Achse des Bösen», von knienden Wehrmachtssoldaten mit Maschinengewehren oder Flammenwerfern, flankiert von schießenden Cowboys mit Mund- und Nasenschutz, was sie als Posträuber kenntlich machte. Es gab auch Reiter. Doch da die Pferde aus einem sehr zerbrechlichen Kunststoff gefertigt waren, wurden die alsbald pferdelosen Reiter als Gefallene über das Schlachtfeld verteilt. Aus Kleinteilen zusammensteckbare «Westindianer» verirrten sich dank eines Weihnachtspakets ebenfalls in unsere Sammlung – genügten aber unseren Qualitätsansprüchen nicht. Die Figuren waren zu klein, wirkten wie Pygmäen, waren nicht einmal als Gefallene zu gebrauchen.

Paradoxe Situationen spielten sich in Carstens Kinderzimmer ab: Da hockten wir, spielten mit Kautschuk-Indianern und Elastolin-Nazis Szenen aus dem Film «Die Spur des Falken» nach, während als Soundtrack dazu vom Plattenspieler «Spaniens Himmel breitet seine Sterne» oder «Vorwärts Bolschewik» dudelte, gesungen vom legendären Arbeiter-Barden Ernst Busch. Busch war in der polarisierten Zeit der 20er- und 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vor der Machtergreifung der Nazis der singende Einpeitscher der Weltrevolution gewesen, übertragen auf die heutige Fanszene großer Fußballmannschaften war er so was wie der «Capo» oder Vorsänger der proletarischen Massen. Mit knarziger Stimme und dem in den 20er- und 30er-Jahren offenbar unerlässlichen gerollten «Errrr» feuerte Busch musikalisch Salven gegen jene, die als Erzfeinde der proletarischen Revolution galten: Faschisten, Industrielle, Militärs, Bürgerliche, Pfaffen, kurzum: gegen die Rrrreaktion. «Lasst den britischen Löwen brüllen, zahnlos fletschende Sphinx …» Carsten befand, diese Musik passe ganz gut zum Indianerspiel, und ich stimmte ihm bei.

Sein Vater Herbert Blasig war ein betagter Alt-Kommunist, ein ehemaliges Mitglied der KPD und später im kommunistischen Untergrund im schlesischen Breslau. Dafür hatte er Jahre in den Gefängnissen der Nazis zugebracht. Die Schallplatte mit Widmung war ihm vermutlich anlässlich eines Jubiläums geschenkt worden. In der DDR genoss er als «VVN», als anerkanntes Mitglied der Vereinigung Verfolgter des Nazi-Regimes, gewisse Privilegien. Herbert Blasig war das Gegenteil eines Dogmatikers. Dass meine Eltern mich instruiert hatten, vor Carstens Eltern nicht alles preiszugeben, schmierte ich Dreikäsehoch ihnen direkt aufs Brot: «Ich darf mit euch nicht über Westfernsehen reden, haben meine Eltern gesagt, weil ihr Kommunisten seid …»

Herr und Frau Blasig reagierten auf souveränste Art und Weise, sie lächelten mich aufrichtig freundlich an und sagten: «Aber wir schauen doch selbst gern Westfernsehen. Und politisch sind wir eigentlich gar nicht interessiert. Grüß deine Eltern lieb von uns, wir sollten Freunde sein …» Es war wirklich nicht einfach, diese komplizierte Welt der Erwachsenen zu verstehen.

Herbert Blasig war liebenswürdig, geradezu großherzig, und es war ihm sichtlich unangenehm, dass da ein Nachbarskind ausgerechnet in seiner Wohnung beim Spielen mit kommunistischen Kampfgesängen beschallt wurde. Mitunter intervenierte er zögerlich: «Soll ich nicht besser den Plattenspieler ausschalten?»

«Nö, lass mal …» Carsten bestand darauf, und der gutmütige ältere Herr ließ uns kopfschüttelnd gewähren.

Meine Elastolin-Soldaten in Feldgrau erwiesen sich als eine dem Untergang geweihte Armee, so wie ihre historischen Vorbilder auch. Ihr Schicksal war besiegelt, als ich sie dem sicheren Dachboden der Trüglebener Oma entrissen und mit nach Leipzig genommen hatte. Wie alle Mieter des Triftwegs hatten wir im Hinterhof einen kleinen Garten, in dem wir im Sommer eine Zinkwanne mit Wasser aufstellten. Eines schönen Tages mussten sich Indianer und Wehrmachtssoldaten in bunten Holzkanus eine Seeschlacht liefern. Wer getroffen wurde, stürzte ins Wasser. Mit meinen Indianern hatte ich das schon des Öfteren gespielt. Dass diese Seeschlacht zur Auflösung meines Wehrmachtskontingents führte, merkte ich erst, als ich im zunehmend trüben Wasser die Soldaten suchte. Es blieben nur Drahtskelette übrig. Die verleimte Tonmasse hatte sich aufgelöst.

Wenig überzeugend fanden wir die Winnetou-Verfilmungen im Westfernsehen. Dieser kichernde Sam Hawkens, gespielt von Ralf Wolter, oder dieser von Eddi Arent gemimte alberne englische Lord mit seinem Kescher, der im Wilden Westen Schmetterlinge fing – sie wurden dem heiligen Anliegen unserer Indianer-Leidenschaft nicht gerecht. Tatsächlich waren die DEFA-Indianerfilme im Vergleich zu den Winnetou-Verfilmungen brutal, geradezu blutrünstig und eigentlich für Kinder ungeeignet, hielten sich aber viel genauer an wahre historische Begebenheiten. Massaker an wehrlosen Frauen und Kindern wurden da gezeigt, das Böse durfte sich viel ungehemmter ausleben. Denn ganz nebenbei transportierten diese Filme auch eine ideologische Botschaft, die eine Konstante, beginnend in der Zeit der Besiedlung des amerikanischen Westens, bis in die Gegenwart ziehen sollte: Amerika verkörperte da das zeitlose Böse, und aus den Indianern wurde so eine revolutionäre Vorhut, frühe Bündnisgenossen des Antiimperialismus, die auf derselben Seite standen wie Ernst Thälmann und Walter Ulbricht, der starke Mann im Gehege. Die Filmbösewichter waren komplett überzeichnete Gegenentwürfe zur Lichtgestalt Gojko Mitić – skrupellos, feige und obendrein hässlich. Sie hießen James Bashan, wir nannten ihn mit sächsischem Zungenschlag «Bäsch’n», oder Joe Bludgeon, «Platsch’n». Rolf Hoppe war ein begnadeter Schauspieler, für mich blieb er auch in seinen späteren Rollen aber stets verlinkt mit «Bäsch’n», dem verhassten, feigen Mörder der schönen Indianerin Blauhaar, «Weitspähender Falkes» großer Liebe.

In meiner Gedankenwelt gab es auch ein Reservat – und darin war ich der Hauptdarsteller, ob ich im Kindergarten oder in der Schule war oder nachts im Bett lag. Ich träumte davon, Indianer zu sein und die Räder der amerikanischen Geschichte zurückzudrehen – jene der Planwagen und «Dampfrösser», die das Indianerland überrollt hatten. Natürlich wurden wir auch zu Indianern, wenn mal wieder Fasching war. Ich war in der ersten Klasse, als meine Mutter mir ein Indianer-Faschingskostüm genäht hat, die halbe Nacht lang. Am nächsten Morgen sollte ich es anziehen: Ein kariertes Hemd mit angenähten Papierfransen. Ich protestierte, so etwas hatte Gojko Mitić nie an. Ich packte zum Beweis meine DEFA-Programmhefte und meine Kautschukindianer aus, zeigte sie ihr: «Guck, keiner hat so ein kariertes Hemd an.» Ich weinte, wollte so nicht in die Schule und musste es am Ende doch, mit verheulten Augen. Ich war der traurigste Indianer der Welt.

 

In unserer Freizeit lasen wir DDR