Zieleinlauf - Simon Schempp - E-Book

Zieleinlauf E-Book

Simon Schempp

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Beschreibung

Simon Schempp war lange Zeit die Nummer eins der deutschen Biathleten. In einem packenden Finish wurde er 2017 in Hochfilzen Weltmeister im Massenstart. Hinzu kamen drei weitere Weltmeistertitel mit der Staffel, deren nervenstarker Schlussläufer er über Jahre hinweg war. Neben weiteren großen Erfolgen prägten aber auch Rückschläge und Verletzungen seine Karriere. Nun gewährt Schempp ganz persönliche Einblicke hinter die Kulissen des Biathlonzirkus. Er erzählt von packenden Rennen, vom gegenseitigen Respekt unter sportlichen Rivalen, von Vorbildern, vom oft entbehrungsreichen Alltag der Athleten und davon, wie er mit dem immensen Druck am Schießstand umgegangen ist. Seine Autobiografie ist das authentische und sympathische Zeugnis eines Spitzensportlers und ein Fest für alle, die seine Faszination für die spannendste Wintersportart der Welt teilen.

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Seitenzahl: 315

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SIMON SCHEMPP

ZIEL EINLAUF

SIMON SCHEMPP

ZIEL EINLAUF

MEIN LEBEN FÜR DEN BIATHLON

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

3. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktionelle Mitarbeit: Florian Kinast

Lektorat: Dr. Ulrich Korn

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: IMAGO / Sammy Minkoff

Abbildungen im Innenteil: © privat / Simon Schempp sowie IMAGO / ITARTASS, Sportnah, GEPA pictures, HochZwei, Sven Simon, Eibner Europa

Satz: abavo GmbH, Buchloe

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-1928-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1657-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1658-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Der Rücktritt

Kapitel 2: Kindheit und Jugend

Kapitel 3: Die Anfänge

Kapitel 4: Die Olympiasaison

Kapitel 5: Heimat

Kapitel 6: Krisenzeit

Kapitel 7: Die Heim-WM

Kapitel 8: Vorbilder

Kapitel 9: Der Aufstieg

Kapitel 10: Sotschi

Kapitel 11: Das Leben in der Blase

Kapitel 12: Auf dem Weg nach ganz oben

Kapitel 13: Die letzte Etappe zur Weltspitze

Kapitel 14: Der Renntag

Kapitel 15: Der Triumph von Hochfilzen

Kapitel 16: Der Sommer

Kapitel 17: Pyeongchang

Kapitel 18: Die Partnerin

Kapitel 19: Die letzten Jahre

Kapitel 20: Die Zukunft

Über den Autor

Vorwort

Erinnerst du dich noch, lieber Simon, als wir das erste Mal bei einem Wettkampf gegeneinander antraten? Ich könnte das nie vergessen, weil ich von deiner Leistung so unendlich beeindruckt war. Das war damals im Dezember 2007 beim Junioren-Europacup in Obertilliach. Du hast alle deklassiert: kein einziger Fehler beim Schießen und die beste Zeit auf dem Ski. Ich wurde mit 5 Minuten und 37 Sekunden Sechzehnter, weit entfernt von einem Platz auf dem Podium, auf dem du strahlend standest. Und ich war voller Bewunderung für den jungen, meisterlichen Deutschen, den ich zum ersten Mal live sah.

Was ich damals noch nicht wusste: Dies war der Beginn eines langen Kräftemessens, das meine ganze Karriere prägen sollte.

Zwei Jahre später hatte ich das Glück, nach einem beinharten Kampf zum ersten Mal zusammen mit dir auf dem Treppchen zu stehen. Das war im Biathlonstadion am Holmenkollen (Oslo), einem der mythischen Orte unserer Sportart.

Von Ruhpolding bis Sotschi, von Antholz (wo du immer stark warst) bis nach Hochfilzen führte uns unser Zweikampf, und die Kraft in unseren Armen hat uns nie verlassen. Vom Geist des Wettkampfs angetrieben sind wir über uns hinausgewachsen. Ich bin überzeugt, dass jeder von uns Anteil am Erfolg des anderen hat. Aus dieser Rivalität sind unsere Leistungen erwachsen, unsere Triumphe und mit ihnen eine wunderbare Geschichte. Denn allem Kräftemessen, allen Wettkämpfen, die das Letzte forderten, zum Trotz hat der gegenseitige Respekt zwischen uns sich zur Freundschaft entwickelt, und das liegt nicht zuletzt an deiner Menschlichkeit und Bescheidenheit.

Das Kräftemessen fand seinen Höhepunkt, als wir uns in der Saison 2015 einen intensiven Kampf um den Globe de Cristal für unsere Sportart lieferten. Das war ganz sicher eine der größten mentalen Herausforderungen meiner gesamten Laufbahn, weil ich ja wusste, wie stark du im Schießen bist. Aber auch diese Rivalität tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Wir kämpften weiter und im Jahr darauf bist du meiner Einladung gefolgt und hast eine Woche bei mir zu Hause in Frankreich verbracht …

Ich kannte ja deinen Humor, deine Freundlichkeit, deine Bescheidenheit. Ich wusste, dass du einfach »schwer in Ordnung« bist. Diese wenigen gemeinsam verbrachten Tage bestätigten mir das nur.

Was du vermutlich nicht weißt, ist, dass meine Trainer dir sogar einen Spitznamen verpasst haben. Wenn sie mir beim Rennen deine Werte durchgaben, sprachen sie nicht von »Simon Schempp«, sondern nur vom »Super-Schempi«. Stéphane Bouthiaux hatte sich das ausgedacht und du kannst mir glauben: Aus seinem Mund war das ein Zeichen enormen Respekts.

Aber ich kann diese wenigen Worte über die gemeinsam erlebten, traumhaften Momente nicht beenden, ohne an das Rennen zu erinnern. Den Massenstart bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang, diesen sagenhaften Sprint und das Foto vom umwerfenden Finish! Ich war absolut davon überzeugt, dass du gewonnen hattest, dass diese paar Zentimeter Differenz auf der Linie für dich sprachen. Deshalb habe ich dir auch auf die Schulter geklopft und dir gratuliert: »Das war dein Rennen!« Du warst wie immer klüger als ich und hast geantwortet: »Warte mal lieber das Foto vom Finish ab.« Und du hattest recht.

Vielleicht hast du ja unsere erste Begegnung vergessen, aber diesen gemeinsamen Platz auf dem Podium, den hast du sicher im Gedächtnis behalten. Und zwar nicht nur, weil es für uns beide das letzte Mal war!

In Frankreich sagt man, man erkenne den Wert eines Sportlers an seinen Gegnern … Und wie jedermann weiß, haben die Franzosen immer recht!

Martin Fourcade

Kapitel 1: Der Rücktritt

Und dann ging’s in die letzte Runde.

Dass ich in diesem Rennen aussichtslos weit hinten lag, dass ich keine Chance mehr auf eine Top-Platzierung hatte, war mir längst klar. Ein großes Ziel aber gab es doch: Einmal noch eine Null schießen. Mit den letzten fünf Schüssen meiner Karriere.

Als sich dann alle weißen Klappen über die schwarzen Kreise gelegt hatten und ich die Strafrunde links liegen lassen konnte, als ich wenigstens dieses eine Ziel noch erreicht hatte, da befiel mich ein wohliges Glücksgefühl. Noch einmal ging es die Abfahrt hinunter zum Schießstand, noch einmal den mühsamen Birxsteig hoch. Wie fürchterlich zäh schien mir dieser legendäre Streckenabschnitt am Rennsteig in Oberhof in all den Jahren zu sein. Und wie leicht fiel es mir jetzt an diesem Tag. Ein letztes Mal durch die Sägespäne-Runde. Und hinein auf die letzten Meter zum Zieleinlauf. Zum Finish meiner Karriere.

Schon davor war mir bewusst, dass dies mein letztes Rennen sein würde. Dass es nach der Verfolgung über 12,5 Kilometer an diesem 9. Januar 2021 in Oberhof vorbei wäre mit Biathlon. Aus. Endgültig. Für immer. Und wahrscheinlich war es gut so, dass an diesem Tag wegen der Corona-Pandemie keine Zuschauer dabei waren. Dass die Tribünen leer waren und alles so trostlos wirkte.

Wie oft hatte ich diese phänomenale Kulisse hier schon genießen dürfen. Zehntausende Zuschauer auf den Rängen im Stadion und entlang der Strecke, die grenzenlose Begeisterung der Fans, die Anfeuerungsrufe, der tosende Jubel nach jedem Treffer am Schießstand. Oberhof, das war in den elf Jahren, in denen ich im Weltcup hier war, immer Spektakel. Das war Party. Das war Adrenalin.

Vermutlich wäre es doch sehr emotional geworden, wenn ich diese mitreißende Atmosphäre auch jetzt noch einmal erlebt hätte. Gut möglich, dass mich die Gefühle übermannt hätten und ich sentimental geworden wäre. So aber konnte ich vor dieser bizarren Geisterkulisse entspannt über den Zielstrich laufen. Nein, es war keine Wehmut dabei und auch kein Abschiedsschmerz. Es war ein befreiendes Gefühl und mir war leicht ums Herz. Ich war mit mir im Reinen. Ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht. Es ergäbe keinen Sinn mehr, das Ende weiter hinauszuzögern. Noch länger zu warten, mich noch länger unglücklich zu machen und zu hoffen, dass irgendwann alles wieder besser würde. Mir war klar, dass diese Hoffnung vergebens war.

So konnte ich in den Spiegel schauen und sagen: Simon, du hast lange gekämpft und alles probiert. Aber es ging einfach nicht mehr. Es war zwecklos. Und deswegen war es genau der richtige Moment, einer wunderbaren und unvergesslichen Zeit leise Lebewohl zu sagen. Für einen stillen Abschied, der allerdings nicht plötzlich kam.

Dass es zu Ende gehen würde, hatte sich bereits angedeutet. Letztlich markierte dieser Tag in Oberhof nur den Abschluss einer langen, mehr als dreijährigen Leidenszeit, die auch nicht erst mit dem Fahrradsturz im Sommer 2018 begann, bei dem ich mir die Schulter brach und von dem es oft hieß, danach sei ich nicht mehr so richtig in Form gekommen. Die Probleme begannen schon früher.

Angefangen hatte alles im Dezember 2017 in Hochfilzen. Ausgerechnet dort, wo ich keine zehn Monate zuvor mit dem WM-Gold im Massenstart den größten Erfolg meiner Karriere gefeiert hatte. Ich hatte mich sehr auf die Rückkehr dorthin gefreut, und nicht nur der Erinnerungen wegen. Hochfilzen war hinsichtlich des Zuschauerandrangs und des Ambientes zwar eine Hausnummer kleiner und ruhiger als die großen Orte wie Ruhpolding oder Antholz. Aber ich fühlte mich dort sehr wohl. Hochfilzen bedeutete für mich nach den langen November-Lehrgängen im dunklen Skandinavien und dem Saisonauftakt in Östersund als zweite Station im Weltcup eine Rückkehr in vertraute Gefilde. Zurück in Mitteleuropa, in der majestätischen Bergwelt der Tiroler Alpen, rund eine Autostunde von meinem Haus in Ruhpolding entfernt. Hochfilzen war fast ein zweites Heimspiel für mich.

Und auch bei den Einzelrennen lief es in diesem Dezember in Hochfilzen ganz ordentlich. Im Sprint wurde ich Vierter, ebenso wie tags darauf im Verfolgungsrennen. Ärgerlich waren die vier Schießfehler, drei davon gleich im ersten Anschlag, am Ende verpasste ich das Podium um eine halbe Sekunde. Aber das war nicht weiter wild. Ich wusste, ich war zwei Monate vor dem großen Saisonhöhepunkt, den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang, gut in Form.

Doch dann kam der Tag, der alles ändern sollte. Der Tag des Staffelrennens.

Wie so oft war ich auch diesmal Schlussläufer unseres Quartetts. Erik Lesser, Benedikt Doll, Arnd Peiffer und ich, so die Reihenfolge. Als Arnd an mich übergab, lagen wir eine knappe Minute hinter den Norwegern auf Platz 2 und eine gute halbe Minute vor den Franzosen. Alles im Soll. Es war ein sehr windiger Tag, die Bedingungen waren recht schwierig. Beim Liegendschießen hatte ich drei Nachlader; ich blieb fehlerfrei, alles lief ganz solide so weit. Doch dann kam die zweite Runde. Und plötzlich machte mein Rücken zu. Auf einmal, einfach so. Ein Schmerz, der sich zwischen Hals und Hüfte breitmachte und der das restliche Rennen zur Qual werden ließ. Beim Stehendschießen schaffte ich mit drei Nachladern zwar auch eine Null, aber große Freude, auch wenn wir am Ende den zweiten Platz erfolgreich verteidigen konnten, verspürte ich nicht.

Sicher, Rückenschmerzen hatte ich das ein oder andere Mal schon in meiner Karriere. Allerdings war das immer eine Sache von ein paar wenigen Tagen, dann war wieder alles gut. Nur diesmal war es anders.

Nach Hochfilzen ging es gleich weiter in die französischen Alpen, nach Annecy. Das war keiner der traditionellen Weltcup-Standorte, der jedes Jahr im Kalender stand, aber einer, an den ich gern zurückkehrte. Dort herrschte gute Stimmung mit einem begeisterungsfähigen Publikum, egal ob auf der Tribüne am Schießstand oder entlang der Strecke. Auch wenn ich mit einem 4. und einem 5. Platz in Sprint und Verfolgung gut dabei war: Die Schmerzen ließen nicht nach. Weshalb ich um die anschließende Weihnachtspause sehr froh war.

Ich freute mich auf die Erholung und die Regeneration, ließ mich häufig physiotherapeutisch behandeln und war überzeugt, dass ich bis zum Weltcup in Oberhof Anfang Januar wieder ganz der Alte wäre.

War ich aber nicht.

Nach Platz 34 im Sprint fuhr ich wieder nach Hause, und auch in der darauffolgenden Woche beim Heimrennen in Ruhpolding blieben Freude wie Erfolg gleichermaßen überschaubar. Ein 6. Platz im Massenstart, na immerhin. Aber Rückenschmerzen hatte ich noch immer.

Ärzte und Therapeuten beschrieben das Krankheitsbild als sehr komplex, vereinfacht ausgedrückt: Die Nerven, die von der Wirbelsäule wegführen, waren völlig überreizt und strahlten aus. Anders formuliert: Ich hatte nicht mehr das Gefühl, als befänden sich Muskulatur, Gelenke und Nerven hinten locker im harmonischen Flow, sondern vielmehr, als hätte mir jemand Drahtseile eingepflanzt. Die Folge war, dass ich nicht mehr wirklich beweglich war, dass ich mit Hohlkreuz herumlief und auch nicht mehr geschmeidig in die Abfahrtshocke gehen konnte. Auch das Stehendschießen fiel mir zunehmend schwerer. Das fühlte sich alles nicht gut an.

Die unmittelbare Wettkampfvorbereitung in den zwei Wochen vor unserer Abreise nach Korea absolvierte ich daheim unter Leitung von Andi Birnbacher in Ruhpolding. Meine Mannschaftskollegen waren in Hochfilzen, mir war es lieber, zu Hause zu trainieren. Zum einen, um der Höhenlage Hochfilzens aus dem Weg zu gehen und mich mit meinem individuellen Trainingsprogramm vorzubereiten. Zum anderen konnte ich mich so intensiver um meine Rückenproblematik kümmern. Es war ein Ritt auf der Rasierklinge. Einerseits wollte ich mich natürlich zu 100 Prozent auf das bevorstehende Großevent vorbereiten, mit perfekt auf mich abgestimmtem Training und passenden Erholungszeiten. Andererseits war ich in diesen zwei Wochen recht häufig in der Praxis von Dr. Müller-Wohlfahrt zur Behandlung in München. Das war natürlich ein enormer Zeitaufwand, bei einer Fahrtdauer von eineinhalb Stunden von mir zu Hause bis in die Münchner City. Aber ich wollte die Beschwerden unbedingt in den Griff bekommen, und so nahm ich diese Strapazen auf mich. Zum Glück zeigte die Behandlung von Müller-Wohlfahrt Wirkung. Der Rücken erholte sich, wenn auch nur kurzfristig. Aber genau zum richtigen Zeitpunkt.

In Pyeongchang hatte ich noch einmal das Gefühl, dass mein Körper okay war. Ich lief die Rennen fast völlig schmerzfrei, der absolute Höhepunkt war natürlich das dramatische Herzschlag-Finish im Massenstart gegen Martin Fourcade, doch dazu später mehr. Glücklich über das Silber und auch über die Bronzemedaille mit der Staffel flog ich heim. Was ich nicht ahnen konnte: Pyeongchang war das letzte Mal, dass es mir im Biathlon richtig gut ging, dass mein Körper genau das tat, was ich wollte.

Danach wurde es nie mehr wie früher.

Während der drei darauffolgenden letzten Weltcup-Wochen der Saison verschlimmerten sich die Schmerzen wieder, und zwar so sehr, dass ich wusste, die Saison ist für mich gelaufen. Früher waren nach den letzten Weltcup-Rennen die internationalen Zollskimeisterschaften meines Arbeitgebers noch der runde Abschluss eines Winters. Es war immer wie ein kleines Klassentreffen, ich traf in familiärer Atmosphäre viele Sportler aus anderen Disziplinen wie Langlauf und Alpin. Und ich hatte den kräftezehrenden Winter jetzt hinter mir und war in entspannt vorfreudiger Stimmung auf den Urlaub im Frühling.

Nur in diesem Jahr 2018 war eben alles anders. Der Rücken tat weh. Deswegen gab es keine andere Wahl, als meine Teilnahme abzusagen. Ich musste mich jetzt schonen und mir Ruhe gönnen.

Erst mal fuhr ich mit Franzi [Franziska Preuß, d. Red.] in den Urlaub. Es ging nach New York und Miami. Zurück in der Heimat nahm ich Anfang Mai wieder das Training auf – bis ich am dritten Tag meinen Fahrradunfall hatte. Zusammen mit einigen Freunden war ich beim Mountainbiken rund um Ruhpolding, als bei der Abfahrt auf einem Schotterweg in einer Rechtskurve das Vorderrad wegrutschte und ich über den Lenker flog.

Im Krankenhaus Traunstein diagnostizierte man eine Schulterluxation. Ein Tiefschlag gerade zu Beginn der Trainingszeit. Aber es lief alles reibungslos: die Operation, die Reha am Chiemsee, und die Aussichten waren gut, dass ich den Sommer noch nutzen konnte, um den Rückstand wieder aufzuholen. Da ich wegen meiner Schulterverletzung auf andere Trainingsgeräte wie etwa den Ergometer umsteigen musste, hoffte ich, dass sich auch mein Rücken vollständig erholen würde. Selten gibt es einen Schaden ohne Nutzen, dachte ich. Ende Juli 2018, keine drei Monate nach dem Sturz, war ich fertig mit der Reha. Die Schulter war wieder völlig in Ordnung. Nur der Rücken leider immer noch nicht.

Klar, ich kam immer besser in Schwung, konnte mit den Kollegen im Training auch wieder mithalten. Aber irgendetwas fühlte sich nicht gut an. Es war wie in den letzten drei Weltcup-Wochen nach Olympia in Pyeongchang. In meinem Körper schien etwas nicht mehr zusammenzupassen. Ich kam immer nur bis zu einem bestimmten Level, aber nicht darüber hinaus. Ein Gefühl, als zöge der Körper die Handbremse.

Das merkte ich an den hochtechnologischen Laufbändern, die alle möglichen Daten zu unseren Leistungswerten ausspuckten und auf die ich mich verlassen konnte. Für mich war das stets ein guter Gradmesser, und ich musste feststellen, dass ich so viel geben konnte, wie ich wollte: Mir fehlten immer drei bis fünf Prozent zu den Werten meiner besten Jahre. Das mag für einen Außenstehenden nicht nach allzu viel klingen. Im Leistungssport aber sind drei bis fünf Prozent Welten.

Was mich antrieb, war die Aussicht, dass es irgendwann schon besser werden würde, am besten recht bald. Damals war das auch eine berechtigte Hoffnung. Später wurde es immer mehr zu einer Illusion.

Der Weltcup-Auftakt Anfang Dezember 2018 in Pokljuka war recht vielversprechend: Platz 5 im Sprint, das machte Mut. Doch das war es dann auch schon. Danach ging es mit den Rückenproblemen aufgrund der hohen Intensität der Wettkämpfe wieder los. Ich wurde schlechter und schlechter, lief nur noch hinterher. Nach einem 70. Platz im Sprint in Oberhof stieg ich in Absprache mit den Trainern aus dem Weltcup aus. Ich war raus. Ich brauchte Abstand.

Während die Saison für Franzi noch weiterging, flog ich erst einmal in den Urlaub. Elf Tage Dominikanische Republik. Abschalten, baden, am Strand liegen, nichts tun. Nach Saisonende waren Franzi und ich noch mal gemeinsam weg – Thailand, noch ein Tapetenwechsel, der mir guttat. Die Gesamtsituation war sehr frustrierend und führte zu einer chronischen Unzufriedenheit.

Auch im Sommer 2019 wurde es nicht besser, ich kam mit meiner Leistung nicht mehr dorthin, wo ich schon mal war. Die Werte, die ich nach drei Trainingsmonaten im Juli hatte, waren hinter denen, die ich in meinen besten Jahren beim Trainingsauftakt im Mai hatte. Ich kam nur noch zu einem gewissen Punkt, aber nicht darüber hinaus. Ich war nicht mehr auf einem Level, um mich von der grauen Masse abzuheben. Von der Weltspitze war ich weit entfernt.

Furchtbar ernüchternd war die Tatsache, dass ich keine Lösung parat hatte. Ich wusste nicht, wo ich ansetzen sollte, um wieder auf mein altes Niveau zu kommen. Mein Körper streikte. Er wollte nicht mehr.

Das setzte sich Ende 2019 fort. Ich war im Weltcup nicht mehr in der Lage, drei oder vier Wochen am Stück durchzupowern, so wie es gefordert wird, wenn man ganz vorne mitlaufen möchte. Auch hier war es eine völlig verkorkste Saison, auch hier war nach Oberhof Anfang 2020 Schluss mit dem Weltcup – und der Traum von der WM in Antholz war geplatzt. Das tat verdammt weh, und zum ersten Mal stellte sich mir die Frage, ob das alles noch Sinn ergab, ob es das alles noch wert war.

Antholz 2020 war ein großes Ziel. Dort, wo ich 2014 erstmals ein Weltcup-Rennen gewann, wo ich insgesamt fünf meiner zwölf Siege in einem Einzelrennen feiern konnte. Antholz, das war meine Paradestrecke. Nun konnte ich nicht mit. Stattdessen lief ich auf der anderen Seite Südtirols, im Westen im Vinschgau im zweitklassigen IBU-Cup. Auch hier gingen mir die Gedanken durch den Kopf, ob ich mir das noch antun oder meine Karriere nicht lieber beenden wollte.

Innerlich verspürte ich jedoch nicht das Gefühl, dass ich am Ende war. Das kann es doch noch nicht gewesen sein, dachte ich. Vielmehr glaubte ich, dass mein Körper eines Tages wieder mitspielen würde und dass ich sportlich wieder glücklich und zufrieden sein könnte. Doch zugleich mehrten sich eben auch die Zweifel. Und die Zweifel wurden immer größer, vor allem im Sommer 2020.

Zu keinem Zeitpunkt mehr hatte ich das Gefühl, als würde es wieder besser werden, als kämen die Frische und damit auch die Freude zurück. Es machte alles keinen Spaß mehr. Okay, im September holte ich mir noch einen Titel bei den Deutschen Meisterschaften auf Skirollern; das war schön und hat mich auch gefreut. Aber mein Körper fühlte sich weiterhin nicht mehr wie der an, den ich einmal hatte.

Im November waren wir im Trainingslehrgang in Muonio, hoch oben im Norden Finnlands. Intern liefen wir zwei Ausscheidungsrennen für den anstehenden Weltcup-Auftakt in Kontiolahti, für den sich Erik Lesser und Roman Rees qualifizierten. Die Tatsache, dass ich dort nicht dabei war, wäre noch verschmerzbar gewesen. Viel schlimmer war, dass ich wusste, das wird nichts mehr. Es war ein Gefühl der lähmenden Hilflosigkeit. Ich war machtlos.

In Muonio war es auch das erste Mal, dass ich Franzi gegenüber deutlich sagte, ich sähe für mich keine Zukunft mehr. Dass ich nach all der Zeit seit Olympia 2018 mit meiner Leistung nicht mehr auf die Füße komme. Dass ich wahrscheinlich nicht mehr lange Biathlet sein werde. Wenn du drei Jahre lang von Winter zu Winter immer schlechter wirst, dann wird es einfach sinnlos. Es führte nirgendwo mehr hin. Mir war klar, das war nicht mehr ich. Und ich konnte nicht mehr der Athlet Simon sein, der ich war und der ich sein wollte.

Für Franzi kam das alles nicht ganz überraschend. Sie hatte es ja miterlebt: meine Sinnkrisen, meine Unzufriedenheit, meinen Frust und wie sehr das auf die Lebensqualität ausstrahlte. Und sie erzählte mir, wann ihr das erste Mal aufgefallen sei, dass ich mich womöglich innerlich langsam schon vom Biathlon verabschieden würde.

Es war zwei Monate davor, im Frühherbst 2020 bei einem Lehrgang am Dachstein, als ich mit einem Mannschaftskollegen beim Fußballspielen zusammenrumpelte und mein Zeh anschwoll. Das war nichts Dramatisches, nur kam ich für ein paar Tage in keinen Schuh mehr hinein. Also fuhr ich nach Hause und pausierte. In diesen Tagen, meinte Franzi später in Muonio, sei ich ganz anders gewesen als sonst. Früher brannte ich für jedes Training. Die Tage, an denen ich mal keinen Bock auf Training hatte, konnte man in meiner Karriere an zwei Händen abzählen. Vielleicht mal bei fünf Grad Celsius und Dauerregen, da hielt sich der Spaß doch in Grenzen. Was ich früher jedoch gar nicht haben konnte, das waren erzwungene Trainingspausen. Gelegentlich verletzt oder krank zu sein, das ging gar nicht und machte mich wahnsinnig. Was nicht so sehr mir, dafür aber der Franzi nach der Rückkehr vom Dachstein auffiel: Ich war wesentlich entspannter und gelöster. Und tatsächlich war es so. Das Feuer, die Leidenschaft für Biathlon, allmählich begann die Flamme zu erlöschen.

Nach meiner Rückkehr aus Muonio telefonierte ich mit meinen Eltern. Auch sie hatten mitbekommen, dass ich seit Olympia sportlich nicht mehr so glücklich war. Und wie Eltern nun mal sind, wollen sie immer das Beste für ihre Kinder und dass es ihnen gut geht. Auch sie hatten volles Verständnis und meinten, dass der Tag ohnehin irgendwann mal gekommen wäre. Ihnen sei klar, dass ich nie eine wichtige Entscheidung unüberlegt treffen würde. Schließlich hätte ich doch so viel erreicht, dass ich es nicht mehr nötig hätte und keinem mehr etwas beweisen müsste.

Ich glaube, auch meine Eltern hatten in den letzten Jahren meiner Karriere mitgelitten, wenn sie mich im Fernsehen bei den Rennen sahen. Und dass es nicht eben mal drei Wochen waren, in denen ich in einem Leistungstief steckte, sondern drei Jahre.

Ich telefonierte mit Michi Greis, einem langjährigen Freund, mit dem ich in den ersten Jahren meiner Profikarriere gemeinsam trainiert hatte und im Weltcup gelaufen war, auch mit ihm wollte ich mich austauschen. Ich wusste, er war in einer ähnlichen Lage am Ende seiner Karriere. Bei ihm konnte ich mir sicher sein, dass er mir seine ehrliche Meinung sagte und nicht das, was ich gerne hören wollte. Er meinte, die Überlegung sei nachvollziehbar. Auch Marcus Höfl, mein Berater und Manager, konnte mich verstehen, sagte jedoch, ich solle mir noch einige Wochen Zeit lassen, mir alles nochmals durch den Kopf gehen lassen und nichts überstürzen. Denn wenn ich tatsächlich die Karriere beenden sollte, dann würde kein Tag mehr so sein wie früher. Also ließ ich mir noch etwas Zeit. Auch wenn ich innerlich schon so gut wie abgeschlossen hatte.

Kurz vor Weihnachten liefen wir in Ruhpolding noch interne Ausscheidungsrennen für den Weltcup in Oberhof Anfang Januar. Tatsächlich konnte ich mich qualifizieren, und schließlich stand noch die World Team Challenge an, die wegen Corona nicht wie sonst in der Arena auf Schalke stattfand, sondern in Ruhpolding. Eigentlich wäre das auch ein schöner Abschluss gewesen, aber dann belegten Franzi und ich als Duo den 2. Platz. Und mit dem Ticket für Oberhof in der kommenden Woche in der Tasche dachte ich mir: Den einen Weltcup versuchst du noch und gibst alles.

Am 8. Januar, am ersten Tag des Weltcups in Oberhof, kam ich im Sprint auf Platz 58.

Am Abend lag ich bei unserem Physiotherapeuten Silvio Thieme auf der Massagebank. Silvio und ich sind seit einigen Jahren gute Freunde, und wenn ich bei ihm in Behandlung war, unterhielten wir uns über viele Dinge, darunter auch über das ein oder andere Thema, das sonst keiner hören sollte. Wir konnten uns beide stets darauf verlassen, dass es unter uns blieb. So auch diesmal, als ich ihm sagte, das Verfolgungsrennen am nächsten Tag werde wohl mein letzter Einsatz im Weltcup sein.

Er schien es schon zu ahnen, denn er sagte, das werde ihm verdammt wehtun. Fast noch mehr schmerze ihn jedoch, mich so zu sehen, unglücklich und unzufrieden irgendwo im Klassement herumdümpelnd. Wo ich früher wohl gelandet wäre bei nur einem Schießfehler wie an diesem Tag, gab er mir zu verstehen. Möglicherweise auf dem Podium, gewiss unter den besten zehn. Aber doch nicht auf Platz 58.

Am nächsten Tag beim Verfolgungsrennen, am 9. Januar, war ich 13 Plätze besser, immerhin auf Rang 45. Eine komplette Nullrunde glückte mir bei einem Fehlschuss nicht. Aber zumindest saßen beim letzten Schießen alle Schüsse.

In all den Jahren hatte ich immer noch Licht am Ende des Tunnels gesehen und mir gesagt, irgendwann kommst du da wieder raus. Jetzt aber war kein Licht mehr zu sehen. Ich stand im Dunkeln. Es war vorbei. Ich hatte dabei ein weinendes, aber definitiv auch ein lächelndes Auge.

Am Abend hatte ich ein Gespräch mit den Trainern, mit Isidor Scheurl und Mark Kirchner. Die ganze Mannschaft blieb in Oberhof, weil dort in den kommenden Tagen der nächste Weltcup anstand. Der zweite Teil des Doppelevents, als zu Pandemiezeiten die Rennen von Ruhpolding an den Rennsteig verlegt wurden.

Isidor und Mark weihte ich nicht in meine Pläne ein. Wir kamen überein, dass ich erst einmal eine Wettkampfpause von einer Woche einlegen sollte. Dann ging ich zu den Betreuern und einigen Teamkollegen aufs Zimmer und verabschiedete mich, doch auch hier nicht endgültig. Bescheid wusste nur Franzi. Und seit dem Tag zuvor auch Silvio.

Auf der langen Heimfahrt von Thüringen nach Oberbayern kam keine Trauer auf. Ich musste mich erst sortieren, sprach in den folgenden Tagen mit meinen besten Freunden. Denn vor der Entscheidung, ganz aufzuhören, hatte ich großen Respekt. Jahrelang war ich gut aufgehoben, lebte in einem eigenen Kosmos. Vieles war vorgegeben, durchgeplant und strukturiert. Ich kannte die Abläufe, ich hatte Sicherheit, ich konnte davon leben. Meistens hatte ich gute Phasen, in den vergangenen Jahren jedoch auch schlechte. Aber ich wusste immer, was auf mich zukommt. Doch was käme jetzt?

Im Wissen, mit hoher Wahrscheinlichkeit meine Karriere zu beenden, hatte ich mich im Dezember 2020 für ein Studium ab März zum Wirtschaftsingenieur an der Technischen Hochschule Rosenheim eingeschrieben. Nur zu Hause herumhängen und längere Zeit nichts tun, das wäre für mich nicht infrage gekommen. So war dann klar, dass ich bald meinen Entschluss mitteilen müsste.

Eineinhalb Wochen nach Oberhof sollte ich in den Bayerischen Wald fahren, zu den Rennen am Großen Arber im zweitklassigen IBU-Cup. Aber das wollte ich nicht mehr. Ich hatte abgeschlossen. Also rief ich Bernd Eisenbichler an, den Sportlichen Leiter Biathlon im Deutschen Skiverband (DSV), und teilte ihm meinen Entschluss mit, und zwar mit der Bitte, das für einige Tage noch vertraulich zu behandeln. Mir war wichtig, dass es all die Menschen, die mich in meiner Karriere begleitet hatten und die mir etwas bedeuten, von mir selbst erfahren. Dafür brauchte ich noch etwas Zeit. So entsprach Bernd meinem Wunsch und meldete mich für den IBU-Cup krank. Dadurch hatte ich in den Tagen danach Gelegenheit, die Liste, die ich mir angefertigt hatte, abzuarbeiten. Eine Liste mit gut 45 Namen: Freunde, Bekannte, Arbeitgeber, Sponsoren, Kollegen, Konkurrenten, Betreuer und Trainer.

Das Feedback war durchweg positiv. Kaum einer, der vor lauter Überraschung aus den Wolken gefallen wäre oder gar den vergeblichen Versuch unternommen hätte, mich umzustimmen. Am 28. Januar 2021, 19 Tage nach meinem letzten Rennen, verkündete ich offiziell meinen Rücktritt.

Auch hier bekam ich fast ausschließlich positive Rückmeldungen, was mich sehr glücklich machte, und ich spürte: Bei all dieser Resonanz hast du in deiner Karriere als Sportler und als Mensch vielleicht doch nicht viel so falsch gemacht. Es war alles gut.

Kurz danach fand die WM in Pokljuka statt. Die Rennen verfolgte ich vor dem Fernseher, ganz entspannt und ohne zu hadern. Ich freute mich über die Silbermedaille für Arnd im Einzel über 20 Kilometer und natürlich auch über Franzis Staffel-Silber und ihre konstant guten Wettkämpfe.

Als Franzi heimkam, hatte sie aber nicht nur die Medaille im Gepäck, sondern auch ein ganz besonderes Geschenk. Es war ein von ihr zusammengestelltes Video, das sie mir nach ihrer Rückkehr am Abend zeigte. Mit Ausschnitten von einigen großen Rennen meiner Karriere, vor allem aber mit persönlichen Clips von etwa 25 Menschen, von denen sie wusste, dass sie mir etwas bedeuten. Von meinen Eltern, die wahrscheinlich das erste Mal einen Film mit dem Handy aufgenommen hatten. Von Arnd Peiffer, Andi Birnbacher, Michi Greis und Benni Doll, von Tarjei Bø und Emil Hegle Svendsen, von Ole Einar Bjørndalen, Dorothea Wierer, Magdalena Neuner und Martin Fourcade. Silvio, unser Mannschaftstherapeut, war natürlich auch dabei, ebenso meine ehemaligen Trainer Fritz Fischer und Andi Stitzl. Aber auch Sportler wie Jan Frodeno und Bastian Schweinsteiger. Ich kenne Basti gar nicht persönlich, ich war nur immer ein großer Fan von ihm. Ich fand das saucool, und es bestätigte meinen Eindruck, dass er ein sehr bodenständiger und sympathischer Charakter ist.

Gut eine Stunde dauerte dieses großartige und so einzigartige Video. Eine Stunde, die dann doch verdammt tief unter die Haut ging. So ruhig, gelassen und gelöst ich in den Wochen zuvor rund um mein Karriereende gewesen war: Das war dann doch dieser eine Moment, der mich zutiefst berührte und überwältigte.

Im Lauf meiner Karriere hatte ich mir immer wieder mal Gedanken gemacht, wie das letzte Rennen wohl sein würde. Natürlich malt man sich das als Sportler aus: zum Abschluss der Laufbahn noch einmal ein großer Erfolg! Eine WM-Medaille oder eine Olympiamedaille als krönendes Finale, das wäre doch was. Aber ganz ehrlich: So ein märchenhaftes Happy End ist nur wenigen vergönnt.

Martin Fourcade hat das gut hinbekommen, als er 2020 in Kontiolahti seine Karriere mit einem Sieg im Massenstart beendete. Und das auf den Tag genau zehn Jahre nach seinem allerersten Weltcup-Sieg. Am selben Ort und auf derselben Strecke. Bei mir war es halt ein 45. Platz im Geisterrennen von Oberhof. Aber das war kein Grund zum Grollen. Denn die Jahre, die ich im Biathlon erleben durfte, werden mich immer begleiten. Deswegen ist es auch ein Blick zurück in Freude, Glück und Zufriedenheit, aber auch in Demut und in Dankbarkeit. Ein Blick zurück auf eine Karriere, die einst in einem kleinen Dorf in Schwaben begann.

Kapitel 2: Kindheit und Jugend

Natürlich Spitzensportler. Was denn sonst.

Wenn ich als Kind daran dachte, was ich gerne einmal werden würde, gab es für mich keinen anderen Berufswunsch. Ich wollte nicht Feuerwehrmann oder Lokführer werden, nicht Astronaut oder Bundeskanzler, sondern nur Profisportler. Etwas anderes kam für mich eigentlich nicht infrage. Mit der detaillierten Konkretisierung meines Plans hakte es jedoch ein wenig, denn welche Sportart es am Ende werden würde, darüber war ich mir noch im Unklaren. Handballer vielleicht? Oder Leichtathlet? Oder doch alpiner Skirennläufer? Hatte ich alles ausprobiert, alles im Verein. Dass ich beim Biathlon landen würde, das war erst einmal noch nicht abzusehen. Der Ort, in dem ich aufwuchs, war auch nicht gerade für seinen Ruf als Biathlon-Hochburg berühmt: meine Heimatstadt Uhingen im Filstal, Landkreis Göppingen, 35 Kilometer südöstlich von Stuttgart gelegen.

Geboren wurde ich 1988. Die ersten zwei Jahre bis 1990 wohnten wir im Nachbarort Rechberghausen, dann bauten meine Eltern am nördlichen Stadtrand von Uhingen ein Haus. Wir brauchten mehr Platz, denn die Familie wurde immer größer. Eineinhalb Jahre nach mir kam meine Schwester Sarah auf die Welt, weitere zwei Jahre später mein Bruder Volker.

In der Rückschau kann ich sagen, eine sehr glückliche Kindheit gehabt zu haben. Das Miteinander mit meinen Eltern und Geschwistern war harmonisch. Wir waren – und sind es zum Glück auch heute noch – eine intakte Familie. Es gibt viele Dinge, an die ich gerne zurückdenke. Beispielsweise an die vielen gemeinsamen Spieleabende. Oft saßen wir zu fünft beim Kniffeln am Tisch, später hatten wir unter anderem »Die Siedler von Catan« für uns entdeckt, natürlich mit sämtlichen verfügbaren Erweiterungen, mit den Seefahrern, den Städten und Rittern. Die »Siedler« hatten Suchtpotenzial – auch wenn es oft im Streit endete, denn verlieren konnte von uns Kindern jeder schlecht.

Schöne Erinnerungen habe ich auch an die alljährlichen Urlaube im Sommer. Weggeflogen sind wir nie, Fernreisen waren damals kein Thema. Dafür sind wir jedes Jahr zum Campen gefahren, für gewöhnlich in den Süden, in die Schweiz, nach Frankreich, Österreich, Italien, Spanien und nach Korsika. Der Bus war immer vollgepackt bis unters Dach; das ganze Gepäck reinzubringen und zu verstauen, das war wie Tetris.

Wir hatten ein großes Zelt mit zwei Schlafkammern. In der einen lagen die Eltern, in der anderen wir Kinder. Natürlich brachte es ein Urlaub auf engstem Raum mit sich, dass man sich immer wieder mal fetzte und stritt. Aber es wurde nie böse, nie beleidigend oder verletzend. Am Ende war wieder alles gut.

Campingplätze waren für uns Kinder ein großes Abenteuer. Neue Bekanntschaften mit Gleichaltrigen ergaben sich sehr schnell, und wenn man mal nicht auf einem Ausflug unterwegs war, sondern einen Ruhetag auf der Anlage verbrachte, dann war ich viel unterwegs – auf dem Spielplatz, meist aber an Bächen, an Seen und in den Wäldern. Oft war das Fahrrad mit dabei, die Plätze lagen in der Regel mitten in der Natur, da gab es viel zu erkunden und entdecken.

Nur wenn unsere Mutter quer über den Campingplatz rief, das von ihr auf zwei Gaskochern zubereitete Abendessen sei fertig, mussten wir wieder zurück zum Zelt. Lästig war einzig der Spüldienst, wenn wir drei Kinder nach dem Abendessen das Geschirr abwaschen mussten. Das gehörte aber dazu.

Es war kein Leben im überschwänglichen Luxus, kein Leben in Saus und Braus, das uns mondäne Urlaube in Fünf-Sterne-Resorts ermöglicht hätte. Mein Vater arbeitete damals als Messtechniker bei einer Firma für Steuerung und Automation in Deizisau, meine Mutter betrieb wie auch heute noch eine Praxis für Physiotherapie in Uhingen. Wirklich große Sprünge waren bei uns nicht drin, aber das machte nichts, ganz im Gegenteil. Wir waren alle glücklich mit diesem Leben und wussten die Dinge, die wir uns ermöglichen konnten, dafür umso mehr zu schätzen.

Allein die Tatsache, dass wir jedes Jahr zweimal in den Urlaub fahren konnten, war schon ein großer Luxus. Im Winter fuhren wir zu Beginn der Weihnachtsferien über die Feiertage für mindestens eine Woche regelmäßig in die Schweiz, nach Frauenkirch, einem Nachbarort von Davos, wo wir eine kleine Ferienwohnung besaßen. Es ist eine Gegend mit einer gewaltigen Bergkulisse und großartigen Skigebieten, hier befinden sich Parsenn, Pischa und das Jakobshorn. Auch hier konnten wir uns keine fünf Wochenpässe leisten. Alpin-Skifahren absolvierten wir normalerweise einmal pro Urlaub, ansonsten gingen wir eben zum Langlaufen, auf Skitour oder wir improvisierten und bauten uns neben der Ferienwohnung Schanzen, die uns nicht hoch genug sein konnten und über die wir mit unseren Schlitten, Plastikbobs oder Ski hinwegsegelten.

Was ich in meiner Kindheit überhaupt nicht mochte, waren Ausflüge in Museen oder in den Zoo. Natürlich unternahmen wir so etwas auch mal, zum Glück aber nur selten, ich empfand das als ziemlich öde und langweilig. Auch bei Tagestouren in die Umgebung zum Spazieren und Wandern hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Die drei sogenannten Kaiserberge in der näheren Umgebung, der Rechberg, der Stuifen und der Hohenstaufen gehörten auch bei uns zum Pflichtprogramm für eine Exkursion. Mir war es allerdings lieber, wenn sich etwas rührte und es abenteuerlich wurde, wenn wir mit dem Kajak auf eine Wildwassertour gingen. Das war eine alte Leidenschaft meines Vaters.

Überhaupt waren Sport, Bewegungen und Aktivitäten bei uns insgesamt sehr wichtig. Daher legten unsere Eltern uns drei Kindern schon sehr bald nahe, uns einen Sportverein zu suchen. Die Sportart war ihnen egal, nur ganz ohne Verein, das war eben nicht drin. Auch Instrumente sollten wir lernen, allerdings war mein Interesse eher überschaubar. Erst hatte ich Flötenunterricht, danach stieg ich um auf Keyboard. Langfristig wurde aber nichts daraus, nach knapp vier Jahren war meine Musikkarriere schon wieder zu Ende.

Im Sport hingegen war ich mit vollem Einsatz dabei. Los ging es zunächst mit Leichtathletik bei der LG Filstal, damals war ich fünf Jahre alt. Die Sportanlage lag unweit von unserem Elternhaus entfernt, auf halbem Weg in den Nachbarort Holzhausen. Meine Stärken lagen in den Wurfdisziplinen, aber auch in den Ausdauerläufen: 800 Meter, 1000 Meter, Mittelstrecke, darin war ich ganz gut. Mit zunehmendem Alter entdeckte ich beispielsweise auch den Stabhochsprung für mich. Mit 13 Jahren kam ich immerhin auf 3,20 Meter.

Parallel dazu spielte ich viele Jahre lang Handball, ein Sport mit einer großen Historie bei uns in der Region, allein schon wegen »Frisch auf! Göppingen«, dem Traditionsverein und neunfachen Deutschen Meister aus der großen Kreisstadt nebenan. Mein Bruder übrigens war im Turnverein; Geräteturnen, Barren, Boden, Ringe und Reck. Er war dadurch sehr kräftig und zudem ein sportliches Naturtalent. Hätte er sich für eine Biathlonkarriere entschieden – wer weiß, vielleicht wäre er der Erfolgreichere von uns beiden geworden.

Ich jedenfalls war nicht nur im Leichtathletik- und Handball-, sondern auch noch im Skiverein, in der Ski-Zunft Uhingen, Abteilung Alpin.

Das Skifahren war mit viel Aufwand verbunden, allein schon wegen Uhingens Lage, fernab der Berge, auf einer Meereshöhe von nicht einmal 300 Metern. Schnee war bei uns eher eine Seltenheit. Die nächstgelegenen Skigebiete lagen auf der Schwäbischen Alb, es gab den Skilift in Westerheim oder die Bläsiberg-Lifte in Wiesensteig. Aber garantiert schneesicher war es da eben auch nicht.