Yoko - David Sheff - E-Book

Yoko E-Book

David Sheff

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Beschreibung

»Jeder kennt ihren Namen, aber niemand weiß, was sie wirklich macht.« John Lennon

Yoko Onos (geb. 1933) Leben ist eine erstaunliche Reise. Es spannt den Bogen von ihrer Geburt als Tochter wohlhabender Eltern im Tokio der Vorkriegszeit über ihre erschütternden Erfahrungen als Kind während des 2. Weltkriegs bis hin zu ihrer Ankunft in der Avantgarde-Kunstszene in London, Tokio und New York. Yoko taucht tief ein in ihre Kunst, ihre Musik, kämpft für Feminismus und Frieden. Als Ehefrau von John Lennon wird sie zur öffentlichen Zielscheibe: viele Fans machten sie für das Ende der Beatles verantwortlich. Heute gilt sie als bahnbrechende Künstlerin mit Soloausstellungen in den führenden Museen der Welt.

1980 lernte David Sheff Yoko und John kennen, als er wenige Monate vor dessen gewaltsamen Tod ein ausführliches Interview mit den beiden führte. Nach dem Mord blieben Sheff und Yoko in Kontakt, während sie ihr Leben neu aufbaute, Drohungen und Verrat überlebte und weiter innovative und couragierte Kunst und Musik schuf, sich politisch engagierte. Basierend auf seinen Erfahrungen und Interviews mit ihr, ihrer Familie, ihren engsten Freunden, Mitarbeitern und vielen anderen gewährt uns Sheff einen sehr persönlichen Blick auf ein fast ein Jahrhundert umfassendes, höchst ungewöhnliches und bemerkenswertes Leben.

Die große Yoko Ono-Ausstellung »Music of the Mind« kommt im April nach Deutschland: 11.4. bis 31.8.2025, Berlin, Gropius Bau.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Yoko Onos Leben ist eine erstaunliche Reise. Es spannt den Bogen von ihrer Geburt als Tochter wohlhabender Eltern 1933 im Tokio der Vorkriegszeit über ihre erschütternden Erfahrungen als Kind während des Zweiten Weltkriegs bis hin zu ihrer Ankunft in der Avantgarde-Kunstszene in London, Tokio und New York. Yoko taucht tief ein in ihre Kunst, ihre Musik, kämpft für Feminismus und Frieden. Als Ehefrau von John Lennon wird sie zur öffentlichen Zielscheibe: Viele Fans machten sie für das Ende der Beatles verantwortlich. Heute gilt sie als bahnbrechende Künstlerin mit Soloausstellungen in den führenden Museen der Welt.

1980 lernte David Sheff Yoko und John kennen, als er wenige Monate vor dessen gewaltsamen Tod ein ausführliches Interview mit den beiden führte. Nach dem tödlichen Attentat blieben Sheff und Yoko Ono in Kontakt, während sie ihr Leben neu aufbaute, Drohungen und Verrat überlebte und weiter innovative und couragierte Kunst und Musik schuf, sich politisch engagierte. Basierend auf seinen Begegnungen und Interviews mit ihr, ihrer Familie, ihren engsten Freunden, Mitarbeitern und vielen anderen gewährt uns Sheff einen sehr persönlichen Blick auf ein fast ein Jahrhundert umfassendes, höchst ungewöhnliches und bemerkenswertes Leben.

DAVIDSHEFF ist international erfolgreicher Bestsellerautor (u. a. New York Times-Nummer-1-Bestseller Beautiful Boy, verfilmt mit Steve Carell und Timothée Chalamet). Seine journalistischen Arbeiten sind u. a. in der New York Times, Outside, Rolling Stone, Wired und Fortune erschienen. Erstmals begegnete er Yoko Ono 1980 anlässlich eines Interviews mit ihr und John Lennon kurz vor dessen Tod.

DAVID SHEFF

YOKO

DIE BIOGRAFIE

Aus dem amerikanischen Englischvon Conny Lösch und Henning Dedekind

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »YOKO« bei Simon & Schuster, New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2025 by David Sheff

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Covergestaltung: semper smile, München, nach einer Vorlage

von Jackie Seow und unter Verwendung von Bildmaterial

von Getty Images (The Estate of David Gahr)

Umschlagmotiv: David Gahr

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29010-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

RECHTEHINWEISE

Der Autor möchte sich bei den Künstler*innen und Rechteinhaber*innen von Songtexten, Büchern, Gedichten, anderen Schriften und Fotos für die Erlaubnis bedanken, urheberrechtlich geschützte Werke in diesem Buch zu verwenden. Alle Rechte bleiben den Urheberrechtsinhabern folgender Werke vorbehalten:

Auszüge aus Songtexten von Yoko Ono, Copyright © Yoko Ono. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus Büchern, Gedichten und anderen Schriften von Yoko Ono Copyright © Yoko Ono. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Fotos aus der Sammlung von Yoko Ono, Copyright © Yoko Ono. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus den Songs »Cold Turkey«, »Beautiful Boy (Darling Boy)«, »Dear Yoko« und »Oh Yoko!«, von John Lennon, Copyright © Lenono Music. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus dem Song »Imagine« von Yoko Ono und John Lennon, Copyright © Lenono Music. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Fotos von Bob Gruen, Copyright © Bob Gruen. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus »The Playboy Interview with John Lennon and Yoko Ono« aus Playboy. Copyright © 1981 Playboy. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus »The Betrayal of John Lennon«, aus Playboy. Copyright © 1984 Playboy. Verwendung mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Auszüge aus All We Are Saying: The Last Major Interview with John Lennon and Yoko (New York: St. Martin’s Griffin, 2000 und 2020). Interview Copyright © 1981 Playboy. Einleitung Copyright © 2020 David Sheff. Prolog Copyright 2000 David Sheff.

ANMERKUNG DES AUTORS

Teile dieses Buchs sind bereits in von mir allein oder gemeinsam mit anderen verfassten Zeitschriftenartikeln erschienen, darunter »The Playboy Interview with John Lennon and Yoko Ono«, »The Betrayal of John Lennon«, »The Night Steve Jobs Met Andy Warhol«, »Yoko Ono: How She Is Holding Up«, sowie meinem Buch All We Are Saying: The Last Major Interview With John Lennon and Yoko Ono.

Im Lauf der Jahre habe ich zahlreiche mehrstündige Interviews mit Yoko für diese und andere Projekte geführt und mich darüber hinaus unzählige Stunden mit ihr über ihr Leben und ihre Arbeit unterhalten. Sofern in diesem Buch keine andere Quelle für Zitate von Yoko angegeben werden, gehen sie auf unsere Gespräche zurück.

Manche Zitate wurden zur Verdeutlichung gekürzt oder komprimiert, einige Interviews mit Yoko, John und anderen redigiert und verdichtet.

Für Kyoko Ono und Sean Ono Lennon

INHALT

Anmerkung des Autors

PROLOG

Cut Piece

EINLEITUNG

Ocean Child

ERSTERTEILAbove Us Only Sky

Zweiter Teil The Ballad of Yoko and John

DRITTERTEILYoko Only

EPILOG

Everything in the universe is unfinished

Dank

Bildteil

Personenregister

Anmerkungen

PROLOG

Cut Piece

AMABENDDES 21. MÄRZ 1965 war die New Yorker Carnegie Recital Hall bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum hatte sich zu einer Aufführung der Künstlerin Yoko Ono, eines aufstrebenden Stars der internationalen Avantgarde- und Musikszene, zusammengefunden.

Yoko betrat die Bühne und ließ sich im Seiza nieder, das heißt auf den Fersen kniend, den Oberkörper gerade aufgerichtet. Seiza – »richtiges Sitzen« – ist die formelle Sitzhaltung in Japan. Sie signalisiert Respekt.

Yoko war zweiunddreißig Jahre alt, hatte die langen schwarzen Haare seitlich gescheitelt und zu einem tief sitzenden Knoten zurückgebunden. Sie war vollständig schwarz gekleidet. Die Bühne war leer, abgesehen von einer Schere auf dem Boden direkt vor der Künstlerin.

Yoko führte ein Werk mit dem Titel »Cut Piece« auf. Das Publikum wurde aufgefordert, jeweils nacheinander die Bühne zu betreten und ein Stück aus ihrer Kleidung herauszuschneiden. Zunächst waren die Teilnehmenden, die sich Yoko näherten und mit der Schere an ihr zu schaffen machten, zurückhaltend und höflich. Sie schnitten Stoffteile aus den Ärmeln, dem Kragen und dem Saum des Oberteils und des Rocks.

Laut der damals anwesenden Künstlerin und Filmemacherin Eleanor Antin veränderte sich aber »die Stimmung (…), wurde düster und unangenehm, als mehrere junge Männer nacheinander … große Stücke aus ihrem Rock und ihrem Oberteil schnitten, sodass ihr BH zum Vorschein kam. Anschließend stellten sie sich sofort wieder in die Schlange. Dabei lachten sie die ganze Zeit. Ich erinnere mich, dass [die Künstlerin] Carolee Schneemann auf einen von ihnen zutrat und ihm eine Ohrfeige gab, was ihn nicht im Geringsten aus der Ruhe brachte. Er hatte es auf Yoko abgesehen – das dargebotene Opfer.«[1]

Ein Mann näherte sich Yoko, beugte sich über sie und überlegte, wo er schneiden sollte. »Ganz schön heikel«, sagte er. »Kann eine Weile dauern.«[2] Nachdem er erst ihr Unterkleid zerschnitten und ihren BH fast vollständig freigelegt hatte, zerschnitt er auch noch dessen Träger. Jemand im Publikum sagte: »Jetzt übertreibt er’s aber.« Eine Frau rief: »Du liebe Güte, du bist so widerlich!« Man sah Yoko ihre Beklemmung an.

Antin erinnerte sich: »Yoko gab kaum merklich ein Zeichen zur Bühnenseite, woraufhin sich der Vorhang sofort schloss, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Brüste bloßgelegt werden konnten. Das Stück war vorüber.«[3]

BEIDERERSTENAUFFÜHRUNGvon »Cut Piece« in Kyoto 1964 hatte ein Mann so getan, als wollte er Yoko erstechen. Im Jahr nach der New Yorker Aufführung performte sie das Stück in London, wo eine Gruppe von Männern die Bühne stürmte und ihr innerhalb weniger Minuten erst das Kleid, dann die Unterwäsche vom Körper schnitten, sodass sie nackt war.

Schneemann merkte später an: »Das war ein äußerst gefährliches Stück, besonders zu dem Zeitpunkt, als es stattfand, weil es damals überhaupt kein Gespür für feministische Ansätze oder Grenzen gab … damals lag etwas Böses in der Luft und sie provozierte diese sehr finsteren Impulse aus einer sehr angreifbaren Position heraus – das hat das Stück so unbestreitbar stark gemacht.«[4]

2020, über ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung von »Cut Piece«, erklärte die New York Times das Stück zu einem der »fünfundzwanzig einflussreichsten Werke der amerikanischen Protestkunst nach dem Zweiten Weltkrieg«.[5]

WIE »CUTPIECE« BERUHENviele Werke Yokos auf poetischen Handlungsanweisungen. Manchmal wurden diese von ihr selbst ausgeführt, im Prinzip aber konnten ihre »unfertigen Stücke« (»unfinished pieces«) von jedem umgesetzt werden, und einige, wie eben »Cut Piece«, verlangten sogar die Mitwirkung von Zuschauern oder Zuhörern. Mit der an das Publikum gerichteten Aufforderung, am Entstehungsprozess des Kunstwerks teilzunehmen, wurde die Vorstellung von Kunst an sich grundsätzlich hinterfragt. Zu jener Zeit präsentierten Künstler*innen in allen Bereichen unfertige Arbeiten, von Bildern, Objekten, Theaterstücken, Gedichten bis hin zu Symphonien, Yokos Partituren aber verlangten vom Publikum häufig, durch tatsächlich ausgeführte oder geistige Handlungen fertiggestellt zu werden.

Bei »Fly Piece«, das aus nur einem einzigen Wort als Anweisung bestand, »Fly«, stand dem Betrachter frei, auf die Bühne zu treten und zu »fliegen«, indem er von einer Leiter sprang, oder sich das Fliegen einfach nur vorzustellen. Bei »Whisper Piece«, einem Werk über die Fragilität menschlicher Kommunikation, spielte das Publikum »Stille Post«. Bei »Bag Piece« wurden die Teilnehmenden aufgefordert, in einen Stoffsack zu steigen, in dem sie machen konnten, was sie wollten – sich ausziehen, tanzen, meditieren, ein Schläfchen halten. Laut Yoko bedeutete dies: »Wir stecken alle in einem Sack. Es geht aber um die Konturen des Sacks, seine Bewegung: Wie viel sehen wir von einer Person? Im Inneren könnte sich eine ganze Menge abspielen. Vielleicht spielt sich aber auch gar nichts ab.«[6] »Earth Piece«, das Yoko 1963 geschaffen hatte, bestand aus einer vermeintlich einfachen Anweisung: »Lausche dem Geräusch der sich drehenden Erde.« Ich möchte Sie auffordern, es jetzt zu versuchen. Legen Sie dieses Buch beiseite und erleben Sie eine Komposition von Yoko Ono: Lauschen Sie der sich drehenden Erde.

Die Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson erklärte: »Yoko hatte die revolutionäre Vorstellung, dass Kunst sich vor allem im Kopf abspielt, dort manifestiert sich ihr Werk.«[7] Der Kunsthistoriker und Kurator Reiko Tomii zu Yoko Ono: »Als Konzeptkünstlerin hat sie gesagt, ›man braucht kein Objekt und kein Material, um Kunst zu schaffen. Im Prinzip braucht man nicht mehr als den eigenen Verstand. Man kann ein Gemälde im Kopf konstruieren. Man kann mit dem eigenen Verstand ein Ereignis schaffen.‹«[8] Das war ein neues Konzept dessen, was Kunst sein und wer sie erschaffen konnte.

YOKOSCHUFIHREersten Imagination-Übungen mit zwanzig Jahren, aber eigentlich reichen deren Ursprünge zurück in ihre Kindheit. Sie kam in Tokio als Tochter der Yasuda-Dynastie zur Welt. Die Yasudas gehörten zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Familien der japanischen Geschäftswelt. Als Kind genoss sie außerordentliche Privilegien – Dienstboten, Eliteschulen, prächtige Sommer- und Winterresidenzen –, bis der Krieg alldem ein Ende bereitete.

In der Nacht des 9. März 1945, Yoko war zwölf Jahre alt, warfen die Vereinigten Staaten 1665 Tonnen Brandbomben über Tokio ab. Die Stadt brannte zu großen Teilen nieder, mindestens hunderttausend Menschen kamen dabei ums Leben. Yokos Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt in Hanoi. Ihre Mutter und ihre Geschwister hatten sich in einen Luftschutzraum im Garten ihres Anwesens geflüchtet, aber Yoko lag mit Fieber im Bett und konnte ihr Zimmer nicht verlassen.[9] Sie sah die Bomben fallen – hörte das Pfeifen, die Explosionen, spürte die Erde beben – und sah die Stadt brennen.

Yokos Mutter entschied daraufhin, ihre Kinder in ein Bauerndorf in der Präfektur Nagano zu evakuieren, wo sie ein kleines Haus gekauft hatte. Das Haus war noch nicht fertig, das Dach noch nicht vollständig gedeckt. Geld war wertlos und Lebensmittel knapp.

In Nagano fühlte sich Yoko für ihren jüngeren Bruder Keisuke – Kei – verantwortlich. »Wir hatten Hunger, mein Bruder sah sehr traurig aus. Ich weiß noch, dass ich dachte: ›Warum stellen wir uns nicht was zu essen vor, das uns gute Laune macht?‹«[10] Yoko sagte zu Kei: »Wie wär’s, wenn wir mit Eiscreme anfangen?« Sie erzählte: »Wir lagen auf dem Rücken, blickten durch das Loch im Dach in den Himmel und tauschten imaginäre Menüfolgen aus, nutzten unsere Fantasie, um zu überleben.«[11]

»Wir dachten uns Menüs aus; malten uns Essen aus«, sagte Kei. »Das war das erste konzeptuelle Kunstwerk meiner Schwester.«[12]

»CUTPIECE« HATTEin den Augen unterschiedlicher Personen unterschiedliche Bedeutungen. Viele betrachteten es als feministisches Werk über die Verletzbarkeit von Frauen und die Gewalt, der sie ausgesetzt sind.

Die Kritikerin Zoë Lescaze erklärt: »›Cut Piece‹ ging als eines der bis heute beunruhigendsten und faszinierendsten Werke feministischer Kunst in den Kanon ein, es vermittelt sehr ausdrucksstark eine Erfahrung, die vielen Frauen vertraut ist – in einem Körper zu stecken, an den Hand anzulegen sich jeder berechtigt fühlt.«[13]

Yoko allerdings wollte sich nie auf eine Bedeutung von »Cut Piece« festlegen lassen. Für sie war es ein Werk, das zum Inhalt hatte, was der Betrachter daraus machte. Genau darum ging es bei ihrer unfertigen Kunst. Sie schuf die Arbeiten, aber es blieb dem Publikum überlassen, sie umzusetzen. Im Moment der Aufführung gab sie ihr Werk ab, überließ es anderen, genauso wie sie in »Cut Piece« anderen ihre Kleidung überließ. Das Werk wurde zum Eigentum desjenigen, der es annahm, und der neue Besitzer schrieb ihm Bedeutung zu (oder auch nicht).

Dennoch hat Yoko im Lauf der Jahre »Cut Piece« auch als spirituellen Akt über die Macht des Loslassens beschrieben, inspiriert von einer Geschichte über einen wiedergeborenen Buddha, der alle seine Besitztümer fortgab und erleuchtet wurde. Dann wieder erklärte sie, es ginge um Verletzlichkeit, Vertrauen und einen Friedensappell. Über die Erfahrung, das Werk aufzuführen, schrieb sie: »Ich hatte ein Gefühl, als würde ich beten. Auch dass ich mich bereitwillig opfere.«[14] Und ein anderes Mal meinte sie: »Wenn ich ›Cut Piece‹ aufführe, begebe ich mich in eine Trance, dann ist meine Angst nicht so groß.«[15] Sie gestand aber auch, dass sie trotz ihres herausfordernden Gleichmuts manchmal am ganzen Körper gebebt habe. Das Publikum merkte ihr die Angst nicht an; Yoko war geübt darin, sie zu verinnerlichen und Zuversicht auszustrahlen, so wie sie es schon als Kind getan hatte, als sie im Bett lag und durch ihr Fenster Tokio brennen sah.

EINLEITUNG

Ocean Child

TAUSENDEVONBÜCHERNund Artikeln wurden über John Lennon und die Beatles geschrieben, aber in den meisten taucht Yoko Ono nur als Karikatur auf, als Kuriosum oder gar als das Böse schlechthin – als undurchsichtige Verführerin, manipulative Hochstaplerin oder jaulende Betrügerin, die Lennon verhext hat und schuld ist an der Auflösung der großartigsten Band aller Zeiten. Die Geschichte von Lennon und den Beatles ist eine der großartigsten überhaupt, allerdings blieb Yokos Anteil daran im raumgreifenden Schatten der Band verborgen, verdeckt von unverhohlener Frauenfeindlichkeit und Rassismus.

Als Yoko John begegnete, befand er sich auf dem Höhepunkt seines beispiellosen Ruhms. John hatte einmal flapsig bemerkt, die Beatles seien populärer als Jesus. Das kann man getrost als nur leicht übertrieben bezeichnen.

Als John Yoko begegnete, hatte auch sie bereits ein gewisses Maß an Berühmtheit erlangt, wenn auch überschaubar im Vergleich zu dem Lennons, und stieg nun innerhalb der internationalen Avantgarde-Kunst auf. Sie wurde zu einer Hälfte von »John und Yoko«, dem berühmtesten Paar der Welt – Musiker*in, Künstler*in und Pazifist*in –, »der wundersame, geheimnisvolle Prinz des Rock ’n’ Roll … und die komische Asiatin«[1], beschrieb Lennon die öffentliche Wahrnehmung von sich und seiner »besseren Hälfte«.

Sie wurde von Anfang an verteufelt. Beatles-Fans hielten Mahnwachen vor dem Apple-Gebäude in London, dem Hauptquartier der Beatles, und sobald Yoko auftauchte, brüllten die fanatischen Fans, sie solle gefälligst in ihr eigenes Land zurückkehren. Sie wurde als »hässliche Japse« verunglimpft.[2]

Ständig wurde sie mit rassistischen und sexistischen Kommentaren konfrontiert: seitens der Presse, der Fans, des Umfelds der Beatles und der Beatles selbst. Der Musiker und Künstler Klaus Voormann, ein Freund und Wegbegleiter der Band, sagte, »die Männer, die sich von ihr bedroht fühlten, bezeichneten Yoko als bitch – und fühlten sich allesamt von ihr bedroht.«[3] John nahm Yoko mit ins Aufnahmestudio, wenn die Beatles dort arbeiteten, und Paul McCartney räumte 2021 im Interview mit Terry Gross ein: »Wir waren überhaupt nicht scharf darauf, fragten uns: ›Wer ist das? Und wieso sitzt die auf meinem Verstärker?‹«[4] Anfang der Siebzigerjahre war Yoko laut dem amerikanischen Talkshow-Moderator Dick Cavett, »eine der umstrittensten Frauen seit Wallis Simpson, der Herzogin von Windsor«.[5] Der Journalist Ray Connolly griff jüngst noch einmal die Analogie zum Buckingham Palace auf: »Wie mit Meghan Markle umgesprungen wurde, als sie und Prinz Harry ein Paar wurden, war nichts im Vergleich zu dem Hass, den Yoko erfuhr, als sie mit John zusammenkam.«[6]

Dabei wurden ihr Leben und ihre Arbeit als unwichtig erachtet; abgesehen von dem Einfluss, den sie auf Lennon und seine Band hatte, galt sie als bedeutungslos. Die Vorstellung, die die meisten von ihr haben, fußt auf den viel bemühten, sensationslüsternen und frei erfundenen Versionen der Geschichte, die mit Yokos und Johns Kennenlernen begann und mit Johns Ermordung endete – einem Zeitraum von gerade einmal vierzehn Jahren in einem inzwischen über neunzig Jahre währenden Leben.

Yokos Geschichte beginnt in Tokio. Als Kind genoss sie materielle Privilegien, litt aber unter emotionaler Vernachlässigung; ihre Eltern begegneten ihr distanziert und abweisend. Nicht nur, dass sie nicht für ihre Tochter da waren, sie isolierten sie auch von anderen Kindern. Man brachte ihr bei, sie sei besser als diese und die anderen wollen sie ausnutzen. Yoko sehnte sich nach Liebe und Anschluss, doch in ihrer Kindheit und Jugend wurden ihre Bedürfnisse nicht befriedigt. Als Reaktion darauf errichtete sie Schutzwälle zwischen sich und anderen. Ihre Zurückhaltung wurde mit zunehmendem Alter häufig als Arroganz wahrgenommen, doch verbargen sich eine tiefe Sehnsucht und Traurigkeit dahinter.

Yokos privates und kreatives Leben war größtenteils eine direkte Reaktion auf die Vernachlässigung durch ihre Eltern und verschiedene Traumata, die sie in jungen Jahren erlitt. Als 1941 der Krieg ausbrach, war sie acht Jahre alt. Mit zwölf erlebte sie die Schrecken der Bombennacht in Tokio, anschließend wurde sie aus der Hauptstadt in ein Dorf evakuiert, wo sie um Lebensmittel betteln musste. Als sie nach Tokio zurückkehrte, lag die Stadt in Trümmern.

Yoko wuchs in Japan und Amerika auf, zwischen zwei Stühlen, und fühlte sich sowohl in Asien wie auch im Westen fremd. Als Jugendliche besuchte sie exklusive Junior und Senior Highschools. Sie zeigte überragende Leistungen, war aber ängstlich, depressiv und einsam. Als Teenager unternahm sie einen Selbstmordversuch und fand schließlich Zuflucht in ihrer Vorstellungswelt und der Kunst.

Sie besuchte Colleges in Tokio und in New York, brach ihr Studium aber beide Male ab. Anschließend zog sie ins New Yorker Greenwich Village, wo sie zu revolutionären Umwälzungen in der Kunstproduktion und künstlerischen Denkweisen beitrug. »Sie wollte sich nie auf eine einzelne Kunstform begrenzen lassen«, sagt der Kurator, Kritiker und Kunsthistoriker Hans Ulrich Obrist. »Sie ist Malerin, Poetin, Bildhauerin, Filmemacherin, Architektin und Autorin, was dazu führte, dass sie in keiner dieser Sphären akzeptiert wurde. Selbst innerhalb der Avantgarde gab es Widerstände.«[7]

Auch als Sängerin spaltete sie, indem sie ihre Stimme als Klageinstrument verwendete – misstönend, heulend, kreischend, bis in die Tiefen des Schmerzes und in ekstatische Höhen hinauf, womit sie Fans für sich gewann, gleichzeitig aber auch viel Häme erntete.

Nach ersten gescheiterten Versuchen, ein Publikum zu finden (und einem weiteren Selbstmordversuch), fand ihre Kunst Anerkennung in New York und London, wo sie 1966 John Lennon begegnete. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit, dennoch war sie die Künstlerin, deren Werk er sich ansehen wollte. »Ich hatte von diesem ›Ereignis‹ gehört, einer japanischen Avantgarde-Künstlerin aus Amerika«, sagte er. »Sie war brandaktuell. Irgendwas mit schwarzen Säcken, und ich dachte, es ginge irgendwie um Sex: pseudokünstlerische Orgien. Super! Auf jeden Fall war es abgefahren, wenn auch nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte.«[8]

YOKOSARBEITENPROVOZIERTENbewusst, und ein Publikum, das sich gerne provozieren ließ, fand das ebenso aufregend wie Lennon. Der Mainstream aber, der jetzt über die Beatles mit ihr in Berührung kam, reagierte zutiefst empört. In dem Jahr, als Yoko und John sich zum ersten Mal begegneten, waren die Beatles mit Popsongs wie »Paperback Writer« und »Yellow Submarine« in den Charts; Yoko dagegen klagte und stöhnte auf der Bühne und ließ Leute in Säcke steigen. Sie veröffentlichte einen Film mit dem Titel No. 4 (Bottoms), der ausschließlich aus Aufnahmen nackter Pobacken bestand.

John, dem es zu der Zeit nicht gut ging – er fühlte sich als Beatle in die Enge getrieben und steckte in einer unglücklichen Ehe –, war von der Leichtigkeit und dem Humor in Yokos Arbeiten verzaubert, gerührt von deren Pathos. Er sagte einmal, Yoko drücke sich so effektvoll aus – so rein –, dass es für viele Menschen unerträglich sei. »Deshalb haben sie auch van Gogh nicht ausgehalten«, sagte er, »das ist zu real, es tut weh.«[9]

Die beiden verliebten sich, und John wurde ihr größter Verbündeter, Freund und Kollaborateur. Yoko hatte das Gefühl, ihre andere Hälfte gefunden zu haben, was sie auf eine Form von Glück hoffen ließ, das sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie hatte nie zuvor eine solche Liebe und eine solche Verbindung gespürt wie zu John. Bei ihm fühlte sie sich sicher; es war eine Atempause von Schmerz und Einsamkeit. Allerdings hatte sie nicht mit den Angriffen durch die Presse und die Öffentlichkeit gerechnet. Als die Beatles sich auflösten, gab man ihr die Schuld daran und beschimpfte sie.

Verletzt durch die öffentliche Ablehnung, widmete sich Yoko dem, was ihr am wichtigsten war: Kunst, Musik, Aktivismus – und ihrem Mann. Es folgten mehr als zehn Jahre der künstlerischen Arbeit und Zusammenarbeit. Yokos Auffassungen von Wunscherfüllung und Positivität finden sich in ihren Soloarbeiten ebenso wie in der Zusammenarbeit mit John. Die Songs »Imagine« und »Give Peace a Chance« lassen sich auf ihre Kunst und Denkweise zurückführen. Ihre Gedanken über Kunst und Aktivismus wurden zur Grundlage zahlreicher Friedenskampagnen. John sagte über die berühmten Bed-ins der beiden: »Die eigentliche Friedensaktion, die wir inszeniert haben, kam direkt von Yoko.«[10]

Sie arbeiteten gemeinsam an witzigen, tiefgründigen und inspirierenden Veranstaltungen, an Musik, Kunst und politischen Aktionen – häufig handelte es sich um Mischformen verschiedener Disziplinen –, und Yoko und John wurden das wohl berühmteste Paar der Welt. Dann trennten sie sich für eine Weile, eine Zeit, die John als sein »lost weekend«, bezeichnete, kamen aber wieder zusammen und waren einander danach enger verbunden denn je. 1975 kam Sean Taro Ono Lennon zur Welt, Yokos und Johns gemeinsames Kind. In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre war Yoko so zufrieden wie nie zuvor in ihrem Leben.

Dann kam das Attentat, das die Welt erschütterte. Der Working Class Hero war tot. Yoko war an der Seite ihres geliebten Mannes gewesen, als es passierte, und sie war am Boden zerstört.

Der Mord zeigte ihr, dass sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte: Die Welt war ein höchst unsicherer Ort.

Und das war nur der Anfang des großen Traumas. Nach Johns Tod wurde sie hintergangen, beraubt, erpresst und mit dem Tod bedroht. Eine Freundin, die Journalistin Barbara Graustark, die Yoko und John erstmals 1980 für die Newsweek interviewt und später in der New York Times Geschichten über Yoko veröffentlicht hatte, sagte: »Da war ganz stark das Bedürfnis, als Künstlerin weitermachen zu wollen, mit Sean weitermachen zu wollen, aber sie musste sich ständig fragen: ›Bist du als Nächste dran? Hat es jemand auf dich abgesehen?‹«[11]

Selbst inmitten dieses Trommelfeuers hörte Yoko nie auf zu arbeiten. Nach Johns Tod widmete sie sich bemerkenswert erfolgreich der Aufgabe, das Vermächtnis ihres Mannes zu schützen und seine Bedeutung zu bewahren. Und obwohl ihre künstlerischen Unternehmungen immer wieder durch ihre Beziehung zu dem ermordeten Idol in den Hintergrund gerieten, trat sie in eine neue Phase der künstlerischen Soloarbeit. Der Mythos von der Frau, die die Beatles auseinandergebracht hatte, hielt sich hartnäckig. Doch allmählich bildete sich parallel eine andere Sichtweise heraus, ein Korrektiv des abgedroschenen sexistischen Narrativs.

Eine lange und vielfältige Reihe von Künstler*innen, Musiker*innen, Kritiker*innen und Historiker*innen erkannten Yoko als Pionierin an. Die Neueinschätzung begann in der Kunstszene. Seit dem Jahr 2000 wurden in vielen der wichtigsten Museen der Welt Retrospektiven ihrer Arbeit gezeigt. Auf der Biennale in Venedig 2009 erhielt sie den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk. Anlässlich ihrer Ausstellung 2014 im Guggenheim-Museum Bilbao stellte der Kunstkritiker Jonathan Jones die rhetorische Frage: »Gibt es einen Stil in der zeitgenössischen Kunst, dessen Wegbereiterin sie nicht war?«[12] Die bis dato umfassendste Retrospektive Yoko Ono: Music of the Mind wurde 2024 in der Londoner Tate Modern eröffnet – Yoko war zu diesem Zeitpunkt einundneunzig Jahre alt. Die Besprechung in der Financial Times war überschrieben mit: »Die Konzeptkunst-Pionierin kommt zu ihrem Recht.«[13]

Auch Yokos Musik erfuhr eine Neubewertung. Wiederveröffentlichungen ihrer frühen Alben, die bis dahin weitgehend ignoriert oder verrissen worden waren, erhielten plötzlich Lob. Eine Reihe sehr unterschiedlicher Musiker*innen priesen sie. Kurt Cobain bezeichnete sie als »erste Punk-Rockerin«.[14] Pete Townshend meinte gar, »sie war eine der ersten Kunstterroristen, die ein tiefes Moralempfinden mit Konfrontation und Schock verbanden«.[15] 2020 ließ sich Popstar Miley Cyrus eine handschriftliche Nachricht von Yoko mitsamt deren Unterschrift auf die Schulter tätowieren.[16] Kim Gordon brachte es schließlich auf den Punkt: »Yoko ist bis heute eine der radikalsten Musikerinnen. Und ihrer Zeit unglaublich weit voraus.«[17]

In den Nullerjahren liefen Remixe von Yokos Songs in Clubs und Bars auf der ganzen Welt rauf und runter, und nachdem zwölf ihrer Platten die Spitze der Billboard Dance Club Charts erreicht hatten, kürte die New York Times Yoko zur »Neo-disco Queen«.[18] (Sie würde insgesamt dreizehn Nummer-1-Dance-Hits haben.)

Gleichzeitig schuf sie beständig neue Musik, arbeitete mit innovativen Künstler*innen zusammen. Musiker*innen wie Kim Gordon, Patti Smith, Thurston Moore, Laurie Anderson, Lady Gaga und RZA erkannten sie als wichtigen Einfluss an. David Byrne sagte: »Alle haben nur auf die Beatles geblickt, aber da draußen am Rand der experimentellen Musik hat Yoko – neben John Cage und solchen Leuten – eine neue Musik geschaffen: wunderschöne, ätherische Songs, ebenso wie erbitterte, mit denen sie Krieg und Unmenschlichkeit anprangerte.«[19]

Auch ihr lebenslanges politisches Engagement wird inzwischen anders betrachtet. Als einflussreiche Aktivistin setzte sie sich ein gegen Waffengewalt, Hunger, für die Abschaffung von Atomwaffen sowie die Aufarbeitung und Beendigung von Gewalt gegen Frauen. Sie kämpfte für eine erhöhte Aufmerksamkeit und bessere Behandlungsmöglichkeiten in Zusammenhang mit Aids und anderen Krankheiten. Sie war eine leidenschaftliche Umweltschützerin, die die Natur feiert. Hauptsächlich aber war sie bekannt für ihren Einsatz für den Frieden, dessen Fürsprecherin sie seit über einem halben Jahrhundert war und dem sie Performances, Songs, Plakate, Plakatkampagnen, Filme, Installationen, Protestaktionen und Schriften gewidmet hat. Rich Thomas schrieb in der Zeitschrift Magnetic: »Vor Bono war Ono.«[20]

Yoko wurde außerdem als Pionierin des Feminismus anerkannt. Sie schuf aufrührerische feministische Kunst, darunter umstrittene Arbeiten wie »Cut Piece«, den Film »Fly« und »Arising«, eine interaktive Arbeit, mit der sie Frauen weltweit aufforderte, Berichte über erfahrenes Leid beizusteuern. Ihre Songs »Woman Power«, »Sisters, O Sisters« und »Angry Young Woman« wurden zu feministischen Hymnen. Die Befreiung der Frau war Thema ihres Albums Feeling the Space. Über Jahrzehnte inspirierte sie unzählige Frauen. Cyndi Lauper sagte, als sie sechzehn war, habe Yoko ihr die Augen darüber geöffnet, wie in der Gesellschaft mit Frauen umgegangen wird. »Sie ist ausgebrochen aus den verfluchten Vorstellungen dessen, was eine Künstlerin ist und wie eine Frau zu sein hat. Sie war sexy, sagte ungehemmt ihre Meinung, und sie war wild. Durch sie habe ich gelernt, mir nicht mehr von anderen anzuhören: Jemand muss kommen und sich um dich kümmern. Sie hat mir gesagt, dass es okay ist, so zu sein, wie man ist – wer ich war.«[21]

Endlich veränderte sich auch die Sichtweise auf Yoko als Intellektuelle. Als ich John 1980 interviewte, sagte er: »Sie ist die Lehrerin, und ich bin der Schüler. Ich bin der berühmte Typ, der angeblich alles weiß, aber sie ist meine Lehrerin. Sie hat mir alles beigebracht, was ich verdammt noch mal weiß.«[22] Immer mehr Menschen begannen sie für das zu schätzen, was John als ihre »Klugheit aus einer anderen Welt« bezeichnete. »Yoko kommt von einer Mischung aus westlichem und fernöstlichem Postmystizismus.«

DJ Spooky – Paul D. Miller – erklärte: »Sie ist eine Schamanin. Schamanen waren transzendente Personen, die einen durch eine Erfahrung leiten konnten. So betrachte ich sie.«[23]

Yoko hat viel erlitten, aber auch große Freude erlebt. Sie präsentierte ihre Arbeit in der Absicht, inspirierend und heilend zu wirken. Sie verband Kunst mit Aktivismus, forderte jeden Einzelnen auf, persönlich Verantwortung für den Weltfrieden zu übernehmen. Ihre Botschaft war eindeutig und konsequent: Menschliches Leid ist universal, aber wir sind widerstandsfähig. Zusammen können wir die Welt verändern.

1980 – ICHWARVIERUNDZWANZIGund angehender Journalist – gelang es mir, einen heiß begehrten Auftrag an Land zu ziehen: Ich sollte Yoko und John für den Playboy interviewen. Ich musste sie vorher nur dazu bringen, sich damit einverstanden zu erklären. Auf meine Anfrage per Telegramm hin rief Yokos Assistent an und fragte mich, wann und wo ich geboren sei. Anscheinend hing das Interview von Yokos Deutung meiner astrologischen und numerologischen Daten ab.

Offenbar stand unser Interview unter einem guten Stern. Am nächsten Tag rief der Assistent an und teilte mir mit, Yoko ziehe meine Anfrage in Betracht und wolle mich treffen. Und so flog ich von Los Angeles nach New York, wurde wie angewiesen im Dakota auf der Upper West Side vorstellig.

Das vielgeschossige, im neogotischen Stil erbaute Dakota wurde so genannt, weil es bei seiner Errichtung Anfang der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts auf der Upper West Side im Verhältnis zur City weit abgelegen schien – so wie damals das Dakota-Territorium. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts war das Gebäude, das den Straßenzug von der Seventy-Second bis zur Seventy-Third Street am Central Park West beherrscht, vor allem wegen des Films Rosemary’s Baby von Roman Polanski und seiner prominenten Bewohner bekannt, unter anderem Lauren Bacall, Rudolf Nurejew, Leonard Bernstein und am berühmtesten von allen: Yoko und John, denen einige Apartments darin gehörten. Ihre Hauptwohnung befand sich im siebten Stock, zu erreichen in einem ächzenden alten Fahrstuhl mit einer unheilvollen Fratzenskulptur, die auf die Passagiere hinabblickte. Im ersten Stock befanden sich Yokos Büro, das sogenannte Studio One, sowie ein Apartment, das hauptsächlich als begehbarer Kleiderschrank diente. Elton John, ein Freund der beiden und Pate ihres Sohns Sean, schickte einmal eine Postkarte, um sie mit einem abgewandelten Text von »Imagine« aufzuziehen:

»Imagine six apartments

It isn’t hard to do

One is full of fur coats

Another’s full of shoes.«[24]

(»Stell dir sechs Apartments vor

Ist gar nicht schwer zu tun

Eins ist voller Pelzmäntel

Ein anderes voll mit Schuhen.«)

Nachdem ich die Rezeption des Gebäudes unten passiert hatte, fand ich mich in Studio One. Ich durchquerte das vorgelagerte Büro, vorbei an einer Wand aus Akten mit kryptischen Bezeichnungen – zum Beispiel APPLE, PALMBEACH und HOLSTEINCOWS –, die mit einer Bibliotheksleiter zu erreichen waren. Da waren Bücherregale, gerahmte Poster, Fotos und eine Uhr, die zehn Minuten nachging. Auf die entsprechende Aufforderung hin zog ich meine Schuhe aus und wurde anschließend in Yokos Büro geführt.

Yoko ist knapp ein Meter achtundfünfzig groß. »Es ist schön, sich klein zu halten«, schrieb sie einst, »wie ein Reiskorn … mach dich entbehrlich, wie Papier.«[25] Die schwarzen Haare hatte sie zurückgebunden. Selbst in dem sanften Licht trug sie eine dunkle Panoramabrille. Sie rauchte eine Nat Sherman. Das Erste, was sie sagte, war: »Deine Zahlen sind sehr stark.« Sie nahm einen Zug. »Sie passen gut zu Johns.« Ein Assistent brachte uns Kukicha, japanischen Roasted-Twig-Tee.

Ich betrachtete den Raum. Yokos innerstes Heiligtum war mit weißem Teppichboden ausgelegt, ein weißes Sofa, weiße Sessel und eine künstliche weiße Palme fanden sich darin. Es gab einen Schoji-Paravent und einen Flügel. Die Wände waren holzvertäfelt und mit Vitrinen versehen, in denen ägyptische Kunstgegenstände, ein grauer Schädel und ein goldener Brustharnisch ausgestellt waren. An der Wand hingen Porträts von John und Sean, beide mit schulterlangem Haar. Auf einem gläsernen Sofatisch mit schwarzem Metallgestell stand eine Schatulle aus Eichenholz, mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Jade verziert; eine goldene Schlange schlängelte sich an einer Querstange unter dem Tisch entlang. An die Trompe-l’Œil-Decke war ein Himmel gemalt.

Yoko erzählte mir von dem Projekt, an dem John und sie gerade arbeiteten: ein Album – wahrscheinlich sogar eher zwei –: »Ein Dialog zwischen uns, abwechselnde Songs, ein miteinander sprechendes Paar, das eine Geschichte erzählt.«

Ich beantwortete ihre Fragen zum Konzept meines Interviews. Um sie zu überzeugen, sich darauf einzulassen, brachte ich Yoko Ausgaben mit älteren Playboy-Interviews mit, zum Beispiel mit Martin Luther King jr., Albert Schweitzer, Bob Dylan und Präsident Jimmy Carter. Nachdem sie diese durchgeblättert hatte, erwiderte sie: »Leute wie Carter stehen nur für ihr Land. John und ich stehen für die Welt.«[26]

Yoko erklärte mir, mein Horoskop und Geburtsdatum ließen erkennen, dass dies eine sehr wichtige Zeit für mich sei, und sagte ihre Zusammenarbeit zu: »Dieses Interview wird mehr bedeuten, als du jetzt erfassen kannst.«[27] Dann entließ sie mich.

Wie verabredet, rief ich sie am nächsten Tag an. Sie bat mich, gegen Mittag ins Dakota zu kommen. Als ich dort eintraf, fand ich eine Nachricht vor, die mir mitteilte, ich solle sie und John in einem nahe gelegenen Café treffen.

HEUTZUTAGEKÖNNENJOURNALISTENsich glücklich schätzen, wenn sie eine oder zwei Stunden für ein Interview mit einem Film- oder Popstar bekommen. Aber ich verbrachte im September 1980 drei Wochen mit Yoko und John. An den meisten Tagen war ich von morgens bis abends mit ihnen zusammen, in ihrem Apartment, in Yokos Büro, in Cafés und Restaurants, saß mit ihnen auf dem Rücksitz von Limousinen und im Aufnahmestudio. Wir spazierten durch die Straßen der Upper West Side und den Central Park. Ich befragte sie zusammen und getrennt voneinander. Sie baten nicht ein einziges Mal darum, das Aufnahmegerät abzuschalten, und gingen beide sehr zärtlich miteinander um. John neckte Yoko liebevoll, sie verdrehte die Augen.

Nachdem ich das Interview abgeschlossen und den Artikel geschrieben hatte, kehrte ich nach Kalifornien zurück. Das Interview sollte Anfang Dezember erscheinen, aber als mein Redakteur ein Vorabexemplar erhielt, ließ er es per Kurier ins Dakota schicken. Am Sonntagvormittag, den 7. Dezember, rief Yoko mich in Los Angeles an. Sie sprach mir eine Nachricht auf den Anrufbeantworter, und als ich zurückrief, wurde abgehoben, ohne dass jemand etwas sagte. Ich wusste, dass John sich selten am Telefon meldete. Als ich ein schlichtes Pfeifen am anderen Ende hörte, erklärte ich, ich wüsste, dass er es sei. Wir redeten eine Weile, dann schaltete sich Yoko über einen anderen Anschluss dazu. Das Interview gefiel ihnen beiden. Yoko wiederholte, dass es sehr wichtig sei. Wir sprachen eine halbe Stunde miteinander, auch darüber, dass wir uns treffen wollten, wenn ich wieder in New York sei. Wir waren zu dritt ihre Alben durchgegangen, Song für Song – Johns Beatles-Songs, die gemeinsamen Alben und Yokos Solostücke –, hatten über deren Entstehung und Bedeutung geredet, und nun wollte ich dies mit den Songs fortführen, über die wir bis dahin noch nicht gesprochen hatten. Wir verabschiedeten uns.

Am nächsten Abend war ich zu Hause und sah Monday Night Football. Der Reporter Howard Cosell unterbrach das Spiel mit der Nachricht, dass John erschossen wurde.

ESWARUNFASSBAR. John war tot. Ich versuchte, Yoko anzurufen, kam aber nicht durch, also packte ich einen Koffer und nahm den nächsten Nachtflug nach New York. Ich fuhr mit dem Taxi zum Dakota, doch es war unmöglich, auch nur in die Nähe des Gebäudes zu gelangen. Tausende von Menschen waren dorthin gepilgert, die Leute standen bis in den Central Park hinein. Ich stieg aus und trauerte mit ihnen.

DURCHUNSEREGESPRÄCHEwusste ich, dass Yoko und John die vorangegangenen fünf Jahre, seit Seans Geburt, ein ruhigeres Leben geführt hatten. John hatte es übernommen, sich um Sean zu kümmern – er war der Hausmann –, und Yokos Aufgabe war das Familienunternehmen: die Verlagsgesellschaften, ihre Anteile an Apple, der Plattenfirma der Beatles, Rechtsstreitigkeiten und ihre Investitionen in Kunst, Antiquitäten und Immobilien. Damals wurde ihr Vermögen auf einhundertfünfzig Millionen Dollar geschätzt. Sie waren gereist, aber größtenteils hatten die Lennons bewusst abgeschieden gelebt. Sie hatten eine Handvoll Freunde, denen sie vertrauten, sahen darüber hinaus aber nur wenige andere Personen. Die Folge war, dass Yoko nach Johns Tod extrem isoliert war. Ich wurde schließlich zu einem der wenigen Menschen, die sich schützend in ihrer Nähe aufhielten, und zwar zu einer Zeit, die Yoko später als »Season of Glass« bezeichnete, weil sie so zerbrechlich war.

In den darauf folgenden Jahren wurden wir gute Freunde, und ich entwickelte ein sehr inniges Verhältnis zu Sean. Ich besuchte die beiden regelmäßig in New York und übernachtete häufig im Dakota oder in dem Anwesen Yokos in Cold Spring Harbor. Yoko war ein Nachtmensch. Manchmal blieben wir die ganze Nacht auf und redeten, entweder persönlich oder am Telefon.

Ich interviewte Yoko für weitere Artikel und andere Projekte und arbeitete bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihr. 1983 half ich bei der Produktion von Heart Play: Unfinished Dialogue, einer Spoken-Word-Aufnahme, mit der auf das Album Milk and Honey aufmerksam gemacht werden sollte. Im darauf folgenden Jahr half ich dabei, Künstler*innen zusammenzuführen, die Yokos Songs für das Album Every Man Has a Woman coverten. Im Jahr 2000 schrieb sie die Einleitung zu All We Are Saying, der Langfassung meines Interviews mit ihr und John. 2008 veröffentlichte ich ein Buch über meine Familie und unseren Umgang mit der Drogensucht eines meiner Kinder, und Yoko gestattete mir bereitwillig, Texte aus einem Song von John zu zitieren und den Titel für das Buch zu verwenden: Beautiful Boy.

In diesen Jahren verreiste ich häufig mit Yoko. 1987 begleitete ich sie in die damalige UdSSR zu Michail Gorbatschows Friedensforum. Ich erinnere mich, wie Gorbatschow im Gespräch mit Yoko Lennon zitierte – John Lennon, nicht Wladimir Iljitsch Lenin – und an den Nachmittag, an dem Yoko und ich auf dem Arbat spazierten, der zentralen Fußgängerzone Moskaus, und sie von russischen Jugendlichen erkannt wurde, die sich um sie scharten und in gebrochenem Englisch »Imagine« sangen. Ihr kamen die Tränen.

Ich fuhr mit ihr und Sean nach Japan. Wir reisten nach Tokio, Kyoto und in andere Städte, ich lernte Familienangehörige kennen, besuchte den Familiensitz und die Häuser, in denen sie als Kind gelebt hatte, besuchte Orte, wo sie aufgetreten war, bevor sie John kennenlernte, und solche, die sie gemeinsam besucht hatten. Yoko und Sean kamen zu mir nach Kalifornien, Sean manchmal auch allein, dann wohnte er bei meiner Familie und mir. Wir fuhren nach Disneyland, und ich ging mit ihm in Santa Cruz surfen. Ich verbrachte viel Zeit mit Yoko und Sam Havadtoy, Yokos Freund von 1981 bis 2000. Ich reiste mit ihnen nach Japan, London und Los Angeles und besuchte Sean in seinem Internat in Genf. Ich war in den schwierigsten Jahren ihres Lebens bei ihr, auch als sie von Menschen hintergangen wurde, denen sie vertraut hatte, und als ihr Leben bedroht wurde. Eine Zeit lang zogen Yoko, Sean und Sam weg von New York nach San Francisco, in unsere Nähe, weil ihr Leben und das von Sean bedroht wurde. Ich stand ihr in einigen schweren Nächten bei, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Yoko war eine treue Freundin, die meiner Familie und mir in turbulenten Zeiten beistand. In Beautiful Boy erzähle ich von Freunden, die mir halfen, das Leben meines Sohns zu retten, als dieser süchtig nach Methamphetaminen war und in San Francisco auf der Straße lebte. Diese Freunde waren Yoko und Sean. Sie holten ihn zu sich nach New York City, später auf ihre Farm in Upstate New York und sorgten dafür, dass seine Suchtkrankheit behandelt werden konnte.

DASWAR 2002. Yoko und ich hielten danach noch über zehn Jahre lang Kontakt; ich sah sie weiterhin in New York und in San Francisco, und wir telefonierten, entfernten uns dann aber allmählich voneinander.

2021 BESCHLOSSICH, Yokos Biografie zu schreiben. Sie hatte sich zurückgezogen und gab keine Interviews mehr, aber ich hatte sie im Laufe der Jahre ausgiebig interviewt und kannte sie gut. Dennoch wusste ich, dass es schwer sein würde, Yokos Geschichte zu schreiben, denn ihr Leben war kompliziert – und sie war es auch. Außerdem stellte unsere Freundschaft eine Herausforderung dar. Einerseits ermöglichte mir meine Beziehung zu Yoko, ein Buch zu schreiben, das niemand sonst schreiben könnte. Ich war bei Ereignissen dabei, von denen niemand wusste, und ich hatte hautnah miterlebt, wie öffentliche Geschehnisse auf sie wirkten. Weil ich dabei gewesen war, wusste ich, welche Presseberichte und welcher Tratsch zutrafen und was frei erfunden war. Ich hatte Seiten von Yoko gesehen, über die andere nur spekulieren konnten. Ich hatte sie von ihrer schlimmsten, ihrer paranoidesten, ängstlichsten und verzweifeltsten Seite erlebt, aber auch von ihrer besten, wenn sie sich in Hochstimmung befand, kreativ und inspiriert war und genau die Art von übermenschlicher Klugheit ausstrahlte, von der John gesprochen hatte.

Aber so wie mir meine Freundschaft zu Yoko unschätzbare Einsichten verschaffte, stellte sie mich zwangsläufig auch vor die schwierige und entscheidende Frage: Kann ein Journalist die Wahrheit über seine Freunde schreiben? Ich war nicht daran interessiert, eine weißgewaschene Version von Yokos Geschichte vorzulegen – eine bereinigte, idealisierte Darstellung aus freundschaftlicher Perspektive. Weder Yoko noch Sean, noch einer ihrer Mitarbeiter hat das Manuskript dieses Buchs gelesen. Dennoch unterscheiden sich die von Freunden der betreffenden Person geschriebenen Bücher grundsätzlich von denen vermeintlich unbeteiligter Biografen. Es besteht zwar eine gewisse Voreingenommenheit (die ich hier von Anfang an offenlege), viele dieser Bücher sind aber aufgrund des besonderen Verhältnisses zwischen Autor und Gegenstand auf einzigartige Weise einfühlsam und aufschlussreich. Ich hoffe, die Leser sehen dies hier bestätigt.

Ich habe nicht versucht, die Wahrheit zu übertünchen, um Yoko entweder als Heilige oder als Sünderin darzustellen. Stattdessen habe ich mich bemüht, die äußere Lackschicht zu entfernen. Ich habe mich bemüht, Ereignisse und Dialoge so genau wie möglich zu rekonstruieren und zu berichten, was wirklich geschehen ist. Eines aber musste ich nicht, ich musste keine Vermutungen darüber anstellen, wie Yoko ist. Nach Jahrzehnten der Freundschaft weiß ich, wie sie ist, und ich habe mein Bestes gegeben, sie genau so darzustellen.

Ich werde auf den folgenden Seiten von Yokos Fehltritten und Misserfolgen berichten und ein Licht auf ihren tief empfundenen Schmerz und ihre Ängste werfen. Außerdem werde ich ihre tiefgründige Klugheit, ihren Witz, ihren Humor, ihren Einfallsreichtum, ihr Talent und ihre Freude zeigen; ihre Widerstandskraft, ihr Mitgefühl – ihre großen Erfolge und ihr Genie.

Schließlich geht es in diesem Buch um mehr als nur um eine einzelne Person. Um es mit den Worten eines anderen Beatle zu sagen, es handelt sich auch um eine Magical Mystery Tour durch bemerkenswerte Zeiten und Orte. Es geht darum, wie Menschen verletzt werden und wie sie sich verändern. Es geht ums Überleben. Es geht um jene, die anders wahrnehmen und anders denken und dadurch auch anders leiden. Es geht um Kunst und Kreativität und den Traum vom Frieden.

Wenn ich auf Yokos über neunzig Lebensjahre blicke, sehe ich eine der großartigsten Geschichten unserer Zeit, eine erschütternde, berauschende und inspirierende Reise.

ERSTER TEIL ABOVE US ONLY SKY

1933–1966

KAPITEL 1

MEINEELTERNWARENeinander sehr nah, aber mir nicht«, sagte Yoko einmal. »Mein Vater war sehr distanziert. Als Kind musste ich in seinem Büro anrufen und einen Termin vereinbaren, wenn ich ihn sehen wollte. Und meine Mutter lebte ihr eigenes Leben. Sie war schön und wirkte sehr jung. Sie hat immer gesagt: ›Du solltest dich freuen, dass deine Mutter so jung aussieht.‹«[1]

Einmal erklärte Yoko: »Ich habe meine Mutter abgöttisch geliebt, aber meine Liebe wurde nicht erwidert. Sie hatte zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun.«[2]

Obwohl Yoko die fehlende Zuwendung ihrer Eltern verletzte und sie ihnen verübelte, sprach sie dennoch voller Respekt von ihnen. Über ihre Mutter sagte sie: »Ich bin froh, dass meine Mutter so war und nicht nur herumgesessen und gesagt hat, ›ich habe dir mein Leben gewidmet‹ …, das hätte mich belastet. So habe ich nicht das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein … und in diesem Sinne bewundere ich ihre Stärke und Intelligenz. Außerdem habe ich von meiner Mutter gelernt, unabhängig zu sein, um dem Druck standzuhalten und als Person in der Yasuda-Ono-Familie überleben zu können.«[3]

Yoko übertrieb nicht: Als Angehörige der hoch angesehenen Familie, in die sie hineingeboren wurde, stand sie unter enormem Druck. Die Yasudas mütterlicherseits waren vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg eine der vier einflussreichsten und wohlhabendsten Familien Japans. Zum Yasuda Zaibatsu – dem Familienkonglomerat – gehörte die Yasuda-Bank, einst die größte Bank Japans (später Fuji-Bank). Yokos Vater war deren Direktor. »Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: ›Dein Vater war nur der Präsident einer Bank, meinem Vater hat die Bank gehört.‹«[4]

ISOKO, YOKOSMUTTER, war die Enkeltochter von Zenjiro Yasuda, der laut der New York Times einst als reichster Mann Japans galt. »Er wurde häufig als ›der japanische [J.P.] Morgan‹ bezeichnet, weil er wie sein amerikanisches Pendant nicht nur über die Maßen wohlhabend war, sondern durch seine Banken auch über den Reichtum anderer herrschte.«[5] Er war nicht nur eine führende Figur in der Wirtschaft, er versuchte sich nebenbei auch in den Künsten, schätzte japanische Traditionen, wie die Teezeremonie, und betätigte sich als Mäzen von Kabuki-Schauspielern und Sumo-Ringern.[6] In späteren Jahren wurde Zenjio Philanthrop, spendete die Mittel für den Bau des Yasuda Kōdō (Yasuda-Auditorium) an der Universität Tokio und die Hibiya Open-Air Concert Hall in Tokio.

Isoko war das jüngste Kind von Zenjiros ältester Tochter (Zenjiro adoptierte ihren Mann, damit sein Schwiegersohn den Familiennamen annehmen konnte). Sie wuchs in einem riesigen Anwesen in Tokio auf, wo sie ritt und in den ausgedehnten Gärten spielte.

In ihrer Familie galt eine berufstätige Frau eigentlich als untragbar, aber Isoko wurde zumindest gestattet, ihren Interessen nachzugehen. Später erhielt sie Unterricht in Malerei, traditionellem Gesang und verschiedenen Musikinstrumenten. Yoko beschrieb ihre Mutter als moga – als »modernes Mädchen«.[7] Es gibt Fotos von Isoko, auf denen sie in verführerischen langen Kleidern aus Paris, mit Perlenketten und knalligem Lippenstift zu sehen ist. Ihr gewelltes Haar trug sie kurz und seitlich gescheitelt, wie Greta Garbo. Isoko besuchte rauschende Abendveranstaltungen, darunter auch eine in dem Ferienort Karuizawa, wo ihre Familie ein Haus am bewaldeten Stadtrand besaß. Und dort lernte sie auch Eisuke Ono kennen, der auffallend groß war, kultiviert, gut aussehend – und Musiker.

DIEWURZELNDERFAMILIEvon Yokos Vater, Eisuke, reichen zurück zu einem verarmten Samurai, dessen Sohn, ausgebildet in den Vereinigten Staaten, ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann und schließlich Präsident der Industrial Bank of Japan (IBJ) wurde.[8]

Eisuke spielte von frühester Kindheit an Klavier, war sehr talentiert und hoffte, eines Tages Konzertpianist zu werden. Als Teenager gab er Konzerte und war sehr beliebt bei den jüngeren Leuten, die den Sommer mit ihren Familien in Karuizawa verbrachten. Auf einer Party im Feriendomizil der Familie Yasuda lernte Eisuke Isoko kennen.

Zu jener Zeit wurden viele Ehen in Japan von Heiratsvermittlern arrangiert, aber Isoko und Eisuke verliebten sich ineinander. »Großmutter hat mir oft erzählt, dass sie sich unter unzähligen Männern entschieden hatte, die an ihre Familie in der Hoffnung herantraten, sie heiraten zu dürfen«, erinnerte sich Akiko Ono, Yokos Nichte.[9] Isokos Familie missbilligte die Verbindung. Die Onos waren erfolgreich – Eisukes Vater war ebenfalls Vorsitzender einer Bank –, aber das Vermögen der Yasudas überstieg das der Onos bei Weitem. Ihre Familie waren Buddhisten, Eisukes Christen.[10] Außerdem war ein Musiker als Schwiegersohn inakzeptabel. Der Einwand wurde jedoch schon bald entkräftet, da Eisuke dem Wunsch seines Vaters nachgab, ins Bankgeschäft einzutreten, und seinen Traum, Musiker zu werden, widerwillig aufgab. Er besuchte die Tokyo Imperial University, wo er Ökonomie und Mathematik studierte. Nach seinem Abschluss 1927 im Alter von fünfundzwanzig Jahren fing er als Angestellter in der Tokioter Filiale der Yokohama Specie Bank an und arbeitete sich dort nach oben.

Die Ono-Yasuda-Hochzeit am 3. November 1931 war eine glamouröse Angelegenheit, der das gesamte Who’s Who der Tokioter Gesellschaft beiwohnte.

Das Paar zog in eine Villa, umgeben von ausländischen Botschaften, in einem der reichsten Viertel Tokios. Laut Yoko verbitterte Eisuke zusehends trotz seiner Karriere bei der Bank, weil er dem Druck nachgegeben und seine musikalische Laufbahn aufgegeben hatte. Isoko kümmerte sich um die häuslichen Angelegenheiten, das heißt, sie führte die Aufsicht über die mehr als dreißig Dienstboten und nahm weiterhin Unterricht in Malerei und Musik. Sie und Eisuke gaben glanzvolle Partys. Als Mitglied des prestigereichen Sagami Country Club ging Eisuke dreimal die Woche zum Golfspielen.

Anfang Februar 1933 zog Eisuke in die Vereinigten Staaten, um die Filiale der Bank in San Francisco zu leiten. Isoko blieb in Tokio. Sie war im neunten Monat schwanger.

Isokos und Eisukes Tochter kam zwei Wochen nach seiner Abreise, um halb neun am Abend des 18. Februar 1933, zur Welt. Sie erhielt den Namen Yoko, was »Kind des Ozeans« bedeutet.

Während Eisuke im Ausland war, lebte Isoko bei ihren Eltern in der Villa der Yasudas in Tokio. Yoko kannte ihren Vater nur von Fotos. Wenn sie zu Bett ging, hielt ihre Mutter ihr ein Bild von Eisuke hin und forderte sie auf: »Sag deinem Vater gute Nacht.«[11]

Familienfotos und Amateurfilme dokumentieren Yokos früheste Kindheit. Eine Aufnahme zeigt sie sitzend mit einem Teddybären im Arm, gekleidet in einen Einteiler mit Kapuze. In einem Film krabbelt sie zu ihrer schlafenden Mutter. Isoko wacht auf und nimmt ihre Tochter in den Arm, schmiegt sich sanft an sie und schaukelt sie auf ihrem Knie.

Mit zunehmendem Alter wurde Yoko bewusst, dass Isoko ihr, anders, als die Bilder einer zärtlichen und aufmerksamen Mutter suggerierten, kühl und distanziert begegnete. Sie war glamourös, überlebensgroß, tauchte auf und verschwand wieder – ständig war sie shoppen oder ging zum Essen aus. Auf Partys von Isoko wurde Yoko von ihrer Kinderfrau vorgezeigt und von den Freunden und Freundinnen ihrer Mutter bestaunt und bewundert, anschließend wieder fortgebracht.

Yoko sagte, Isoko habe in den Filmen, die sie Eisuke schickte, die hingebungsvolle Mutter nur gespielt: »Sie hat nie so viel Zeit mit mir verbracht, wie wenn sie gefilmt wurde.«[12] Yoko meinte, ihre Mutter »wollte sich eigentlich nicht eingestehen, dass sie Mutter war. Sie hat ständig Sachen gesagt wie: ›Heute habe ich den und den getroffen … er war so erstaunt, als er erfahren hat, dass ich Kinder habe! Er konnte es kaum glauben!‹«[13]

Obwohl sie größtenteils nicht persönlich an der Erziehung beteiligt war, gab Isoko Yokos Kinderfrauen doch ausführliche Anweisungen, wie mit dem Kind umzugehen sei. Sie durften Yoko nicht in den Armen wiegen, da Isoko fürchtete, ihr Gehirn könne durch die Bewegung Schaden nehmen.[14] Den Mitarbeitern wurde untersagt, Yoko aufzuhelfen, wenn sie hinfiel. »Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, dass mich mehrere Frauen in Kimonos anstarrten, ohne mir eine Hand zu reichen, während ich versuchte, vom Boden aufzustehen«, schrieb sie. Sie erinnerte sich außerdem, dass die Kinderfrauen bei Reisen der Familie den Auftrag erhielten, die Sitze im Zug mit alkoholgetränkten Wattebäuschen zu desinfizieren. »Meine Mutter hatte panische Angst vor Krankheitserregern und Bakterien«, fuhr sie fort. »Das Ergebnis ist, dass ich zur Sauberkeitsfanatikerin wurde. Einmal ließ ich einen Bleistift fallen, den ich mir von einer Klassenkameradin geliehen hatte, weil sie ihn vorher in der Hand gehabt hatte und er noch warm war. Bis heute ist es mir unangenehm, auf einem Kissen oder einem Stuhl zu sitzen, die noch warm sind, weil eine andere Person dort gesessen hat.«[15]

1935 LIESSEISUKEISOKOund seine Tochter nachkommen. Yoko war zweieinhalb Jahre alt, als sie Japan mit ihrer Mutter an Bord der MSMichuru verließ. Yoko sollte das Gefühl bei der Ankunft in San Francisco nie vergessen – die frische Luft, das Licht.

Als Yoko mit ihrer Mutter von Bord ging, wartete Eisuke bereits im langen Mantel und mit Hut am Kai. Er trat auf Isoko zu und küsste sie. Dann fiel ihm Yoko auf und er gab auch ihr ein flüchtiges Küsschen. Das war ihre erste Begegnung mit ihrem Vater.

Als sie älter wurde, erinnerte sie sich, dass Eisuke ihre Hände sehen wollte. Sie hielt sie ihm hin, und er erklärte knapp, sie seien zu klein, deshalb könnte aus ihr niemals eine große Pianistin werden. »Ich glaube, meine Hände sind tatsächlich geschrumpft, als er das gesagt hat«, berichtete sie später.[16]

Yoko äußerte sich zu dem Missverhältnis zwischen dem Kind, das in den Familienfilmen zu sehen ist – beim Stepptanzen, beim Spielen –, und ihren Erinnerungen an eine Kindheit geprägt von Einsamkeit und Abschottung. »Ich lernte, meinen Eltern zu zeigen, was sie sehen wollten«, erklärte sie mir. »Ich wollte, dass sie stolz auf mich sind, dass sie mich mögen. Aber ich war sehr unglücklich.«

Eisuke schickte die Familie 1937 nach Tokio zurück, als Japan in den Krieg gegen China trat. Yoko war vier Jahre alt und hatte inzwischen einen kleinen Bruder, Keisuke – Kei –, der im Jahr zuvor auf die Welt gekommen war.

Isoko meldete Yoko in der Jiyū-Gakuen an, derselben Vorschule, die sie selbst besucht hatte – eine fortschrittliche Einrichtung mit Fokus auf die Künste, darunter Gesang und Komposition.

Einer der Lehrer dort forderte die Schüler auf, sich die Geräusche in ihrer Umgebung anzuhören – den Wind, das Zwitschern der Vögel – und diese in Noten zu übertragen. Geräusche in Noten zu übertragen, fiel Yoko leicht. Damals war ihr nicht bewusst, dass dies ihr Einstieg in die Konzeptkunst war.

1939 WURDEEISUKEin die New Yorker Filiale der Bank versetzt. Ein Jahr später, am 27. September 1940, unterzeichnete Japan den Dreimächtepakt und wurde zum offiziellen Verbündeten von Deutschland und Italien. Isoko fürchtete, die Vereinigten Staaten würden japanischen Staatsbürgern schon bald die Einreise verwehren, und reiste mit Yoko und Kei nach New York, um bei ihrem Mann zu sein.

Die Familie lebte in einem Vorort von New York City. Yoko war sieben Jahre alt und wurde in eine öffentliche Schule geschickt, wo sie zum ersten Mal Rassismus erlebte. »Wenn ich ins Kino ging und mir einen Film ansah, waren die Bösen immer Asiaten«, sagte sie. »Die Leute buhten im Dunkeln. Andere warfen mit Steinen nach uns.«[17]

Die Familie musste die Fenster im Haus geschlossen halten, weil sich die Nachbarn über den Geruch des japanischen Essens beschwerten. Wenn Yoko mit ihren Eltern die Straße entlangging, rief man ihnen Beleidigungen nach. Es war Zeit zu gehen.

Im Februar 1941, als Yoko acht Jahre alt wurde, kehrten die Onos nach Japan zurück. Sie verließen die Vereinigten Staaten gerade noch rechtzeitig. Im darauf folgenden Jahr wurden über einhunderttausend japanischstämmige Amerikaner aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben und in Internierungslager gesperrt.

Kurz nach der Rückkehr der Familie nach Tokio wurde Eisuke nach Hanoi geschickt, wo er als stellvertretender Direktor der dortigen Filiale seiner Bank arbeitete. Yoko war erneut ohne Vater.

MITDREIJAHRENbekam Yoko Klavierstunden. Als sie älter wurde, erhielt sie, wie auch schon Isoko, Unterricht in den traditionellen japanischen Künsten, unter anderem in Gesang, Kalligrafie und Malerei.

Nur wenige Kinder galten als geeignete Spielkameraden. »Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich mit anderen spielen könnte«, sagte sie.[18] »Meine Mutter glaubte, wenn ich Freunde hätte, würden diese die Familie nur ausnutzen.«[19]

Yoko war einsam. Sie war so häufig allein, dass sie nach den Dienstboten klingelte und um Tee bat, nur um eine andere Person zu sehen.

Yoko überlebte ihre Kindheit, indem sie sich in ihre Fantasiewelt flüchtete; ihre Gedanken waren ihre zuverlässigsten Gefährten. Sie zog sich instinktiv in sich zurück, zeichnete stundenlang und dachte sich Geschichten aus. Sie starrte in die Wolken und träumte vor sich hin. In der Beständigkeit des Himmels fand sie Frieden und Sicherheit.

KAPITEL 2

AM 7. DEZEMBER 1941 griff Japan Pearl Harbor an. Am darauf folgenden Tag, am 8. Dezember, erklärten die Vereinigten Staaten Japan den Krieg. Eisuke war in Hanoi, wo er zum Filialleiter der Bank aufgestiegen war. Yoko war acht Jahre alt. Sie verstand nicht, was ihr Vater tat; sie wusste nur, dass er nicht da war. Eisuke war in Yokos Leben bis dahin kaum vorgekommen, aber seine Abwesenheit jetzt war noch einmal etwas anderes.. Wie konnte er seine Frau und Kinder – neben Yoko und Kei gab es nun auch noch eine kleine Schwester, Setsuko – in einer so gefährlichen Zeit im Stich lassen?

Der Krieg wirkte auf eine japanische Familie mit so engen Beziehungen in die Vereinigten Staaten verstörend. »Nur wenige Monate zuvor hatte ich noch eine amerikanische Schule besucht und jeden Morgen meine Treue auf die amerikanische Flagge gelobt«, sagte Yoko.[1]

Zunächst wurde der Schulunterricht in Japan ohne Unterbrechung fortgesetzt, und Isoko bemühte sich, möglichst weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. 1945 aber wurde Tokio ohne Unterlass von den Amerikanern bombardiert. Jede Nacht gab es Bombenalarm. Wenn die Sirenen heulten, sammelte Isoko ihre Kinder ein und rannte mit ihnen in den Luftschutzraum im Garten.

Dort gab es ein Radio. Yoko lauschte einer Sendung, in der Abschiedsworte von Kamikaze-Piloten übertragen wurden. »Vor ihrem Abflug durften sie im Radio letzte Botschaften an ihre Eltern oder ihre Familie senden«, erzählte Yoko gegenüber der BBC. »Und sie sagten alle: ›Mami, ich gehe jetzt, und ich wünsche dir ein langes Leben‹ oder so was. Das war einfach das Schrecklichste überhaupt, was ich da hörte, und ich werde es nie vergessen … wie unglaublich grausam, einem Menschen so etwas anzutun. Ich denke, das hat meine ganze Sichtweise auf den Krieg verändert.«[2]

In der Schule gab es Übungen, bei denen sich die Kinder unter den Tischen zusammenkauern mussten. Die Dienstboten zu Hause wurden zum Militär eingezogen oder flohen. Draußen herrschte Chaos, und die ganze Zeit über war Yokos Vater abwesend.

Am 9. März 1945 setzten unzählige Bombengeschwader Tokio in Brand. Isoko eilte mit Kei und Setsuko in den Luftschutzbunker, Yoko, die hohes Fieber hatte[3], musste allein in ihrem Zimmer bleiben. Durchs Fenster sah sie Tokio brennen.[4]

Viele ihrer Klassenkameraden flohen mit ihren Familien in die Berge, aber als Isoko beschloss, die Stadt zu verlassen, hatte sie einen anderen Plan. Eine Freundin hatte ihr von einem Bauerndorf in der Präfektur Nagano erzählt, und Isoko stellte sich eine idyllische ländliche Gemeinde vor, in der sie mit ihrer Familie leben würde, bis Tokio wieder sicher war.

Isoko schickte die inzwischen zwölfjährige Yoko, den achtjährigen Kei und die dreijährige Setsuko mit der einzigen im Dienst der Familie verbliebenen Hausangestellten in einem überfüllten Zug in ein Dorf in Nagano, wo Isoko ein kleines Haus gekauft hatte.

Als Yoko dort eintraf, stellte sich heraus, dass das Dach unfertig war. Da Isoko noch in Tokio war, musste Yoko die Rolle der Erwachsenen übernehmen und Lebensmittel für sich und ihre Geschwister besorgen. Sie bettelte und handelte, tauschte Kimonos, Schmuck und Antiquitäten gegen Reis.

Als Isoko endlich nachkam, verscherbelten Yoko und sie weitere Besitztümer der Familie. Einmal musste sie mit ihrer Mutter einen Karren über ein matschiges Reisfeld ziehen. Sie sollte den Anblick ihrer früher stets so tadellos gekleideten, jetzt schlammbespritzten und verzweifelten Mutter nie mehr vergessen.

Die Einheimischen machten uns »das Leben schwer«, erinnerte sich Yoko. »Sie hielten uns für verwöhnt (reiche Leute aus der Stadt), fanden, es geschehe uns recht.«[5]

In der ländlichen Schule, die Yoko und Kei besuchten, wurden sie von den anderen Kindern ausgegrenzt und gehänselt. Yoko wurde als amerikanische Spionin beschimpft, »weil sie die japanische Nationalhymne nicht schnell genug mitsang«.[6] Sie erinnerte sich, »dass Kinder aus dem Dorf mit Steinen nach uns warfen, weil sie Leute aus der Stadt hassten«.[7]

Isoko reiste häufig zurück nach Tokio, um weitere Gegenstände zum Tauschen zu holen. Wenn sie weg war, musste Yoko sich um ihren Bruder und ihre Schwester kümmern. »Ich fand ein Bauernhaus und auf dem Boden lag ein Haufen Kartoffeln«, sagte sie. »Ich stopfte sie in meinen Ranzen – mein Ranzen war so groß wie ich –, und mit den Kartoffeln so schwer, dass ich mich alle zwei Schritte ausruhen musste, immer zwei Schritte, dann ausruhen, bis zurück in mein Dorf.«[8] Yoko und Kei suchten Pilze und Maulbeeren im Wald.