Wolkenläufer - Angela Köckritz - E-Book

Wolkenläufer E-Book

Angela Köckritz

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Beschreibung

Die Ostasien-Korrespondentin der ZEIT, Angela Köckritz, hat sich in China gezielt auf die Suche nach Träumen begeben und die Menschen nach Wünschen, Perspektiven und der persönlicher Motivation gefragt. So erfahren wir, wovon Chinesen schwärmen, woran ihr Herz hängt, welche Passion sie antreibt. Diese vorzüglichen Reportagen eröffnen uns einen Zugang zu den Individuen, die wir angesichts der Masse übersehen: Ob Architekt oder Eremit, Wahrsagerin oder Konkubine, Bürgerrechtler oder Tagträumer – sie alle haben ihre Geschichte zu erzählen.

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Seitenzahl: 351

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Angela Köckritz

Wolkenläufer

Geschichten vom Leben in China

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

ReiserouteAbbildung WandersängerIch sitze in einem Berliner CaféZitat1. Der WandersängerAbbildung HochstaplerZitat2. Der HochstaplerAbbildung ArchitektenZitat3. Die ArchitektenAbbildung WanderarbeiterdichterZitat4. Der WanderarbeiterdichterAbbildung MätresseZitat5. Die MätresseAbbildung MuseumsgründerZitat6. Der MuseumsgründerAbbildung FreundinZitat7. Die FreundinAbbildung BergmenschZitat8. Der BergmenschAbbildung chinesische RömerZitat9. Der chinesische RömerAbbildung MediumZitat10. Das MediumAbbildung BürgerrechtsanwältinZitat11. Die BürgerrechtsanwältinAbbildung NachbarZitat12. Der NachbarAbbildung AbrissAnhangSie haben MiaoStatt eines NachwortsDankBildnachweis
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Ich sitze in einem Berliner Café und schreibe. Ich habe China sehr plötzlich verlassen. Meine Assistentin wurde verhaftet, ich wurde verhört, man warf mir vor, ein Agent Provocateur zu sein.

Wenn ich an China denke, denke ich an Taubenschwärme, die in weiten Kreisen über mein Hofhaus ziehen. Die Züchter haben ihnen Pfeifen an die Krallen gebunden, sie erzeugen ein wunderbar sirrendes Geräusch, das mit dem Flug auf- und abebbt. Ich denke an die prickelnde Schärfe des Feuertopfs. An die Schreie, mit denen sich Pekings Eisschwimmer in den Stadtsee werfen. Ich denke an eine Handvoll Menschen und die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Sehnsucht verteidigen. Und schon bekomme ich wieder Lust, loszulaufen.

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»Ein guter Reisender hat kein Ziel und keine feste Absicht anzukommen.«

Daoistisches Sprichwort

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1. Der Wandersänger

In einer Spätsommernacht, die nach Herbst riecht, schnüre ich die Stiefel und ziehe los. Es ist fünf Uhr morgens, die Gasse ist ganz still, kein Laut außer dem Hallen meiner Schritte. Peking hängt noch seinen Träumen nach.

Ich gehe durch untergehende Welt. Häuserruinen säumen den Straßenrand, sie liegen in der Dunkelheit, gestrandeten Walen gleich, tags kommen die Wanderarbeiter, sie auszuweiden. Sie tragen Kabel, Stromzähler, Fensterscheiben, Fensterrahmen, Türklinken, Dachziegel, Dachbalken zusammen und fahren sie auf kleinen Dreirädern fort. Mein Viertel, das Trommelturmviertel, wird abgerissen, nichts ist mehr, wie es war. An einer einsamen Wand, die vom Rest des Hauses verlassen wurde, hängt ein Plakat. Eine Lehrtafel, mit der ein Kind einst lesen lernte. Ich sehe die Zeichen für: Mund, Auge, Auto, Vogel, Elefant, Stadt. Von der Live Bar steht nur noch die hintere Wand, dort, wo einst die Toilette war. Irgendwer hat mit einem Stift einen Hintern auf die Wand gekritzelt. Darüber hat einer ein Leonard-Cohen-Zitat geschrieben: »Dance me to the end of love.«

Ich scharre mit dem Fuß ein paar Steine zur Seite, schaue über mein nächtliches Viertel. Seit vier Jahren lebe ich hier, unzählige Male bin ich von hier losgezogen, kreuz und quer durchs ganze Land. An diesem Tag beginnt meine letzte große Reise, nur weiß ich das damals noch nicht. Ich habe eine ungefähre Route, ein paar Menschen, die ich neu kennenlernen will, ein paar, die ich schon getroffen habe. Zwölf von 1,35 Milliarden. Sie sind nicht repräsentativ, wie sollte irgendwer repräsentativ sein in einem Land wie diesem? Vielleicht träumen sie ein bisschen mehr als andere, vielleicht sind sie ein wenig dickköpfiger als andere, vielleicht habe ich sie deshalb ins Herz geschlossen.

Kalte Morgenluft füllt meine Lungen, der Schritt wird leicht, als freuten sich die Stiefel, unterwegs zu sein.

Ich winke nach einem Taxi. Mit der Handfläche nach unten, wie man es in China macht, der frühere »New Yorker«-Korrespondent Peter Hessler schrieb einmal: »als streichle man einen unsichtbaren Hund«. Ein einsames Taxi kommt zum Stehen. »Wohin«, knurrt der Fahrer statt eines Grußes, sein Wagen riecht nach kaltem Rauch. Wir gleiten über leere Straßen zum Flughafen, vorbei an unwirklich stiller Stadt. Über den Hochhäusern zieht die Morgendämmerung auf, in den Häuserschluchten hängt noch die Dunkelheit.

 

Ich fliege südwärts, nach Nanchang, Hauptstadt der Provinz Jiangxi. Eine Fünf-Millionen-Stadt im chinesischen Hinterland. Nanchang ist ein Verkehrsknotenpunkt, an dem sich wichtige Eisenbahnstrecken kreuzen, außerdem ist es Zentrum der Landwirtschaftsindustrie. Die Kommunistische Partei hat Nanchang zur »Stadt der Helden« erklärt, zum »Ort, an dem die Flagge der Volksbefreiungsarmee zum ersten Mal gehisst wurde«. Im Jahr 1927 erhoben sich hier erstmals kommunistische Aufständische gegen die Republik. Nanchang ist eine Stadt, die nicht arm ist, aber auch nicht reich. Sie besteht größtenteils aus schmucklosen Wohnblöcken, nur im Zentrum erheben sich ein paar Glitzerhochhäuser. Auf der anderen Flussseite steht eine Geisterstadt, weil Entwickler ehrgeizige Pläne verfolgten, aber nur wenige das Geld haben, dafür zu zahlen. In China folgen fast alle Städte dem Modell Pekings, deshalb sehen sie oft so gleich aus, deshalb kann man ihre Entwicklung anhand einiger Merkmale messen. In Nanchang habe ich weder internationale Kaffeeketten gesehen noch rosagetünchte Villencompounds namens »General’s Home«, »Berlin Symphony« oder »Paris Dreams«. Auch habe ich auf der Straße nur einen roten Ferrari ausgemacht. Nanchang ist damit ein typisches Beispiel für das, was man in China Provinzstadt dritter Ordnung nennt. Später werde ich lesen, dass in der Stadt eines der größten Riesenräder der Welt steht. Ich war nicht da. Ja, ich habe es noch nicht einmal von weitem gesehen. Italo Calvino schreibt in »Die unsichtbaren Städte«: »Du wirst dein Vergnügen nicht in den sieben oder siebzig Wundern einer Stadt finden. Sondern in der Antwort, die sie auf eine deiner Fragen bereithält.«

 

Am Abend stiefele ich in Nanchang über die Pekingstraße. In jeder Stadt Chinas gibt es eine Pekingstraße, außer in Peking. Ich halte einen Zettel in der Hand. »黑铁 – Hei tie« steht darauf. »Schwarzes Eisen.« Doch alle, die ich frage, schauen mich ratlos an. Die Frau, die den Lippenstift weit über die Lippen hinausgemalt hat, zuckt die Schultern. Der Mann, der den hinkenden Hund spazieren führt, schüttelt den Kopf. Der Straßenfeger hält inne, überlegt kurz und fegt weiter. Ich laufe an einem Pianoladen vorbei, die ganze Straße ist voller Pianoläden, in der Auslage stehen müde Plastikblumen, die roten Blätter von der Sonne gebleicht. »Freude durch Klavierspielen« verheißt ein vergilbtes Banner. Ich habe fast das Ende der Häuserzeile erreicht, weiter vorn beginnen schon die Eisenbahnschienen, da entdecke ich es.

Der Eingang ist so schmal, dass ich ihn fast übersehen hätte, nur eine Lücke in der Hauswand. »Hei tie« steht in Zeichen darüber, »Schwarzes Eisen«. Ich gehe hinein, den schmalen Gang entlang, taste mich an nackten Betonwänden vorwärts, eine Kette aus Glühlämpchen führt nach oben, beleuchtet ausgetretene Treppenstufen. An ihrem Ende wartet eine schwere Eisentür, halb angelehnt.

»Hei tie«, der stolze, der einzige alternative Live-Club Nanchangs. Hinter der Bar steht ein Typ mit tätowiertem Hals, die Abenteuer vieler Nächte haben dunkle Spuren unter seinen Augen hinterlassen. Er nickt mir zu. An den Wänden kleben Heavy-Metal-Poster und ein Bild von Galeerenschiffen auf weitem Meer. Ich bleibe kurz stehen und denke über eine mögliche Verbindung von Schifffahrt und Heavy Metal nach, doch mir fällt keine ein. Egal, erst mal ein Bier, über den abgewetzten Perserteppich schlurfe ich Richtung Musik.

Da steht er schon auf der winzigen Bühne. Lang, schlaksig, doch mit breiten Schultern. Zhang Yide, 28. Seine Augenbrauen sind breit, die Ohren stehen leicht ab, seine Arme sind ungewöhnlich lang. Er trägt Schlabberhose, Nerdbrille und eine Frisur, die man von Playmobilfiguren kennt. Um den Hals hängt seine Gitarre, darauf hat er ein Smartphone geklebt, mit dem Musikprogramm kann er sich Drums und kreischende E-Gitarren heranholen. Mehr braucht er nicht für diesen Abend. Seinetwegen bin ich hierhergereist. Einen wie ihn habe ich gesucht. Einen Wandersänger, Vagabunden, Wolkenläufer.

Kreuz und quer zieht er durchs Land, von Bühne zu Bühne, von Stadt zu Stadt. Über Berge, durch Wüsten und endlose Städte, immer den Eisenbahnschienen nach. »Denn wo es eine Eisenbahn gibt in China, da gibt es auch Rock ’n’ Roll.« Ich will meine Reise in Begleitung eines Profis starten, von den Großen lernen.

Zhang Yide greift in die Saiten, schrubbt mit einem Drumstick darauf herum, er singt, springt, schreit, jault wie ein Wolf. Er singt Phantasie-Kisuaheli, er jodelt, er scheint sich prächtig da oben zu amüsieren. Er macht Nerdmusik. Er spielt Folk, experimentellen Folk, »… lieber wär ich Rockmusiker geworden, doch dafür musst du ein Schrank sein. Schaut mich an, Schlaks, der ich bin, mir blieb doch gar nichts anderes übrig, als Folk zu spielen.«

Dann wird er plötzlich leise. Sehnsucht kriecht ihm in die Gitarrensaiten, seine Stimme wird ganz weich. Er singt von dem Mädchen in Xi’an, das so schön war, das diese Blicke warf, und doch ist nichts zwischen ihnen passiert. Dann schaltet er um, wird sarkastisch, ironisch, trocken, liefert seine Pointen in rollendem Nordchinesisch ab. Er singt über die Ungerechtigkeit der Ordnungswärter und die Selbstgerechtigkeit, mit der sie die kleinen Leute drangsalieren. Er spielt die Melodien alter Fernsehserien und macht sich über Ikonen der Popkultur lustig. Er spickt seine Texte mit Andeutungen auf Politik, Zeitgeschehen, chinesische Pop- und Untergrundkultur.

Auf dieser winzigen Bühne ist Zhang Yide ganz das Bühnentier. Und ich muss an die Sänger denken, die einst von Teehaus zu Teehaus zogen und das Volk mit ihren Geschichten unterhielten. Sie waren Historiker, Gaukler, Komiker, Nachrichtensprecher in Personalunion. Lieferten den neuesten Klatsch und wetterten manchmal gegen die Obrigkeit. Doch die fahrenden Sänger gibt es nicht mehr, die Teehäuser, in denen sich das einfache Volk traf, haben fast alle dichtgemacht. Im Teehaus Tee zu trinken ist heute ein Vergnügen der Mittelklasse. Die Sagen, Geschichten, Skandale und Lieder kommen inzwischen aus dem Netz, das ist der Salon, in dem sich die Nation trifft. Und doch gibt es einen wie Zhang Yide. Und zehn haben an diesem Abend gezahlt, ihm zuzuhören. Studenten. Keine, die gekommen wären, um zu trinken, rauchen, rumzuknutschen. Sie haben ihre Stühle im Halbkreis um die Bühne gestellt, als säßen sie um ein Lagerfeuer. Und hören andächtig zu. Nach dem Konzert wollen sie zu ihm, ist ja nicht weit, nur ein paar Schritte vom Stuhl zur Bühne, sie machen Fotos, sagen schüchterne Nettigkeiten, dann sind sie weg, und er steht alleine dort. Er packt Verstärker und Soundsystem in seinen Rucksack, Scheinwerfer malen lilafarbene und grüne Schatten auf sein Gesicht. Ich löse mich aus dem Dunkel des Clubs und gehe zur Bühne.

»Hey«, sage ich.

»Hey«, sagt er.

Er weiß, dass ich komme, ich habe es ihm am Telefon gesagt.

»Das war gut«, sage ich.

Er grinst.

»Was machst du morgen, Yide?«

»Ich lass mich treiben, bis der Nachtzug kommt.«

Das gefällt mir. »Dann lass uns das zusammen machen.«

»Wann?«

»Wann du willst.«

»Zehn Uhr dreißig vor dem Club.« Er schultert den Rucksack, geht zur Kasse und steckt die Reichtümer ein, die er an diesem Abend verdient hat, siebzig Prozent der Einnahmen, das sind zehn mal sechzig Yuan, insgesamt fast neunzig Euro. Dann schlurft er vorbei am Pianoladen in das Hotel nebenan, es kostet hundertsechzig Yuan die Nacht, umgerechnet dreiundzwanzig Euro, der Rezeptionist ist mit dem Kopf auf der Theke eingeschlafen.

Wolkenläufer. »云游 – Yunyou.« »Auf Wolken gehen.« So haben es die Daoisten genannt, die Anhänger von Chinas ältester und ureigener Religion. Die Unsterblichen wandeln auf Wolken, frei und unbeschwert, und die Menschen können versuchen, es ihnen auf Erden nachzutun. Wer auf Wolken geht, der lässt sich treiben, schweift umher, wird zum Vagabund. Der macht sich auf die Suche nach dem »道 – Dao«, dem Weg (im Deutschen wird es meist mit »Tao« übertragen). Der wunderbare Schriftsteller und Kosmopolit Lin Yutang schrieb in den 1930er Jahren: »Reisen scheint eine verlorene Kunstform geworden zu sein. Menschen sollten reisen, um sich zu verlieren, zu Unbekannten zu werden, sich zu vergessen. Der wahre Reisende ist ein Vagabund, der sich den Freuden, den Verlockungen, dem Abenteuergeist des Streuners hingibt.« Es sei dabei völlig gleichgültig, wohin einer gehe, ob er in nächster Nachbarschaft herumirre oder die Wunder der Welt besichtigen wolle. Die What’s Bar in Peking zum Beispiel, ein kleiner Live-Club westlich der Verbotenen Stadt, wird bisweilen von einem daoistischen Wandermönch frequentiert. Zwischen seinen daoistischen Reisen durchs Land trinkt er bei guter Musik gern mal ein Bier am Tresen. Das Dao ist überall, solange einer nur offen ist. In der chinesischen Geschichte und Literatur wimmelt es von wundersamen Streunern. Der Streuner verkörpert, so Lin Yutang, die Nonchalance, Lebensfreude und Ironie desjenigen, der loslassen kann – und damit die Essenz der chinesischen Philosophie. Lu Tong, der Dichter der Tang-Dynastie, beschreibt einen solchen Vagabunden. Er zieht durchs Land, besteigt die fünf heiligen Berge und trifft nach langer Reise auf ein paar junge Gelehrte, mit denen er sich ganz prächtig amüsiert. Sie essen, trinken, dichten, der Reisende tut sich durch seine Dichtkunst hervor, die Gelehrten fragen, wie er denn heiße. Er antwortet: »Wozu wollt ihr das wissen? Nennt mich einfach ›den Bauern der Wolken und Wasser‹.« Ein Streuner benötige weder besondere Talente noch eine herausragende Vision, schreibt Lin Yutang, es genüge, »sich treiben lassen zu wollen«. Die Mindestvoraussetzung habe ich schon mal erfüllt. Und vielleicht kann ich mir von Zhang Yide noch etwas abschauen.

 

Am nächsten Tag herrschen hervorragende Streunerbedingungen. Die Sonne scheint, ich habe phantastisch geschlafen, am Hotelbüfett gibt es etwas, das wie Kaffee aussieht. Als Koffeinjunkie habe ich meine Ansprüche in der chinesischen Provinz entschieden heruntergeschraubt, ein paar Tage lang kann ich mit Kaffee in homöopathischen Dosen oder als Placebo-Dreingabe auskommen, Hauptsache, es sieht entfernt nach Kaffee aus. Ich mache mich auf den Weg zum Club, Zhang Yide wartet bereits auf mich.

Er hat sich über die Brüstung gelehnt und schaut auf die Autos herunter, die durch die Unterführung brausen. Ein Schlaks, einmal über die Brüstung gefaltet. Er hört mich nicht kommen. »Hey.«

Er schreckt auf. »Hey«, antwortet er.

»Groß bist du«, sage ich, weil ich gelernt habe, dass es nie eine schlechte Idee ist, fremden Männern zu schmeicheln.

»War ich mal. Ich schrumpfe schon«, sagt er und grinst.

Er will jetzt losloslos. In meiner Vorstellung war »sich treiben lassen« eine gemächliche Angelegenheit, ein entschleunigtes Flanieren, doch das hier ist nicht Wien, sondern China. Yide stürmt voran. Sprintet unter der Unterführung hindurch, die vierspurige Straße entlang. Am Straßenrand bieten braungebrannte Bauern ihre Waren feil, Socken, Kartoffeln, Jacken, Knoblauch. Wir schlängeln uns an ihnen vorbei, drücken uns durch hupenden Verkehr, weichen heranbretternden Bussen aus, rennen über Todeskreuzungen. Ich immer Yide hinterher. Spazierengehen war für mich bislang kein potenziell tödlicher Zeitvertreib, schon habe ich dazugelernt. Neben uns drücken Wanderarbeiter in Lederschläppchen Presslufthammer in den Asphalt, brechen Männer mit Eisenstangen Steine aus dem Boden, wirft ein Schutzbebrillter den Bunsenbrenner an, es zischt, gleißt und wirft Funken. Nanchang ist eine Baustelle, ganz China ist eine Baustelle. An Konversation ist nicht zu denken.

»Können wir irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist?«, schreie ich Yide ins Ohr.

»Was?«, schreit er zurück.

»Ruhiger«, brülle ich.

»Gute Idee«, brüllt er zurück.

Zhang Yide biegt in eine baumbestandene Straße ein, zu beiden Seiten stehen Villen im westlichen Stil der 1930er, 1940er Jahre. Die Herbstsonne wärmt, ihr Licht ist träge wie Honig, alles wird ganz langsam darin, die Schritte, die Blicke, die Gesten. Es riecht nach Akazien. Ah, denke ich, vielleicht wird das noch was mit dem sich Treibenlassen.

 

Vor vielen Jahren absolvierte ich mal ein Praktikum beim Goethe-Institut in Peking. Es gab eine Ausstellung, die viele Aspekte deutscher Kultur präsentierte, Derrick, Nena, Loreley. Chinesische Reisegruppen drängten hinein, man konnte sie an ihren blauen, roten oder gelben Kappen auseinanderhalten. Ich saß am Infotisch, ein junger Mann näherte sich mir vorsichtig, er trug eine rote Kappe. »Ich hätte mal eine Frage«, sagte er. »Was ist denn nun eigentlich der Unterschied zwischen Deutschland und China?« Damals blinzelte ich ihn ratlos an, heute wüsste ich die Antwort: das Ruhebedürfnis. Es gibt im Chinesischen keine adäquate Übersetzung für den sehr deutschen Satz: »Ich will meine Ruhe haben.« Wieso denn auch? Will ein Chinese zum Ausdruck bringen, dass er sich ganz prächtig amüsiert hat, dann sagt er: »热闹 – renao«. Die Übersetzung für: Es war laut und heiß.

 

Zhang Yide lässt seine Arme neben sich herschlenkern und erzählt aus seinem Nomadenleben. Ein Polizist sieht das Land in Kriminalstatistiken, ein Kartograf in der Beschaffenheit des Terrains, Zhang Yide misst es in Live-Clubs. Mädchen und Essen sind auch nicht unwichtig.

»In Städten wie Chengdu, Wuhan«, erzählt er, »sind die besten Fans. Da haben die Clubbesitzer eine echte Szene aufgebaut, die Leute verstehen was von Musik. Und in Chengdu, Mann, die wissen das Leben zu genießen. Aber nichts geht über den Club in Yiwu. Ist ein alter daoistischer Tempel. Die Fenster vibrieren richtig, wenn du den Verstärker aufdrehst, ein Wahnsinnssound.«

Fast in jeder Stadt hat er Freunde. Clubbesitzer. Andere Musiker. Leute, mit denen er nach den Auftritten feiern geht. Er weiß von aufwendigen lokalen Trinkspielen zu berichten, die mir in nüchternem Zustand schon zu kompliziert erscheinen. Die Expertise eines Wandermusikers, das lerne ich bei Zhang Yide, besteht in Live-Clubs, Trinkspielen und einer exakten Kenntnis der Streckenführung der chinesischen Bahn.

Wir treten auf einen Platz, den ein Heldendenkmal von erlesener Hässlichkeit ziert. Eine steinerne Flamme ragt in den Himmel, sie ist der »ruhmreichen Volksbefreiungsarmee« gewidmet.

Eines meiner imaginären Langzeitprojekte – so nenne ich bei mir die Projekte, die ich gerne verwirklichen würde, wenn ich die Zeit hätte – ist ein Fotoband über Kunst im öffentlichen Raum in China. Ich hätte Abenteuerliches zu präsentieren. Ein 15 Meter hohes Radieschen in Beton. Ein Brunnen in Gestalt springender Fische, rot, gelb und blau angemalt, ein jeder ist zehn Meter groß. Meine Lieblingsstatuen befinden sich indessen in Taiyuan, einer Stadt in der Provinz Shanxi. Taiyuan liegt mitten im Kohleabbaugebiet, Kohlestaub überall. Dort gibt es einen Park, der, glaube ich, »westlicher Kulturpark« heißt. Unten, am Eingang, stehen Statuen griechischer Götter. Es geht eine Treppe hinauf, entlang der in Stein gehauenen Passionsgeschichte. Oben auf dem Hügel befindet sich ein Versailles-artiges Säulentor, nur ist dieses Tor hier viel, viel größer. Erschlagen von so viel Stein, stand ich bei meinem ersten Besuch regungslos da und staunte, als ein Kohlearbeiter an mir vorbeikam.

»Na, fühlst du dich wie zu Hause?«, fragte er mich.

Nichts entsprach in diesem Moment weniger meinem Gefühl. »Wie meinst du das?«, fragte ich ihn.

»Na, sieht doch haargenau aus wie bei euch«, sagte er.

»Fehlt nicht viel«, sagte ich, was nicht der Wahrheit entsprach, ihn aber freute.

 

Zhang Yide und ich umrunden das Denkmal, ein Mann radelt vorbei, er verkauft bunte Luftballons, Hello Kitty, Pocahontas, Bernd das Brot, es sieht aus, als würden sie ihn gleich emporheben, als würde er weiterradeln über das hässliche Denkmal hinweg, geradewegs in den Himmel hinein. Ein anderer Mann kommt ihm entgegen, er trägt einen Panzer aus zwei Pappen, nur sein Kopf ragt heraus, eine Schildkröte auf zwei Beinen, »Kredite, super Kredite bei Ihrer Landwirtschaftsbank« steht auf den Pappschildern.

Wir bleiben stehen und lachen. Ich lerne, lachen mit Yide, das geht.

Wenn ich jetzt noch einen Kaffee bekomme, der nicht nur nach Kaffee aussieht, wird alles gut.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, frage ich Yide.

»Zum Wasser«, sagt er. »Ich gehe immer zum Wasser.«

»Ich war schon mal hier«, sage ich. »Es gibt einen riesigen See. Soll ich mal auf dem Smartphone nachschauen?«

»Neeeeein, bloß keine Karte. Wir finden, was wir finden sollen.« Er steckt sich eine Zigarette an. »Wo war der See?«

Ich zucke die Schultern, ich versuche, mich an eine Karte zu erinnern, die ich irgendwann vor drei Jahren mal zu Gesicht bekommen habe. »Norden?«, sage ich vorsichtig.

»Okay«, sagt er.

Sehr gut. Wenn das mal nicht treiben lassen ist. Wir schauen auf keine Karte und fragen auch niemanden. Jedes geschlechtsspezifische Suchverhalten entfällt damit. (Sie: jeden nach dem Weg fragend. Er vorwurfsvoll: »Was fragst du dauernd jeden? Wir finden das schon selbst!« Er verzweifelt auf einer Karte rumsuchend, sie die Augen verdrehend.) Zu beiden Seiten ragen eintönige gelbe Mietshäuser auf, Alte trainieren mit Sportgeräten, die die Stadtverwaltung am Straßenrand aufgestellt hat. Zwei von ihnen laufen plaudernd auf einem Laufgerät, ein Dritter reibt sich den Rücken an einem Massagegerät, wie es die Rehe an Bäumen tun. Ein Vierter hangelt sich ein Gerüst entlang, seine Hausschuhe baumeln in der Luft.

Wir kommen an einer Wand vorbei, die übersät ist mit Propagandaplakaten. Traditionelle Zeichnungen, glückliche Alte sind darauf zu sehen und spielende Kinder, Frauen, die auf dem Feld arbeiten, ein dörfliches China, das es so fast nicht mehr gibt. Die Poster zählen chinesische Tugenden auf, Kindesliebe, Freundlichkeit, Fleiß, über allem steht: »Der chinesische Traum.«

Ich deute auf den Schriftzug. »Eigentlich wollte ich mein Buch so nennen«, sage ich. »Im Frühjahr 2012. Ich kam gerade von den Bergen herab, wo ich einen Eremiten besucht hatte. Und dachte, es wäre schön, über Träume zu schreiben.« Dann aber wurde im Herbst 2012 Xi Jinping erst zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei, dann im März 2013 zum Präsidenten gekürt, und plötzlich stand der chinesische Traum an jeder Hausmauer. Er wurde zum Lieblingspropagandaschlagwort des Präsidenten, Verjüngung der Nation, Rückkehr zur Weltmacht. Seither wird in China geträumt, was das Zeug hält. Auf den Lehrplänen der Kinder steht der chinesische Traum, genauer gesagt: »Aktivitäten auf der Basis des chinesischen Traums«, Universitäten bieten »vergleichende Forschungs- und Studienprojekte zu systematischer Struktur und Arbeitsebenen des Chinesischen Traums«, Häftlinge in Sichuan sind gehalten, Rede- und Essaywettbewerbe zum Thema »Chinesischer Traum, Gefängnistraum, mein Traum« abzuhalten.

Es ist wie mit dem Glück. Eine Zeitlang war die Regierung ganz versessen darauf, den Glücksindex zu messen. Sie hörte das Volk ab wie ein lungenkrankes Kind. Besorgt, dass ein Huster schwere Krankheit bringen könnte. Den Sturz der Partei etwa. Gerne gibt die Partei sich als wohltätige Herrscherin, ganz wie es die konfuzianische Tradition gebietet. Die Herrscher sind die Eltern, die Bürger die unmündigen Kinder, und wer wüsste besser als die Eltern, was gut für die Kinder ist? Die Bürger sollen sich in Kindespietät üben, das heißt, folgsam, dankbar und idealerweise auch noch glücklich dabei sein. In einigen Städten wurde der lokale Glücksindex zur Bewertung der Beamten herangezogen. Im Fernsehen sah man mit einem Mal weinende Beamte, die ihren Posten verließen, weil sie, so schluchzten sie in die Kameras, »das Volk nicht glücklich gemacht hatten«. Der Staatssender CCTV zog aus zur großen Volksbefragung, ganze dreitausendfünfhundert Chinesen wurden weltweit interviewt. Reporter fingen die Menschen auf der Straße ab und fragten vor laufender Kamera: »Ni xingfu ma? – Bist du glücklich?« Die Sonderserie trug den Untertitel: »In freudiger Erwartung des 18. Parteikongresses«. Ein Wanderarbeiter in Taiyuan gab nach allgemeiner Einschätzung die beste Antwort, der Satz »Ni xingfu ma?« klingt nämlich wie: »Heißt du mit Nachnamen Fu?« Der Wanderarbeiter antwortete also seelenruhig: »Nein, ich heiße Zeng.« Und wurde dafür vom Volk gefeiert, ein Dadaist im chinesischen Staatsfernsehen.

Zhang Yide schaut auf den Slogan und grinst. »Der Präsident hat dir also deine Idee geklaut.«

»Kann man so sagen. Am Ende konnte ich mein Buch natürlich nicht mehr so nennen. Hätte ja ausgesehen, als käme es direkt aus dem Propagandaministerium.«

»In zwei Jahren kommt eh wieder was Neues«, sagt er tröstend. »Davor waren es die drei Repräsentationen, danach die Harmonische Gesellschaft und jetzt eben der Chinesische Traum. Denen fällt immer was Neues ein.«

»Und«, frage ich grinsend, »hast du deinen chinesischen Traum schon gefunden?«

Er grinst zurück. »Nur im Alkohol.«

 

Hundertfünfundsechzig Tage im Jahr ist Yide auf Tour, zweihundert daheim, in der nordchinesischen Hafenstadt Tianjin, weniger als eine Schnellzugstunde von Peking entfernt. Er reist, weil er auftreten will, »am liebsten jeden Abend. Denn auf der Bühne bin ich der König. Nur ich habe ein Mikrofon, harhar.« Gelernt hat Yide Ingenieur, und genau so komponiert er auch. »Ich mag Mechanik. Text, Rhythmus, Melodie, alles ist Mechanik. Die Einzelteile greifen ineinander, setzen sich in Bewegung, kommen in Fahrt, klackklackklack.« Er sagt, er brauche keine Inspiration. »Ein Wissenschaftler braucht Inspiration, jemand, der künstlerisch tätig ist, braucht nur Ernsthaftigkeit. Ich nehme mir einfach vor, jeden Monat ein neues Lied zu schreiben. Es ist wie beim Sport, man darf nicht aufhören.«

Mit fünfzehn bekam er eine Gitarre, mit siebzehn begann er zu komponieren, mit vierundzwanzig brachte er seine erste CD raus. Damals kündigte er seine Arbeit. Er hatte Maschinenbau studiert und bekam den ersten Job, für den er sich bewarb. Nicht, weil er mit den Muttern und Schrauben, die sie ihm zeigten, etwas anfangen konnte. Doch er konnte ein wenig Englisch, das reichte. »Ich sag nicht, wie die Firma heißt, noch, was sie herstellt. Es gibt in China nämlich nur diese eine. Ein Staatsunternehmen, das von den Amerikanern gekauft wurde, damit die Marktzugang bekommen.« Es war der perfekte Job. Kapitalistisches Gehalt für sozialistischen Arbeitseinsatz. »Wenn ich morgens im Büro ankam, las ich Zeitung. Danach ruhte ich mich aus. Plauderte mit den Kollegen, dann arbeiteten wir ein bisschen bis zum Mittagessen. Nach dem Mittagessen ruhten wir uns aus. Dann arbeiteten wir ein bisschen, duschten im Betrieb und gingen nach Hause.« Er kündigte für die Musik. »Gut, ich verdiene nicht mehr so viel Geld wie früher. Aber Geld? Mein Gott, dafür kann ich auch arbeiten.«

»Sagen das nicht immer alle über euch von der Nach-Achtziger-Generation? Früh kündigen, schnell heiraten, sich schnell scheiden lassen?« Der Generationsbruch zwischen den Älteren und Jüngeren in China ist gewaltig. Die Älteren wuchsen in Armut auf, sie haben das maoistische China erlebt, die Kulturrevolution, die internationale Isolation. Dann kam der gewaltige Wandel der Reformpolitik. »Sie warfen sich ins Meer«, so nannte man das damals, wenn sich einer ins Geschäftemachen stürzte. Sie kämpften sich nach oben. Erlebten die Zeit des politischen Tauwetters, die 1980er Jahre, als in Städten wie Peking und Shanghai Salons entstanden, in denen man über Kultur, Psychologie, politische Reformen diskutierte. Damals war die Führung gespalten, es gab Hardliner und Reformer. Die Reformer träumten von einem aufgeklärten Sozialismus, manche gar auch von Demokratie. Im Juni 1989 aber schlug die Führung die Studentenproteste auf dem Pekinger Tiananmen-Platz und in anderen Städten Chinas gewaltsam nieder. Die Reformer wurden von der Macht verbannt, die Führung blies zur Hexenjagd auf alle, die den Wandel wünschten. Seither gilt: Stabilität über alles. Reich darf das Volk werden, solange es nur keine politischen Freiheiten fordert.

Die Jungen wuchsen in einem ganz anderen Zeitalter auf. Viele von ihnen sind Einzelkinder, die Einkindpolitik trat nach 1979 in Kraft. Der Augapfel von sechs Erwachsenen, zwei Eltern und vier Großeltern, auf den sich alle Ängste und Hoffnungen projizieren. Verweichlichte, egozentrische kleine Könige seien sie, so schimpfen viele der Älteren. Nie hätten sie gelernt, sich durchzubeißen. Was ihnen am leichtesten fiele, sei die Kündigung. Einfach zu gehen.

Yide zuckt die Schultern. »Ist doch nur ein Label. Ich halte von alldem nichts, das ist doch nur so hochgekocht, weil es in unserer Zeit Internet gibt und alle mitdiskutieren.«

Unbestreitbar aber ist ihm Geld nicht mehr so wichtig wie seinen Eltern, er strebt nach Selbstverwirklichung. Er ist ein wenig Rebell, doch nie so sehr, dass er die Eltern damit schockieren würde. Bisweilen trägt er auf der Bühne einen Rock, fährt er aber nach Hause zu seinen Eltern, tut er, als habe er nie gekündigt. Der Vater weiß es nicht, die Mutter deckt ihn seit Jahren.

Ich lache. »Oh Mann, was Vätern in chinesischen Familien alles verheimlicht wird. Die chinesische Mutter ist ein Mysterium.«

Er grinst.

 

Wir gehen seit Stunden. Die Häuser werden immer kleiner, die Stadt franst aus, wird mit jedem Schritt mehr zum Dorf. Am Rande der Städte siedeln sich die Wanderarbeiter an, sie nehmen ein wenig Dorf mit in die Stadt. Wir gehen an einem Gleis entlang, es muss eine sehr kleine Eisenbahn sein, eine chinesische Jim-Knopf-Eisenbahn, das Gleis verliert sich im hohen Gras, irgendeiner hat Kohlköpfe zwischen die Schienen gepflanzt. Auf der anderen Seite stehen Häuser aus Ziegelsteinen, übereinandergetürmt, als habe da einer Tetris gespielt, dazwischen hängen Wäscheleinen. Es sind die Häuser armer Leute. Kinder laufen durch das hohe Gras, sie haben die Arme ausgestreckt und spielen brummend Flugzeug, sie tanzen über die Gleise wie Mücken im Nachmittagslicht. Sie rennen ineinander, quietschen vor Freude. Und ich muss an die Mittelklasse-Einzelkinder denken, die ich manchmal im Park in Peking sehe. Die spielen so: winziger Grünstreifen zwischen Hochhäusern. Hinter jedem Kind steht ein Erwachsener, passt auf, kommentiert, moderiert: »Willst du nicht diesem Kind hier hallo sagen?« – »Guck mal, das Kind dort spielt mit einer Schaufel, willst du nicht mitspielen?« Und zwei Kinder schreiten aufeinander zu, gleich Präsidenten auf Staatsbesuch, im Schlepptau ihre Berater, je ein Erwachsener, der besorgt ist, dass das Kind nicht umfällt, dass es nicht schlechter, langsamer, dümmer ist als das andere.

Wir haben uns verlaufen. Am See sind wir vorbeigegangen. Die Hilfe meiner Smartphone-Karte weist Yide immer noch empört zurück, immerhin aber darf ich Menschen nach dem Weg fragen. Zeigefinger deuten in alle Richtungen, nach Süden, Norden, Westen. Wir können uns nicht entscheiden, welchem Zeigefinger wir vertrauen sollen, Yide zuckt die Schultern. »Dann gehen wir halt zum Fluss«, sagt er.

Wir passieren eine Bahnunterführung, direkt daneben steht ein Haus, klein und weiß, mit Stuck verziert, doch der Stuck ist so wahllos verteilt, als habe ihn jemand einfach gegen das Haus geschleudert. Ein Adler, ein Engel mit Pausbäckchen, ein Weihnachtsbaum, sie hängen krumm und schief, als habe das Haus Stuckpocken. Wir schlängeln uns durch einen kleinen Straßenmarkt, Händler bieten die billigen Wunder der Welt feil. Tanzschuhe, Haarschleifen, Nähnadeln, rosa Spielzeugeinhörner, Schuheinlagen, Pinzetten, Trompeten, singende Feuerzeuge.

Hinter dem Markt beginnt die Altstadt. Kleine windschiefe Häuschen, gelb und blau gestrichen. Eines hat Meter über dem Boden eine Tür, sie geht geradewegs ins Nichts. Auf fast alle Häuser ist bereits »拆 – chai« gepinselt, das allgegenwärtige Zeichen für: »zum Abriss bestimmt«. Auch hier ist eine Welt am Verschwinden wie bei mir daheim in Peking. An der Ecke steht noch ein altes Teehaus, Rentner sitzen davor und spielen Mahjong. In einem kleinen Friseursalon wird einem Dicken der Nacken ausrasiert, schnarchend liegt er in seinem Stuhl. Am Straßenrand steht ein Kind und zielt mit einem Spielzeuggewehr auf uns. Wir gehen und sagen eine Zeitlang nichts. Man kann das nicht mit jedem. Mit Yide schon.

 

Endlich erreichen wir den Fluss. Träge und silbern glänzend fließt er dahin, ein Schlepper zieht Kähne voll Sand vorbei. Hochhäuserfronten glitzern im Abendlicht. Würde in unserem Rücken jetzt keine Stadtautobahn vorbeibrausen, wäre es hier fast idyllisch, doch das ist China, und natürlich ist da eine Stadtautobahn. Eine junge Frau joggt neben den Autos her, sie überholt sie, die Fahrzeuge stehen im Stau. Wir schauen zu, wie die Sonne untergeht. Ein alter Mann hat Felder am Ufer angelegt, er gießt ein paar Kohlköpfe. Ein paar Männer schwimmen im Fluss, sie haben sich rote und gelbe Bojen an den Rücken gebunden und kämpfen gegen die starke Strömung. Wenn sie, ächzend und Wasser spuckend, ans Ufer kommen, schütten sie sich sauberes Wasser über den Körper, lachen und reiben sich gegenseitig den Rücken ab.

»Ein bisschen berühmt sein, das wäre schön«, sagt Zhang Yide ganz unvermittelt.

Ich denke an ausverkaufte Stadien und Europatourneen.

Er aber sagt: »Fünfzig Leute bei jedem Konzert. Das wär’s. Hundert sind zu viel. Ich habe einmal vor hundert gespielt, das war nichts. Da trinken welche und unterhalten sich, sie hören dir gar nicht richtig zu. Das Geld ist mir dann auch egal, für Geld kann ich arbeiten.«

»Waren es auch mal richtig wenige?«, frage ich und denke an das Konzert am Vorabend.

»Einmal war’s nur einer.«

»Hast du trotzdem gespielt?«

»Na klar, ich spiele immer. Irgendwie mach ich das ja auch…«, er zeigt nach oben, »… für den da oben.«

»Und wie sieht der aus?«

»Keine Ahnung. Eigentlich bin ich Muslim von der Minderheit der Hui. Eine Zeitlang habe ich mich mit Daoismus beschäftigt. Und jetzt? Keine Ahnung.«

Yide und ich gehen in Richtung Glitzerstadt, ins Stadtzentrum. Wir passieren den berühmten Pavillon am Flussufer, den jeder in China kennt, weil einst ein großer Dichter hier seinen Blick schweifen ließ und den Fluss in einem Gedicht besang. Die Stadtverwaltung findet den schönen Pavillon offensichtlich ein wenig zu mickrig, jedenfalls ist sie dabei, anzubauen, dreimal so groß und mit Rolltreppen. Selbst seine Vergangenheit ist China neuerdings zu klein.

 

Es ist Zeit, zum Bahnhof zu fahren. Yide zieht einen gelben Rollkoffer hinter sich her, er trägt einen Rucksack mit der Technik darin, auf seinen Gitarrenkasten sind unzählige Zugtickets geklebt.

»Wow«, sage ich und fahre mit den Fingern darüber.

»Pfff, eine Zeitlang habe ich das gemacht, jetzt finde ich’s albern.«

Wir hieven unsere Koffer die nicht funktionierende Rolltreppe hinauf, aus unerfindlichen Gründen funktionieren Rolltreppen in chinesischen Bahnhöfen so gut wie nie. Drängen uns mit Studenten, Wanderarbeitern, Beamten, Angestellten zum Zug.

Immer wenn ich in China einen Bahnhof betrete, fällt es mir wieder ein – falls ich es auch nur für einen klitzekleinen Moment vergessen haben sollte –, ich lebe in einem Land mit sehr, sehr vielen Menschen. Und in China bedeutet »sehr viele Menschen« etwas ganz anderes als in Deutschland. Am eindrücklichsten ist das Gedränge in Ferienzeiten, zur Goldenen Woche im Oktober etwa, rund um den Nationalfeiertag. Dann krabbeln die Massen auf die Große Mauer, so viele, dass man die Mauer nicht mehr sieht. Sie erholen sich am Strand, auf Fotos erkennt man tausendfach Arme, Beine, Bäuche und Bikinis, doch leider kein Wasser mehr. Einmal beging ich den Fehler, an einem Ferientag im Botanischen Garten in Peking picknicken gehen zu wollen. Wir standen stundenlang im Stau. Stiegen schließlich entnervt aus, liefen kilometerweit an wartenden Autos vorbei, erreichten endlich den Park, wo wir beinahe zwei Stunden nach einem lauschigen Plätzchen suchten. Es war so gut wie unmöglich. Der Park ist viele Quadratkilometer groß, doch war er mit picknickenden Menschen förmlich gepflastert. Kinder rannten herum, Rentner schmetterten revolutionäre Hymnen oder spielten Flöte, Teenies drehten ihr Smartphone mit Popsongs auf, Reiseleiter liefen mit plärrenden Megaphonen umher. Als wir endlich einen Ort für die Picknickdecke fanden, waren wir für ein romantisches Picknick nicht mehr in Stimmung. Wir legten uns auf die Decke und schliefen, während um uns herum der Freizeitwahnsinn toste.

 

Gemeinsam mit den Menschenmassen drängen sich Yide und ich zum Gleis. Hier trennen sich unsere Wege. Er hat eine Liege im Hardsleeper, ich habe nur noch einen Platz im Softsleeper bekommen. Die Abteile im Hardsleeper sind offen, drei Stockbetten auf jeder Seite, Reisende, Schaffner und Verkäufer drängen den Gang entlang, es riecht nach Fertignudeln, Pomade und Socken. Man hört das Schnarchen, Lachen, Flüstern der Mitreisenden, wer die Liege ganz unten hat, muss sich darauf einstellen, dass sich dort tagsüber die Mitreisenden versammeln, Karten spielen und Sonnenblumenkerne knacken. Als ich zum ersten Mal die untere Liege im Hardsleeper bezog, regte ich mich über all die sockigen Männer auf, die es sich auf meinem Bett bequem gemacht hatten. »Bitte gehen Sie doch«, bat ich sie, worauf sie mich entgeistert anstarrten. »Aber Fräulein«, wandte schließlich einer ein. »Die untere Liege ist kollektiv!«

 

Die Softsleeperabteile haben eine Tür zum Zumachen und nur zwei gegenüberliegende Stockbetten, Decken und Kissen sind weicher. Oben im Bett schräg gegenüber hat ein Mann mittleren Alters Quartier bezogen. Er sieht aus wie ein Beamter. Ordentlich hängt er sein Jackett auf, ordentlich kämmt er die Haare vor dem Zubettgehen zurück, ordentlich legt er sich auf die Liege, damit sein weißes Hemd nicht zerknittert. Neben mir säuselt ein junges Mädchen Nettigkeiten ins Handy, sie ist ein wenig mollig und offenbar schwer verliebt, sie will gar nicht mehr aufhören und säuselt mich in den Halbschlaf.

Der Zug rattert Richtung Norden, schlafende Landschaft huscht an uns vorbei. Berge, Wälder, Städte. Ich liege halbwach und freue mich still. Ich schmecke die Freiheit.

 

Am nächsten Morgen um fünf öffnet die Schaffnerin mit dominahafter Strenge die Tür und bellt: »Hefei, Provinzhauptstadt von Anhui, alles aufstehen und aussteigen.« Der Vielleichtbeamte steht unzerknittert auf, kämmt sich das Haar und steigt in sein unzerknittertes Jackett, er sieht aus wie frisch aus der Fabrik, ein neuer Beamter, gerade erst hergestellt. Ich hingegen sammle meine müden Knochen ein, der Nacken tut mir weh, ich fühle mich durchaus zerknittert, wie eine Journalistin aus dem Secondhandshop.

Ich falle aus dem Zug, Zhang Yide wartet schon auf mich. Die Rolltreppe ist kaputt, wir zerren unser Gepäck die Treppe hinab, laufen einen langen Tunnel entlang, der mit Propagandaplakaten gepflastert ist, chinesischer Traum, chinesischer Traum, chinesischer Traum. Am Ende wartet ein schweigender langhaariger Kerl mit einem Kleinbus, ein Freund des Barbesitzers, in dessen Club Zhang Yide am Abend erwartet wird.

Wir fahren durch eine weiße Stadt. Sie ist nicht schön, und doch liebkost das Licht ihre Fassaden, dass sie im Morgenlicht zu schweben scheint. Noch ist kaum einer unterwegs, die Stadt gehört uns fast allein. Wir erreichen das Green Inn am Stadtrand, ein kleines Hotel, billig, aber sauber. Ich stolpere in mein Zimmer, falle ins Bett, die Klimaanlage kämpft röchelnd unter dem Fenster. Ich sinke in totenähnlichen Schlaf.

Werbezettel flattern durch den Türschlitz. Die lokale Prostituiertenszene stellt sich vor. Viele Visitenkarten, manche unschuldig romantisch, andere wild verrucht. »Stewardess«, »süße Angestellte«, »unschuldige Studentin«.

In der Nacht werde ich sie kennenlernen, keine Ahnung, ob es die Stewardess, die Studentin oder die Angestellte ist. Morgens um drei wird in den drei Zimmern gegenüber eine Party gefeiert. Sie lärmen und grölen, zweimal stehe ich auf und schimpfe: »Seid endlich leiser.« Im Zimmer links sehe ich durch die geöffnete Tür zwei Kerle in billigen Nappalederjacken vor einem Bett stehen, eine Frau liegt darauf, ich kann nur ihre seidenbestrumpfhosten Beine und Fransenstiefel erkennen. Ein nackter Dicker, ein weißes Hotelhandtuch um die Hüften geschlungen, kommt aus Tür zwei und watschelt so selbstverständlich über den Gang, als befände er sich in seiner eigenen Bude. »Jaja«, sagt er, »wir sind schon leiser, geh du mal schlafen.« Sie lärmen bis morgens um sechs.

Doch noch ist nicht Nacht, sondern früher Abend. Ich wähle Zhang Yides Nummer. »Bin schon beim Soundcheck, komm vorbei.«

Er gibt mir eine Adresse durch.

Kurze Zeit später stehe ich auf dem Parkplatz eines Walmarts mitten im Nichts und frage mich, ob ich mich verlaufen habe. Da entdecke ich in der Ferne eine gewaltige, buntblinkende Shoppingmall. Dort sind wir verabredet. Riesige LED-Wände werben mit einer Picasso-Ausstellung, es klingt, als sei der Meister von den Toten auferstanden und persönlich in diese Shoppingmall am Ende der Welt gekommen.

Ich nehme die Rolltreppe. Oben warten Zhang Yide und ein Kerl mit langen Haaren in grüner Guerillero-Kluft, der aussieht, als käme er geradewegs vom Langen Marsch. Er ist ein sanfter Mann mit weichen Augen, der Clubbesitzer.

»Kommt«, sagt er, »ich lade euch zum Essen ein.« Er führt uns vorbei an der »Freudenstadt«-Spielhölle, am Falsche-Wimpern-Studio »Sommernachtstraum«, am »Karibische Nächte«-Joghurteis-Stand geradewegs in die Fressmeile der Shoppingmall. Neben uns stochern Hausfrauen in ihren Nudeln, bekriegen sich Kinder mit Plastikschwertern, wirbt ein Lautsprecher für »Supergünstige, superbequeme, sei eine Lady, die Männer verrückt macht«-Seidenstrumpfhosen. Der Clubbesitzer holt uns was zu essen.

»Was würdest du mich fragen?«, fragt mich Yide. »Ich meine, wenn du Herausgeber eines Rockmagazins wärst?«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Ich frage dich doch die ganze Zeit schon Sachen.«

»Na ja, aber so komische. Dir gehört ja kein Rockmagazin.«

»Sollte mir eines gehören?«

»Es ist nämlich so: Das größte Rockmagazin Chinas will eine Geschichte über mich machen. Aber sie sagen, sie hätten keine Zeit, sich mit mir zu treffen. Ich soll mich selbst interviewen.«

»Können sie dich nicht anrufen?«

»Nein. Auch dafür haben sie keine Zeit.«

»Wow, Journalismus der Extraklasse.«

»Und jetzt weiß ich nicht, was ich mich fragen soll.«

»Was würdest du dir denn gerne antworten?«

»Ich weiß nicht, ich bin verwirrt.« Yide schaufelt stirnrunzelnd ein paar Auberginen in sich rein.

Ich wende mich dem Clubbesitzer zu. »Wo ist denn nun dein Club?«

»Na hier im Kaufhaus, gleich da drüben.« Er deutet auf eine Tür direkt gegenüber der Fressmeile, vor der sich gerade zwei Kinder balgen.

»Findest du den Ort nicht ein bisschen ungewöhnlich für einen alternativen Live-Club?«

»Nein, überhaupt nicht. Die Besitzer wollen Kultur in die Shoppingmall bringen. Fünf Jahre muss ich keine Miete zahlen.«

Der Clubbesitzer ist eine Art Pionier, zwei Clubs hat er schon eröffnet, er hat den Rock nach Hefei gebracht. »Früher waren die Bands sehr viel deutlicher. Da hat auch schon mal einer auf der Bühne geschrien: ›Fick die Regierung!‹ Macht jetzt fast keiner mehr.«

»Pschhhhh«, macht Yide und schaut sich um. »Nicht so laut.«

Wir schlängeln uns durch die Fressmeile und betreten den »On the way«-Club. Ist man erst mal drin, wähnt man sich in einer alten Fabrik, Betonwände, abgesessene Couchen, alte Poster. Wir kickern eine Runde.

Dann erklimmt Yide die Bühne. Elf zahlende Gäste sind gekommen, einer mehr als beim letzten Auftritt zwei Tage zuvor. Er spielt heute besonders sanft und gefühlvoll, das Publikum liebt ihn dafür.

Nach dem Konzert laufe ich mit Zhang Yide durch die menschenleere Shoppingmall. Wir sind die Letzten hier. Die Einarmigen Banditen der »Freudenstadt«-Spielhölle blinken einsam vor sich hin.

»Weißt du«, sagt er. »Eigentlich hatte ich vor, mit fünfunddreißig Jahren aufzuhören mit dem Reisen. Wollte sesshaft werden und so. Aber dann habe ich eine Dokumentation über B. B. King gesehen. Der hat ja auch weitergemacht, bis er ganz alt war.« Er steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Ich glaub, das will ich auch.«

Die Rolltreppe befördert uns in die kühle weite Nacht hinaus.

Ein Werbejingle dudelt leise.

 

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»Der Bürostuhl ist eine große Arena. Nimm darauf Platz, und du bist ein menschliches Wesen, ein Beamter, du hast eine Karriere. Behalte deine Position, und deine Zukunft wird glorreich und wohlhabend sein. Verliere sie, und du wirst im Schlund des Tigers landen.«

Wang Xiaofang, »The Civil Servant‘s Notebook«

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2. Der Hochstapler

Am Tag darauf stehe ich vor einem heruntergekommenen Hochhaus, das den Namen »Internationaler Turm zum kaiserlichen Ausblick« trägt. Ich schaue mich um, in Erwartung, irgendetwas zu entdecken, das mir kaiserlich erscheint. Doch da ist nur das Stadtpanorama Xiangtans, einer Kleinstadt in der Provinz Hunan: Mietshäuser unterschiedlichen Tristessegrades, ein paar Villen in Sienagelb, ein Kindergarten, der sich »Englund International Kindergarten« nennt. Auf die blätternde Farbe der Hochhauswand hat ein phantasievoller Mensch ein Tor montiert, das an Tausendundeine Nacht erinnert: goldene Säulen, ein goldener Rundbogen, gewaltige Lüster. Doch auch das Gold blättert schon, die Karaoke-Bar hat ihre besten Zeiten offensichtlich hinter sich. Der Aufzug liegt auf der anderen Seite, ich gehe einmal um das Gebäude herum.