Wir-Zeit - Susanne Dyrchs - E-Book
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Wir-Zeit E-Book

Susanne Dyrchs

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Beschreibung

Als der Alltag droht, sie aufzufressen, macht sich eine Familie das größte Geschenk: ein Jahr Wir-Zeit

Familie Dyrchs ist eine ganz normale Familie in der Großstadt: Susanne und Chris sowie zwei sensationelle Kinder, die sie nur leider viel zu selten sehen. Sie wollen alles richtig machen und alles schaffen und doch kommen sie, wie so viele Familien, ins Straucheln: Dieses ständige Nicht-Genügen – als Eltern, als Partner, als Berufstätige ... Sie fragen sich immer mehr: Wie können wir Familie heutzutage glücklich und zufriedenstellend (er)leben? Die beiden beschließen, den Alltag hinter sich zu lassen und eine „Wir-Zeit“ zu nehmen: Sie wagen das ganz große Abenteuer und bereisen ein Jahr lang mit ihren Kindern die Welt. Sie lernen sich als Familie ganz neu kennen, finden heraus, welches Leben sie führen wollen – und machen nach der Rückkehr vieles anders als zuvor. Dieses Buch ist viel mehr als die Geschichte einer Reise. Es ist die Geschichte eines Zusammenwachsens als Familie – offen erzählt, voller Mut, Abenteuerlust und Liebe.

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Seitenzahl: 431

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Zum Buch

Familie Dyrchs ist eine ganz normale Familie in der Großstadt: Susanne und Chris sowie zwei sensationelle Kinder, die sie nur leider viel zu selten sehen. Sie wollen alles richtig machen und alles schaffen und doch kommen sie, wie so viele Familien, ins Straucheln: Dieses ständige Nicht-Genügen – als Eltern, als Partner, als Berufstätige … Sie fragen sich immer mehr: Wie können wir Familie heutzutage glücklich und zufriedenstellend (er)leben? Die beiden beschließen, den Alltag hinter sich zu lassen und eine »Wir-Zeit« zu nehmen: Sie wagen das ganz große Abenteuer und bereisen ein Jahr lang mit ihren Kindern die Welt. Sie lernen sich als Familie ganz neu kennen, finden heraus, welches Leben sie führen wollen – und machen nach der Rückkehr vieles anders als zuvor. Dieses Buch ist viel mehr als die Geschichte einer Reise. Es ist die Geschichte eines Zusammenwachsens als Familie – offen erzählt, voller Mut, Abenteuerlust und Liebe.

Zur Autorin

Dr. Susanne Dyrchs, Jahrgang 1978, studierte Rechtswissenschaften, internationale Beziehungen und Philosophie in Köln, London und New York. Sie arbeitete in Bangladesch für das Welternährungsprogramm, in New York für die Vereinten Nationen, in Davos für das Weltwirtschaftsforum und in Hanoi für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 2008 ist sie als Strategieberaterin tätig. Neben Fachpublikationen schreibt sie einen Blog (www.kratzekind.com) über das Leiden, Lieben und Leben von Familien mit kleinen Atopiker*innen, also an Asthma und Neurodermitis leidenden Kindern. Susanne Dyrchs lebt an der kanadischen Westküste, ist verheiratet und hat drei Söhne.

SUSANNEDYRCHS

Eine Familie auf der Reise

zu sich selbst

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Originalausgabe 2021

Copyright © 2021 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Winnen

Covergestaltung: Eisele Grafik-Design

unter Verwendung der Fotos von © Cristina Gareau (Vorderseite)

und © Michael Kröll (Rückseite)

Fotos im Innenteil: Seite 32/33, 36, 37 oben,

38/39: © Cristina Gareau; alle anderen: © privat

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25888-7V003

www.Ludwig-Verlag.de

A whale ship was my Yale College and my Harvard.

Hermann Melville

Inhalt

Prolog

Zwölf Monate vorher – Aufbruch

Die Entdeckung der Einfachheit

Der Prophet

We shall be released

Aloha Ãina

Wenn du es eilig hast, geh langsam

Wenn du es noch eiliger hast, mache einen Umweg

Im Land der langen weißen Wolke

Dort, wo die Welt zu Ende ist

Home is where you park it

Von Adlern und Bären

Zusammen wachsen

Gekommen, um zu bleiben

Zu Hause ist kein Ort

Was bleibt, ist das, was kommt

Epilog

Dank

Bildteil

Prolog

»Mama! Schau, ich bin ein Seeadler! Ich bin der König der Lüfte!«

Ich kann Joe nur schlecht hören, denn der Sturm trägt sein Jauchzen davon. Aber sehen kann ich ihn: Wie sich sein mittlerweile sechs Jahre alter drahtiger Körper mit ausgebreiteten Armen gegen den Wind lehnt, um im nächsten Augenblick auf dem schier unendlich langen Strand loszusprinten – jederzeit bereit, abzuheben und sich aufzuschwingen in die salzige Meeresluft. Durch die täglichen Wanderungen und Outdoor-Aktivitäten in den letzten Monaten ist sein Babyspeck auf ein Minimum geschmolzen und hat Platz gemacht für eine muskulöse Statur, die perfekt zu seinem temperamentvollen, energiegeladenen Wesen passt. Körper und Geist stehen im konstanten Dialog miteinander. Seine dunkelblaue Windjacke bläht sich auf, von Weitem könnten es tatsächlich Flügel sein, die seinen wuscheligen Lockenkopf einrahmen. Seine Füße hinterlassen tiefe Spuren im Sand. Das Wasser spritzt ihm bis zur Hüfte, wenn er durch die Gischt sprintet. Nichts kann ihn aufhalten, nichts kann dieses Kind stoppen. Die ankommenden Wellen sind mindestens drei Meter hoch, bauen sich auf, fallen in sich zusammen und prallen mit Getöse auf den Strand der australischen Ostküste. Chris und ich schauen uns dieses Naturspektakel an. Lassen uns Zeit. Uns allen. Minuten, Stunden, Tage rasen nicht mehr. Die Zeit steht beinahe still. Frieder, genannt Raupe, saust seinem großen Bruder hinterher, geschmeidig schneiden seine zusammengelegten Handflächen an den ausgestreckten Ärmchen die Luft in Stücke, grazil wedelt sein kleiner Körper über den nassen Sand.

»Hier kommt der Weiße Hai, der Herrscher der Meere! Ich bin so wild, raaaaah!«

Ja, das stimmt, wild sind sie, unsere Kinder. Und frei. Jetzt, nach mittlerweile sechs Monaten unterwegs – on the road sozusagen. Ein Landstreicherleben. Einssein mit der Natur. Es gibt kaum etwas, das sie in ihrer Freiheit einschränkt, sie geben sich ihre Taktung weitestgehend selbst vor. Ein Luxus, den wir uns und ihnen aus vollem Herzen gönnen. Diese Freiheit macht ihnen keine Angst, im Gegenteil: Die letzten Monate haben sie gestärkt. Und auch uns, ihren Eltern, hat die daran geknüpfte Lebendigkeit und Leidenschaft der Kinder jedwede Angst genommen. Sie hat uns beflügelt und uns näher zu uns selbst gebracht. Uns als Eltern, uns als Paar, als Familie.

Aber auch jeden Einzelnen von uns ganz allein und im Stillen zu sich selbst. Die Sorgen, wir könnten einen Fehler gemacht haben, womöglich etwas bereuen, sind mit dem um uns herum brausenden Wind davongeflogen.

Es dauert, alte Muster abzuschütteln. Ein Urlaub mag kurzfristig ablenken, entspannen, anregen, aufregen – und doch bleibt man stehen. Erst eine lang andauernde Auszeit gibt die Kraft, den Raum und den Abstand, den es braucht, um sich seines Alltags zu entwöhnen, sich aus seiner Komfortzone hinauszubewegen, Steine aus Ansprüchen und Traditionen beiseite zu rollen und anderen Seiten in sich selbst Platz zu machen. Ich bin keine andere geworden in den letzten Monaten. Vielmehr habe ich mich wiedergefunden, tief vergraben unter einem Berg von Anforderungen, Stress, schlechtem Gewissen, Erwartungen und Ambitionen.

Aber nicht nur ich habe mich wieder freigeschaufelt – auch als Familie haben wir uns auf Reisen ganz neu kennenlernen und finden müssen. Wir haben allen überflüssigen Ballast über Bord geworfen. Wir sind ständig in Bewegung, aber nicht mehr getrieben. Wir sind weit weg, aber ganz nah bei uns. Wir sind rund um die Uhr zusammen, und doch bieten sich selbst auf engstem Raum genügend individuelle Rückzugsmöglichkeiten. Und all das nur, weil wir primär an einer Stellschraube gedreht haben: Zeit. Wir haben für uns Zeit. Wir-Zeit.

Ich liebe es, den Kindern zuzuschauen, ohne sie in ihrem konzentrierten Tun zu unterbrechen. Sie zu studieren. Von ihnen zu lernen. Stundenlang. Wie sie rennen und toben. Wie sie ihre selbst gebauten Angeln ins tosende Meer werfen. Wie aufrichtig sie sich über gefundene Krebspanzer, Muscheln und Steine freuen. Spielen ist die Arbeit der Kinder. Es steht mir nicht zu, sie dabei zu stören. Das musste ich lernen. Mittlerweile finde ich es respektlos, ein Kind ohne einen guten Grund in seinem ernsthaften Spiel zu unterbrechen. Denn es lehrt das Kind: Dein Spiel ist nicht wichtig, es ist nichts wert, ergo: Du bist nichts wert. Den daraus resultierenden Vorsatz, unnötige Unterbrechungen zu vermeiden, nehme ich mir (täglich aufs Neue!) zu Herzen, um Stress für Joe und die kleine Raupe zu vermeiden. Es ist erstaunlich, wie oft ich mich dennoch dabei erwische, dass ich unnötig dazwischenquake, Gespräche meiner Kinder untereinander störe, ihre Sätze unaufgefordert zu Ende führe. Aber immer öfter beiße ich mir auf die Zunge und merke: Es tut ihnen gut und uns ebenfalls – sie sind viel länger vertieft, selbstständig und ausgeglichen, was uns Erwachsenen mitunter natürliche Freiräume verschafft.

Könnten wir jemals wieder einen Schritt zurückgehen, zurück in unser altes Leben, in dem wir ständig auf dem Sprung waren und uns vor lauter Park- und Halteverboten, Stopp- und Einbahnstraßenschildern nicht mehr frei bewegen konnten? Allein der Gedanke erscheint mir absurd. Schnell verwerfe ich ihn. Bis wir diese Entscheidung treffen müssen, dürfen wir noch über ein halbes Jahr gemeinsam reisen. Zu viert. Oder … halt. Ich lege die Handflächen auf meinen Bauch. Er hat schon begonnen sich zu wölben. Zu fünft trifft es mittlerweile vielleicht besser. Ganz nebenbei schwanger zwischen vier Kontinenten. Möglich ist alles.

Frieder hebt einen gelbgoldenen Stein auf, den die Wellen an Land gespült haben.

»Echtes Gold!«, ruft er und läuft auf mich zu. »Mama, das ist unser Not-Gold. Wenn unsere Reisekasse leer ist, können wir davon für immer weiterziehen!«

Ich öffne meine Arme, er springt hinein und ich halte unseren Dreieinhalbjährigen so fest ich kann. Wir sind uns nah. Ich bin glücklich. Habe ich mich je freier gefühlt? Als Frieder die Umarmung löst, schaue ich ihm in die Augen. Und bin bestürzt.

»Raupe, du weinst ja! Um Gottes willen, was ist denn los? Hab’ ich dir wehgetan? Hast du dich verletzt?«

Zu meiner Überraschung lächelt er mich verwundert an.

»Nein, Mama, das sind nur Freudentränen. Wenn mein Bauch vor Freude gurgelt, dann kullern die raus.«

Er wirft den Kopf in den Nacken, lacht und wischt sich die Tränen aus den Augen, um sich nur Sekunden später loszureißen und sich wieder mit voller Wucht in das Abenteuer zu stürzen, das Leben heißt. Er rennt zu seinem Bruder, greift seine Hand. Der Große lässt ihn friedfertig gewähren.

Ich schmecke Salz auf meinen Lippen. Die Seeluft? Aufspritzendes Meerwasser? Tränen? Nein, denke ich, so schmeckt Glück. Und kein bisschen anders.

Zwölf Monate vorher – Aufbruch

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass eine Arbeit, die man einem siebenjährigen Kind nicht innerhalb von einer Minute erklären kann, kein wirklicher Beruf sei. Von dieser Sorte haben wir zu Hause gleich zwei zu bieten. Beide sind wir mehr per Zufall als gewollt beruflich in typischen Bürojobs gelandet: zum einen in einer »Irgendwas mit Medien«-Agentur, zum anderen in der Strategieberatung. Warum? »Reingerutscht, wa?«, wie man so schön sagt, auch wenn man nicht aus Berlin kommt, aber zeigen will, dass man genauso lässig ist wie die Kollegen mit Berliner Schnauze. Weder bei Chris noch bei mir war der Beruf je Berufung. Vielmehr habe ich für meinen Teil schon früher heimlich diejenigen aus meinem Jahrgang beneidet, die bei der Abitur-Abschlussfeier nicht verlegen nuschelten, wenn es um das Thema Zukunft ging, sondern mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht verkündeten, dass sie nun aus tiefster Überzeugung auf die Schauspielschule gingen oder aus einem inneren Antrieb heraus Tiermedizin studierten. Nun sind Chris und ich Ende dreißig. Und beide stehen wir mit unseren Berufen in wiederkehrenden Wellen auf Kriegsfuß. Obgleich ich seit der Geburt von Joe in Teilzeit arbeite, sind wir beide mittlerweile in Positionen angekommen, in denen wir Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen, mitunter spannende Aufgaben mit interessanten Kolleginnen und Kollegen gemeinsam meistern. Wir sind finanziell unabhängig, haben uns über die Jahre hochgearbeitet – mancher Außenstehende würde vielleicht sagen: They made it. Also ist im Grunde beruflich alles ganz in Ordnung – aber irgendwie auch verkopft, immer öfter passionslos und mit zu wenig Bezug zu den Menschen, die wir sind, sobald wir die Bürotür hinter uns zuziehen.

Zudem sind wir Eltern zweier Kinder im Vorschulalter, Joe und Frieder, die wir sehr lieben, aber aufgrund unserer beruflichen und sozialen Verpflichtungen viel zu selten sehen. Leider. Wir finden unser Leben großartig, klar, sonst würden wir es so nicht leben – oder? Aber warum fühlen wir uns dann oftmals zerrissen, gestresst, müde, ausgelaugt, genervt, überfordert? Ergibt das Sinn? Nicht wirklich. Und nicht nur uns geht es so; viele Gleichaltrige aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis kämpfen mit ihrer (Neu-)Positionierung, jetzt, wo das halbe Leben fast rum ist. Dieses Spannungsfeld zwischen Arbeits- und Familienleben kennen die meisten – ebenso wie die Kritik, die damit nicht selten einhergeht: Keiner zwingt euch, solche zeit- und arbeitsintensiven Pseudo-Selbstverwirklichungs-Ego-Jobs zu haben. Oder: Es könnte doch gut und gerne einer von euch zu Hause bleiben. Und ich weiß ja: Wer A sagt, muss auch B sagen – und trotzdem wäre mir C lieber. Geändert haben wir jedenfalls seit einem Jahrzehnt … nichts. Sind wir zu bequem? Stecken wir zu tief drin? Sind wir zu »okay« bezahlt, um neue Wege zu gehen? Sind wir zu ängstlich? Et voilà – willkommen in der Mühle!

Abgehetzt komme ich um kurz vor halb fünf in die Kita, um Joe einzusammeln, den ich heute Morgen um kurz vor halb acht als erstes Kind, noch etwas schlaftrunken und mürrisch, in den Gruppenraum geschoben habe. Marco, dem Erzieher, konnte ich heute früh an der Nasenspitze ansehen, dass er sich um diese Zeit lieber seinem ersten Kaffee als dem ersten Kind gewidmet hätte. Ein bisschen verstand ich ihn sogar. Dann huschte ein Lächeln über Marcos Gesicht.

»Schön, dass du da bist, Joe.«

Keine Antwort.

»Yay, du bist der Erste!«, sagte ich aufmunternd. »Schau, heute kannst du wieder alle Langschläfer-Schnarchnasen begrüßen!«

Einen Moment sah mein Großer mich gequält an, dann schaute er regungslos durch mich hindurch. Kurz darauf machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand im Gruppenraum, und ich blieb mit einem Kloß im Hals zurück.

»Mach’s gut«, rief ich matt hinterher, hängte seinen Fahrradhelm an den Haken und schlüpfte durch die Tür.

Zum Glück habe ich es nun pünktlich zur Abholung geschafft. Im Büro war die Hölle los. Es zeichnet sich bereits ab, dass ich in dieser Woche um einige Nachtschichten wohl nicht herumkommen werde. Und wofür? Meine Kollegin Karen ist erst halb so lang dabei wie ich, dafür aber doppelt so schnell die Karriereleiter hinaufgeklettert. In Teilzeit gewinnt man oft eben immer noch keinen Blumentopf. Gerade wurde sie befördert. Schon wieder. Da machst du einmal die Augen zu und schwupps, ist der Abstand zwischen ihr und mir wieder ein Stückchen größer geworden. Karrieretechnisch hat sie mich längst überholt. Das wurmt mich insgeheim sehr, selbst wenn ich ihr mit eingemeißeltem Lächeln zugeprostet habe, als wir heute mit einigen Kollegen im Büro auf ihren rasanten Aufstieg anstießen. Karen macht nie einen Fehler, ist zu 100 Prozent konzentriert, klar, analytisch und das in Vollzeit. Während ich auch mal mit zerknittertem Rock, lieblos zusammengebundenen Haaren oder Marmeladentapsern auf der Bluse und nicht aufgeladenem Laptop-Akku in Meetings hineinstolpere, ist sie immer top vorbereitet, sieht immer akkurat aus. Tja, und wer jetzt denkt, kein Wunder, Karen hat sicher keine Kinder – weit gefehlt: Sie ist Mutter einer zweijährigen Tochter. Allerdings hat sich Karen für einen anderen Weg entschieden als ich. Während sie arbeitet, sich inhaltlich vorbereitet, ins Kostüm schmeißt oder in einer Besprechung mit Überlänge sitzt, können sie und ihr Mann sich auf ein feinmaschiges Netzwerk verlassen, das die Betreuung ihrer Tochter sicherstellt. Au-pair, Babysitter, Nanny, Großeltern, Kita mit verlängerten Öffnungszeiten oder gar Übernachtungsoption – all das braucht es heute oftmals, um als Frau und Mutter wirklich ganz oben mitzuspielen. Du brauchst immer eine Back-up-Lösung, einen Plan B. Karen beeindruckt mich mit ihrer Konsequenz, ihrem Drive, ihrem Mut. Sie hadert nicht mit sich oder ihrem Leben, zieht es nicht in Zweifel – wie ich es so oft tue.

»Qualität geht vor Quantität«, sagt sie. Das gelte auch für die Zeit, die sie mit ihrem Kind verbringe. Ihr Mann ist beruflich ebenfalls sehr umtriebig. Überstunden, Übernachtungen auswärts, Tagungen übers Wochenende sind für sie beide nie ein Thema.

»Die Kinder werden später stolz sein, eine Mutter zu haben, die ihre Karriere so durchgezogen hat«, sagt Karen.

Ich schlucke. Da ist was dran. Und ich? Beruflich gesehen stecke ich zwischen Baum und Borke. Oder anders gesagt: Obwohl nie böser Wille bei den beteiligten Parteien im Spiel war, sind bei mir irgendwo auf dem Weg nach ganz oben ein paar Sprossen auf der Karriereleiter eingebrochen – ich sitze fest. Fairerweise muss ich einräumen, dass Karen gut ist in unserem Job. Sehr gut sogar. Aber das bin ich auch. Nur ist sehr gut in Teilzeit eben oft nicht dasselbe wie sehr gut in Vollzeit. Dabei reibe ich mich schon in Teilzeit auf wie ein Streichholz. Der Funke scheint in der Chefetage jedoch nicht vollends überzuspringen. Aus einer beruflichen Laufbahn im Laufschritt wurde eine im Schneckentempo. Gefühlter Stillstand trotz unaufhörlicher Strampelei.

Ich schlüpfe also kurz vor knapp zur Abholung durch die Eingangstür der Kindertagesstätte. Mein Erstgeborener kommt mit hochrotem Kopf und breitem Lachen auf mich zugerannt. Die trübe Wurstwasserstimmung von heute Morgen hat sich verzogen. Ich freue mich, drücke ihn an mich. Obwohl die meisten Kinder längst abgeholt wurden, ist der Lärmpegel enorm. Auch verdammt anstrengend, so ein Erzieherjob, denke ich erschöpft. Da höre ich inmitten des Hintergrundrauschens Marie, die Mutter des fünfjährigen Mats, zu mir sagen:

»Du, so langsam seid ihr mal dran, oder?«

Bitte nicht, denke ich. Nimm deinen in Öko-Baumwolle gewickelten Mini-Me und deine Rohkost-Paleo-Lunch-Box und dampf ab, ohne mich tagtäglich daran zu erinnern, dass wir in dieser Elterninitiative endlich ein Vorstandsamt übernehmen müssten, statt uns wegzuducken. Ich überhöre Maries Frage also gekonnt, ärgere mich, dass sie unser Begrüßungszeremoniell gestört hat, und konzentriere mich darauf, Joe warm einzupacken – Jacke, Schal, Matschhose, Mütze. Es ist kalt geworden. Wenn ich Joe morgens wegbringe, ist es noch dunkel. Und wenn ich ihn abhole, geht fast schon die Sonne unter. Glücklicherweise plappert er während des Ankleidens unentwegt auf mich ein und berichtet entrüstet, wie unfassbar widerlich das Essen heute geschmeckt habe: Kürbissuppe. Aha, ich verstehe: Gemüse pur und das noch ohne Wursteinlage, was für eine Frechheit.

»Ich hab’ nur das Toastbrot, das es zu der Pampe gab, ohne was drauf gegessen.« Wunderbar, denke ich, Toastbrot mit was drauf hat es heute schon zum Frühstück in der morgendlichen Hektik gegeben, und viel mehr habe ich für das Abendessen ehrlich gesagt auch nicht eingeplant. Das heißt also: morgens Brot, mittags Brot und abends Brot. Hm. Gesunde Ernährung für Kinder sieht irgendwie anders aus. Chris und ich schaffen es einfach nicht mehr, alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Zwischen Kundengespräch und Elternabend: »Bitte was zu knabbern mitbringen. Es könnte lang werden. Gerne selbst gemacht!«, Powerpoint und Kopfentlausung mit anschließenden Tobsuchtsanfällen (wieder einmal), Videokonferenz und Fimo-Gedöns basteln (falls irgendwer dachte, Fimo wäre in den 90ern ausgestorben – dem ist nicht so!), jobbedingter Pendelei und Gassigehen mit unserem Hund Wolfgang kommt vieles zu kurz, für das es der Muße, Zeit und Zuwendung bedarf. Und darunter fällt nicht nur die Zubereitung eines ausgewogenen Abendessens. Es ist mir ein Rätsel, wie andere Familien all das und noch mehr unter diesen berühmten Hut bekommen, unter dem sich schon so vieles tummelt. Chris war gerade für zwei Nächte beruflich in Bratislava und hat sich für heute erst nach dem Abendessen angekündigt.

Mist, denke ich, während ich auf dem Kita-Boden Joes Schuhe suche, heute bleibt mal wieder alles an mir hängen, dabei muss ich nach dem Zu-Bett-bring-Wahnsinn noch mal an den Schreibtisch.

Endlich ist Joe fertig angezogen. Die kleinen Füße sind in den dicken Stiefeln verschwunden. Klettverschluss bei Kita-Kindern ist Gold wert. Zu dumm nur, dass ich das im Schuhgeschäft vergessen hatte und nun täglich mit so unpraktischen Schnürstiefeln wie diesen hier zu kämpfen habe.

»Hast du was zu essen dabei, Mama? Ich hab’ einen Bärenhunger«, fragt er und unterbricht meine Grummel-Gedanken. Ich krame in meiner Tasche in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden – vergeblich. Ich schüttele den Kopf.

»Na, toll«, murrt er und läuft zurück in den Gruppenraum – mit den matschdurchtränkten Stiefeln. Ich richte mich aus der Hocke auf. Aua, mein Rücken! Von morgens bis zum späten Nachmittag ununterbrochen in Meetings oder am Rechner zu sitzen, kann langfristig nicht gesund sein. Weder für den Körper noch für den Geist oder das Herz. Das soll nicht heißen, dass ich nie auf dem Spielplatz oder im Sandkasten mit meinen Kindern sitze (auch wenn ich häufiger durch Abwesenheit glänze, als mir – oder meinen Kindern – lieb wäre, und ich, wenn ich anwesend bin, häufiger beruflich telefoniere, als mir recht ist). Ich versuche eben, alles irgendwie zu kombinieren, und das geht oft nur gestaffelt oder überlappend.

Mein Blick fällt auf Joes Fach, in dem eine handgeschriebene Nachricht liegt. Beschämt lasse ich den Zettel nach kurzer Durchsicht unauffällig in meiner Manteltasche verschwinden. »2. Erinnerung: Bitte an den Laternenstab für den Martinszug denken!«, steht darauf. Schiet, denke ich. Wieder was verbummelt. Das muss ich unbedingt erledigen. Heute noch!

Ich drehe mich um, um Joe abermals aus dem Gruppenraum zu fischen, und stolpere fast in Marie hinein. Was macht sie überhaupt noch hier, warum sitzt sie nicht schon längst mit ihrem Sohnemann zu Hause am Basteltisch? Ohne den Blick von mir abzuwenden, schiebt Marie zielsicher ihrem Sohn einen Hirsekringel in den Mund. Ha, ich wette, der ist sogar selbst gemacht und nicht vom Bioladen.

In der Tasche vibriert mein Telefon. Au Backe – die Telefonkonferenz, die sich nicht auf einen kinderfreundlichen Termin verschieben ließ, beginnt. Verdammt. Die groß gewachsene Marie baut sich vor mir auf – Frontalangriff. Ignorieren nützt da jetzt nichts. Abgesehen davon ist es um mich herum gerade so laut, dass ich mein eigenes Wort kaum verstehe. Professionell klänge dieses Hintergrundrauschen in dem Telefonat mit meinem erweiterten Team sicher sowieso nicht. Was hatte mich nur geritten zu glauben, ich könnte das Telefonat zwischen die Abholung der Kinder und das Fußballtraining quetschen? Es nützt nichts. Die Telefonkonferenz muss ohne mich stattfinden. Ich fühle mich gestresst. Tief im Inneren meines Ohres höre ich ein Piepsen, leise, aber stetig, das sich nicht abstellen lassen will. Und dann noch Marie.

»Meinst du nicht, ihr könntet euch ein kleines bisschen mehr in die Organisation der Elterninitiative einbringen – oder seid ihr wieder einmal zu busy?«, fragt sie in einem Ton, in dem für meinen Geschmack ein Hauch zu viel Schärfe mitschwingt. »Du arbeitest doch eh nur Teilzeit. Wie lange soll der Kelch denn noch an euch vorübergehen? Ihr seid schon seit fast drei Jahren in der Kita und im nächsten Sommer kommt Frieder dazu, sobald er die Tagesmutter verlässt. Chris könnte wirklich mal den Vorsitz übernehmen oder du das Finanzamt. Als Beraterin sind doch die paar Zahlen ein Klacks für dich.«

Wie ich dieses Vorurteil liebe! Warum denkt eigentlich jeder Mensch in meinem Umfeld, ich würde etwas von Zahlen verstehen? Bis heute fühle ich mich in Excel nicht wirklich sicher, geschweige denn in Access, Alteryx oder all den anderen Programmen – da raucht mir schnell der Kopf, Beratung hin oder her.

»Hast ja recht, Marie, wir nehmen den Faden noch einmal auf«, sage ich bemüht beiläufig, um mich hinter diesen nichtssagenden Worten zu verstecken wie ein kleines Kind hinter den vor das Gesicht gehaltenen Händen. Vergeblich.

»Ich weiß, dass ich recht habe. Die Frage ist eher, wann Worten Taten folgen?«, hakt Marie nach, keinen Zentimeter zurückweichend. Mir reicht’s.

»Du, das ist echt ’ne gute Idee mit dem Vorsitz. Ich werde mit Chris darüber sprechen, sobald Zeit ist«, schiebe ich schnell hinterher, spiele damit den Ball ins Aus und nehme Joes Fahrradhelm vom Haken.

Das Schlimmste ist: Es stimmt ja, was Marie sagt. Wie soll eine Elterninitiative funktionieren, in der sich die Eltern nicht engagieren? Marie ist engagiert. In der Kita, im Sportverein, im Ausschuss der Stadt für Kinder und Familie. Vollzeit-Mama mit Leidenschaft und sozialem Engagement. Andere kriegen soziales Engagement und Job vereint; warum bin ich dazu nicht in der Lage? Ich fühle mich ertappt und schäme mich ein bisschen. Ich komme mir vor wie der Hase zwischen vielen Igeln – überall zu spät. Insgeheim bewundere ich Frauen wie Marie oder Karen. Sie haben sich entschieden, wissen, was sie wollen, und sitzen nicht zwischen den Stühlen wie ich. Auf der anderen Seite denke ich: Warum muss die (Frauen-)Welt so bipolar sein, warum bin ich überhaupt zu einer solchen Entscheidung gezwungen? Um mir und der Welt zu beweisen, dass dem nicht so ist, reibe ich mich seit Jahren auf.

Mats drückt seiner Mama einen dicken Knutscher auf die Wange. Marie genießt diesen Moment der Nähe sichtlich. Und ich – bin ich etwa ein bisschen neidisch? Haben wir uns nicht ganz bewusst gegen diesen Lebensentwurf mit tradierten Rollen entschieden? Das Telefon summt erneut in meiner Tasche. Und das Piepsen in meinem Ohr ist ebenfalls wieder da.

»Komm, Joe«, rufe ich etwas zu laut und schrill in den Gruppenraum, »schwing dich auf dein Fahrrad, bevor wir zu spät zum Training kommen, schließlich müssen wir deinen Bruder noch einsammeln.«

Oh, dieses Hamsterrad. Dieses ständige Nichtgenügen, dieses immerwährende Zuspätkommen in der Endlosschleife. Als Mama. Als Ehefrau. Als Projektleiterin. Als Tochter, Schwester, Freundin. Als Frau. Als Mensch. Wie oft habe ich den Kindern in den letzten Tagen wirklich mit ungeteilter Aufmerksamkeit zugehört? Wie viele Male habe ich sie in den Arm genommen und erst dann losgelassen, als sich ihre Umarmung löste? Wie lange ist es her, dass ich mich ernsthaft auf ihr Spiel eingelassen und erst damit aufgehört habe, als sie es beenden wollten (statt zu sagen: »Okay, ich spiele mit euch Mau Mau, aber nur EINE Runde!«)? Wann bin ich das letzte Mal einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen? Wann habe ich aus reinem Vergnügen (ohne Geltungssucht und Mitredefaktor) einen Roman verschlungen oder das Feuilleton einer Tageszeitung in den Händen gehalten? Wann hat mich nicht mal das Gefühl geplagt, mit einer To-do-Liste durch mein Leben zu rasen?

Jede Minute kann effizient genutzt werden – für Kinder, Job, Mann, Eltern, Neffen und Nichten, Haushalt, Hund, Freunde, Schwiegereltern, Nachbarn. Funktionieren. Sachen durchziehen. Uneingeschränkt belastbar sein. Das ist nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal in meinem Beruf, sondern auch in meiner Familie. Laboro ergo sum, ich arbeite, also bin ich, lautet das Credo der Babyboomer-Generation. Einer der Nachteile, mit dieser leistungs- und erfolgsorientierten Lebenseinstellung aufzuwachsen, ist: Wir entwickeln kein Gespür für uns; zu oft werden die eigenen Bedürfnisse unterdrückt, um allen Anforderungen gerecht zu werden, um vielleicht noch einen Schritt weiter gehen zu können als die anderen. Ein systemisches Problem? Den Druck habe ich als Kind kaum bewusst wahrgenommen. Meine Eltern haben mich und meine zwei Jahre ältere Schwester geliebt. Aber haben sie uns vielleicht ein klitzekleines bisschen mehr geliebt, wenn die Leistung stimmte, ob auf dem Sportplatz, in der Schule oder am Klavier? Jetzt, wo ich selbst Mutter bin, frage ich mich manchmal: Ist Elternliebe häufiger, als uns lieb ist, bedingte Liebe im Fromm’schen Sinne, also eine an Konditionen geknüpfte Liebe, die Kinder sich ein Stück weit verdienen müssen? Bei all der Carpe-diem-höher-schneller-weiter-Attitüde bleibt dann kaum Zeit dafür, in sich hineinzuhören, oder für sonstigen emotionalen Schnickschnack. Und so machte ich immer weiter, volle Fahrt voraus.

Vielleicht empfand ich die Geburt meines ersten Sohnes auch deshalb rückblickend in Teilen als traumatisch, weil ich gezwungen war, mich in meiner Bedürftigkeit zum ersten Mal richtig zu spüren. Bis zu Joes Geburt brauste ich wie ein ICE durchs Leben. Nach der Geburt fühlte ich mich psychisch und physisch wie ein angeschossenes Reh und kam nur schwer wieder auf die Beine.

Sobald sich Körper und Seele notgedrungen berappelt hatten, stürzte ich mich während des Elternjahres mit aller Wucht in die unbekannte Mutterrolle. Bonden auf Teufel komm raus, denn die Elternzeituhr tickte. Und so glichen die Monate nach der Geburt eher einer Achterbahnfahrt als einer entspannten Erholung. Vielleicht waren die damals aufflackernden Verstimmungen und psychischen postnatalen Nachwehen bereits die ersten leisen und vehement ignorierten Anzeichen einer Überforderung an allen Fronten, die, im Nachhinein betrachtet, zusehends größer wurde.

Für diese Ignoranz zahlte ich nur eineinhalb Jahre später und längst wieder mit vollem Elan zurück im Job in Form eines Burn-outs einen sehr hohen Preis. Ich war fertig. Konstanter Schlafmangel, Karrieredruck, ein unruhiges Kind, das zu allem Übel an Asthma und Neurodermitis litt, ein chronisch schlechtes Gewissen meinem Baby und meinem Mann gegenüber, bei Verabredungen mit Freunden und Familie immer die Letzte, die kam, und die Erste, die ging. Der Tag hat 24 Stunden und dennoch: Keine Zeit für nichts.

Kind und Karriere – warum nicht? Weil man sich ohne einen zwischen Ruhe und Anspannung navigierenden inneren Kompass kaputtmacht. (Wo genau gibt’s den eigentlich zu erwerben?) Und weil gerade für Frauen die multiple Belastung aus meist geringer bezahlter Berufs- und immer unterbezahlter Hausarbeit eben doch mehr ist als ein vernachlässigungswürdiger Nebenwiderspruch im gesellschaftlichen Getriebe. Darum nicht. (Stichwort: Wer kümmert sich denn auch heute noch mehrheitlich um das Babyschwimmen, die Spielverabredungen, den Kitaplatz, die Geburtstagsgeschenke oder das Aussortieren der Winterkleidung? Na? Hand aufs Herz!) Denn das Leben läuft nicht einfach weiter wie vorher, weder beruflich noch privat, nachdem frau mal eben ein Kind bekommen hat. Dieser Zerreißprobe war ich nicht gewachsen. Irgendwann kommt alles raus.

Obwohl es mir so schlecht ging, war ich schon bald einen Schritt weiter. Denn wenn etwas kaputtgeht, dann muss man es eben reparieren. Ob Mensch oder Maschine. Also begab ich mich in professionelle Hände und arbeitete (!) vorbildlich an mir. Alles heimlich natürlich. Bloß nicht krankmelden. Das fehlte noch, Gerüchte um die psychisch labile junge Mutter. Lieber unbezahlten Urlaub nehmen. Und der ganzen Welt und mir selbst Stärke vorgaukeln, während ich wie ein Häufchen Elend winselnd und von Selbstzweifeln zerfressen mit einem glucksenden Kleinkind auf der Krabbeldecke beim Therapeuten saß. Worte wie Achtsamkeit hörte ich nun zum ersten Mal. Aus heutiger Sicht kann ich nur den Kopf schütteln. Am liebsten würde ich mein jüngeres Ich fest in den Arm nehmen und sagen: Mach dir nicht so einen Stress!

Konsequent und vermeintlich aus meinen Fehlern lernend, nahm ich mir die Ratschläge aus Therapiesitzungen, Selbsthilfebüchern und Umfeld zu Herzen, reduzierte mein Arbeitspensum und schaltete einen Gang zurück. Die Maschine brummte wieder, auch wenn es im Getriebe ab und an noch ordentlich ruckelte. Und ich wurde endlich wieder schwanger.

Später, also nach dem Burn-out und der wesentlich weniger turbulenten Schwangerschaft und Geburt des zweiten Wunschkindes, Frieder, wollten wir gemeinsam als Eltern vieles anders und vor allem besser machen als zuvor. Dazu zählte, weniger nebeneinanderher zu leben als Familie und als Paar. Denn wenn Kinder ins Spiel kommen, droht einer scheinbar intakten Liebesbeziehung die schleichende Mutation von gefühlter Einheit zu gelebter Zweiheit: gemeinsam allein.

Früher hatten wir irgendwo so eine Schmuddelecke oder eine Schublade, die von unsinnigen Habseligkeiten, abstrusen Ideen und Einfällen überquoll, ein Kessel Buntes, aus dem man manches Mal einen gemeinsamen Schatz heben konnte. Bei uns war mittlerweile alles aufgeräumt, es gab keinen Platz mehr für Eventualitäten. Wo war das Quäntchen Abenteuer und Unorganisiertheit, das wir uns insgeheim wünschten? Die Prise Verrücktheit und Spontanität, nach der sich jedes Paar sehnt, um sich lebendig zu fühlen? Diesen Bonnie-und-Clyde-Faktor im Leben wollten wir gerne zurückgewinnen.

Was bot sich da mehr an als zwei, drei Monate »auszubrechen«, also eine gemeinsame Elternzeit im Ausland? Und schließlich sollten sich die obligatorischen zwei bezahlten Vater-Monate in Elternzeit lohnen. (Die Elternzeit so zu nutzen, dass auch der Vater die elterlichen Pflichten im Alltag erfahren und damit die berufstätige Frau unterstützen kann, darüber dachten wir damals gar nicht nach.) So packten wir also im Jahr 2013 zum ersten Mal unsere Rucksäcke und brachen mit den beiden Kindern nach Südostasien auf. Joe war drei Jahre alt, Frieder, genannt Raupe, gerade acht Monate. Wenn ich die Augen schließe, kann ich noch spüren, wie mir der Wind auf abgelegenen thailändischen Inseln um die Nase wehte, wie wir das Leben genossen, wie leicht sich alles anfühlte. Morgens tranken wir frische Kokosnüsse, die mit der Machete vom Baum geholt und vor unseren Augen aufgeschlagen wurden, und Raupe konnten wir täglich aus einer Schicht von abgelutschten Mangokernen und -fruchtfleisch pellen. Wir lebten für 10 Wochen wie in einer Blase aus Thai-Massagen, Eltern-Kind-Strandpartys, Schnorcheltrips und Stadterkundungen in der strandnahen Hotel- und Resort-Landschaft. Klar gingen wir uns bisweilen ganz schön auf die Nerven, aber wir packten diese Wochen so voll mit Happenings, Erkundungstouren und Urlaubsevents, gönnten uns gutes Essen und berauschten uns am süßen Müßiggang, ohne viele Kompromisse einzugehen, dass die Zeit wie im Rausch an uns vorbeizog. Ein verlängerter Sommerurlaub, um dem deutschen Winter zu entfliehen – wie schön! Tatsächlich gelang es mir fernab von Sozial- und Berufsstress einen Hauch gelassener und weniger verkrampft im Umgang mit den Kindern zu werden. Ich konnte mich selbst besser leiden in dieser lässigeren Rolle. Verletzbar und unperfekt zu sein – was war daran verkehrt?

Der Trip ähnelte einem Durchatmen. Doch der Alltag holte uns schneller ein, als wir gucken konnten, und gerade ich wurde viel zu rasch zurückkatapultiert in mein altes Leben, mein Rollenmuster der vermeintlichen »Supermom«. Nach unserer Rückkehr kam Frieder mit knapp einem Jahr zur Tagesmutter, Chris ging zurück in die Agentur, Joe in die Kita – und ich zurück in meinen Job. Schnell war ich – selbst in Teilzeit – stark eingespannt und saß nach kurzer Zeit wieder zu viele Stunden die Woche am Schreibtisch, am Bildschirm oder in Meetings, immer auf dem Sprung. Wieder wurde in unserem Privatleben alles mit der heißen Nadel gestrickt. Wir versuchten, den Laden im Staffellauf-Prinzip gemeinsam zusammenzuhalten. An viel zu vielen Tagen gab es wenig bis keine Kommunikation zwischen uns, die über logistische Fragen hinausging (wer holt wen ab, wann wird was wo gegessen, war der Hund heute schon weiter draußen als einen Steinwurf entfernt, wann können die Großeltern übernehmen? Und, wenn wir gerade dabei sind: Warum liegen deine Socken überall herum?!) Wir hatten an der großen Freiheit geschnuppert, nur um mit noch größerer Wucht wieder in die Realität zurückgeworfen zu werden. Es ist wie mit Silvester: Man nimmt sich eine Menge vor, die Vorsätze halten ein paar Tage – und wenige Wochen später erinnert man sich nicht einmal mehr daran, dass man sich überhaupt etwas vorgenommen hatte. Und so blieb es beim Drücken des Pausenknopfs auf Zeit; die Playlist blieb die gleiche.

Nach einem kurzen Intermezzo in internen Projekten ohne Reisetätigkeit stand ich bald wieder mit beiden Beinen im Kundengeschäft und es gab kaum eine Woche, in der nicht wechselseitig Chris oder ich einige Tage berufsbedingt über Nacht außer Haus waren. Und obwohl mir die Arbeit an neuen Themen Spaß machte – warum fühlte sich mein Zustand nicht nach einer Balance an, sondern immer nach ein bisschen mehr Arbeits- als Privatleben? Auf meiner rechten Schulter saß mit stolzgeschwellter Brust das Karriereteufelchen: Komm schon! Jetzt hast du es so weit geschafft – und das als Frau! Mit zwei Kindern! Da kannst du jetzt nicht einknicken. Lange wird es nicht mehr dauern bis zur nächsten Beförderung. Du kannst allen beweisen, wie sehr es sich lohnt dranzubleiben, die Zähne zusammenzubeißen, sich durchzuboxen. Also lernte ich wieder nicht aus meinen Erfahrungen. Ich blieb am Ball.

Heute kommt es mir vor, als wäre ich seit Frieders Geburt einen Schritt vor- und zwei zurückgegangen. Mit unweigerlichen Konsequenzen. Das letzte Mal, dass ich sechs oder sieben Stunden am Stück geschlafen habe, muss fast ein halbes Jahrzehnt her sein. Meine Kinder betreue ich nicht aktiv, sondern organisiere weitestgehend ihre Betreuung durch Dritte. Klar sehe ich sie morgens und abends und an den Wochenenden, aber es ist kaum Raum für die erfüllte Eltern-Kind-Beziehung, die mir einmal in grauer Vorzeit vorschwebte. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mehr die Rolle der operativen, gehetzten, bestimmenden als die der liebevollen, aufmerksamen und verlässlichen Mutter inne.

Beruflich ertrinke ich in einem Meer von fragmentierten Arbeitssträngen. Mit steigender Verantwortung und einer höheren Schlagzahl von Konferenzen und Projekten finde ich kaum mehr die Zeit, in die Tiefe und Komplexität der Themen einzutauchen, sie zu durchdenken – verändere ich damit überhaupt etwas oder verwalte ich nur noch? Interessiert mich diese Arbeit noch so stark, dass ich bereit bin, ihr weiterhin so viel Lebenszeit zu widmen?

Und wie fühle ich mich mit all dem, wenn ich in mich hineinhöre? Da höre ich überraschend wenig. Ein Taubheitsgefühl stellt sich ein. Für die Erwägung etwaiger Veränderungen und Alternativen bin ich viel zu abgestumpft und fantasielos. Meine Batterien sind nicht leer. Schlimmer. Sie sind defekt. Ein Wochenende reicht mir bei Weitem nicht mehr, um zu regenerieren. Ich fühle mich immer schneller immer länger ausgelaugt, visionslos, schwammig. Leer.

Also: Alles aussichtslos? Nicht ganz. Denn da ist noch die Erinnerung an einen Schwur vor zwei Jahren. Nach unserer gemeinsamen Elternzeit in Südostasien hatten wir uns versprochen: Egal, wie es beruflich mit uns weitergeht – bevor Joe eingeschult wird, steigen wir für mindestens ein Jahr aus und reisen um die Welt. Koste es, was es wolle. Und damit ist nicht primär das Geld gemeint, sondern vielmehr die Karriere, das Prestige, die Zeit. Und der Mut, einfach mal »auszusteigen« als Familie mit zwei Kindern. Aus unserem Südostasien-Experiment hatte ich immerhin eines gelernt: Mit ein paar Wochen Ferien hier oder einer kleinen Therapie dort verändert man nicht seine Lebenseinstellung. Die klebt an einem wie Pech, ob man will oder nicht, und es sind deutlich mehr Zeit, Konsequenz und Schneid notwendig, um sich von alten Mustern zu trennen. Es bedarf einer nachhaltigen Veränderung des Kontextes, um alte Verhaltensmuster und Denkwelten zu hinterfragen. Einmal das eigene Leben auf den Kopf stellen – na, wenn’s weiter nichts ist. Alles sowieso vollkommen unrealistisch – oder? Vermutlich.

Spät am Abend grübele ich vor mich hin. Ich kann mich kaum auf den flirrenden Laptop konzentrieren, der sich fordernd vor mir aufbaut wie ein schreiendes Kind: Füttere mich! Kümmere dich um mich! Und was ist mit meinen Kindern? Die schlafen bereits.

Nach dem Abholen von Joe aus der Kita fuhren wir schnurstracks zur Tagesmutter. Dort wurde Raupe kurzerhand in den Kindersitz auf meinem Gepäckträger verfrachtet, dann ging’s weiter zum Fußballtraining unseres Fünfjährigen – man kann ja nie früh genug anfangen! In unserem Bekannten- und Freundeskreis wächst der Anteil der jeweiligen Kinder zwischen drei und sechs Jahren, die zum Eishockey, Englischkurs, Ballett, Yoga oder Schauspielunterricht chauffiert werden. Nach einem langen Kindergartentag, versteht sich. Denn »die wollen das unbedingt, die Kleinen!« Wir selbst sind keinen Deut besser. Unser Großer geht zweimal die Woche nach sieben oder acht Stunden Kita zu Oma und Opa, an den anderen Wochentagen zum Fußball und zum Reiten. Alles normal?

Während des Trainings hielt ich in einer Hand die Leine, an der unser Hund Wolfgang wie verrückt zog, an der anderen zerrte Frieder, der auf den Spielplatz wollte, während ich versuchte, mich mit Stöpseln in den Ohren halbwegs auf das Telefonat mit einem Kollegen zu konzentrieren, um mich für meine Abwesenheit in der vorhergegangenen Telefonkonferenz zu entschuldigen, mich upzudaten, Arbeitsaufträge zu verteilen und Feedback einzuholen. Nächster Call um 21.00 Uhr? Gern! Bis dahin. Tschüss.

Auf dem Nachhauseweg kam uns meine langjährige Freundin Anna auf dem Fahrrad entgegen und ging ein paar Schritte mit, während Wolfgang vorlief und die Kids hinter uns herschlurften. Anna ist aktuell Single und liebt Kinder, auch wenn sie keine eigenen haben möchte. Wir redeten flüchtig über ein befreundetes Paar, in dessen Beziehung es gerade kriselte. Anna erzählte mir von einer ein paar Jahre zurückliegenden Sitzung mit ihrem (Ex-)Mann beim Paar-Therapeuten, der behauptete: »Als Paar scheitert man meist gemeinsam.«

»Hm«, sagte ich. »Gilt das auch für Familien?«

Anna zuckte mit den Schultern. Der Gedanke beschäftigte mich. Spätestens in den Dreißigern sehnen sich viele nach dem sicheren familiären Hafen. Aber wenn wir diesen endlich gefunden haben, merken wir, dass wir ohne Segelschein auf einem Boot sitzen. Welcher Kurs? Woher weht der Wind? Wer ist der Skipper? Kentern ist da eine reale Option. Es hat sicher nicht nur einer Schuld, wenn das Projekt Familie vor die Wand gefahren wird. Der, der sich nicht genug kümmert und sich selbst ein Stückchen wichtiger nimmt als die anderen. Der nicht verzichten kann und sein Leben weiterlebt, als hätte es dieses einschneidende Erlebnis nie gegeben, das man Familiengründung nennt. Der nicht an sich oder an der Beziehung »arbeiten« will. Da ist sie wieder, die Arbeit, um die sich alles dreht. Leisten. Abhandeln. Ob im Job oder zu Hause.

»Wolltet ihr nicht mal was verändern?«, fragte mich Anna, während sie sich wieder aufs Fahrrad schwang.

In der letzten Viertelstunde hatte ich ihr mal wieder mein Leid geklagt. Über meine Kollegin Karen, die alles irgendwie besser hinkriegt als ich, über Marie, mein personalisiertes schlechtes Gewissen, das mich packt, wann immer ich sie im Kita-Hof oder auf dem Spielplatz erspähe – ausgestattet mit einem immerwährenden Lächeln und vor allem mit viel Zeit für die Kleinen. Über mich selbst, die ich immer weiter in der effizienzgetriebenen Realität versumpfe, über meine Eltern, deren Ansprüchen ich gefühlt selten gerecht werde. Und überhaupt: Meine beiden Jungs, mein Chef – sogar unser Hund Wolfgang bekam sein Fett weg, denn: Kann der nicht endlich aufhören mit diesem nervtötenden Gebell?! Nervös blickte ich auf die Uhr. Noch ein Haufen Arbeit wartete heute auf mich, und die Kinder musste ich auch versorgen und bettfertig machen. Chris freute sich wahrscheinlich, auf seiner Dienstreise diesem Rattenschwanz von Nutellaverschmierten Einkaufszetteln, überfüllten Terminplanern, Kita-Elterndiensten, Panini-Sammelbildern, Drogerie-Kassenbons und anderweitigen Spaßbremsen, die mit Familie und Job einhergehen, kurzzeitig zu entfliehen. Verübeln konnte ich es ihm nicht. Obwohl – ich runzelte die Stirn. Eine Nacht hätte bestimmt auch gereicht. Im Geiste bekam jetzt also Chris ebenfalls eins auf die Mütze. Ich wusste ja, dass ich eben in meinen Tiraden jemanden vergessen hatte.

»Doch, ja«, sagte ich schnell zu Anna, »irgendwann wollten wir mal rauskommen, etwas verändern. Aber was eigentlich? Und wann überhaupt? Wir sind vollkommen festgefahren.«

Ich schaute wieder auf die Uhr. Mist. Ich musste los. Keine Zeit. Weder für dieses Gespräch noch für psychedelische Lebensveränderungshirngespinste.

Raupe wurde langsam knötterig. Kein Wunder, von acht Uhr morgens bis halb sieben am Abend außer Haus zu sein, ist ein langer Tag für einen Zweieinhalbjährigen. Auch die Kinder sind im Funktionsmodus. Autsch.

Statt in die Augen meiner Kinder sah ich an diesem Abend viele Male auf mein Handy: 31 ungelesene E-Mails. Immerhin, beim Abendessen legte ich das Telefon weg und jeder erzählte von seinem Tag. Wir lachten ein paarmal gemeinsam, das tat gut. Und es gab sogar ein gekochtes Ei und ein paar Schnitze Äpfel und klein geschnittene Paprika. Von wegen ungesund. Ach, den Laternenstab hatte ich vergessen. Egal. Ich schrieb mir eine Erinnerung ins Smartphone, um später online einen zu bestellen. Um 20 Uhr waren die Kinder endlich bettfertig.

»Jetzt zügig ein paar Seiten vorlesen und dann schlaft ihr aber schnell ein, bitte, ja? Gute Nacht. Ja, die Mama bleibt noch kurz hier sitzen.« Und Licht aus.

Eine Stunde später schreckte ich aus Joes Kinderbett hoch. Schon wieder war ich mit den Jungs weggeschlummert, wie ärgerlich! Das Nickerchen hatte mich eine ganze Stunde gekostet, die ich nun hinten dranhängen musste. Ich schlich auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer und erlag nicht dem Drang, mich einfach auf mein eigenes Bett zu werfen und weiterzuschlafen, sondern fand mich im Wohnzimmer auf unserem quietschorangen Sofa am Rechner ein. Den Team-Call verpasste ich nicht. Die Kollegen waren noch im Büro.

»Wie geht’s euch?«, fragte ich – leise, um die Kinder nicht zu wecken.

»Alles gut, grad Mittagspause«, feixten sie am anderen Ende.

Klang nach Nachtschicht. Wieder einmal. Das galt für mich genauso, auch wenn ich mich im Homeoffice befand. Virtuelle Arbeitswelt – eine Hassliebe. Abermals war ich stinksauer auf mich selbst. Und auf den Job. Und auf meinen Mann, der sich ja genauso gut um den Laternenstab oder irgendwas kümmern könnte. Und überhaupt. Unzufriedenheit in Dauerschleife. Wann bin ich eigentlich das letzte Mal zufrieden gewesen?

Über der Arbeit vergeht die Zeit wie im Flug. Es ist schon 1 Uhr. Raupe musste in der Zwischenzeit einmal aufs Klo und brauchte zweimal die Hand zum Wiedereinschlafen. Joe benötigte ein Glas Wasser. Danach wollte und konnte er zunächst nicht einschlafen. Der tägliche Stress, die trockene Heizungsluft im Winter, die in den Straßenfluchten stehende Hitze im Sommer, die Wasserhärte und die zunehmende Luftverschmutzung setzen ihm zu und begünstigen sein Asthma und seine chronische Neurodermitis. Joe leidet unter der eingerissenen Haut und den wunden Ekzemen. Täglich muss er gecremt und gesalbt werden. Gegen seinen Willen. Eine Tortur, die zusätzlich seit Jahren an all unseren Nerven zerrt, insbesondere an seinen. Letztens las ich, dass die chronische Neurodermitis auch mit Stress im Mutterleib während der Schwangerschaft zu tun haben könne. Stinksauer und wütend über diesen gedruckten Unsinn schlug ich die Zeitschrift zu und schwor, sie nie wieder zu kaufen. Und dennoch saß der Stachel im Fleisch – denn wenn ich eins hatte während der Schwangerschaft, dann war es ein enormes Arbeitspensum. Immer wieder kratzte er heute Abend an seinen rot gefleckten Beinchen und Armbeugen, wälzte sich hin und her, griff nach meiner Hand, stieß sie wieder weg, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich einschlummerte. Die Kollegen sind nun offline, offiziell zumindest, bis im Morgengrauen wieder der Wecker schellt.

Nun liege ich in meinem Bett und es herrscht endlich Ruhe.

Wirklich? Da ist er wieder. Dieser summende Ton in meinem Ohr. Statt den Rechner zuzuklappen oder mich den letzten fett gedruckten E-Mails im Posteingang zu widmen, öffne ich meinen digitalen Kalender. Ich scrolle vorwärts. Weiter. Immer weiter. 1. September 2018. Das ist der Stichtag. Nur noch anderthalb Jahre, dann steht Joes Einschulung ins Haus. Dann ist er sechseinhalb Jahre alt, ein Schulkind.

»Sobald die Kinder in der Schule sind, ist es vorbei mit dem Familien-Lotterleben«, höre ich immer wieder. »Dann ist man nicht mehr so flexibel.«

Stimmt das? Und wenn ja, nutzen wir diese Freiheit vorher denn überhaupt?

Ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreimal rumdreht. Chris ist wieder da, sein Flieger hatte ordentlich Verspätung. Knapp 72 Stunden war er unterwegs, musste mehrfach umsteigen, Kunden treffen, eine Veranstaltung leiten, einen auf »Ich habe Spaß und bin gut drauf« in Dauerschleife machen. Sein Kopf wird sich so matschig anfühlen wie eine Banane, die ein Kind im Schulranzen vergessen hat. Schweigend nehmen wir uns eine Weile in den Arm – die Tür zum Kinderzimmer steht offen, bloß nicht die schlafende Meute wecken.

»Na, wie war’s?«, flüstere ich.

»Gut«, sagt er kurz. »Du, ich bin hundemüde, lass uns morgen sprechen.« Weg ist er. Vor Jahren bin ich einmal kopfschüttelnd über eine Studie zur Kommunikation von Paaren gestolpert: 10 bis 60 Minuten reden Eheleute pro Tag miteinander. Erschreckenderweise halten wir uns seit geraumer Zeit sogar am unteren Rand der Skala auf, wenn man alle operativen Themen (wer holt wen wann ab usw.) sowie moderne Medien wie E-Mail, Text- und Sprachnachrichten ausklammert. Da wir beide unseren Freiraum brauchen, ich regelmäßig abends arbeite und wir zudem unterschiedliche Schlafgewohnheiten haben, besitzen wir seit jeher getrennte Schlafzimmer. Modern? Extravagant? Nein, pragmatisch. So, wie vieles in unserem Leben dem Pragmatismus und der Rationalität untergeordnet ist. Schlagartig wird mir bewusst, dass das mittlerweile auch für unsere Partnerschaft gilt. Habe ich mir vor zwanzig Jahren mein Leben mit Ende dreißig so vorgestellt? Damals interessierte ich mich für postmodernen Feminismus und die kritische Theorie, hörte verschrammelten Krautrock und besuchte Konzerte und Demos gegen so ziemlich alles und jeden. Ich wollte mich auflehnen, am Puls der Zeit sein, die Welt verändern. Jetzt lese ich das Handelsblatt, wandere im Kostüm durch Vorstandsetagen und versuche nebenbei eine hippe Mutti zu sein, die sich vorgaukelt, ganz nah an ihren Kindern zu sein.

So kann es nicht weitergehen. Ich schlage die Bettdecke zur Seite und stürme Chris hinterher. Er liegt in seinem dunklen Zimmer auf dem Bett – nicht einmal die Klamotten hat er ausgezogen, so fertig ist er.

»Chris, weißt du noch, was wir uns vor eineinhalb Jahren fest vorgenommen haben?«, frage ich.

»Ja«, klingt es überraschend klar mit vertrauter und fester Stimme aus dem dunklen Zimmer zu mir herüber.

»Ich glaube, wir sollten loslegen«, sage ich nach kurzer Pause.

»Auf jeden Fall. Bevor wir zu stumpf werden und uns nicht mehr erinnern.«

»Auszeit? Was ist das? Und wir?«, fragt Joe überrascht mit Blick auf seinen kleinen Bruder, als Chris das Thema am nächsten Morgen am Küchentisch kurz aufgreift.

Seit wann kann Joe unseren Gesprächen folgen? Wie konnten die letzten fünf Jahre derart schnell an uns vorbeirauschen?

»Na, ihr bleibt natürlich hier, alleine, ihr seid doch alt genug, oder?«, antwortet Chris wie selbstverständlich.

»Was?!?«, ruft Joe entrüstet.

Chris schmunzelt. Das mit der Ironie funktioniert bei Fünfjährigen noch nicht reibungslos. Raupe lässt sich hingegen von der Situation überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und verspachtelt genüsslich sein zweites Marmeladenbrot, während die rote Konfitüre triefend von Gesicht und Tischkante kleckert.

»Nein, so’n Quatsch. Wenn, dann reist ihr logischerweise mit«, entgegne ich gedankenverloren, während ich diese Traumwelten geistig bereits wieder zu den Akten lege. Eh alles vollkommen unrealistisch.

Das sieht Joe erstaunlicherweise anders. Er springt auf und schreit zu seinem kleinen Bruder hinüber, der ihn ungläubig anstarrt:

»Eine Reise einmal um die Welt? Das ist doch keine Auszeit – Frieder, das wird ’ne Wir-Zeit! Wir plus Zeit. Alle zusammen? Saucool! Wann geht’s los?«

Die Entdeckung der Einfachheit

»Hallo? Jemand zu Hause?«, frage ich schüchtern durch den schmalen Türspalt.

Nach zaghaftem Klopfen und Rufen öffne ich die ohnehin nur angelehnte Eingangstür des in die Jahre gekommenen Farmhauses im Südosten Ontarios, einer der zehn Provinzen Kanadas, stecke meinen Kopf durch den Spalt – und schnelle zurück. War das gerade wirklich ein Grizzlybär, der mich nur einen Meter entfernt mit aufgerissenem Maul und hochaggressivem Blick anvisiert hat?!

»Nur Mut – der beißt nicht mehr. Ich habe ihn letzten Winter erledigt; ungefähr dort, wo ihr jetzt steht wie die Ölgötzen!«, poltert eine weibliche Stimme von drinnen. »Kommt nur hereinspaziert – Welcome!«

Na dann, auf ins Abenteuer! Hier am Rande der kleinen Gemeinde Gravenhurst, inmitten der lieblichen Muskoka-Region mit ihren unzähligen, von hohen Tannen und dichten Laubwäldern eingerahmten, dunkelblauen Seen, etwa 150 Kilometer entfernt von Toronto, werden wir also die nächsten Wochen verbringen. Der bärtige wortkarge Biobauer Carl und die hemdsärmelige rundliche Sandy mit ihren liebevollen Knopfaugen haben uns aufgenommen, damit wir sie bei ihrer händischen Bohnen- und Kartoffelernte unterstützen. Schon bald stellen wir fest, dass dieses Farmer-Ehepaar in seinen 70ern aus einem so widerstandsfähigen, knarzenden und harten Holz geschnitzt ist, wie es sich wahrscheinlich nur in Kanadas Wäldern finden lässt.

Projekt Wir-Zeit. Im Sommer 2017, gut ein Jahr vor Joes Einschulung, haben wir es tatsächlich geschafft, uns loszureißen. Als wir zum ersten Mal Familienmitgliedern und Freunden von unserer anfangs noch naiven Spinnerei erzählten, sahen wir in viele enthusiastische, aber auch in einige ziemlich kritisch dreinblickende Gesichter, die uns nicht sagen wollten: »Wahnsinn, macht das!«, sondern eher signalisierten: »Warum tut ihr euch das an?!« Viele der Bedenken teilten wir, in anderen Fällen war die Skepsis für uns nicht ganz nachzuvollziehen.

»Die Betreuung der Kinder ist doch so toll geregelt bei euch, die Großeltern wohnen in der Nähe, die Kita ist sensationell – wisst ihr überhaupt, wie viel Arbeit da auf euch zukommt, die Kids über Monate von morgens bis abends selber zu betreuen?«

Ehrlich gesagt, lautet die Antwort: Nein, das wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, wie es eigentlich ist, sich dauerhaft ohne jede Unterstützung 24/7 um die eigenen Kinder zu kümmern. Bislang war uns das noch nicht einmal positiv oder negativ aufgefallen, schließlich macht es fast jeder so, und man will ja nur das Beste für die Kinder: Alle Chancen sollen sie haben, Freunde finden, alles lernen, machen, tun, immerzu beschäftigt und angeregt sein. Und erfolgreich im Beruf will man selbst schließlich auch sein. Einmal die eierlegende Wollmilchsau als Familien- und Karrierevereinbarkeitsmodell, bitte. Während wir uns also einbildeten, wir würden unsere Kinder gut kennen und fördern, wissen, was ihre tiefsten Ängste und Sorgen, ihre liebsten Beschäftigungen, ihre Sehnsüchte und Leidenschaften sind, gaben wir sie vertrauensvoll seit ihrem ersten Geburtstag an den meisten Tagen von morgens bis abends in fremde Hände. Nicht um sie abzuschieben, sondern mit den besten Absichten! Nur – wer sind diese kleinen Menschen überhaupt, mit denen wir da seit Jahren zusammenleben? Frieder und Joe – die unbekannten Wesen? Selbst am Wochenende verabredeten wir uns häufig mit anderen zu Familien-Dates – bloß keine Langeweile aufkommen lassen, bloß nie allein zu viert! Und jetzt von null auf hundert: 14 Monate, 420 Tage nur wir vier, ganz allein in der Fremde, der Wildnis, im Outback – the Big Wide Open?! Nein, wir hatten keinen blassen Schimmer, was auf uns zukommen würde. Und natürlich hatten wir Angst. Was ist mit all den Unwägbarkeiten während so einer Reise, Heimweh und Strukturverlust, verunsichert das die Kinder nicht? Wollen sie irgendwann nicht einfach nach Hause? Oder wir Erwachsenen? Und dann? Der Verlauf von Beziehungsdynamiken und das Verhältnis zu unseren Mitmenschen sind zu einem gewissen Grad vorhersehbar, solange es nicht zu ungeahnten Belastungsproben kommt. Erst in Extremsituationen, in denen sich der Kontext radikal ändert, lernen wir einen Menschen in all seiner Fehlbarkeit und Bedürftigkeit kennen. Zu diesen Ausnahmezuständen fernab des Normalen, Gelernten, Erfahrenen zählen Armut, Jobverlust, schwere Krankheit, Lebensgefahr, Geburt, Tod. Eine weitere Extremsituation ist das Sichbewegen weit außerhalb der Komfortzone. Räumlich. Körperlich. Kulturell. Emotional. Also Reisen.

Trauen wir uns das zu? Was, wenn wir unterwegs zweifeln: Vielleicht ist einer von uns dafür nicht gemacht? Sind unsere Energielevel und Belastbarkeitsgrenzen dafür kompatibel genug? Ist ein Scheitern als Risikofaktor mit einkalkuliert und wenn ja – wäre das ein zu hoher Preis?

»Wisst ihr eigentlich, was so etwas kostet?! Dann könnt ihr das mit dem Eigenheim wirklich vergessen.«