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Pünktlich zur US-Wahl: Die Biografie einer amerikanische Politik-Ikone
Erstmals spricht Nancy Pelosi ganz offen über die prägenden Momente ihrer Karriere und gewährt einen spannenden Blick hinter die Kulissen US-amerikanischer Macht. 2007 wurde die fünffache Mutter als erste Frau in der Geschichte an die Spitze des Repräsentantenhauses gewählt. Sie war mit Unterbrechungen acht Jahre lang als Madam Speaker tätig, arbeitete in dieser Funktion mit den Präsidenten George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden zusammen.
In Woman of Power erzählt sie vom zähen Ringen um menschliche Politik in einem zunehmend radikalisierten Land, von skurrilen Begegnungen mit Donald Trump – und von ihrer Vision eines freien und sicheren Amerika nach Joe Biden.
»Ein Hochgenuss für Politikliebhaber.« – The Washington Post
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2024
Buch
Als erste Sprecherin des Repräsentantenhauses in der Geschichte der USA bewies Nancy Pelosi stets ein feines Gespür dafür, die komplexen Dynamiken des Kongresses zu navigieren und konstruktiv mit Präsidenten von George W. Bush bis Joe Biden zusammenzuarbeiten. In Woman of Power gewährt Pelosi einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen US-amerikanischer Macht und gibt berührende Einblicke in ihr Privatleben und ihre persönlichen Herausforderungen betreffend, einschließlich des traumatischen Angriffs auf ihren Ehemann Paul.
Nancy Pelosi wurde 2007 zur ersten weiblichen Sprecherin des Repräsentantenhauses gewählt und war mit Unterbrechungen acht Jahre lang in diesem Amt tätig. Zu Beginn ihrer politischen Karriere setzte sie sich vor allem für Kinder und den Kampf gegen HIV/AIDS ein. Unter ihrer Führung verabschiedete der Kongress später bahnbrechende Gesetze, insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung. Als Verfechterin der Demokratie leitete sie die Bemühungen des Repräsentantenhauses, den Aufstand vom 6. Januar zu untersuchen, und setzte sich weltweit mit Nachdruck für die Menschenrechte ein. Pelosi und ihr Mann Paul haben fünf Kinder und zehn Enkelkinder. Sie leben in San Francisco.
NANCY PELOSI
WARUM ICH NIEMALS AUFHÖREN WERDE, FÜR EIN BESSERES AMERIKA ZU KÄMPFEN
Aus dem Amerikanischen von Martin Bayer, Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz und Sigrid Schmid
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Art of Power« bei Simon & Schuster, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2024
Copyright © 2024 der Originalausgabe: Nancy Pelosi
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Fabian Bergmann
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Getty Images/Craig Barritt
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
EB ∙ CFISBN 978-3-641-33180-1V001
www.goldmann-verlag.de
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORTDAS »WARUM« ISTWICHTIG
DERPREISDESPOLITISCHENERFOLGS
Klopf, klopf, klopf
ANDERSPITZEDESKONGRESSES
»Wir haben Geschichte geschrieben, jetzt müssen wir Fortschritte machen«
POLITIKINZEITENGLOBALERKRISEN
»Wir haben keine Hinweise auf eine Bedrohung«
Von Tiananmen nach Taiwan
INNENPOLITISCHEHERAUSFORDERUNGEN
»Am Montag haben wir keine Wirtschaft mehr«
Gesundheitsversorgung ist kein Privileg, sondern ein Recht
FÜHRUNGSKRAFTINKRISENZEITEN
»Dass unsere Flagge immer noch weht«
FÜRDASVOLKFÜHREN
Warum ich das Repräsentantenhaus liebe
DANK
SCHLUSSBEMERKUNG
BILDNACHWEIS
REGISTER
BILDTEIL
Für Paul, Daddy, Pop – einen wundervollen Ehemann, Vater und Großvater
Im November 2006 gewannen die Demokraten die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus, und meine Kolleginnen und Kollegen nominierten mich als Sprecherin. Ich ging zum Podium, um die Wahl anzunehmen, und unterwegs flüsterte mir unser neuer Fraktionsvorsitzender Rahm Emanuel etwas ins Ohr: »Deine Eltern wären sehr stolz.«
Bei diesem Kommentar stutzte ich. Warum sollten meine Eltern stolz sein? Sie hatten mich nicht zur Sprecherin erzogen. Sie hatten mich zur Heiligen erzogen. Nachdem sie sechs Söhne zur Welt gebracht hatte, wollte meine Mutter, dass ich Nonne werde. Das hätte sie stolz gemacht!
Ich wurde oft gefragt, welche Rolle mein Glaube bei meiner politischen Tätigkeit spiele. Natürlich glaube ich an die Trennung von Staat und Kirche, dennoch haben die Werte meines Glaubens meine Prioritäten geprägt. Zum Beispiel bin ich den Menschenwerten verpflichtet, weil ich glaube, wie der Bürgerrechtler John Lewis immer sagte, dass in jedem Menschen ein Funken Göttlichkeit steckt, der respektiert werden sollte.
Wenn mich in meiner Jugend jemand nach meinem Lieblingswort fragte, antwortete ich stets: »Das Wort.« So wird Christus oft genannt: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Johannes 1,14). Weil Christus an unserer Menschlichkeit teilhatte, können wir an seiner Göttlichkeit teilhaben – daher der göttliche Funke. Ein jüdischer Gelehrter schrieb im 3. Jahrhundert, wegen dieses Funkens Göttlichkeit, den wir alle in uns hätten, schritten uns hundert Engel voraus, wenn wir gingen. Ich fühle mich dem Respekt vor diesem Funken Göttlichkeit in jedem Menschen zutiefst verpflichtet und strebte deswegen ein öffentliches Amt an.
Deswegen fällt es mir auch so schwer, mir vorzustellen, wie Menschen diesen Funken ignorieren und abscheuliche Gräueltaten begehen konnten, vor allem im Holocaust. In heutiger Zeit erleben wir das Leiden von Hunderttausenden Menschen, die ich in Flüchtlingslagern in Darfur sah, die Brutalität der Taliban in Afghanistan, den Völkermord an den Uiguren und andere Repressionen in China, den Hunger im Sudan, das Leiden in Gaza und die unfassbare Armut weltweit, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie könnten wir all das ignorieren?
Besonders deutlich wurde mir dieser Widerspruch zwischen Werten und Handeln im Jahr 2009 bei einem Besuch mit dem Zusammenschluss afroamerikanischer Kongressabgeordneter in Ghana bewusst. Wir waren dort anlässlich der 400 Jahre, die seit der Ankunft der ersten Sklavenschiffe in Amerika vergangen waren, und besuchten auch den Ort, an dem verschleppte Afrikaner, die in die Sklaverei verkauft werden sollten, gefangen gehalten worden waren: ein düsteres, niedriges Verlies, in dem diese Menschen unter den brutalsten und unmenschlichsten Bedingungen misshandelt und gefoltert wurden. Wer nicht gleich vor Ort starb, musste sich durch die Tür ohne Wiederkehr an Bord der Todesschiffe schleppen, die die Versklavten nach Amerika oder in die Karibik brachten – eine Reise, die viele nicht überlebten. Das Erschreckendste war jedoch, dass über jenem Verlies eine Kirche stand, in der ihre Unterdrücker beteten. Wie konnten diese Menschen dort beten und gleichzeitig den Funken Göttlichkeit unter ihren Füßen so herzlos missachten? In den Vereinigten Staaten zeigte sich dieselbe Scheinheiligkeit bei den Sklavenhaltern und bei der Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner, allesamt abscheuliche Taten, die häufig von Menschen begangen wurden, die von sich selbst behaupteten, wahre Gläubige zu sein.
Der Funken Göttlichkeit hat mich inspiriert, aber auf meine Kernwerte hatte ein anderer Text aus der Bibel mehr Einfluss, Vers 25,35 f. aus dem Matthäus-Evangelium: »Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.«
Diese wunderschöne Passage ist die Grundlage für mein »Warum«. Wenn ich gefragt werde: »Was sind die drei wichtigsten Themen im Kongress?«, antworte ich immer: unsere Kinder, unsere Kinder, unsere Kinder.
Die Kinder waren immer mein »Warum« im öffentlichen Dienst und wenn ich mich für ein Amt bewarb. Ich selbst habe fünf Kinder, und mein »Warum« sind die Kinder, die in den USA jede Nacht hungrig schlafen gehen, jedes fünfte Kind. Wie kann es sein, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika, diesem wunderbaren Land, jedes fünfte Kind in Armut lebt? Die Gesundheit und Schulbildung der Kinder, die wirtschaftliche Sicherheit ihrer Familien, eine sichere Umgebung, in der sie sich entfalten können, auch der Schutz vor Waffengewalt, und eine friedliche Welt, in der sie sich verwirklichen können – das sind meine Prioritäten. Darum erinnerte ich, nachdem ich meinen Amtseid als Sprecherin des Repräsentantenhauses abgelegt hatte, an die Kinder und Enkel meiner Kolleginnen und Kollegen beider Parteien und rief sie zur Ordnung – für die Kinder.
Die Überzeugung und die Stärke, die ich aus diesen Werten ziehe, sind auch das »Warum«, dank dessen ich vielen Fallstricken und Spitzen standgehalten habe, die mir gelegt und gegen mich gerichtet werden, seit ich ein öffentliches Amt bekleide.
Im Gespräch mit Frauen oder anderen, die erwägen, sich für ein Amt zu bewerben, sage ich immer, dass man dafür ein dickes Fell haben muss. Wer sich um ein Amt bewirbt, sollte sein »Warum« kennen. Warum bewirbt man sich für das Amt? Welche Vision, welches Wissen und welche Haltung bringt man mit? Womit hofft man, erfolgreich zu sein? Wer sich um ein Amt bewirbt, wird zur Zielscheibe. Wenn man von seinem »Warum« überzeugt ist, macht es das die Sache wert.
Um dieses »Warum« zu finden, sind drei Ratschläge nützlich. Der beste Rat, den ich bei meinem ersten Wahlkampf für den Kongress erhielt, lautete: »Sei du selbst.« Sei dir selbst, deinen Werten und dem Menschen, der du bist, treu.
Der zweite Rat lautete: »Sei bereit.« Man weiß nie, wann sich eine gute Gelegenheit bietet, daher sollte man stets darauf vorbereitet sein, sie zu ergreifen.
Den dritten Ratschlag erhielt ich, einige Jahre bevor ich einen Wahlkampf führte. Er lautete: »Kenne deine Stärke.«
Ich hatte eigentlich nie vor, mich um ein öffentliches Amt zu bewerben. Stattdessen leistete ich ehrenamtliche Arbeit für die Demokratische Partei Kaliforniens. Ich arbeitete gerne hinter den Kulissen und unterstützte so unsere Kandidaten und unser Programm und mobilisierte andere Ehrenamtliche in der Politik. Im Jahr 1981 wurde ich zur Vorsitzenden der Demokraten in Kalifornien gewählt. Im Jahr 1984 fanden Präsidentschaftswahlen statt, und ich übernahm bei den Vorbereitungen zwei zusätzliche Aufgaben: Ich wurde Vorsitzende des Ausschusses zur Überwachung der Richtlinien des Parteitags der Demokratischen Partei, der die Auswahl der Delegierten beaufsichtigte, und ich wurde zur Vorsitzenden des Gastgeberkomitees in San Francisco ernannt und hatte damit die Leitung bei der Bewerbung von San Francisco als Gastgeber des Parteitags der Demokraten – die erfolgreich war.
Der legendären Kongressabgeordneten für Louisiana Lindy Boggs vertraute ich im Gespräch an, ich hätte das Gefühl, zu viele Parteiämter innezuhaben – nämlich drei –, und sollte wahrscheinlich eines davon aufgeben. Lindy antwortete mit ihrem wunderbaren Südstaatenakzent: »Süße, kein Mann würde so was jemals sagen.«
»Kenne deine Stärke«, sagte sie, »und nutze sie.« Diesen wichtigen Ratschlag habe ich nie vergessen.
Im Jahr 1987 stellte sich unsere außergewöhnliche und freundliche Kongressabgeordnete Sala Burton aus San Francisco aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Wiederwahl und forderte mich auf, mich für ihren Sitz zu bewerben. »Du bist bereit, dein volles Potenzial zu entfalten«, sagte sie zu mir. Wegen ihres vorzeitigen Todes wurde eine Nachwahl notwendig, und der Wahlkampf begann unmittelbar. Nach einem harten, mühevollen Kampf gewann ich die Wahl und merkte dabei, dass ich tatsächlich bereit war und meine Stärke kannte. Lindy Boggs, die immer noch im Repräsentantenhaus sitzt, wurde mir und vielen anderen Frauen im Kongress zur Mentorin. Sie war ein Vorbild an Würde und politischem Scharfsinn, und heute trägt der Lesesaal der Frauen im Kapitol ihren Namen.
Sala Burton sagte mir, ich sei bereit. Lindy Boggs gab mir den Rat, mir meine Stärke bewusst zu machen. Und meine eigene Botschaft an die Frauen heute lautet: Die Welt braucht eure Kraft in der Arena für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Aber seid euch eurer individuellen Stärke bewusst. In der Geschichte der Menschheit hat es noch nie jemanden wie euch gegeben. Eure Individualität wird gebraucht. Seid ihr selbst. Seid bereit. Seid euch eurer Stärke bewusst.
Im Jahr 1987, als ich in den Kongress gewählt wurde, waren weibliche Abgeordnete nicht nur eine Minderheit, wir waren eine Rarität. Bei den Demokraten gab es nur zwölf von uns (darunter Barbara Boxer, die ebenfalls aus Kalifornien kam), bei den Republikanern waren es elf Frauen. Ich bin Barbara unendlich dankbar für ihre Unterstützung, die ich als neue Abgeordnete von ihr erhielt, und für ihre Freundschaft. Ich war entschlossen, die Anzahl weiblicher Abgeordneter zu erhöhen. Nach der Wahl 1992 – dem sogenannten »Jahr der Frau« – kamen sechzehn weibliche Abgeordnete für die Demokraten dazu, was zum Großteil Ellen Malcolms wegweisendem politischem Aktionskomitee EMILYs List zu verdanken war. Im Lauf der Jahre machten die Demokraten im Repräsentantenhaus es zu ihrer Priorität, Demokratische Frauen für den Kongress zu rekrutieren, zu finanzieren und zu wählen. Im Jahr 2024 haben die Demokraten 94 weibliche Abgeordnete, und darauf bin ich sehr stolz.
Doch bis 2001 hatte es noch keine Frau in die oberste Führungsriege einer Partei im Repräsentantenhaus geschafft. Diese Tatsache wurde mir bewusst, als ich als Teil der Demokratischen Parteiführung zu meinem ersten Treffen mit Präsident George W. Bush ins Weiße Haus kam. Schon oft hatte ich im Rahmen meiner Ausschussarbeit zu Nachrichtendienst- und Haushaltsthemen an Besprechungen im Weißen Haus teilgenommen. Aber als ich an jenem Tag den Sitzungsraum betrat, wurde mir klar, dass diese Besprechung anders war als alle meine anderen Gespräche im Weißen Haus – sie war anders als alle anderen Gespräche, die je eine Frau im Weißen Haus geführt hatte. Dieses Treffen war eine echte Premiere. Ministerinnen hatten ebenfalls als gleichwertige Teilnehmerinnen am Tisch gesessen, doch bei mir waren die Umstände andere. Ich war im Weißen Haus, weil meine Kollegen und Kolleginnen mich ausgewählt hatten, die Demokratische Fraktion im Repräsentantenhaus zu vertreten und ihre Ansichten darzulegen – ich war auf Wunsch der Demokratischen Abgeordneten dort und nicht, weil der Präsident es so haben wollte.
Präsident Bush begrüßte mich freundlich, als er das Treffen eröffnete. Er wies auf meine historische Rolle hin und fügte hinzu, als erste weibliche Teilnehmerin hätte ich womöglich etwas Neues beizutragen. Während er sprach, wurde es eng auf meinem Stuhl, denn ich hatte das Gefühl, von anderen Frauen umgeben zu sein, als wären auch die großen Frauenrechtsaktivistinnen und Wegbereiterinnen anwesend, wie Susan B. Anthony, Elizabeth Cady Stanton, Lucretia Mott, Sojourner Truth und Alice Paul. Sie alle saßen mit mir auf diesem Stuhl und sagten: Endlich sitzen wir mit am Tisch. Mein nächster Gedanke war: Wir wollen mehr. Mehr Frauen. Mehr Diversität. Mehr Plätze am Tisch. In diesem Moment erfüllte sich nicht nur das mutige Streben von Frauengenerationen, die bis zur Seneca Falls Convention im Jahr 1848 zurückreichen, mit der die Frauenrechtsbewegung und der Kampf um das Frauenwahlrecht in den Vereinigten Staaten begannen, er war auch Ausdruck unserer Verantwortung diesen Frauen von damals, den Frauen heute und den Frauen der Zukunft gegenüber. Wir standen auf ihren Schultern, und heute stehen jüngere Generationen auf unseren.
Um mehr Kandidatinnen zu gewinnen, war es wichtig, dass die weiblichen Abgeordneten – vor allem jene mit kleinen Kindern – ihre Geschichten erzählten, davon, was sie durch ihre Lebenserfahrungen gewonnen hatten, etwa das Vertrauen in ihre Vision, ihr Wissen, ihre Urteilskraft und ihr strategisches Denken. Ihre Erfahrungen gaben ihnen den Mut, den Wählerinnen und Wählern ihr Inneres zu offenbaren, mit ihnen zu fühlen und auch an andere Menschen zu denken.
Ich muss es noch einmal betonen: Sich für ein Amt zur Wahl zu stellen, erfordert Mut. Oft habe ich von den Kandidaten die berühmte »Man in the Arena«-Rede von Präsident Teddy Roosevelt aus dem Jahr 1910 zitiert. Ich füge meine eigene Aktualisierung für Frauen hinzu: Wenn man sich in die Arena begibt, muss man einstecken können, und manchmal muss man auch austeilen können … für die Kinder.
Im Lauf der Jahre haben Gegenkandidaten, die sich vor der größeren Anzahl Frauen auf unserer Seite fürchteten, eine erwartbare Kampagne gegen sie geführt. Die Kritiker wussten, dass Frauen im Allgemeinen die moralischen Werte hochhalten, und haben diese positive Eigenschaft dann häufig missbraucht und falsche Anschuldigungen gegen sie erhoben. Ich erwähne diese Taktik, weil sie so grausam ist. Wenn Kinder solcher Kandidatinnen erfundene Vorwürfe gegen ihre Mütter im Fernsehen oder in der Schule hören, verletzt sie das sehr. Gegner behaupten häufig, Kandidatinnen »geben gerne viel Geld aus«, vor allem für arme Kinder und Immigrantenfamilien. Mancherorts waren solche Sprüche leider erfolgreich.
Wir müssen diese Taktiken aus unserem politischen System verbannen, wenn wir Kandidatinnen aus unterrepräsentierten Bevölkerungsteilen für öffentliche Ämter gewinnen wollen. Wie viele Frauen wir wählen, ist nicht nur wichtig für die Anzahl weiblicher Abgeordneter, sondern auch für die Qualität ihrer politischen Führerschaft. Es geht darum, wie viel Meinungsdiversität im Sitzungssaal vertreten ist, darum, dass Amerika wirklich repräsentiert wird.
Als ich zur Sprecherin des Repräsentantenhauses gewählt wurde, war ich überwältigt von den Nachrichten, die ich von Frauen erhielt: Junge Frauen bedankten sich, »dass Sie für mich eine Tür geöffnet haben«. Ältere Frauen schrieben: »Ich hätte nie geglaubt, dass ich diesen Tag noch erlebe.« Ich freute mich auch, von vielen Vätern zu hören, die Töchter hatten. Sie dankten mir für die Chancen, die sich ihren Töchtern boten, weil sie eine Frau in meiner Position sahen, und für das Selbstvertrauen, das ich ihnen schenkte. Ein Vater schrieb mir sogar auf Briefpapier, auf das die ergreifenden Worte gedruckt waren, die meist Eleanor Roosevelt zugeschrieben werden: »Die Zukunft gehört denen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben.«
Der Traum der ersten Frauenrechtlerinnen – dass Frauen mit am Tisch sitzen – wird jetzt endlich Wirklichkeit. Doch müssen wir heute mehr denn je für die Schönheit ihrer Träume und die Zukunft aller US-Amerikaner kämpfen. Fast 250 Jahre nach der Gründung unseres Landes tobt der Kampf um die Demokratie in den Vereinigten Staaten leider immer noch und stellt uns vor große Herausforderungen. Wir werden alle zusammenarbeiten müssen, um in dieser schweren Zeit zu beweisen, dass unsere Flagge immer noch weht, und zwar »mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle«.
Für mich beginnt diese Arbeit in den heiligen Hallen des Kapitols.
In diesem Buch erzähle ich von den folgenreichsten Herausforderungen meiner Zeit als Sprecherin des US-Repräsentantenhauses: meiner Entscheidung, gegen den Irakkrieg zu stimmen, und meinen Gründen dafür; meinem fast vier Jahrzehnte andauernden Kampf für Menschenrechte in China; dem schweren Ringen um den richtigen Umgang mit der Finanzkrise von 2008; dem alles verzehrenden Kampf um die Verabschiedung des Affordable Care Act; den Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021; und dem traumatisierenden Angriff auf meinen Mann in unserem Haus. Ich werde Einblicke in die Arbeit der politischen Führung geben, aber auch in die Transformation der politischen Landschaft in den Vereinigten Staaten. Manch einer fragte mich, wie ich das geschafft habe. Darauf antworte ich, dass für mich die wichtigere Frage »Warum?« lautet.
Was ist ihr Prüfstein? Was ist ihr »Warum«?
Klopf. Klopf. Klopf. Polter. Polter. Polter. Lauter und lauter. Dann ein zweites Geräusch, die Türklingel, immer wieder. Und wieder das Klopfen, jemand klopfte mit viel Kraft – hämmerte, polterte – gegen die Tür meiner Wohnung in Washington, D. C., die am frühen Morgen des 28. Oktober 2022 noch in völliger Dunkelheit lag.
Ich sah auf die Uhr, konnte nur die Zahl 5 erkennen. An der Ostküste war es noch dunkel, in Kalifornien mitten in der Nacht. Offensichtlich hatte sich da jemand an der Tür geirrt, dachte ich. Aber weiterhin wurde laut geklopft. Beunruhigt stieg ich nun doch aus dem Bett und lief zur Tür. Draußen waren die Stimmen meiner Personenschützer von der Kapitolpolizei zu hören. Ich öffnete die Tür.
Die Beamten machten ernste Gesichter. »Madam Speaker, wir müssen hineinkommen und mit Ihnen sprechen«, sagte der leitende Beamte. Sofort war ich außer mir vor Panik.
»Was tun Sie hier um diese Uhrzeit?«, fragte ich ängstlich und verzweifelt. »Ist etwas mit meinen Kindern oder Enkeln?« Ich überlegte sofort, wer von ihnen spätnachts noch unterwegs oder verletzt sein könnte.
»Nein«, sagten die Beamten. »Es geht um Mr. Pelosi. Er wurde in Ihrem Haus angegriffen.«
Angegriffen? In unserem Haus? Vor 24 Stunden waren wir noch gemeinsam dort gewesen.
»Geht es ihm gut?«, fragte ich.
»Das wissen wir nicht.«
»Lebt er?«, fragte ich entsetzt.
»Auch das wissen wir nicht.«
»Wo ist er?«
»Er wurde ins Krankenhaus gebracht.«
»Welches Krankenhaus?«
»Darüber hat man uns noch nicht informiert.«
Kurze Zeit später erfuhr ich, dass Paul, Gott sei Dank, lebte und dass man ihn im Rettungswagen ins Zuckerberg San Francisco General Hospital and Trauma Center gebracht hatte, das führende Traumazentrum in Nordkalifornien. In San Francisco gibt es viele sehr gute Krankenhäuser, und manche von ihnen sind nur wenige Straßen von unserem Haus entfernt. Aber das SF General, wie es genannt wird, ist ein hervorragendes Level-1-Traumazentrum.
In dem Moment wurde mir klar, in welcher Gefahr Paul schwebte.
Paul hat nie mit mir oder den Kindern über den Angriff gesprochen. Es sei »zu traumatisch«, sagt er. Es würde auch nicht zu seiner nüchternen und stoischen Haltung passen. Vor allem aber wollten Pauls Ärzte nicht, dass er die Geschehnisse jener Nacht noch einmal durchlebt – er solle sich auf die Heilung konzentrieren. Er sprach mit der Polizei und den Ermittlern und musste seine Geschichte im Zeugenstand bei einem Strafprozess vor einem Bundesgericht im November 2023 und noch einmal vor einem Staatsgericht im Jahr 2024 erzählen. Aber zu Hause und in der Familie haben wir alles getan, um diesen Moment abzublocken, in dem wir nur knapp einer Katastrophe entgangen waren.
Immer wieder werde ich gefragt: »Wie konnte das geschehen?« Wie bei den meisten Tragödien wurde auch dieser Vorfall möglich, weil mehrere Dinge völlig schiefliefen, angefangen bei dem Kompromiss, den viele von uns in öffentlichen Spitzenämtern eingehen. Wir wissen, dass wir Ziele sind und was dieses Risiko bedeutet. Aber ich dachte immer, wie wohl viele andere auch: Warum sollte jemand unsere Familien angreifen? Bis zu jenem schrecklichen 28. Oktober 2022 hatte ich nicht geglaubt, dass meine Familie ins Visier geraten könnte – schon gar nicht in unserem Haus –, trotz der Drohungen, auch Todesdrohungen, die ich persönlich erhalten habe, und all den Scheußlichkeiten, die über mich gesagt wurden.
Am 27. Oktober war ich von San Francisco nach Washington geflogen. Ich hatte Arbeit für den Kongress zu erledigen, und für den Morgen des 28. war ein Sicherheitsbriefing auf höchster Ebene angesetzt. Meine Personenschützer begleiteten mich. Als Sprecherin des US-Repräsentantenhauses hatte ich nach dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten das dritthöchste Amt im Land inne. Daher stellte die Kapitolpolizei rund um die Uhr Personenschutz für mich ab. Doch diese zuverlässigen Personenschützer begleiteten nur mich, nicht aber meine Familie.
Wenige Minuten nach zwei Uhr Westküstenzeit zertrümmerte ein 1,80 Meter großer und 120 Kilo schwerer Mann mit einem Hammer die doppelt verglasten Fenster der Hintertür zu unserem Haus in San Francisco und drang ins Gebäude ein. Die Sicherheitskameras, die ums Haus herum angebracht sind, zeichneten alles auf, aber niemand beobachtete in Echtzeit, was geschah.
Der Eindringling ging zu unserem Schlafzimmer, wo Paul schlief, und weckte ihn mit der Frage: »Wo ist Nancy? Wo ist Nancy?« Dieselbe Frage hatten die Aufständischen gestellt, die am 6. Januar 2021 das Kapitol stürmten. Der Angreifer hatte immer noch den Hammer in der Hand, aber auch Kabelbinder, die oft wie Handschellen verwendet werden und die die Aufständischen vom 6. Januar ebenfalls dabeihatten.
Paul sagte bei dem Prozess vor dem Bundesgericht aus: »Ich erschrak fürchterlich, als ich merkte, dass jemand ins Haus eingebrochen war, und als ich ihn sah, als ich den Hammer und die Kabelbinder sah, wurde mir klar, dass ich in ernster Gefahr schwebte. Daher versuchte ich, so ruhig wie möglich zu bleiben.« Paul erinnerte sich, er habe dem Angreifer gesagt, ich sei in Washington und erst in einigen Tagen wieder zu Hause. Der Angreifer behauptete, ich sei die »Rädelsführerin« gegen Donald Trump, und sagte, er werde Paul »fesseln« und auf mich »warten«. Als Paul das hörte, flüchtete er auf unseren Flur.
Dort gibt es einen kleinen Aufzug, den wir für Einkaufstüten und Gepäck benutzen, damit wir die schweren Taschen nicht die Treppen im Haus hinauf- und hinunterschleppen müssen. Paul sagte aus, er habe gedacht, wenn er den Aufzug erreichte, könnte er den Notknopf drücken und ihn zwischen den Stockwerken anhalten und dann über das Notfalltelefon im Aufzug Hilfe rufen. Vor dem Bundesgericht sagte der Angreifer, er sei Paul zum Aufzug gefolgt und habe mit dem Körper die Tür blockiert und Paul daran gehindert, einen Notruf abzusetzen. Dann habe er Paul gefragt: »Wollen Sie das wirklich tun?« Daraufhin habe Paul zu ihm aufgeschaut und gesagt: »Sie sind ein großer Kerl, nein.«
Paul ging ins Schlafzimmer zurück und war dann geistesgegenwärtig genug, ins Badezimmer zu flüchten, das auf der anderen Seite des Schlafzimmers liegt. Diesmal versuchte der Angreifer nicht, Paul aufzuhalten. Paul schnappte sich sein Mobiltelefon, das zum Aufladen auf der Ablage stand, und wählte den Notruf. Ich ertrage es immer noch nicht, mir den Notruf anzuhören und Pauls Stimme zu hören. Ich kann mir auch die Aufnahmen der Sicherheitskameras oder der Bodycams der Polizisten nicht anschauen. Ich habe all das vermieden.
Wenn man eine Person des öffentlichen Lebens ist, werden die Bilder nicht nur ein- oder zweimal gezeigt – vor allem dann nicht, wenn es um einen körperlichen Angriff geht. Sie dominieren den Nachrichtenzyklus, und die Aufnahmen werden auszugsweise oder komplett am Stück rund um die Uhr ausgestrahlt. Wenn man den Nachrichten im Fernsehen oder in den digitalen Medien folgt, durchlebt man diese schrecklichen Augenblicke immer wieder. Paul wollte nicht, dass wir es sehen – unsere Kinder nicht, unsere Enkel nicht und ich auch nicht. Der Angriff auf Paul hat in unserer ganzen Familie ein schweres Trauma ausgelöst und bei mir Schuldgefühle, weil ich selbst verschont blieb.
Aber ich weiß, dass Paul mit dem Notruf sich selbst das Leben gerettet hat. Er blieb cool und gab alle notwendigen Informationen weiter, während er körperlich stark bedroht war – der Angreifer stand mit dem Hammer und den Kabelbindern so dicht hinter ihm, dass man ihn übers Telefon hörte, als er behauptete, er sei »ein Freund« von Paul.
Auf Pauls Anruf hin alarmierte die Mitarbeiterin der Notrufzentrale die Polizei. Paul sagte aus, er habe gewusst, dass er den Angreifer nach unten locken und dann hoffen musste, dass die Polizei zur Vordertür kam.
Nach ihrer Ankunft öffneten die Polizisten die Haustür und sahen, wie die Bodycam-Aufnahmen zeigen, den Angreifer mit dem Hammer dastehen. Die Beamten befahlen ihm, den Hammer fallen zu lassen, doch stattdessen schlug der Mann Paul dreimal damit auf den Kopf. Als Paul danach wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden in seinem eigenen Blut.
Kurze Zeit später hämmerten die Personenschützer an meine Tür in Washington.
Ich konnte nur an zwei Dinge denken: Ich wollte absolut alles über Pauls Zustand wissen, und ich musste unsere Kinder anrufen. Paul und ich haben fünf wunderbare Kinder und hatten damals neun wunderbare Enkel (inzwischen zehn), die über das ganze Land verteilt in allen Zeitzonen leben. Ich wollte nicht, dass sie von irgendjemand anderem als mir erfuhren, was mit ihrem Vater und Opa geschehen war. Aber wenn ich sie schon mit solch schrecklichen Nachrichten wecken musste, wollte ich ihnen wenigstens auch ein wenig Grund zur Hoffnung geben können.
Allerdings waren die Nachrichtenmedien an jenem Morgen so schnell, dass ich nicht alle Kinder rechtzeitig erreichte. Nur zwei von ihnen erfuhren direkt von mir, was ihrem Vater zugestoßen war.
Meine ersten Anrufe galten den Kindern, die in San Francisco lebten. Ich rief unseren Sohn Paul jr. an, der ganz in unserer Nähe wohnt. Er erschrak, als ich ihm weitergab, was ich wusste, und begann sofort nachzuforschen, wo sein Vater war.
Als Nächste rief ich unsere Tochter Christine an. Teen, wie sie in der Familie genannt wird, ging nicht ans Telefon, daher hinterließ ich ihr eine Nachricht, die sie gespeichert hat:
Teen … ich bin’s, Mom. Jemand ist in unser Haus eingebrochen. Sie haben Dad verletzt. … Wir wissen nicht, in welchem Zustand Dad ist, aber sie haben ihn ins Zuckerberg gebracht, dieses Trauma-Ding. … Sie haben den Kerl gefasst. Ich meine, er hat mit Dad gekämpft, als die Polizei ankam, und es war gefährlich. Und der Typ hatte einen Hammer, das macht mir Angst. … Okay, okay, mehr weiß ich nicht. Es tut mir so leid, dass das passiert ist …
Christine hatte das Telefon zwar gehört, aber gedacht, ich sei in Washington früh aufgewacht und hätte aus Versehen ihre Nummer gewählt – ein Hosentaschenanruf. Dann bekam sie die Benachrichtigung, dass ich auf ihre Mailbox gesprochen hatte. Sie rief mich sofort zurück. Danach zog sie sich eilends an, sagte ihrem Mann Peter, was geschehen war, und fuhr rasch zum Krankenhaus. Unterwegs telefonierte sie mit Paul jr., dessen Auto einen Platten hatte. Sie entschieden, er solle zu Fuß zu unserem Haus gehen, und sie werde direkt zum Krankenhaus fahren.
Unser Zuhause, das mein Mann liebte und im Lauf der Jahre sorgfältig renoviert hatte, war jetzt ein Tatort. Paul jr. musste dafür sorgen, dass die Journalisten nicht ins Haus eindrangen – um den Tatort vor allen zu schützen, die nicht zur Polizei gehörten.
Im Krankenhaus durfte Christine ihren Vater nicht sofort sehen, weil er bereits aus der Notaufnahme zur OP-Vorbereitung in einen sterilen Bereich gebracht worden war. Er hatte einen Schädelbruch. Die Ärzte informierten unsere Tochter kurz über seinen Zustand – vor allem über die lebensgefährlichen Schläge gegen seinen Kopf – und versprachen, alles zu tun, um sein Leben zu retten. Sie sagten ihr, es werde Stunden dauern, bis er operiert und wieder ansprechbar sei.
Unterdessen wartete Paul jr. in der Dunkelheit vor Tagesanbruch auf die Polizei und die Spurensicherung, die das gesamte Haus untersuchte. Die Polizei befürchtete, es könnten sich neben dem Hammer weitere Waffen oder sogar eine Bombe im Haus befinden.
Kurz nach Christines Ankunft im Krankenhaus rief ein TV-Moderator, den sie kannte, bei ihr an und drückte sein Mitgefühl aus. Innerhalb weniger Minuten nach der Tat hatten die Medien bereits alle möglichen Berichte über den Angriff und Pauls Einlieferung ins Krankenhaus aufgetrieben. Manche Pressevertreter wussten schneller Bescheid als wir und bevor ich alle Familienmitglieder erreichen konnte. So kam es, dass einige Angehörige nicht von mir erfuhren, was geschehen war, sondern von einem Reporter, der sich womöglich einen Kommentar erhoffte. Andere erfuhren es von Freunden, die am frühen Morgen bereits auf die »Eilmeldung« aufmerksam geworden waren.
Ob die Informationen, die die Presse über Paul erhalten hatte, aus dem Krankenhaus oder von der Polizei stammten, weiß ich nicht, aber für viele Mitglieder unserer Familie hatte das schreckliche und schwere Folgen. Die Berichte waren häufig falsch und unvollständig, und es wurde schlimmer, je mehr Zeit verging. Ich kann nicht einmal ansatzweise beschreiben, wie schmerzhaft und niederschmetternd es für unsere Lieben war, auf diesem Weg von dem gewaltsamen Angriff auf ihren Vater oder Großvater zu erfahren. Ganz zu schweigen davon, dass wir keine Zeit hatten, das Geschehene im Familienkreis zu verarbeiten, und auch über keine Möglichkeit verfügten, zu erfahren, wie es Paul ging. Er war 82 Jahre alt und dreimal mit einem Hammer am Kopf getroffen worden. Da konnte alles geschehen, und das wussten wir. Wir konnten nicht sicher sein, dass Paul überleben würde.
Unsere jüngste Tochter Alexandra musste ich an jenem schrecklichen Morgen nicht anrufen, sie meldete sich bei mir aus New York. Sie dreht Dokumentarfilme und hat viele Freunde bei den Nachrichtenmedien, die sie über den Angriff auf Paul informiert und ihr gesagt hatten, was sie wussten. Zon (so ihr Spitzname) war bestürzt.
Sie schrie mich erst einmal an und schimpfte, sie »habe genug von alldem«. Mit »alldem« meinte sie die Politik, den Kongress, mein Sprecheramt und alles, was mit einem politischen Leben in der Öffentlichkeit zu tun hatte. Zwischen Wut, Trauer und Angst wechselnd, fragte sie mich: »Was hat bei den Sicherheitskameras nicht funktioniert? Wie konnte das geschehen? Das ist nicht fair. Dad hat das nicht verdient.«
Die Nachricht verbreitete sich schnell in den Medien. Alexandra konnte nachverfolgen, wie eine Medienplattform nach der anderen sie brachte und sich ihr Mobiltelefon mit Hunderten Anrufen und Textnachrichten füllte. Sie wollte sofort zum Flughafen und bat ihren Mann Michiel, einfach in Richtung eines Flughafens, LaGuardia oder Kennedy, zu fahren, während sie versuchte, den frühesten Flug nach Washington oder San Francisco zu bekommen. Am Ende nahm sie den ersten Flug nach Washington, damit wir gemeinsam gen Westen weiterfliegen konnten.
Als die Abgeordnete Sala Burton mich gebeten hatte, mich für ihren Sitz im Kongress zu bewerben, hatte ich Alexandra um Erlaubnis gefragt, bevor ich antwortete. Sie war damals sechzehn Jahre alt, besuchte die Highschool und wohnte als einziges unserer Kinder noch zu Hause – ihre Geschwister waren alle schon auf dem College. Ich sagte ihr, dass ich während der Sitzungsperioden des Kongresses drei Abende pro Woche in Washington wäre, wenn ich gewänne. »Mutter«, meinte sie, »mach endlich was aus deinem Leben!« Welcher Teenager will denn nicht, dass die Mutter an drei Abenden die Woche außer Haus ist? Doch als wir nach dem Angriff bei Paul in der Intensivstation waren, sagte sie zu mir: »Wenn ich damals gewusst hätte, auf was wir uns da einlassen, wenn ich gewusst hätte, dass es so enden würde, dann hätte ich dir vor 35 Jahren niemals meinen Segen gegeben.«
Christine hatte sofort einen Gruppenchat mit all ihren Geschwistern eingerichtet, als sie das Krankenhaus erreichte, aber nicht einmal der war schneller als die Nachrichtenmedien.
Unsere Tochter Jacqueline war in Texas früh am Morgen zum Sport gefahren. Vier Straßen von ihrem Haus entfernt musste sie an einer roten Ampel halten und sah, dass auf ihrem Mobiltelefon eine Nachricht von Christine angezeigt wurde. Jacqueline erzählte mir später, sie habe Glück gehabt, dass sie im Auto gesessen und die Nachricht dort gelesen habe, weil sie sonst aus den Eilmeldungen vom Angriff auf ihren Vater erfahren hätte, was traumatisch für sie gewesen wäre. »Die Nachrichten berichteten bemerkenswert schnell über diesen Albtraum«, sagte sie. »Es brach mir das Herz, mir vorzustellen, dass ich das, wenn ich zu Hause gewesen wäre, auf CNN oder NBC gesehen hätte, bevor ich es von meiner Familie hören konnte.«
Noch aus dem Auto rief Jacqueline Christine umgehend zurück, die bemerkenswert ruhig mit der Situation im Krankenhaus umging. Christine versprach, sofort Bescheid zu geben, wenn sie mehr erfuhr. Jacqueline wendete ihren Wagen und fuhr die vier Straßen zurück nach Hause. Fast augenblicklich strömten auch auf ihrem Telefon Nachrichten von Freunden herein. Um acht Uhr morgens – immer noch erst sechs Uhr in San Francisco – kamen auch viele Freunde zu Jacquelines Haus, um sie zu unterstützen, während sie auf Anrufe und Textnachrichten ihrer Geschwister und Berichte von den Ärzten wartete.
Als ich endlich meine Tochter Nancy Corinne in Arizona erreichte, sagte sie mir, Alexandra habe sie schon angerufen. Unsere fünf Kinder telefonierten miteinander, schrieben sich Textnachrichten und hatten fürchterliche Angst. Während Paul im OP war, buchten sie Flüge nach San Francisco, doch sie fürchteten, nicht rechtzeitig anzukommen. Für die von ihnen, die sofort nach San Francisco aufbrechen konnten, war es ein schwieriger Flug. Im Flugzeug hingen viele Passagiere an ihren Mobiltelefonen, iPads oder Laptops und sahen sich die grausigen Nachrichten an. Unsere Töchter hingegen vermieden das, so gut es ging, ignorierten die Eilmeldungen und beteten. Direkt nach der Landung fuhren sie zum Krankenhaus.
Unseren fünf Kindern davon zu erzählen, war schwierig, aber bei unseren Enkeln war es furchtbar.
Während Christine im Krankenhaus ausharrte, weckte ihr Mann Peter ihre Tochter Bella und deren älteren Bruder Octavio und erzählte ihnen, was mit ihrem Opa geschehen war. Aber er kam zu spät. Bellas Schulfreunde hatten bereits davon gehört, und ihre Textnachrichten und Kommentare füllten Bellas Handy. Bella und ihre Eltern entschieden, dass sie nicht zu Hause bleiben sollte, wo sie nur warten und sich Sorgen machen konnte, sondern zur Schule ging. Doch zuvor bastelte sie noch eine Karte für ihren Opa und schrieb ihm, er solle ganz schnell wieder gesund werden. Wie muss sie sich dabei wohl gefühlt haben, nachdem sie diese schreckliche Neuigkeit erfahren hatte?
Alexandras Sohn, der wie sein Opa Paul heißt, war in der Highschool und wurde wütend, als er von der Tat erfuhr, riss sich aber zusammen. Sein jüngerer Bruder Thomas war bereits auf dem Weg zur Xavier High School. Ein Schulpsychologe erwartete ihn dort und brachte ihm unter vier Augen bei, dass sein Großvater angegriffen worden und nun im Krankenhaus sei, auf dem Weg in den OP. Danach ging Thomas mit Freunden und dem Rektor in die Schulkapelle, um für Paul zu beten.
Jacqueline musste ihren Mann Michael und die drei Söhne – Liam, Sean und Ryan, von denen zwei auf dem College waren – telefonisch über die Geschehnisse informieren und konnte, während sie die Nummern wählte, nur hoffen, dass sie nicht schon die Nachrichten gesehen hatten.
Alexandra sprach vom Flughafen LaGuardia aus mit ihrer Nichte Madeleine, Nancy Corinnes Tochter. Madeleine studierte und am Telefon weinte sie jetzt hysterisch, wie Alexandra es noch nie von ihr gehört hatte. Immer wieder fragte sie, wie jemand ihrem Opa das habe antun können. In jenen Stunden war es fast unmöglich, diese Kinder und jungen Leute zu trösten, die todunglücklich waren, weil ihrem Opa etwas so Schreckliches zugestoßen war.
Unterdessen war Alexander, Nancy Corinnes erwachsener Sohn, nach Washington zu meiner Wohnung geeilt und wartete mit mir auf Alexandra. Weinend, betend, schockiert, fassungslos und wütend, waren unsere Kinder und Enkel tief getroffen von der Ungerechtigkeit dieses Angriffs. Alle fragten sich: Wer konnte ihrem Vater und Großvater so etwas antun? Warum hatten wir ihn nicht vor diesem Mann beschützen können?
Präsident Biden rief mich umgehend an, als er am frühen Morgen die Nachricht hörte. Er sprach sehr anteilnehmend, freundlich und gedankenvoll über Paul.
Kurz bevor die OP meines Mannes begann, bekam ich einen Anruf aus dem Krankenhaus, und ich war selig, Pauls Stimme zu hören, auch wenn sie etwas verwaschen klang. Ich sagte ihm, dass wir alle ihn liebten, Präsident Biden ihn herzlich grüßen ließ und ich so schnell wie möglich bei ihm wäre. Als ich Paul erzählte, wie freundlich Joe Biden gewesen war, fragte er: »Wie hat der Präsident überhaupt davon erfahren?« Paul konnte sich nicht vorstellen, dass jemand wusste, was geschehen war – schon gar nicht, dass man im ganzen Land und in der ganzen Welt Anteil an seinem Schicksal nahm und für ihn betete.
Die fünfeinhalb Stunden Flug von einem Ende des Landes zum anderen erschienen Alexandra und mir endlos und quälend. Wir waren beide wie betäubt, aber in Gedanken versunken, klammerte ich mich an mein kurzes Telefonat mit Paul. Seine Stimme zu hören, so schwach und benommen sie auch geklungen hatte, hatte mir sehr geholfen.
Cynthia Birmingham, eine gute Freundin der Familie, war gleich nach Christine zum Krankenhaus gekommen – fürsorglich, wie sie ist, hatte sie dicke Socken, einen warmen Pullover und eine weiche Decke für Paul mitgebracht. Sie war auch vorher bei Christine zu Hause vorbeigefahren und hatte Bellas Genesungskarte mitgenommen, sodass Paul sie gleich sehen würde, wenn er aufwachte. Christine und Cynthia sahen Paul als Erste, als er nach der OP an seinem Schädel aus dem Aufwachraum kam. Er war gleich wieder ganz er selbst, stoisch und selbstlos. Er ahnte nichts von dem Wirbel in den Nachrichten und der öffentlichen Wirkung des Angriffs auf ihn und dachte erst einmal daran, unsere Familie zu beruhigen.
Die Decke, die Cynthia ihm brachte, nahm er aber dankbar an – und ließ sie mindestens eine Woche lang nicht mehr los. Paul jr. rief seinen Vater an, um ihm zu sagen, dass ich »auf dem Weg« sei, und der erste Kommentar meines Mannes war: »Sie wird sich freuen, dass die Ravens gestern Abend gewonnen haben.« Er weiß, dass ich eine fast ebenso große Schwäche für alle Sportmannschaften aus Baltimore – wo ich aufgewachsen bin – habe wie für die Teams aus San Francisco.
Paul schien bei klarem Verstand zu sein, doch Cynthia erzählte mir später, sie habe sehen können, dass er hinter dieser Maske sehr erschüttert und bedrückt gewesen sei – und immer noch wusste niemand genau, wie weit er sich erholen würde. Seine Verletzungen waren schwer, und niemand konnte sagen, was die nächsten Stunden und Tage bringen würden.
Abgesehen von den Schädelverletzungen, musste noch sein rechter Arm mit zwölf Stichen genäht werden, und seine linke Hand war so stark geschädigt, dass plastische Chirurgen sie rekonstruieren mussten.
Als ich am Nachmittag ins Krankenhaus kam, lag Paul auf der Intensivstation. Alexandra erschrak bei seinem Anblick und sagte, er sehe aus wie Frankenstein mit den tiefen Wunden und Verbänden an Kopf, Händen und Armen. Dreimal hatte der Angreifer ihn an verschiedenen Stellen auf den Kopf geschlagen. Es war ein Wunder, dass die Schläge nicht bis zum Gehirn vorgedrungen waren. Die Chirurgen hatten einen Teil seines Schädelknochens entfernt und neu geformt und nach größeren Blutungen und Hirnschwellungen gesucht. In den folgenden Tagen und Monaten musste Paul noch mehrfach an der Hand und am Arm operiert werden. Dort war nicht nur die Haut verletzt; Sehnen und andere Strukturen waren schwer geschädigt. Um die volle Funktionalität seiner Hand wiederzuerlangen, musste sie wie gesagt rekonstruiert werden. Im Februar 2024 wechselte ich immer noch die Verbände an seinem Arm, nachdem er ein weiteres Mal operiert worden war.
Während wir in jenen Stunden und Tagen ängstlich auf der Intensivstation Wache hielten, war die Fürsorge, die das SF General wie all seinen Patienten auch Paul zukommen ließ, ein Segen und beruhigte uns. Die Ärzte Michael Huang, Geoff Manley und John Rose, die Paul an jenem Tag behandelten, retteten sein Leben. Wir sind ihnen und den Pflegekräften, Physiotherapeuten und anderen Mitarbeitern sowie dem medizinischen Personal, den Rettungssanitätern und Ersthelfern, die sich um ihn kümmerten, sehr dankbar.
An jenem Abend erlebten wir so viele Emotionen: Tränen, Segenswünsche und Gebete von so vielen Freunden und Verwandten, Liebe für Paul, Freundschaft von den Menschen in unserem Leben und so vielen anderen, die an uns dachten.
Paul jr. verließ als Einziger das Krankenhaus wieder, nachdem er seinen Vater gesehen hatte. Gegen 16.45 Uhr – nachdem die Polizei Haus und Garten nach Bomben und Sprengkörpern abgesucht hatte, ein Durchsuchungsbeschluss ausgeführt und Beweise gesichert waren – ging Paul jr. ins Haus, um aufzuräumen. Ihm fiel an jenem Nachmittag die grausige Aufgabe zu, den Tatort zu reinigen. Er beseitigte eine Million winzige Glassplitter von den eingeschlagenen Fensterscheiben und hob den Pyjama seines Vaters auf, der stundenlang in dessen Blut gelegen hatte. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das für ihn gewesen sein muss. »Entsetzlich« scheint kaum ausreichend, um auszudrücken, was Paul jr. in unserem Haus durchmachen musste. Auch Cynthia fuhr schließlich hin und unterstützte ihn. Sie brachte einen Industriestaubsauger und eine Assistentin mit, die später besorgt sagte: »Ich hoffe, Paul jr. fühlt sich wieder besser. Er war so verzweifelt – es wird dauern, bis er sich von dem Trauma erholt hat.«
In unserem Haus war immer noch viel Polizei, und es war auch immer noch ein Tatort. Selbstverständlich konnte unsere Familie dort nicht übernachten. Wir wollten es auch gar nicht. An diesem Abend luden Cynthia und ihr Mann Rob uns zum Abendessen und Übernachten ein, damit wir uns nicht dem Trauma bei uns zu Hause stellen und die zerschlagenen Fenster und die Blutflecken sehen mussten, die uns an das Grauen erinnert hätten, das sich dort weniger als 24 Stunden zuvor ereignet hatte.
Am nächsten Abend waren die zerstörten Fenster bereits mit Brettern vernagelt; so gut er konnte, hatte Paul jr. Glasscherben und Blut entfernt. Wir konnten nach Hause gehen, aber es war ein seltsames Gefühl, in dem Zimmer zu Bett zu gehen, in das 36 Stunden zuvor ein Gewalttäter eingedrungen war und gerufen hatte: »Wo ist Nancy? Wo ist Nancy?«
Aber hier war unser Zuhause, in das Paul, so Gott es wollte, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zurückkehren würde. Wir waren uns der Verantwortung bewusst, dieses Haus wirklich wieder zu einem Zuhause für Paul zu machen, schoben unsere Zweifel und Ängste beiseite und nahmen das Haus wieder an – trotz allem, was sich in diesen vier Wänden ereignet hatte, trotz der Schmerzen der letzten Nacht, die wir noch lange in uns tragen werden.
Paul wollte wie gesagt nie darüber sprechen, was in jener Nacht geschehen war. »Ich will das nicht noch einmal durchleben und bemühe mich sehr, es nicht zu tun«, sagt er immer. Wir erfuhren erst ein Jahr später, in welcher Gefahr er tatsächlich gewesen war, als ein Arzt im Prozess vor dem Bundesgericht aussagte, der Angreifer habe, als er Pauls Schädel brach, eine wichtige Vene (Sinus sagittalis superior), die über die interne Drosselvene (Vena jugularis interna) vom Gehirn zum Herzen führt, nur um wenige Zentimeter verfehlt. Dieser Schlag hätte lebensgefährlich sein können. Nach dieser Gewalttat hatte der Einbrecher geglaubt, er habe Paul getötet. Vor dem Bundesgericht sagte er aus, er sei überrascht gewesen, dass Paul überlebt habe.
In den folgenden Tagen erkannten wir, dass Paul eine lange Genesungszeit vor sich hatte – aber zum Glück würde er sich erholen. Viele Monate lang trug Paul einen Hut, um die grotesken Wunden an seinem Kopf zu verdecken, und einen Handschuh, der seine schwer verletzte Hand schützte und verdeckte. Wegen der Schläge gegen den Kopf litt Paul auch an einem postkommotionellen Syndrom. Er wurde schnell müde und litt unter Schwindelattacken. Die Ärzte ermahnten uns, er solle unbedingt helles Licht, Lärm und vor allem elektronische Bildschirme meiden.
Paul durfte das Krankenhaus am 3. November verlassen. Doch statt bei uns zu Hause Frieden und Ruhe zu finden, wartete vor unserer Tür ein großes Medienaufgebot auf ihn: Reporter, Kameras, sogar Hubschrauber kreisten über dem Haus. Er wurde mit Licht und Lärm bombardiert, hell und laut – genau das, was er auf ärztlichen Rat vermeiden sollte. Die Medien belagerten unser Haus tagelang.
Die Geschichte vom Angriff auf Paul hielt sich lange in der Öffentlichkeit. Und von dem Moment an, als darüber berichtet wurde, fand so etwas wie ein zweiter Angriff auf Paul und unsere Familie statt. Zusätzlich zu dem tiefen Schrecken und der Trauer mussten wir uns jetzt auch noch mit Lügen und Fehldarstellungen herumschlagen.
Besonders furchtbar waren die entmenschlichenden »Witze«. Es war mehr als beleidigend, wenn hochrangige Republikaner grausame Witze und Fehldarstellungen über den Mordanschlag auf Paul verbreiteten – vom ehemaligen Präsidenten und seinen Kindern bis zu Gouverneuren, Parteiführern und anderen hochrangigen Republikanern und Republikanischen Kandidaten, die sich billig profilieren wollten, indem sie darüber »scherzten«, dass sie mich nach San Francisco zurückschicken wollten. Zu den Schlimmsten gehörte Donald Trump jr. Auf Twitter (heute X) teilte er das Bild eines Hammers mit der Nachricht: »Mein Paul-Pelosi-Kostüm für Halloween liegt bereit.« Menschenmengen bei diesen grausamen Bemerkungen lachen, jubeln und klatschen zu hören oder zu sehen, dass sie diese »likten«, war genauso schrecklich, weil sie die verabscheuungswürdige Gewalt damit noch befeuerten. Mehr als 22 000 Menschen gefiel der Post von Trump jr.; andere hingegen verurteilten ihn als »widerwärtig«. Während wir an seinem Bett wachten, war dieser Spott über Paul und unsere Familie zutiefst verletzend, auch wenn wir uns bemühten, diese Grausamkeiten von ihm fernzuhalten.
Immer wieder erfüllte es mich mit tiefer Trauer für unser Land, dass diese Menschen mit hoher Sichtbarkeit die Lügen wiederholten und sich dabei so weit von den Fakten und der Wahrheit entfernten. Aber unsere Familie kümmerte sich um Pauls unmittelbare Bedürfnisse, und die zahlreichen Sympathie- und Unterstützungsbekundungen trösteten uns.
Stunden nach dem Angriff gab der Einbrecher gegenüber der Polizei freiwillig zu, er habe eine »Liste mit Zielen«, und »Sprecherin Pelosi« stehe darauf. Er habe sie verhören wollen und hätte »Nancy« gehen lassen, wenn sie ihm die »Wahrheit« gesagt hätte, aber ihr die »Kniescheiben zertrümmert«, hätte sie »gelogen«. Danach hätte Nancy mit zertrümmerten Kniescheiben im Rollstuhl in den Kongress gefahren werden müssen, und das hätte den anderen Abgeordneten gezeigt, dass ihr Handeln Konsequenzen habe. Hass auf mich war seine Begründung für den gewaltsamen Angriff auf meinen Mann.
Paul war nicht das geplante Ziel in jener Nacht, aber er bezahlte physisch den Preis und tut es immer noch. Emotional bezahlt unsere ganze Familie mit ihrem Trauma.
Seit Jahren sagen Gäste, die in unser Haus kommen, – so auch der Zeitungskolumnist Herb Caen aus San Francisco – beim Anblick der steilen Treppen: »Ihr Haus ist für Bergziegen gemacht, weil nur Bergziegen freiwillig diese Treppen rauf- und runterspringen würden.« Viele fragen auch, ob wir einen Aufzug haben. Nach der Operation trug Paul wie geschildert noch dicke Verbände um den Kopf, die linke Hand und den rechten Arm. Daher wäre es sehr viel einfacher für ihn gewesen, mit dem Aufzug hoch- und runterzufahren, als er aus dem Krankenhaus kam. Doch er nahm lieber langsam und vorsichtig die Treppe. Er ging nicht einmal in die Nähe des Aufzugs, zu dem er sich geflüchtet hatte, bevor er von dem Angreifer dort erwischt wurde.
Auch einen weiteren Ort mied Paul monatelang – einen seiner früheren Lieblingsplätze im Haus: das Gartenzimmer. Er hatte dafür die alte Waschküche und einen Teil des Kellers umgebaut. Dort hatte er sich früher die Spiele der 49ers, der Giants und der Warriors angeschaut und gelegentlich eine Zigarre geraucht (was er nur durfte, wenn die Türen zum Garten offen waren). Aber über diesen Raum war der Angreifer eingedrungen, nachdem er die Scheiben eingeschlagen hatte.
Unser Alltagsleben spielte sich nun also vor allem im Wohnzimmer im ersten Stock ab. Dort arbeiteten wir, entspannten uns und sahen Sportübertragungen auf dem iPad an. Dieser Raum war immer noch ein sicherer Zufluchtsort, während in anderen Teilen des Hauses böse Erinnerungen lauerten.
Mir fällt es weiterhin schwer, durch den Eingangsbereich zu gehen, wo Paul mit dem Hammer niedergeschlagen wurde.
Ich werde nie verstehen, wie er wieder in unserem Schlafzimmer Ruhe finden konnte, nachdem der Angreifer ihn dort überrascht hatte. Aber meine Kinder erzählten mir, dass er lange Zeit nur dort schlief, wenn ich zu Hause war. Wenn ich in Washington übernachtete und er allein war, schlief er in einem anderen Zimmer.
Monatelang merkte ich deutlich, dass Paul sorgfältig die Bereiche im Haus mied, in denen die wichtigsten Szenen des Angriffs stattgefunden hatten. Doch eines Tages schlug er vor: »Lass uns das Spiel unten anschauen.« Diese sechs Worte waren ein großer Schritt, ein Zeichen, das Hoffnung machte, dass Paul diese schreckliche Nacht wirklich verarbeitete und hinter sich lassen wollte.
Wir sind alle sehr stolz auf Pauls Stärke, Mut, Disziplin und Widerstandskraft. Er klagt nicht. Gewissenhaft macht er jeden Tag seine Bewegungsübungen, die die beschädigten Muskeln und Sehnen kräftigen und die Funktionsfähigkeit von Hand und Arm wiederherstellen sollen. Und er hält sich an die Anweisungen der Ärzte. Er ermutigt uns stets, daran zu glauben, dass er wieder gesund wird. Aber ein Jahr nach dem Angriff muss Paul täglich auch immer noch Gleichgewichtsübungen durchführen. Er hat weiterhin Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, auch wenn sie inzwischen seltener auftreten. Wenn wir zu einer Veranstaltung gehen, bleiben wir meist nur kurz. Wir trinken ein Glas Wasser und setzen uns, damit Paul länger durchhält und ihm nicht schwindelig wird. Und wir sind zuversichtlich, dass es ihm immer besser gehen wird.
Wir sind nicht nur für die schrittweise Genesung Pauls dankbar, sondern auch für die Gebete und guten Wünsche, die uns von so vielen Menschen in dieser schwierigen Zeit erreicht haben. Sie waren für seine – und unsere – Genesung sehr wichtig.
Paul ist ein sehr lieber und sanfter Mensch, da wirkt das, was ihm geschehen ist, besonders unfair. Bei unserer Hochzeit vor sechzig Jahren konnte er nicht wissen, wie politisch unser Leben werden würde. Er war ein wunderbarer Vater für unsere fünf Kinder, die alle innerhalb von sechs Jahren und einer Woche zur Welt kamen. Jahre später, als ich gebeten wurde, für den Kongress zu kandidieren – auch wenn ich das nie zuvor in Erwägung gezogen hatte und es auch nie Teil unseres gemeinsamen Lebensplans gewesen war –, unterstützte er mich bereitwillig, ohne zu fragen oder sich zu beklagen. Er wollte mir ermöglichen, meine Leidenschaft für den Dienst an der Öffentlichkeit auszuleben. Er war mein größter Unterstützer.
Aus der Hausfrau Nancy Pelosi wurde zunächst eine Kongressabgeordnete und schließlich sogar die Sprecherin des Repräsentantenhauses. Ohne Pauls Unterstützung, Ermutigung und Liebe hätte ich diesen historischen Durchbruch niemals geschafft.
Und ich hätte es nie gemacht, wenn ich geahnt hätte, dass ich damit eines Tages sein Leben gefährden würde.
Ein Kapitel unserer Leidensgeschichte endete im Mai 2024, als ein Bundesgericht den Angreifer zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilte. Aber die Narben werden nie völlig verheilen. Vor dem Urteil schrieb ich an das Gericht: »Auch achtzehn Monate nach dem Einbruch in unser Haus und dem Angriff lassen sich die Blut- und Einbruchspuren nicht vermeiden. Unser Zuhause ist immer noch ein Tatort, und es zerreißt uns das Herz.«
Pauls Brief an das Gericht war für mich allerdings noch schmerzhafter zu lesen. Er schrieb, der Angreifer »hielt mich in meinem eigenen Haus als Geisel« und »sagte immer wieder, er könne mich ›beseitigen‹«. Paul schrieb auch, seine linke Hand sei »enthäutet« worden, Nerven und Blutgefäße hätten offen gelegen. »Durch Operationen und Behandlungen ist die Haut größtenteils nachgewachsen, aber darunter spüre ich die eingeklemmten Nerven in meiner linken Hand. Schon einfachste Handgriffe, etwa einen Knopf zu schließen, Besteck oder einfache Werkzeuge zu benutzen, werden so erschwert.«
Bis heute hat Paul wie gesagt Kopfschmerzen und Schwindelanfälle. Zweimal sah ich ihn wegen Schwindels stürzen. Bei sozialen Anlässen muss er besonders vorsichtig sein, darf sich weiterhin nicht lange hellem Licht oder lauten Geräuschen aussetzen und sollte die meiste Zeit sitzen.
Ich weiß nicht, ob wir uns je wieder sicher fühlen werden. In seinem Brief wies Paul auch darauf hin, dass ich nach wie vor rund um die Uhr von Personenschützern begleitet werde. Er schrieb: »Wir gehen nicht ans Festnetztelefon oder an die Haustür, wenn es klingelt, weil die Bedrohung weiterhin besteht. Die Blutflecke im vorderen Eingangsbereich, wo ich lag, werden wir nie mehr ganz aus dem Boden entfernen können.« Zu sagen, unser Leben habe sich »für immer verändert«, ist noch fast eine Untertreibung. Dieser Angriff hatte verheerende Auswirkungen auf drei Generationen unserer Familie.
Der brutale Angriff auf Paul verhieß Böses für die Zukunft, nicht nur für die Familie Pelosi, sondern für die gesamten Vereinigten Staaten. Unsere Familie war natürlich voll auf Pauls Genesung konzentriert. Es war so unfair, weil Paul ein perfekter Gentleman ist. Er streitet sich nie über Politik. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein zuzusehen, wie die Republikanische Partei aus mir einen Langzeitbösewicht machte. Das begann im Jahr 2010, als die Partei mehrere Millionen Dollar dafür ausgab, mich zu verteufeln. Es gab zahllose Werbeanzeigen, bei denen mein Bild von Höllenfeuer umgeben war. Diese persönlichen und dämonisierenden Angriffe, die mich zur Zielscheibe machten, gingen jahrelang weiter. Der damalige Republikanische Oppositionsführer Kevin McCarthy schlug im Jahr 2021 »spaßeshalber« vor, man könne mich ja mit dem Hammer des Sprechers auf den Kopf schlagen. Und auch im Wahlkampf 2022 schalteten die Republikaner millionenschwere Anzeigen mit persönlichen Angriffen gegen mich. Damals sah ich häufig Bilder von mir, in denen ich mit Teufelshörnern oder Schlimmerem »verziert« war.
Am 6. Januar 2021 hallten die höhnischen Rufe »Wo ist Nancy? Wo ist Nancy?« durch die heiligen Hallen des Kapitols, und keine zwei Jahre später fanden sie ihr Echo im Haus meiner Familie. Das muss uns allen als Warnung vor einer Politik der persönlichen Vernichtung dienen. Die Republikaner wandten diese gefährliche Taktik bei mir an – doch sie ist der Partei, die wir einst die »Grand Old Party« nannten, die »große alte Partei«, unwürdig und auch respektlos gegenüber unserer Demokratie.
Das aktuelle Klima der Bedrohungen und Angriffe muss aufhören.
Wir müssen unsere Meinungsverschiedenheiten über Politik und bestimmte Themen austragen können, ohne dass sie sofort zu persönlichen Angriffen und wütenden Gewaltdrohungen eskalieren. Die neue Taktik kam in den 1990er-Jahren auf, als der damalige Sprecher des US-Repräsentantenhauses Newt Gingrich sie gegen Präsident Bill Clinton und die First Lady Hillary richtete. Seither haben sich die Methoden aber erheblich verschärft, insbesondere seit der Wahl 2016 und dem Vorgehen von Donald Trump und seinen Helfershelfern.
In meiner ersten Wahlperiode in Washington gab es nur überschaubare Sicherheitsvorkehrungen im Kapitol. Personenschutz für einzelne Abgeordnete und Senatoren gab es praktisch nicht, auch nicht für hochrangige Vertreter. Nach dem 11. September 2001 änderte sich das, und die Führungsebene von Repräsentantenhaus und Senat bekam, wie der Sprecher auch, eigene Personenschützer. Einzelne Abgeordnete oder Senatoren, die gezielte Drohungen erhalten, können ebenfalls zeitweilig Personenschutz bekommen. Häufig muss die Kapitolpolizei mit der örtlichen Polizei im Wahlkreis eines Abgeordneten zusammenarbeiten. Während der Debatte um die neuen Gesetze zur Gesundheitsversorgung erhielt beispielsweise ein Drittel bis die Hälfte der Demokratischen Abgeordneten Drohungen, und manche von ihnen brauchten Polizeischutz vor Ort, wenn sie Bürgersprechstunden zu diesen Gesetzen abhielten.