Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie - Olavi Paavolainen - E-Book

Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie E-Book

Olavi Paavolainen

4,8

Beschreibung

"Auge in Auge mit den Visagen des Dritten Reiches!" Vor genau 80 Jahren erschien das Werk "Kolmannen valtakunnan vieraana" [Zu Gast im Dritten Reich] des finnischen Schriftstellers Olavi Paavolainen. Auf Einladung der Reichsschrifttumskammer reiste Paavolainen 1936 nach Travemünde in das "Deutsch-Nordische Schriftstellerhaus" und besuchte zusammen mit anderen skandinavischen Schriftstellern die Nationalsozialistischen Parteitage in Nürnberg. Seine Beobachtungen und Eindrücke von Hitler-Deutschland hielt er in einer Rhapsodie fest. Es handelt sich dabei um eine subjektive, erlebnishafte Schilderung mit Quellenmaterial aus örtlichen Veröffentlichungen. Trotz anfänglicher Begeisterung ging er zu exakten kritischen Beobachtungen über, die auch die verdeckten Gefahren der nazistischen Macht erkannten. Eine Reihe satirischer Passagen verwehrte Paavolainen später den weiteren Zugang ins Deutsche Reich. 2014 jährte sich Paavolainens Todesjahr zum 60. Mal. Zu diesem Anlass erschienen in Finnland gleich zwei neue Biografien. Im Jahr 2016 sind dann 80 Jahre seit dem Erscheinen seines Buches "Zu Gast im Dritten Reich" (1936) vergangen und jetzt ist es auch für deutsche Leser erreichbar. Die vorliegende erste deutschsprachige Übersetzung, die auch einen Einführungsessay enthält, vermittelt die kritischen Ansichten eines ausländischen Beobachters über die protzigen Kraftaktionen Hitler-Deutschlands.

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Olavi Paavolainen

Zu Gast im Dritten Reich 1936

Rhapsodie
Mit einer Einführung von Anssi Halmesvirta (Hrsg.)
Aus dem Finnischen von Rolf Klemmt

Paavolainen, Olavi: Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie,Hamburg, acabus Verlag 2016

Mit einer Einführung von Anssi Halmesvirta (Hrsg.)

Aus dem Finnischen von Rolf Klemmt

Titel der Originalausgabe: Kolmannen valtakunnan vieraana. Helsinki 1936. (Die Übersetzung folgt der 6. Auflage, Otava Helsinki 1975)

Deutsche Erstausgabe

PDF E-Book: ISBN 978-3-86282-426-7

epub: ISBN 978-3-86282-427-4

Print: ISBN 978-3-86282-424-3

Die Orthographie wurde behutsam modernisiert. Die Interpunktion folgt weitestgehend der Originalausgabe.

Lektorat: Lara Maaß, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: Foto Olavi Paavolainen, mit freundlicher Genehmigung der Finnish Literature Society (Suomalaisen Kirjallisuuden Seura) Helsinki

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2016

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert durch FILI, einer Abteilung der Finnischen Literatur Gesellschaft SKS Helsinki.

Inhalt

„An den Leser“

„Anssi Halmesvirta (Herausgeber)“ –

„Der Machtanspruch des Dritten Reiches – mit finnischen Augen gesehen“

„Olavi Paavolainen“ –

„Zu Gast im Dritten Reich 1936“

„Vorwort zur ersten Auflage“

„Mare Nostrum“

„Neue Horizonte“

„Villa am Meere“

„Kerzenschimmer und Rotwein“

„Das verwunschene Schloss“

„Der deutsche Wald“

„Das Waldhorn des Nordwindes“

„Mare Nostrum“

„Am Heiligen Quell Deutscher Kraft“

„Bach in der Marienkirche“

„Der Menschengott“

„Der Triumph des Willens“

„Ouvertüre“

„Der neue Prometheus“

„Gog und Magog“

„Die Messe der Puritaner“

„Der blaue Tempel“

„Die Geburt Gottes“

„Morgenhymne“

„Antwort an Moskau“

„Eiserne Rhythmen“

„Apokalypse“

„Gen germanisches Sparta“

„Giovinezza“

„„Wir sind die neue Zeit““

„Liebe im Marschrhythmus“

„Ein politischer Hühnerhaufen“

„„Was rettet von der Liebe?““

„Das neue Sparta“

„Der deutsche Pan“

„Anmerkungen“

An den Leser

Olavi Paavolainen ist seit 2014 wieder präsent, denn anlässlich der 60. Wiederkehr seines Todesjahres erschienen in Finnland sogar zwei neue Biographien. Im Jahr 2016 nun ist er ebenso aktuell, denn es sind dann 80 Jahre seit dem Erscheinen seines Buches Zu Gast im Dritten Reich (1936) vergangen und jetzt ist es auch für deutsche Leser erreichbar. Hier nun endlich übersetzt und mit einem Einführungsessay herausgegeben, vermittelt es die kritischen Ansichten eines ausländischen Beobachters über die protzigen Kraftaktionen Hitler-Deutschlands.

Bei dieser Gelegenheit lassen sich die Politik der Stärke vor dem Weltkrieg, die beängstigende Kulturatmosphäre in ihrer antisemitischen und antibolschevistischen Haltung und arischen Rassenverherrlichung, die geistige Aufrüstung zum Krieg und dessen katastrophale Folgen für ganz Europa reflektieren. Die kulturelle Bedeutung des Paavolainen-Werkes für die Gegenwart kann sich so in ganz neuem Lichte eröffnen, nicht zuletzt auch für die Jugend, die in einer postmodernen, auch als nomadisch charakterisierten Welt lebt, in der die Identitätsfindung schwierig ist, der Irrweg zu Gewalt schürenden Extrembewegungen hingegen leicht zu sein scheint.

Zu Dank verpflichtet sind Herausgeber und Übersetzer Pekka Paavolainen für die Erlaubnis der Veröffentlichung, dem Verlag Otava für die Freigabe der Übersetzungsrechte und nicht zuletzt auch dem Institut für Geschichte und Ethnologie der Universität Jyväskylä, das unser Projekt wohlwollend begleitet hat.

Besonderer Dank gebührt vor allem dem Verlag acabus, Hamburg – Herrn Björn Bedey und der Programmleiterin Frau Daniela Sechtig – für das große Interesse und die schnelle und reibungslose Abwicklung unseres Projekts.

Jyväskylä, im Juni 2015

Anssi Halmesvirta und Rolf Klemmt

Anssi Halmesvirta

Der Machtanspruch des Dritten Reiches – mit finnischen Augen gesehen

Olavi Paavolainen wurde 1903 in Kivennapa, 60 Kilometer von Petersburg entfernt auf der heute russischen Karelischen Landenge geboren. Dorthin floh er stets in den Sommerferien aus dem zu lärmreichen Helsinki; er betrachtete sich übrigens sein Leben lang als Karelier. Die Familie zog in die Hauptstadt, als sein Vater Abgeordneter im Parlament wurde. Und hier begann Paavolainen 1921 an der Universität seine Studien der Ästhetik und Literatur. Er war anfangs sehr interessiert an Lyrik und bald titulierte man ihn als Dichter-Bohemien. Zusammen mit einigen anderen jungen Literaturfreunden gründete er 1924 (bis 1925) die Gruppe Tulenkantajat[Die Fackelträger], die sich einer vom Modernismus durchdrungenen Literaturkritik verschrieb.

Im Jahre 1927 reiste Paavolainen nach Paris. Danach enstand sein Werk Nykyaikaa etsimässä [Auf der Suche nach der Neuzeit, 1929] mit Analysen zur Urbanisierung und Rationalisierung, Beschreibungen neuer Kunstströmungen wie Dadaismus und Futurismus sowie Ansichten zu Jazz und russischer Revolutionsdichtung. Schon vorher hatte er zusammen mit Mika Waltari in der Bewunderung über die Technik der Gegenwart und atheistischen Ideen die Gedichtsammlung Valtatiet [Fernstraßen] herausgegeben. Beide Bücher erreichten nicht die Spitzen der Verkaufslisten, denn die wurden in Finnland damals von pathetischer, vaterländisch-nationaler Dichtung beherrscht. Der kulturpolitische Kampf zwischen extremer Linker und sich dem Faschismus annähernder Rechter führte mit schroffen Meinungsverschiedenheiten der Fackelträger zum Zerfall der Gruppe, ein Verlust, der Paavolainen höchst persönlich traf.

Anfang der 30er Jahre zog sich Paavolainen in die Stille Kareliens zurück und schrieb sein erstes eigentliches Durchbruchswerk, das Pamphlet Suursiivous eli kirjallisessa lastenkamarissa [Großreinigung oder in der literarischen Kinderstube, 1932]. Das Buch wurde eine Sensation. Einerseits polemisierte es die zeitgenössische Literatur mit Angriffen auf die „dekadenten“ jungen Schriftsteller: Abgesehen davon, dass die ihre Produktion kommerzialisierten, hatten sie sich auch selbst als ergiebiges Markenzeichen verkauft. Andererseits stellte das Werk, wenn auch in etwas lehrhaftem Ton, junge Autoren positiv vor, unter anderem Mika Waltari. Das Buch beweist auch, dass sich Paavolainen der Politik zuwandte. Aber es war schwierig für ihn, sich in der polarisierten politischen Kultur einer bestimmten Seite zu nähern. Er blieb Beobachter von außen, als scharf Stellung nehmender Reporter. Das Heimatland kam Paavolainen Anfang der 30er Jahre zu eng vor. Er interessierte sich deshalb mehr für neue europäische Ideen und Machtfaktoren, Deutschland und die Sowjetunion, deren Ideen einer völlig neuartigen, antibürgerlichen Gesellschaft ihn anzogen. Und da eröffnete sich ihm durch Vermittlung seines Verlags Gummerus die Gelegenheit, das Dritte Reich zu besuchen und kennenzulernen. Seine Schilderungen der Situation im Deutschland der 30er Jahre sind hochinteressant, weil sie einerseits von Bewunderung verklärt, andererseits aber mit tiefen Zweifeln behaftet sind.

Die Einnahmen aus dem Verkauf seines Buches erlaubten Paavolainen Reisen nach Südamerika 1937 und 1939 in die Sowjetunion. Von der Schönheit Moskaus war er begeistert, aber ein Reisebericht blieb ungeschrieben. Man darf annehmen, dass der Angriff der Russen auf Paavolainens Heimat Karelien im November 1939 die Verarbeitung seiner Notizen zu einem Buch verhinderte. Im Winter- wie auch im sogenannten Fortsetzungskrieg war Paavolainen mit Propaganda- und Aufklärungsaufgaben betraut und kümmerte sich nebenbei um karelische Kulturobjekte und Ikonen für die Sammlungen des Nationalmuseums. Auch sammelte er sein Kriegstagebuchmaterial und stellt es zu der Veröffentlichung Synkkä yksinpuhelu [Finsteres Selbstgespräch, 1946] zusammen. In diesem Buch vermittelt er den Eindruck, dass er sich vom Nazi-Deutschland und dessen „nordischen Gedanken“ (im vorliegenden Werk noch zeitweise bewundert) weit entfernt hat. Auch den Groß-Finnland-Gedanken lehnt er ab, und es ekelt ihn sogar an, mit welcher Begeisterung sich die finnische Geistlichkeit am neuen Kreuzzug nach dem Barbarossaplan beteiligen möchte. Das neue aufsehen­erregende Werk mit über tausend Seiten in zwei Bänden wird von den Zeitgenossen sowohl positiv als auch negativ aufgenommen. Die Vaterländischen verurteilen es als unpatriotisch und antinational, die Linken und die Liberalen ihrerseits verteidigen es wegen seiner schroffen Ehrlichkeit und Offenheit. Die Gegner verdächtigten ihn sogar der Bisexualität – die Kriegsinterpretation eines Dandys war nur schwer zu schlucken – fanden dafür aber weder Beweise noch Anhang.

Der Verlust von Heim und Heimatgegend an die Sowjetunion war für Paavolainen ein schwerer Schock, den er eigentlich nie verwunden hat. Das gleiche gilt für den Niedergang der großen europäischen Ideen. Im Nachkriegs-Finnland fand er sich zunächst kaum zurecht, mithilfe der Direktorin des Finnischen Rundfunks, Hella Wuolijoki, bekam er jedoch 1947 den Posten des Chefredakteurs der Radiozeitung, später wurde er Leiter der Theaterabteilung des Rundfunks; diese Stellung bekleidete er bis zu seinem Tode. Er starb am 19.7.1964 an einer durch Alkoholismus verursachten Leberzirrhose.

Paavolainens Persönlichkeit könnte als chameläontisch charakterisiert werden. Weil er sich veränderte, war er kaum in den Griff zu kriegen, von den Einen geliebt, von Anderen belächelt. In den 30er Jahren trat er als Kulturkorrespondent auf, der mit impressionistischem Scharfsinn über Ereignisse von seinen Auslandsreisen berichtete, als intellektueller Zeuge bei wichtigen Großveranstaltungen. Er sah seine Zeit vielleicht passionierter als irgendein anderer Finne, wie sein Biograph Riikonen festhält: Er prüfte alles, was sich in der Zeit bewegte und ereignete, derartig intensiv, dass er an Schlaflosigkeit litt. Zugleich brachte er seine Landsleute dazu, die Ereignisse und ideologischen Gegensätze in der Welt kritischer zu sehen. Eine seltene, beinahe einzigartige Erscheinung war Paavolainen in seiner Eleganz, gepflegt und mit stilvoller Kleidung, womit er auch andere zu hohem Niveau im Aussehen animierte. Er hegte und pflegte seine Fassade und äußerte sich satirisch zu Stillosigkeit und Geschmacklosigkeiten. Als Ästhet erinnerte er an eines seiner Vorbilder, Oscar Wilde.

*

Das gewaltigste politische Kulturspektakel waren im vergangenen Jahrhundert die Nationalsozialistischen Parteitage Hitler-Deutschlands vom 8.-14. September 1936 in Nürnberg. In diesem Jahr hatte Adolf Hitler – bereits unumstrittener Führer – drei entscheidende Schritte unternommen, Deutschlands Ehre wiederherzustellen: Er kündigte einseitig den Vertrag von Locarno auf, dessen Sinn es war, einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland vorzubeugen; er besetzte das westliche Rheinland, das Saarland hatte sich schon durch Befragung selbst angeschlossen; und er rüstete die Wehrmacht zu einer mächtigen Armee auf. Auf den Parteitagen waren auch finnische Beobachter anwesend, unter anderem der radikale Schriftsteller und führende Modernismuskritiker Paavolainen. Er war auf Einladung der Reichsschrifttumskammer in die Autorenresidenz, das Travemünder Dichterhaus gekommen, um die deutsche Literatur und das totalitäre Kulturleben Deutschlands kennenzulernen. Er traf freilich dort ebenso wenig bedeutende Schriftsteller wie in Nürnberg, Gustav Frenssen13) vielleicht ausgenommen.

Der Höhepunkt seiner Deutschlandreise war für Paavolainen eben Nürnberg. Als er darüber schrieb, war er am „begeistertsten“, wie H.K. Riikonen in dessen Biographie Nukuin vasta aamuyöstä. Olavi Paavolainen 1903-1964 [Ich schlief erst im Morgengrauen ein, 2014] bemerkt. Nach seiner Rückkehr und siebenwöchiger Schreibarbeit warf er seine Reportage Kolmannen valtakunnan vieraana [Zu Gast im Dritten Reich] 1936 auf den weihnachtlichen Buchmarkt und bezeichnete diese selbst als Rhapsodie, denn es handelte sich ja nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung zum Nationalsozialismus, sondern prinzipiell namentlich um eine subjektive, erlebnishafte Schilderung mit Quellenmaterial aus örtlichen Veröffentlichungen, Zeitungen und Reden. Das Buch wurde in Finnland sofort zu einem unmittelbaren und umstrittenen Bestseller, Ereignis des Jahres. Es wurde auch schnell ins Schwedische übersetzt [Som gäst i tredje riket, 1937]. Es unterschied sich von anderen Darstellungen zum Nationalsozialismus darin, dass es nicht sonderlich deutschfreundlich, aber auch keineswegs deutschfeindlich war, sondern dem finnischen Leser das nationalsozialistische Welterlebnis vermitteln wollte. Da das Werk allerdings zahlreiche satirische Textteile enthielt und eindringlich das Gesehene und Erlebte beschrieb, was natürlich auch irgendwie Deutschland erreichte, war Paavolainen das Deutsche Reich fortan verschlossen. Der Inhalt veranlasste aber auch finnische Rechtsgelehrte dazu, die Willkür der Nazis und ihre Abkehr vom Rechtsstaat öffentlich zu kritisieren (vgl. Historian diktaattorityyppejä. Historian Aitta VII, 1937 [Historische Diktatortypen. Historischer Speicher VII, 1937]).

Paavolainens Buch ist weiter für die europäische Reiseliteratur ein wirklich seltenes Zeugnis eines Augenzeugen der Machtbestrebungen Nazi-Deutschlands. Sensationell modern war dabei der kommunikative Visualismus und die sogenannte „Politik des Auges“: Unter Tausenden anderer geladener, ausländischer Gäste sah, beobachtete und übermittelte Paavolainen seine Eindrücke und Erlebnisse kritisch, indem er die Züge des verweltlichten Glaubens und den ästhetischen, die Augen erfreuenden und erstaunlichen Show-Charakter des Spektakels scharf abzeichnete. Ein neues, modernes Sparta war geboren. Paavolainens zentrale Idee war: Es reicht nicht, Hitler und andere Naziführer reden zu hören, man muss sie auch sehen und über das Gesehene ist mit visuell-kritischem Zugriff und in gefühlvoller Sprache zu berichten.

Das Werk ist noch heute ein kontroverser Klassiker, es gab ja zahlreiche Neuauflagen (übernommen vom Verlag Otava, Helsinki) und es wird weiterhin als bedeutendes Objekt und Quelle literarischer Forschungen gelesen und genutzt. Ins Deutsche übersetzt liefert es dem Leser eine ungewöhnliche Interpretation des unheilverkündenden Spektakels in der widersprüchlichen Historie Deutschlands oder mit den Worten Paavolainens „des vielleicht größten Wendepunktes in der Geschichte Europas“. Der Streit um sein Verhältnis zu den Nazis hält bis in unsere Tage an.

Einen Vorgeschmack von Nürnberg hatte Paavolainen genossen, als er Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens – in vielen Ländern von der Zensur verboten – 1934 in Helsinki gesehen hatte. Der Streifen schockierte ihn. Schon die Eingangsszenen mit Hitlers Fliegerankunft wie „ein Gott vom Olymp auf einem Adler reitend“ im Morgennebel auf dem Flugplatz Nürnberg waren beeindruckend. Mit diesen Bildern im Gedächtnis begann Paavolainen zu beschreiben, was er bei dem Spektakel 1936 sah. Der verblüffte Zuschauer vermochte das in keiner Weise gelehrt erläutern; auch die Methoden der Ideengeschichte, Theorien politischer Untersuchung oder des dialektischen Materialismus, Analysen der Sozialpsychologie oder Parteipolitik konnten da nicht helfen, denn das Schauspiel war in sich selbst unlogisch und irrational in all seinem Pseudoglauben und der Heidenhaftigkeit. In einer Zeit, wo das Bild bereits das Buch ersetzte – erinnern wir uns an das Autodafé des Jahres 1933 –, gab es Bilder und Imagos mit wechselnden, oberflächlichen, zeitweise megalomanischen Ansichten, große Äußerlichkeiten schufen Bedeutungen. Das war Kommunizieren von Illusionen. Falls jemand glaubte, die Kamera könne nicht lügen, schufen die Nazis mit ihrem Kultspektakel doch Illusionen wie die deutschen Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Nachrichtenfotos von deren Revolution. Diese merkwürdigen, Illusionen hervorzaubernden Bilder ließen sich mit einem Blick ohne intellektuelle Anstrengung begreifen, und sie reizten die Sinne empfindlicher als tausend Worte. Die Nürnberger Parteitage waren die Klimax solcher bildlicher Darstellung – entworfen und realisiert in ungeheurem Maßstab.

Wie Paavolainen zu Beginn seiner Schilderungen feststellt, steht im Mittelpunkt der visuellen Kommunikation primär der von Erotik befreite Körper des Mannes. Er bemerkt zwar, dass Hitlers Erscheinung und Habitus als solche Frauen wohl kaum anziehen könnten, also gibt er diesen auch keinen sexuellen Anstrich, was er sonst im Allgemeinen eigentlich tat. Hitlers Statur war auch keineswegs das wichtige Objekt der Scheinwerfer, denn es vermittelte alles andere als ein erotisch-sexuelles Gehabe, eher die personifizierte Erscheinung des asketischen Führers. Der Idealfall des Parteikongresses dagegen war der junge Mann, nach der Ariertheorie der Zeit von nordischer Rasse, reiner dargestellt und klassifiziert sowie in der Rassenhierarchie höher angesiedelt als irgendeine andere Rasse einschließlich der finnisch-ostbaltischen. Paavolainen hatte schon in seinem Frühwerk Auf der Suche nach der Neuzeit bewundernd festgehalten, wie der Wiederaufbau Deutschlands nach dem I. Weltkrieg auch die „rassische“ Körperkultur der Jugend beeinflusste. Jetzt fand sie ihre Inkarnation im gesunden und lebenskräftigen Soldaten wie im halbnackten Körper der Arbeitsdienstler. Und auch bei der Hitlerjugend fand Paavolainen trotz derer kaum intelligenzorientierter Ideologie doch ästhetische Reize, weil ihr Menschenideal mit Vitalität, Kraft und Rassenreinheit stark von den altmodisch-nationalen, klassischen und auch sozialistischen Idealen Finnlands abwich.

Die Nazis befreiten die männliche Figur von aller bürgerlichen Individualität und machten sie als modernes, heidnisches Idol zum Objekt ihres öffentlichen Kultes. Damit waren nicht nur Hoffnung, Versuch und Zukunftsglaube verbunden, dem strammen Jugendlichen waren auch Rechte und Aufgaben zuteil geworden, von denen er früher nur träumen konnte. Sie waren kollektiv Besitz des Staates mit der Verpflichtung zu Arbeit und Kriegsteilnahme; sie sollten Helden werden – auch in diesem Fall Kultopfer im klassischen Sinne – aber rein bleiben, nichts in Frage stellen. Und sie alle marschierten als Masse von einer halben Million zur Inspektion auf dem Zeppelinfeld auf und waren damit etwa genau so viele wie die Zuschauer. Das war die bisher größte politische Show der Geschichte. Paavolainen bemängelt allerdings im gleichen Zusammenhang, dass der deutschen Frau in dieser niederträchtigen mannsbezogenen Rassenlehre zunächst nicht die geringste Bedeutung beigemessen wurde.

Während der Reise zum Schauplatz konnte Paavolainen lesen, wohin der Weg führen würde: Ein Reich – ein Volk – ein Führer. Im Zug hörte er SA-Männer singen: […] und morgen die ganze Welt. Bei der Ankunft herrschte Führer-Wetter, wunderbarer Sonnenschein, als ob der Himmel das kommende Spektakel segnete. Die Verhältnisse, der organisierten und disziplinierten Masse Mensch ein kollektives Wort zu kommunizieren, waren vollkommen.

Als Ehrengast hatte Paavolainen die Möglichkeit, Alfred Rosenbergs Eröffnungsrede beizuwohnen, die er nicht für sonderlich interessant hielt. Bei der gleichen Veranstaltung konnte er auch Hitler hören und vor allem sehen, was er besonders wichtig fand. Dessen Charakterisierung fiel wesentlich positiver aus wegen der genialen Prophetie und gewaltigen Willenskraft, die übrigens das „komische Aussehen“ überdecken. Hitlers Redestil bezeichnet er als phänomenal, verzichtet aber darauf, die Inhalte zu polemisieren. Er verweist lediglich auf die Schwächen, unter anderem die „absolute Unwissenheit hinsichtlich schöpferischer Arbeit von Künstlern“. Außerdem lief bei Hitlers Auftreten stets alles auf den gleichen Schluss hinaus: Der Konflikt zwischen Nationalsozialismus und Bolschevismus sei „der größte Glaubenskrieg der Geschichte“. Paavolainens Voraussage von der „großen Wende in der europäischen Historie“ sollte sich bestätigen.

In seinen Beschreibungen geht Paavolainen von den Personen über zur Luitpold-Halle, dem Hauptgebäude der Parteitage, errichtet für „den Gott unserer Tage“ – Verkörperung eines modernen Messianismus –, in dem sich Spannung und ekstatische Züge der Veranstaltung vereinten. „Tragische Schönheit“ und Erhöhung zum Tode Geweihter – SA- und SS-Leute überall – berichten davon, wie die Nazis sie unter der Hakenkreuzfahne zu einem ungewissen Kreuzzug in Unkenntnis, ob dieser gelingen wird oder mit einer Niederlage endet, aussenden. Das war der zentrale Punkt des Spektakels: Erwartungen wecken und Glauben an eine große Zukunft schüren, nicht Errungenschaften oder Erfüllung versprechen. Die Bedeutung des Kultes lag gerade in Voraussagen und dem Aufbruch zur „endgültigen Entscheidung“. Dieser war ja schon lange erwartet und vorbereitet. Für Paavolainen war die Schaffung dieser Illusion ein Paradox – man mag es glauben oder nicht – aber es schien in keinem der anderen Anwesenden Zweifel aufkommen zu lassen.

Sein Leben lang erinnerte sich Paavolainen an das Präludium zu der Rede von Joseph Goebbels in der Luitpold-Halle. Zu Militärmusik wurden Hunderte von SA-Fahnen in die Halle getragen und hinter dem Rednerpult postiert. Vor der Ansprache spielte man eine Komposition von C.M. Weber. Paavolainen saß stumm den Führern des Dritten Reiches gegenüber. In ihrer Mitte verkündete Goebbels: „Hitler ist der beste Europäer.“ Als große Diva liebte er es, im Rampenlicht zu stehen und bei wichtigen Stellen erhob er die Hände, wenn die Gunstbezeugungen des Publikums nicht spontan genug waren. Diese Geste verdeutlichte Paavolainen, wie konkret die Nazis die Macht nun in ihren Händen hielten.

Unbedingter Höhepunkt war für Paavolainen die nächtliche Schau der politischen Führer auf dem Zeppelinfeld. Hier wurde der letzte Akt der „Politik des Auges“ inszeniert, hier lag in aller Größe der Kultplatz der neuerdings auferstandenen deutschen Urgemeinschaft. Paavolainen musste zugeben, dass Worte eigentlich nicht ausreichten, das zu beschreiben. Er versucht trotzdem zu erzählen, was er sah: Die Nürnberger Abendbeleuchtung und die Atmosphäre in der Stadt waren schon vo­rausdeutend: alle Laternen und Lampen gedämpft und die Straßen zum Festplatz von schwarz uniformierten SS-Männern wie zu einer Trauerfeier gesäumt, womit man außerdem auf den Ernst und die Heiligkeit der Veranstaltung hinwies. Auf dem Weg flatterten große, schwarze Fahnen und das Rednerpodest war mit rotem Hakenkreuzstoff verkleidet. Die Anzahl der strammen, salutierenden Männer überstieg wohl das Fünffache der finnischen Armee. Es folgte ein magisches Schauspiel, eine technische Spitzenleistung: Unsichtbare Scheinwerfer wurden hinter den Balkonen der Gäste eingeschaltet und eine rote Lichtpyramide erhellte den schwarzen Abendhimmel. Auf der etwa 250 Meter entfernten Rednertribüne erschien plötzlich wie ein Blitz vom Himmel Adolf Hitler. Er wurde mit Begeisterung begrüßt und bald war das ganze Feld von 155 großen Lichtquellen der Wehrmacht umzäunt, die einen riesigen, blauen Tempel an den Himmel zauberten. Die Lichtstrahlen reichten bis in die Stratosphäre, für Paavolainen kommunizierten sie etwas Unvergleichliches, Jenseitiges. Die Kuppel des Riesentempels war 250 Kilometer weiter sogar in der Tschechoslowakei zu sehen. Im Begeisterungsrausch der Zuschauer äußerte sich ekstatische Freude; damit war die Mitteilung angekommen: Die „primitiven“ Ritual­instinkte durch den gewaltigen visuellen Reiz schienen erwacht. Als Hitler das Ehrenpodest betrat, strömten 25.000 SS-Männer mit ihren Fahnen durch die Reihen der Soldaten – eine phantastische Ehrenbezeugung für das Idol, in Paavolainens Sinnen ein barbarischer Traum, ein heidnischer Albtraum. Dr. Robert Ley, Regisseur des Spektakels, verkündete: „Du – Hitler – Hitler – Hitler – wir grüßen dich und glauben an Gott, der dich uns geschickt hat.“ Worauf dieser messianisch antwortete: „Ich bin mit euch und ihr seid mit mir. Ihr könnt mich nicht alle sehen, aber ich sehe euch und ihr erkennt mich! Jetzt sind wir eins!“ Die Spannung war ins Unermessliche gestiegen, was Paavolainen verängstigte. Deshalb verließ er durch das Gedränge das Feld.

Rückblickend erinnerte sich Paavolainen des tragischen Schicksals Spartas. Er ahnte, dass der nazistische Maskulinenkult verheerende Folgen haben würde. Ihr Spott und Hass richtete sich auf Juden, Kommunisten und korpulente Bierphilister, denen nach dieser Zeremonie und den kriegerischen Reden nichts Gutes bevorstand. Paavolainen sagt dies nicht direkt, aber zwischen seinen Zeilen lässt sich ablesen, dass die Juden dem Untergang geweiht waren. Dies bewies auch die eindeutige Erwartung der SA- und SS-Männer eines Befehls zum Handeln. Dies und der ekstatische Beifallssturm der Zuschauer wiederum weckte bei einem großen Teil der Gäste sowohl Furcht als auch Bewunderung. Das Spektakel der Nationalsozialisten zeigte, dass es ihnen ernst war, die jubelnde Begeisterung der Massen, dass diese Schlacht gewonnen war: Der Führer hatte sie eingefangen, sie waren ihm hörig und würden tun, was er wünschte – nein, was er verlangte und befahl! Und das war Paavolainen zu viel. Drei Jahre später klopfte der Krieg an seine Haustür.

Paavolainens Erfahrungen waren zwiespältig: anfängliche Begeisterung wandelte sich zu exakten kritischen Beobachtungen, die die verdeckten Gefahren der nazistischen Macht betrafen. Des Weiteren machen die in seiner Rhapsodie zahlreich verwendeten Ausrufe- und Fragezeichen sowie kursiv und sogar gesperrt gesetzten Textteile seine kritische Haltung deutlich. Er ahnte Manches, konnte aber wohl die Konsequenzen nicht ganz klar absehen.

Im Übrigen: Der alliierte Kontrollrat erließ 1945 neue Gesetze, unter anderem das Kriegsverbrechergesetz. Dann fand 1946 der große Prozess gegen die großen und kleinen Schuldigen am II. Weltkrieg nicht in Berlin oder München, sondern auch in Nürnberg statt!

Olavi Paavolainen

Zu Gast im Dritten Reich 1936

Rhapsodie

Den Teilnehmern der Travemünder Runde

im Sommer 1936 widme ich die folgenden

Seiten mit kameradschaftlichem Dank.

Zeichen des Deutsch-Nordischen Schriftstellerhauses

Vorwort zur ersten Auflage

Allen Lesern und Kritikern meines Buches möchte ich mit André Gide sagen: Verstehen Sie mich nicht zu schnell.

Ich weiß selbst recht gut, dass es ein kühnes Unterfangen ist, ein solches Buch zu schreiben. Ich bin mir bewusst, dass ich mich damit entschließe, in ein echtes Wespennest zwiespältiger Meinungen zu stechen. In Finnland wurde nur in Zeitungen und Zeitschriften über den Nationalsozialismus geschrieben. Die Einen haben ihn bewundert, ohne zu begreifen, worum es sich eigentlich handelt, Andere haben sich das journalistische Maul zerrissen, ihn zu beschimpfen. Die Dritten haben versucht, ihn totzuschweigen.

„Zu Gast im Dritten Reich“ will keine Erläuterung zum Nationalsozialismus sein – noch nicht einmal eine Art Deutungsversuch. Der Autor hat keinerlei Voraussetzungen zu einem solchen Unternehmen. Ich habe beim Schreiben dieses Werkes versucht, auf die Angabe von „Quellen“ zu verzichten. Ich erzähle nur, was ich selbst gesehen, gehört und erfahren habe. Fast alle Zitate stammen aus Zeitungen oder Veröffentlichungen, die während meiner Reise erschienen sind, sowie von Reden, die ich mit eigenen Ohren gehört habe. Die von mir gezogenen Schlussfolgerungen und eröffneten Perspektiven – häufig sehr mutig und immer sehr subjektiv – gründen daher auf eigenen Erlebnissen. Ich habe so viele Eindrücke gesammelt, dass sich der Leser damit eine summarische Vorstellung davon bilden kann, wie das nationalsozialistische Welt­erlebnis, das Weltbild, eigentlich aussieht. Deshalb ist mein Buch eher als eine umfassende Reportage zu betrachten, und deshalb steht dafür der Untertitel „Rhapsodie“.

Ich weiß, dass sich viele darüber wundern werden, warum ich dieses Buch geschrieben habe und sich fragen, ob es „notwendig“ ist. Darauf kann ich nur mit einem sehr persönlichen Geständnis antworten. Mich hat niemals etwas mehr interessiert als die lebendige Gegenwart. Ich war und werde stets „auf der Suche nach der Neuzeit“ sein. Ich verbeuge mich vor der Zeit und vor dem Leben.

Der Nationalsozialismus ist derzeit lebendige Wirklichkeit.

Ich würde mich nicht wundern, wenn rechtsgerichtete Kreise mein Buch als Werbung für Antichristlichkeit betrachteten, Linke es für Nazipropaganda hielten. In gewisser Weise hätten beide recht. Ich empfehle Arvi Järventaus1) ebenso wenig eine Predigt in der evangelischen Kirche des Dritten Reiches wie Erkki Vala2) Konzentrationslager als Sommerurlaubs­platz. Ich wollte aufzeigen, dass es ein ebenso großer Irrtum ist, sich einzubilden, das Dritte Reich pflege die von den Vätern überkommenen Traditionen, wie es als Wiege neuer Barbarei zu sehen.

Obwohl ich Gast war, habe ich zu dem Gesehenen und Gehörten kein Blatt vor den Mund genommen, und zwar ohne Furcht. Mein Buch ist einseitig, denn ich betrat das Dritte Reich durch das Paradetor und nicht über die Treppe zur Küche. Ich kritisiere weder die Konzentrationslager noch die Judenverfolgung, denn beides wurde mir nicht gezeigt. Aber ich darf behaupten, dass die deutsche Kultur nicht tot ist, auch wenn Lion Feuchtwanger ausgewiesen wurde.

In aller Kürze: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, auch wenn das Wasser vielleicht schmutzig und dazu möglicherweise noch blutig wäre.

Auch der folgende Umstand mag meine Schilderung des Dritten Reiches stilistisch einseitig erscheinen lassen. Ich schloss gerade vor der Reise ein Werk ab, an dem ich bereits sieben Jahre gearbeitet hatte. Daher habe ich in meinem Buch dem neuen, vitalen und einfachen Menschentypen weitführende Aufmerksamkeit gewidmet, der Antichristlichkeit und dem Wandel in der Geschlechtsmoral. Diese drei Phänomene sind die Leitthemen meines neuen Buches, und sie zu untersuchen bot mir die Reise ins Dritte Reich außerordentlich reichhaltiges Material.

Den Hauptteil meines Buches bildet die Beschreibung der Nürnberger Parteitage 1936. Die Notwendigkeit gerade deren detaillierter Schilderung trennt die Meinungen dazu am schärfsten. Ich selbst halte das für das Wichtigste von allem. Beim Lesen finnischer Zeitungen in Deutschland erfasste mich oft Verzweiflung. Mir schien, dass man in Finnland im Allgemeinen gar nicht recht begriffen hat, was in der Welt heute vor sich geht. Wir nähern uns mit rasender Geschwindigkeit dem vielleicht größten Wendepunkt in der Geschichte Europas. Es ist ein verhängnisvoller Fehler, diese Geschehnisse jetzt mit kleinlichen Spitzfindigkeiten erledigen zu wollen. Man muss jetzt den Mut haben apokalyptisch zu denken.

Das Schicksal Europas liegt im Augenblick in den Händen Deutschlands. Absolut wortwörtlich ist Deutschland heute das Herz Europas. Es ist völlig gleichgültig, ob die unseren Kontinent erschütternden Schicksalsschläge von der neuen Lebenskraft dieses Herzens herrühren oder wie viele behaupten, lediglich von einer plötzlichen Kampferspritze. Das Herz Europas schlägt jedenfalls kräftig. Erschreckend kräftig.

Tuusula, Onnela, 19.11.1936

Mare Nostrum

Mikä meidät yhteen tulla antaa,

illansuu vai aamurusko uus?

Vähät siitä! Meri vailla rantaa

laulaa, sama laiva meitä kantaa.

Kauneinta on meren kumppanuus.

Lauri Viljanen3), Sommer 1934 im Gästebuch des Travemünder Dichterhauses

Was schenkt uns Zusammensein,

Abenddämmerung oder neue Morgenröte?

Was soll’s! Das Meer ohne Grenze

Singt, das gleiche Schiff trägt uns.

Das Schönste ist des Meeres Freundschaft.

Neue Horizonte

Niemand antwortet auf das Klopfen. Die großen, bis zum Boden reichenden Glastüren zwischen den hohen Steinpfeilern bleiben geschlossen. Hinter den dicken, zugezogenen Vorhängen sieht man nicht den geringsten Lichtschimmer. Der vom Meer her kommende feuchte Nachtwind lässt die dunklen Kronen des Parks schwanken. Die vertrockneten Blätter in den Blumenkästen vor den Fenstern im Obergeschoss zittern, und die Efeuranke am Geländer der großen Terrasse rauscht. Der prächtige, gepflasterte Strandpfad hinter dem Gartenzaun ist leer; unter den schönen Leuchtern wandelt kein einziger Mensch. Die Lichter des Kursaals, an dem ich gerade vorüberging, glänzen von Ferne durch die Bäume des Parks, und der Nachtwind trägt bis hierher ab und zu abgehackte Melodien.

Ich bin müde. Ich setze mich auf der dunklen und verlassenen Terrasse auf meinen Koffer. Was für grenzenlose Wehmut überall. Wieder kommt mir die Frage in den Sinn, die mich die ganze Schiffsreise lang bewegte, im Zug auf der Fahrt durch Dänemark, auf der stürmischen See mit der Eisenbahnfähre von Gjedser nach Warnemünde: Wozu nun wieder diese Reise? Was glaubst du hier zu finden? – Ich erinnere mich, wie ich im Salon des Schiffes die spanische Zeitschrift Nuevos Horizontes durchgeblättert habe. Neue Horizonte … Die Gallionsfigur sieht neuen Horizonten entgegen! Mich hat ein erstickend niedriger Himmelsrand zu viele Jahre umgeben. Ich bin keine Gallionsfigur mehr. Den größten Teil meiner Reise habe ich auf dem hinteren Teil des Schiffes zugebracht und die kreisende Möwenschnur im Dunkel der Nacht und das aufschäumende Wasser aus dem Lichtschein der Laternen schnell verschwinden sehen.

Ich bin keine Gallionsfigur mehr. Die Geheimnisse der Tiefe und das Kielwasser ziehen mich in ihren Bann – nicht eine irgendwo auftauchende Küste.

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Das letzte Mal war ich vor vier Jahren im Ausland. In London. Die Großreinigung war damals gerade erschienen. Eine bittere, von prickelnder Melancholie erfüllte Reise. Die erste Jugend hatte ihre endgültige Kündigung ausgesprochen.

Meine Absicht war, ein Buch über diese Reise zu schreiben. Ich zog mich aufs Land zurück, in mein Heimathaus nach Kivennapa, wo ich schon früher zwei Jahre damit verbracht hatte, meine literarische „Großreinigung“ zu planen. Ein hoffnungsloser Versuch. Unsere kulturelle Atmosphäre vernebelte sich gerade in diesem Herbst bedrohlicher als irgendjemand dies vorausgesehen hatte. Das konnte man freilich schon seit 1930 ahnen, als der Zugriff der Krise straffer wurde, eine Gebildetenzeitschrift nach der anderen einging und die Marschrhythmen der Bauernschaft das ganze Land erschütterten. Der Tiefpunkt setzte 1932 ein. Der Kampf um die „grüne Weide“ wurde zum Signal, das alle rückständigen und kulturfeindlichen Kräfte zur Einheitsfront aufrief. Es schien zeitweise so, dass für subjektiv und frei suchende Schriftsteller in Finnland kein Platz mehr war. Zu schriftstellerischer Tätigkeit verspürte ich keinen Hang mehr. Und trotzdem wusste ich die ganze Zeit während dieser stummen Jahre, dass in der Welt etwas geschah, was wir völlig falsch einschätzen. Wir sahen die Welt wie durch das grünlich trübe und verfälschende Fensterchen unserer Hütte. Revolution links und Revolution rechts … Aber man rief uns zu: „Die alten, erfahrenen, vererbten Werte in Ehren!“ Am anschaulichsten von allem: Die Geistlichkeit wandelte sich vom Verteidiger zum Angreifer!

Überall Verworrenheit der Begriffe. Unwissenheit, lächerliche Gutgläubigkeit, blinde Begeisterung, der Idealismus der Aufklärungslotterie organisierenden Tanten inmitten einer stählernen, zielstrebigen, in zwei Teile zerfallenden Welt …

He, du alter Krieger! Bist du müde – hat das lange Warten im dunklen Stall schon gänzlich deine Reflexe gelähmt? Gib dir die Sporen – du musst wieder losrasen, neue Horizonte für dich entdecken!

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Ich gehe nochmal ums Haus. Jetzt bemerke ich, dass auf der anderen Seite im Fenster des Kellergeschosses ein Feuerchen aufblitzt. Dort befinden sich Küche und Wohnungen der Bediensteten. Ein rotwangiges, junges Mädchen öffnet die Tür. Lübecker Mundart quirlt lebhaft von ihren Lippen. Sie weiß – der Herr kommt aus Finnland. Oh je, wie schade: Alle anderen Schriftsteller, Doktor Domes und Frau Hayn sind heute früh für zwei Tage nach Berlin zu den Olympischen Spielen abgereist. Doktor Domes hat es sehr bedauert, dass sie nicht mehr warten konnten. Auf dem Tisch im Speisesaal liegt ein Brief für Sie …

Tee und Butterbrote versuchen sich in dem leeren, mit Mahagonipanel dekorierten Speiseraum an meinem reiseverstaubten Gaumen festzukleben. Meine Abreise aus Finnland hatte sich aus vielerlei Gründen verzögert. Das Deutsch-Nordische Schriftstellerhaus hatte man in diesem Jahr so spät geöffnet, dass der Finnische Schriftstellerverband Schwierigkeiten hatte, jemanden als Gast dahin zu schicken. Der Sommerurlaub war ja für alle Finnen so gut wie vorbei. Ich traf am 14. August in Travemünde ein. Ein Tag Verspätung brachte mich um eine der großartigsten Veranstaltungen, die das Dritte Reich für die skandinavischen Schriftstellergäste zu bieten hatte: die Olympischen Spiele.

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Am nächsten Morgen treffe ich in der Bibliothek einen kleinen, freundlichen, jungen, aber dennoch halbwegs grauhaarigen Mann, dessen im Ohr verstecktes Mikrophon verrät, dass er taub ist. Es ist der Däne Erik Bertelsen, der sich auch schon im ersten Sommer 1934 im Dichterhaus aufgehalten hat. Ich begreife erst in diesem Moment völlig die Bedeutung des Dichterhauses als politisches Streitobjekt, als ich höre, dass sich der dänische Schriftstellerverband wie schon im letzten Sommer geweigert hat, einen Vertreter für den Besuch auzuwählen. Bertelsen war trotzdem erschienen, indem er das allen früheren Bewohnern zustehende Recht genutzt hatte, jeden Sommer einige Wochen dort zuzubringen.

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Am Abend erscheinen die anderen Gäste aus Berlin, voller überschäumender Begeisterung über das Erlebte. Wir gehen ihnen mit Bertelsen zum Bahnhof entgegen. Der Leiter des Dichterhauses, Doktor Fred J. Domes stellt vor: Rupert Rupp, Fritz Helke und Graf Ottfried von Fin­ckenstein, Doktor Eyvind Mehle aus Norwegen, Doktor Sven Stolpe aus Schweden und meinen Landsmann Göran Stenius.

Jeder dieser Männer bildet für mich einen neuen Horizont. In ihrer Gesellschaft waren die im Dichterhaus verlebten Wochen im Spätsommer eine Kraftquelle, für die ich sehr dankbar bin. Nach aller Unsicherheit, allen Unklarheiten und kulturellen Halbgestricktheiten spüre ich, endlich wieder festen, geistigen Boden zu betreten.

Die griechische Mythologie berichtet von Antaeus, der so lange neue Kraft schöpfte, wie seine Beine die Erde, seine Mutter, berührten. Ich bin Antaeus, der gerade diesen Boden brauchte.

Villa am Meere

Das Deutsch-Nordische Schriftstellerhaus. Travemündes prächtigste Villa

Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt keine zweite gleichartige Institution wie das Travemünder Deutsch-Nordische Schriftstellerheim. Das Dritte Reich lädt jetzt also schon zum dritten Mal aus Dänemark, Norwegen und Schweden einen, aus Finnland zwei Autoren – vom finnischen und vom schwedischen Schriftstellerverband – ein, zusammen mit drei deutschen Schriftstellern den Sommer in einer der prächtigsten Villen von Travemünde zu verbringen. Im ersten Sommer vertraten Lauri Viljanen und Tito Colliander4) Finnland, im zweiten Toivo Lyy5) und Ragnar Ekelund6).

Das Dichterhaus, wie die Travemünder die Villa zwanglos nennen, stand ursprünglich in der Verantwortung der in Lübeck ansässigen, bekannten Nordischen Gesellschaft. Seit 1935 verwaltet nun die Reichsschrifttumskammer des Dritten Reiches das Haus selber. Früher war das Dichterhaus tatsächlich lediglich ein Sommerurlaubsplatz, wo sich Schriftsteller aus verschiedenen Nationen treffen konnten. Auch heute gibt es hier zwar nicht den geringsten moralischen Druck, gleichwohl merkt man am Umfang des offiziellen Programms, dass das Haus von einer zielbewussten Führung geleitet wird. So sind etwa alle deutschen Autoren diesmal Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei. Und wir Nordländer mithin Gäste des Dritten Reiches.

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Stampfe dein Bein auf die Erde, Antaeus! Die diesjährige Dichterhaustruppe repräsentiert fast Europa im Kleinformat. Alle Richtungen außer dem Kommunismus sind vertreten, und sogar reingewaschenen Typs.

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Man merkt gleich, dass dieses Jahr Schweden hoch im Kurs steht. Einen tolleren Typ als Sven Stolpe hätte unser westlicher Nachbar gar nicht schicken können. Stolpes Ruf als Kritiker und geistiger Führer des für seine „plötzlichen Schwankungen“ bekannten Schwedens war also bis nach Deutschland gedrungen. Außerdem hatte er in Deutschland studiert, seine Frau war Deutsche und er sprach perfekt Deutsch.

In Finnland denkt die Tulenkantajat-Generation [Die Fackelträger-Schriftstellergruppe] nicht besonders freundlich über Stolpe. Während der unstetigsten Zeit seiner jugendlichen Suche kam Stolpe 1929 nach Finnland und veröffentlichte als Ergebnis seiner Reise die sensationelle Glosse På nattgrogg med det unga Finland [„Beim Nachttrunk mit dem jungen Finnland“], die die „Feuerträger“ ins Lächerliche zog. Aber auch in Schweden erlitt Stolpes anfänglich so großer Ruf einen Schlag, weil diese unruhige Seele seine Weltanschauung wechselte wie ein Chamäleon die Farbe. Stolpe erlangte Berühmtheit, weil er den Meister der akademischen Idyllen Anders Österling angriff und sein Land der fruchtlosen geistigen Kultur und des in Schemata verharrenden „Alexandrinismus“ beschuldigte. Auf der Suche nach einem aktuellen Helden, einem Vertreter energischen Handelns, stieß er auf den Streichholzkönig Kröger, besang ihn überschwänglich und stimmte Hymnen auf die „sporttreibende Jugend“ an. Stolpe trat auch selbst als aktiver Sportler an. Eine plötzlich ausgebrochene Lungenkrankheit verursachte jedoch eine vollständige geistige Wandlung, in deren Folge der große Aufmerksamkeit erweckende und auch ins Finnische übersetzte Roman Im Wartezimmer des Todes erschien. Danach wandte sich der ehemalige Modernist immer stärker dem Glauben zu, hauptsächlich dem Neokatholizismus. Die zweibändige Essaysammlung Den kristna falangen [„Der bekehrte Flügel“] ist das Resultat dieser Phase.

Als er im Dritten Reich ankam, hatte er eine neue Sensation bereit: Er kam direkt aus England, wo ihn die Oxforder Erweckung erfasst hatte! „Das war der wichtigste Moment in meinem Leben“, versicherte er ein ums andere Mal. Oxfordismus ist im Dritten Reich – aus leicht verständlichen Gründen – ein völlig unbekanntes Phänomen, sodass die Verblüffung der Deutschen erklärlich wird. Stolpe schrieb gerade ein Buch über seine Konvertierung, und wir anderen beneideten ihn aufrichtig um seine Selbstzucht daran festzuhalten, jeden Tag zehn Seiten zu schreiben.

Von allen Autoren im Dichterhaus interessierte mich anfangs Stolpe am meisten. Er hat sich vor meiner Ankunft bereits zehn Tage in Deutschland aufgehalten. Der frühere Modernist und Liberale hatte sich trotz aller Wandlungen sein Jugendideal bewahrt und war der einzige, der das Dritte Reich schon vom ersten Augenblick an vor allem wegen seiner Intoleranz, dem Militarismus und der Unmenschlichkeit offen zu kritisieren wagte. Seiner durchgemachten Krankheit zum Trotz wollte der ehemalige Vertreter der sportlichen Jugend im eigenen Leben seine Ideale immer aufs Neue verwirklichen. Obwohl die eine Lungenhälfte geschrumpft ist, schwimmt Stolpe jeden Tag lange Strecken. Ich musste seine Energie einfach bewundern: Zum ersten Mal traf ich einen Anhänger „modernistischen“ Geistes, der mit heldenhafter Beharrlichkeit im eigenen Leben seine Ideale durchsetzte. Zur Zeit der sportbegeisterten Jugend der 20er Jahre bekam dieser banalisierende Ausdruck für mich mit der Bekanntschaft Stolpes neue Tragweite. Der Lungenschaden hatte Stolpe gezwungen, seine Sportbegeisterung auf einen anderen Bereich auszurichten: Autofahren. Unser Oxforder besaß einen schicken, kleinen Sportwagen, der fleißig genutzt wurde. Stolpe erzählte auch, dass er sich in der Region Dalarna ein kleines und fruchtbares Landgut angeschafft habe – auch das ein typischer StolpeVersuch, Weltanschauung und Realität miteinander zu verbinden.

Leider konnte ich Stolpes Gesellschaft nur fünf Tage genießen. Er fuhr nämlich nach Norwegen, um Ronald Fangen sein Oxfordbuch vorzustellen. Und auf dieser Reise brach seine alte Lungenschwäche erneut aus. In zahlreichen Briefen beteuerte er seinen Willen, nach Deutschland zurückzukehren. Er erzählte, er sei voller Zweifel und Widerspruchsgeist ins Dritte Reich gekommen. Innerhalb kurzer Zeit hatte er freilich schon bald manche seiner zuvor gebildeten Meinungen revidieren müssen. Besonders stark interessierte ihn unsere Fahrt zu den Parteitagen in Nürnberg.

Wir alle bedauerten einmütig Stolpes Fehlen in unserer Truppe. Das Buch, das er sicher über seinen Aufenthalt als Gast im Dritten Reich geschrieben hätte, wäre ein interessantes und persönliches Zeugnis gewesen. Stolpe: Temperament eines durch die geistige Weltkrise geformten Chamäleons – aber klar und neugierig in Hirn und Sinn.

Sven Stolpe

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Der Repräsentant Norwegens Eyvind Mehle, der in Deutschland den Doktorgrad erworben hatte, ist das beliebteste Mitglied im Dichterhaus und zugleich dessen Enfant terrible. Keiner könnte glauben, dass dieser wie ein verderbter Achtklässler wirkende Mann die älteste Person im Hause ist – mit bereits 41 Jahren. Mehle ist allerschwärzester Faschist und eine der bekanntesten Führungskräfte der Nasjonalsamling Norwegens. Er ist eigentlich kein Schriftsteller, sondern Journalist, der sowohl Stalin als auch Mussolini und Hitler besucht und interviewt sowie feste Verbindungen zu allen europäischen Faschistenorganisationen geknüpft hat. In Norwegen hat er an mehreren nationalsozialistischen Tumulten teilgenommen oder war zumindest an deren Organisation beteiligt. Die fünf nationalsozialistischen Jugendlichen, die in Trotzkis norwegische Wohnung eindrangen, waren seine Bekannten und Geistesgenossen, sodass er die Angelegenheit zu einem geradezu welthistorischen Fall ausweiten konnte. Ein merkwürdiger und lustiger Mann, den man aber nicht immer ganz ernst nehmen darf – zum Beispiel dann, wenn er aufzählt, wen die Nationalsozialisten alles erschießen, um an die Macht zu kommen! –, der aber durchaus nicht so dumm und jungenhaft ist wie er sich gern hinstellt. Im Grunde genommen ist er sowohl gutmütig als auch intelligent; diese „unzeitgemäßen“ Schwächen versteht er gleichwohl sorgfältig unter polternder Grobheit und jungenhaftem Zynismus zu verstecken. Gesunden nordischen Verstand kann schließlich auch Mehle nicht täuschen. Wenn sich unsere Deutschen in trüber politischer Metaphysik verlieren, kehrt Mehle mit einem Wimpernschlag wie mit der Kraft des Gesetzes der Wechselwirkung auf den Boden der Wirklichkeit zurück und sagt ein so gerades und gesunden Menschenverstand beweisendes Wort, dass das Gespräch im gleichen Augenblick wieder in normale Bahnen übergeht. Allerdings kann er auch langweilen mit seinen ewigen Politisierungen, und manchmal laufen einem kalte Schauer über den Rücken, wenn man bedenkt, dass Typen seines Schlags die „gesunde“ Politik der Zukunft kreieren werden … Mehle ist eine moderner Bohemepolitiker: ein tüchtiger Trinker, unglaublich stattlich und zynisch in seinen Witzen wie im rücksichtslosen Flirten mit der Macht, gesprächig, lachfreudig und liebenswert frech. Ein Faschist, der auf der Welt nichts mehr hasst als Spießbürgertum – ein psychoanalytisches Musterbeispiel für einen Mann, der niemals selbst Macht übernehmen könnte und der es, von diesem Minderwertigkeitskomplex angetrieben, genießt, die Arbeit Anderer zu zerstören. Ein typischer ideologischer Vorreiter der gegenwärtigen Kraftpolitik. Ein Mann der Gegensätze: Ebenso viel wie spießbürgerliche Plattitüden hasst er auch das konventionelle Christentum, und trotzdem hat er wegen der Demonstrationen gegen den Faschismus in Norwegen mit großem Erfolg das Schauspiel Korset fra Pem [„Das Kreuz von Pem“] geschrieben, das die Verfolgung des Christentums durch die Bolscheviken behandelt! Die norwegischen Theater haben auch Mehles neues Schauspiel Aarets bestseller [„Das am meisten verkaufte Buch“] in ihr Repertoire aufgenommen. Schon der Titel lässt ahnen, dass damit bürgerliche Zustände verspottet werden.

Mehle, den von der Zeit schief erzogenen Intelligenzler, musste man einfach mögen. Das „schreckliche Kind“ des Dichterhauses, das vom Sitz seines Anzuges redete wie der letzte Dandy, zum Frühstück aber in Hosenträgern erscheinen konnte.

Eyvind Mehle

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