Zuhause ist überall - Barbara Coudenhove-Kalergi - E-Book

Zuhause ist überall E-Book

Barbara Coudenhove-Kalergi

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Beschreibung

Taschenmesser und Wolldecke - das sind die einzigen Habseligkeiten, die der 13-jährigen Barbara bei Kriegsende nach ihrer Vertreibung in den Westen bleiben. In ihrer bewegenden Autobiographie erzählt die Publizistin und Mitbegründerin der legendären Osteuropa-Redaktion des ORF, Barbara Coudenhove-Kalergi, von der untergegangenen Welt der böh-mischen Aristokratie, von ihren Anfängen als Reporterin in Wien während des Kalten Krie-ges, vom Wiedersehen mit ihrer Heimat Böhmen. Und wir erfahren von ihrer Ehe mit dem Reformkommunisten und Vertrauten Rudi Dutschkes, Franz Marek. Die Erinnerungen der Grande Dame des Journalismus in Österreich sind ein einzigartiges Dokument über die Ir-rungen und Wirrungen Mitteleuropas im 20. Jahrhundert.

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Zsolnay E-Book

Barbara Coudenhove-Kalergi

Zuhause ist überall

Erinnerungen

Paul Zsolnay Verlag

ISBN 978-3-552-05632-9

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

2. E-Book-Version Mai 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH

Inhalt

Vorwort

Ria, die Kindsfrau

»Ein Böhme deutscher Zunge«

Ein Schloss in Böhmen

Die Pálffys

Die Coudenhoves

Unter dem Hakenkreuz

Im Krieg

Die Vertreibung

Fremdes Österreich

Lords und Ladies

Nach Wien, nach Wien!

Schauplatz der Originale

Wie man Nazis macht

Hier marschieren Demokraten

Die Liebe meines Lebens

1968 – eine Illusion und ihr Ende

In Maos Reich

»Das rosarote Kerzlweiberl«

Die Tage von Danzig

Abschied vom Stetl

Der letzte Jude von Frauenkirchen

Die sanfte Revolution

Mein Prag?

Als die Mauer fiel

Reisen im Orient

An der Grenze

»Land der Menschen«

Breznitz revisited

Für Kati, Niki, Lorenz,Clemens, Sophia und Dominik

Vorwort

Ein Frühlingstag in den frühen Sechzigerjahren. Ich bin zum ersten Mal wieder in meiner Heimatstadt Prag, seit wir, meine Eltern und wir Kinder, am 8. Mai 1945 von hier vertrieben worden sind. Mir ist ein bisschen mulmig bei diesem Besuch. Soll ich mich freuen? Oder mich fürchten?

Ich spaziere durch die Straßen der Altstadt. Trist und grau sieht es hier aus. An vielen Häusern sind über dem Gehsteig provisorische Holzdächer angebracht, sie sollen verhindern, dass bröckelnder Putz den Passanten auf den Kopf fällt. In den Geschäftsauslagen nichts, das man kaufen möchte. Real existierender Sozialismus.

Finde ich mich hier überhaupt zurecht? Bin ich in dieser Stadt noch zu Hause? Oder bin ich eine Fremde? Ich versuche, beides auszuprobieren, und spiele, nur für mich allein, abwechselnd »heimisch« und »fremd«. Ich tue so, als sei ich, wie einst, auf dem Weg in die Schule, marschiere zielstrebig durch vertraute Gassen. Und dann: Ich bin fremd, ich war noch nie hier, ich bin neutral, sehe alles mit unbefangenen Augen. Das Moldauufer. Der Wenzelsplatz. Die Karlsbrücke. Noch gibt es keine Touristen in der Stadt, noch ist nicht alles schön herausgeputzt für ein internationales Publikum. Aber in den Parks blüht der Flieder, ganz so wie einst.

Was hast du denn jetzt für ein Gefühl, frage ich mich, als ich auf der Brücke stehe und ins Wasser hinunterschaue. Aber mir fällt keine Antwort ein. Eigentlich habe ich überhaupt kein Gefühl. Es ist, als gehe mich das alles nichts an. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich habe diese Stadt geliebt. Na und? Jetzt lebe ich eben woanders. Erst oben auf dem Hradschin packt es mich plötzlich, dieses unvergleichliche Praggefühl, das ich aus der Kindheit kenne. Ich stehe an der Rampe der Burg und blicke auf das Panorama der Stadt hinunter, die vielen Kirchtürme, die Brücken, den Fluss, der sich durch die Häuserzeilen windet. Hier habe ich vor vielen Jahren zum ersten Mal das Glück erlebt, das durch Schönheit geschenkt wird. Meine schöne, schöne, wunderschöne Stadt.

Den Weg zu unserem Haus habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Es geht bergauf, durch stille Straßen. Und dann stehe ich vor unserer alten Adresse. Das Haus sieht ein bisschen kleiner aus, als ich es in Erinnerung habe. Im ersten Stock links, das ist das Fenster zu meinem Zimmer. Die Deckenlampe ist nicht mehr da, sehe ich, andere Vorhänge hängen. Ich spähe durch die Lücken im grüngestrichenen hölzernen Gartenzaun. Der Kirschbaum ist größer geworden. Die Beete sind nicht besonders gepflegt. Und die Veranda ist jetzt verglast, die neuen Bewohner haben eine Art Wintergarten daraus gemacht.

Ob sie Kinder haben? Fährt eins von ihnen jetzt mit dem Fahrrad in die Schule, so wie damals ich? Und wer sie wohl sind? Günstlinge des Regimes? Hat man damals das Eigentum der Vertriebenen verteilt, verkauft, versteigert? Wurden die Häuser vorher geplündert? Oder stehen unsere Möbel noch so in den Zimmern, wie wir sie seinerzeit verlassen haben?

Ich habe mir vorher nicht überlegt, was ich tun will, wenn ich zu unserem Haus komme. Anläuten und sagen: Entschuldigen Sie, ich habe früher hier gewohnt. Darf ich hereinkommen und mich kurz ein bisschen umschauen? Und dann durch die Räume gehen, während die Hausfrau ein wenig verlegen daneben steht, und nach vertrauten Dingen Ausschau halten? Dem Mariatheresienschrank im Salon vielleicht, in dessen unterster Schublade immer die Weihnachtsgeschenke versteckt waren? Oder dem Schreibtisch in meinem Zimmer, meinem ganzen Stolz? Und ob unsere Bilder noch da sind oder ob jetzt ganz andere an den Wänden hängen?

Vielleicht werfen die neuen Bewohner mich einfach hinaus. Was fällt Ihnen ein, hier einfach so hereinzuplatzen? Das ist unser Haus, wir wollen nicht gestört werden. Auf Wiedersehen. Oder es gibt einen unbehaglichen Moment, die Hausfrau oder der Hausherr sagen gezwungen höflich: bitte. Und denken: Wenn diese Person nur schon wieder draußen wäre. Nein, nein, lieber nicht anläuten.

Will ich überhaupt wissen, was aus meinem Kindheitshaus geworden ist? Interessieren mich dessen jetzige Bewohner? Bei genauerem Nachdenken: nein. Was gehen mich diese Leute an? Sollen sie doch wohnen, wie sie wollen. Mir doch egal.

Plötzlich fällt mir auf, dass ich schon eine ganze Weile hier auf der Straße stehe und wie ein Spion durch den Zaun luge. Am Ende der Straße taucht ein Passant auf. Was soll er sich denken, wenn er an mir vorübergeht? Ich bücke mich und tue so, als ob ich meine Schuhbänder neu binden müsste. Und schaue dann, dass ich von hier wegkomme.

Beim Heimfahren weiß ich: Mit einem Blick auf unser Haus komme ich der Vergangenheit nicht bei. Und momentan will ich das auch gar nicht. Ich habe mit der Gegenwart genug zu tun. Aber irgendwann wird der Augenblick kommen, an dem das Vergangene wieder gegenwärtig wird.

Ria, die Kindsfrau

Die erste Person, die auftaucht, wenn ich mich an meine frühesten Kinderjahre zu erinnern versuche, ist Ria. Da steht sie: eine hochgewachsene, hagere Frau mit kurzgeschnittenen Haaren. Sie ist unser Kindermädchen oder, wie wir sagen, unsere Kindsfrau. Sie ist auch kein Mädchen, sondern eine gestandene Person. Sie stammt aus Südmähren. Sie liebt mich sehr, und ich liebe sie. Wenn meine Mutter da ist, zu meinem Bett kommt und gute Nacht sagt, duftend und zum Ausgehen schöngemacht, ist das wunderbar. Aber Ria ist die Allerwichtigste. Sie ist immer da. Ihr erzähle ich alles, was ich erlebe, was mich bedrückt und was mich froh macht. Ganz normal, dass man die Kindsfrau lieber hat als die Mutter, sagt meine Mutter. In ihrer eigenen Kindheit war das genau so.

Meine Mutter ist eine kleine, zarte Frau, zart, aber zäh. Als junges Mädchen war sie bildhübsch, eine blonde Elfe mit wunderschönen blauen Augen. Sie macht, was sie will. Sie ist nicht nur tapfer, sie ist furchtlos. Sie weiß einfach nicht, was Angst ist, sagt mein Vater über sie. Sie heißt Sophie, aber ihre Geschwister nennen sie »Exzellenza«. Sie raucht wie ein Schlot, und wenn sie die Zigarette abdämpfen will, wirft sie sie in einen mit Wasser gefüllten grünglasierten Keramiktopf, der auf dem Tisch im Salon steht. Es macht pschscht, ein charakteristisches Geräusch wie kein anderes. Das tut sie, damit es nicht stinkt, denn mein Vater mag keinen Zigarettenrauch.

Mutter Sophie mit den Kindern Jakob (links), Barbara und Hans Heinrich (rechts), Mitte der dreißiger Jahre

Meine Mutter ist nicht eitel, sie macht sich nichts aus Mode. Sie mag auch keine Liebesgeschichten. »L’amour, c’est pour les femmes de chambre«, zitiert sie. Trotzdem liebt sie meinen Vater, aber sie macht kein Getue dabei. Sentimentalität ist ihr ein Gräuel. Was sie auch nicht mag, ist Langeweile. Wenn es im Kino langweilig wird, steht sie sofort auf und geht. Sie ist auch ungeduldig mit langweiligen Menschen, ist aber begeistert, wenn sie auf jemanden trifft, der ihr interessant vorkommt. Dann kann sie stundenlang zuhören und gar nicht genug kriegen von dem, was dieser oder diese zu erzählen hat. Ob er oder sie prominent ist, interessiert sie überhaupt nicht. Sie hat eine Nase für Authentizität und merkt sofort, ob jemand echt ist oder nicht. Wenn nicht, hat dieser Jemand augenblicklich verloren. Sie selber ist durch und durch echt.

Aber sie entspricht leider nicht dem, was in meiner Volksschulzeit als Ideal einer deutschen Mutter gilt. Kinder sind Konformisten. Sie wollen nicht originell sein, sondern so wie alle andern. Und bei uns ist es eben nicht so wie bei allen andern. Es fängt schon damit an, dass meine Mutter Mami genannt wird und nicht Mutti. In unseren Lesebüchern heißt es Mutti. Die Lesebücher und unsere Lehrerin wissen auch genau, wie in einem ordentlichen deutschen Haushalt der Muttertag zu feiern ist. Mein Dilemma: Meine Mami hasst den Muttertag, daher wird dieser bei uns auch nicht begangen. Wir müssen einen Aufsatz darüber schreiben, und mir bleibt nichts anderes übrig, als schamlos zu lügen. In meinem Aufsatz bringen wir Kinder unserer Mutti das Frühstück ans Bett, sagen für sie ein Gedicht auf und singen ein Lied. Gelogen, gelogen, gelogen. Aber die Wahrheit kann ich unmöglich schreiben oder sagen.

Meine Mutter hat vier Kinder und ist daher anspruchsberechtigt für das Mutterkreuz dritter Klasse. Ab fünf Kindern bekommt man die zweite Klasse und ab sieben die erste. Der Blockwart kommt zu uns nach Hause und will Mami die Auszeichnung feierlich überreichen. Aber aus der Feierlichkeit wird nichts. Mami nimmt das Kreuz mit knapper Höflichkeit entgegen, komplimentiert den etwas verwirrten Überbringer hinaus und feuert, sobald sich die Tür hinter diesem geschlossen hat, das kostbare Kleinod augenblicklich in den Papierkorb.

Sofort stürzen mein kleiner Bruder und ich uns auf diesen und ziehen das gute Stück im Triumph wieder heraus. Es ist ein ganz hübsches Ding, blaues Email mit Goldrand. Man könnte es an einem Kettchen als Anhänger tragen. Wenn das kleine Hakenkreuz nicht wäre, könnte es als traditionelles Schmuckkreuzchen durchgehen. Diese Analogie ist wohl auch beabsichtigt. Für uns wird das Mutterkreuz ein beliebtes Spielzeug.

In noch einer Hinsicht entspricht meine Mutter zu meinem Kummer nicht den Anforderungen, die an eine richtige deutsche Mutter gestellt werden. Sie hat keinen Respekt vor der Schule. Sie selber war nie in einer Schule, sondern ist zu Hause von einer Gouvernante unterrichtet worden. Folgerichtig sieht sie auch in unseren Lehrern keine besonderen Autoritäten, sondern eher eine Art Dienstboten. Man ist freundlich zu ihnen, aber fürchtet sie nicht sonderlich. Mami schreibt beispielsweise keine förmlichen Entschuldigungen, wenn ich einen Schultag versäume. Dafür gibt es Formulare und spezielle offizielle Formulierungen. Mami schreibt einfach auf einen Zettel: Bitte lassen Sie die Barbara am Montag frei, ihre Großmutter hat Geburtstag. Was natürlich keinerlei Entschuldigungsgrund ist. Ich leide deshalb Qualen. Noch ärger, wenn der Zettel eine alte Einladungskarte ist mit der Aufschrift »Le comte et la comtesse …« Die Aufschrift wird dann durchgestrichen und die Rückseite benutzt. Warum gute Karten wegschmeißen?

Mami nennt mich Nana. Ich sehe sie kurz beim Frühstück, nach der Schule beim Mittagessen und danach im Salon. Dann übernimmt wieder Ria. Das Schlafzimmer der Eltern betrete ich nie. Ich kann mich nicht erinnern, meine Eltern je im Bett gesehen zu haben. Und zu den Eltern ins Bett krabbeln und kuscheln – völlig undenkbar. Für den Alltag, die täglichen Verrichtungen ist Ria zuständig und später ihre ungeliebte Nachfolgerin, das Fräulein. Und weil ich mich dem Fräulein nicht anvertrauen mag, geschweige denn mit ihr Zärtlichkeiten austauschen, ist es vor allem mein Bär Bimbi, der die Stelle meines Vertrauten einnehmen muss. Er schläft in meinem Bett, auch noch, als ich eigentlich schon zu alt für Kuscheltiere bin.

Sophie und Gerolf Coudenhove-Kalergi vor Schloss Ronsperg, 1925

Mein Vater, Gerolf Coudenhove-Kalergi, ist ein großer, stattlicher Mann. Das Erbteil seiner japanischen Mutter sieht man ihm nur an den Augen an und ein wenig auch an seinem Hang zur Förmlichkeit. Er trägt gern eine Fliege statt einer Krawatte und abends eine Art Smokingjacke. Er ist immer wunderbar glatt rasiert, und wenn er mich hochhebt, kann ich sein gutes Rasierwasser riechen. Papi spricht viele Sprachen, darunter auch Russisch, das er gelernt hat, um sein Lieblingsbuch, »Krieg und Frieden«, im Original lesen zu können. Er liebt die russische Sprache und erklärt mir, dass ich auf Russisch Warwara Gerolfovna heißen würde. Deshalb nennt er mich Wawa.

Die großen Brüder bewohnen eine andere Welt als ich. Hans Heinrich, der Ältere, ist der Gescheite, Jakob, der Jüngere, ist der Lustige. Meine Großmutter, die für Familienfeiern gern Gelegenheitsgedichte schreibt, hat über die beiden gedichtet. »Während Bücher sind für Hans / was dem Fuchse ist die Gans / er sie sieht und auch verschlingt / Jakob selten tiefer dringt / nimmt ein Buch und blättert drin / legt es weg, da es ihm schien / dass das Zeichnen besser wär / blättert wieder hin und her / um sich dann, vergnügt und froh / zu betät’gen anderswo.«

Ich bewundere meine Brüder schrankenlos und leide unter ihnen. Es ist herrlich, wenn sie mich loben, und schrecklich, wenn sie mich tadeln. Ganz schlimm ist, wenn sie ironisch sagen: »Gott, wie witzig«, wenn ich bei Tisch, so wie die Großen, auch versuche, etwas Witziges zu sagen. Am allerärgsten und beschämendsten ist das vernichtende Urteil, mit steinerner Miene ausgesprochen: »Gar nicht komisch, nur dumm.« Dann möchte ich am liebsten in den Erdboden versinken und nie mehr auftauchen.

Ria ist bei solchen Gelegenheiten meine Zuflucht und mein Trost. Ich kann mich darauf verlassen, dass sie immer auf meiner Seite steht. Ria nennt mich in ihrem heimatlichen Dialekt ihr Pampele, und ich nenne sie Mutzi. Ein Pampele ist ein Schäfchen. Du bist mein kleines Schmeichelpampele, gelt?, sagt Ria, und ich wiederhole das gern. Darüber müssen die Brüder lachen und bringen mich damit zum Weinen. Ich bin dein kleines Schmeichelpampele, gelt, Mutzi, gelt, Mutziii, singen sie nach der Melodie eines bekannten Marsches. Es ist nicht böse gemeint, aber mich trifft es ins Mark. Da wird mein Liebstes und Kostbarstes, meine Liebe zu Ria, hervorgezerrt und dem Spott preisgegeben. Ich raste aus. Ich heule und tobe vor Wut und vor Kränkung.

Hört’s auf, die Kleine zu sekkieren, sagen die Eltern. Daraufhin beschränken sich die Buben darauf, nur die bewusste Melodie zu summen. Taram, taram, taramtamtamtam. Oder nur »Tisch« zu sagen. Wiederum Geheule. Was ist jetzt wieder? Unschuldige Mienen. Wir haben doch nur »Tisch« gesagt. Eine komplizierte Assoziationskette: Vor dem Tisch steht die Bank, auf der Bank liegt das Geld, und Geld klingt so wie gelt, Mutzi. Ich verstehe das auch sofort und heule neuerlich los. Jetzt wird es den Eltern zu dumm, und nun werde ich gescholten. Ich soll nicht »faxig« sein und aufhören mit dem Theater. Und schämen soll ich mich. Aber in Wahrheit sollen sich doch die andern schämen. Oder doch ich?

Denn die eigentliche Wurzel des ganzen Unglücks liegt ja darin, dass ich im Grunde meines Herzens den Brüdern Recht geben muss. »Schmeichelpampele« und »gelt« zu sagen, ist tatsächlich peinlich und kitschig und, wenn man ehrlich ist, unmöglich. Aber ich liebe Ria doch und will unter allen Umständen mit ihr solidarisch sein. Alles andere wäre Verrat. Habe ich Ria womöglich innerlich schon verraten? Verwirrung der Gefühle. Und wieder ein Grund zum Weinen. Es ist ein Konflikt zwischen Geschmack und Überzeugung, die frühe Erfahrung eines Dilemmas, das mir später noch öfter begegnen wird. Man steht zwischen zwei Lagern, mag das eine nicht hassen und das andere nicht verurteilen. Und fragt sich mit zunehmender Verzweiflung: Und ich? Wohin gehöre eigentlich ich?

Barbara, zirka 1938

Irgendwann verlässt uns Ria. Die Erwachsenen haben sich darauf verständigt, dass mir dieses Ereignis vorher nicht mitgeteilt wird. Der traumatische Abschied soll mir erspart werden. Kein Abschied, keine Tränen. Eines Tages ist Ria einfach weg. Sie ist zu Hause in Südmähren, höre ich, ihre Familie braucht sie. Von dort aus schreibt sie meiner Mutter Briefe und Postkarten, in denen sie mich grüßen lässt. Mami möchte mir diese Briefe vorlesen, aber ich will davon nichts hören. Ich halte mir die Ohren zu und laufe aus dem Zimmer. Ich will nicht an Ria denken und nicht an sie erinnert werden. An meine Ria, die mich verlassen hat. Es ist zu schmerzhaft. Da ist eine Wunde, die nicht und nicht heilen will. Es ist der erste wirkliche Schicksalsschlag in meinem Leben.

Nach Ria kommt das Fräulein. Eigentlich heißt das Fräulein Anni Nosek, es spricht deutsch mit leichtem tschechischem Akzent. Aber inzwischen ist aus der Tschechoslowakei das Protektorat Böhmen und Mähren geworden, und Anni Nosek ist nun deutscher als deutsch. Sie legt Wert darauf, keine Kindsfrau zu sein, sondern eine Erzieherin, sie will nicht Anni genannt werden, sondern Fräulein, und sie trägt ihr Haar nicht, wie andere Leute, in einem Dutt, sondern in deren zwei. Ihr Haar ist blond, das Fräulein flicht es zu zwei Zöpfen und steckt diese fest, aber nicht in Schnecken über den Ohren – so etwas habe ich schon in Bilderbüchern gesehen –, sondern in zwei Knoten am Hinterkopf. Fräulein, warum hast du diese Frisur? Die Antwort: Weil sich so der Führer eine deutsche Frau vorstellt. Seither halte ich aufmerksam Ausschau nach Frauen mit Doppeldutt und nach entsprechenden Äußerungen des Führers. Vergeblich. Aber unser Fräulein ist eben etwas Besonderes. Ich freilich, inzwischen sieben Jahre alt, mag es nicht, vor allem deshalb, weil es nicht Ria ist.

Das Fräulein ist zuständig für »die Kleinen«, für den kleinen Bruder Michael und für mich. Die großen Brüder, kollektiv nur »die Buben« genannt, haben mit ihm nichts zu tun und sind nur den Eltern verantwortlich. Sie gehen ihre eigenen Wege. Sie haben ein Luftgewehr, damit schießen sie auf das Messingpendel der Uhr in ihrem Wohnzimmer. Die Wand dahinter ist dicht gesprenkelt mit kleinen Einschusslöchern. Sie schießen auch auf Spatzen und haben einmal Emilka, die Köchin, dazu gebracht, fünf Spatzen, die sie erlegt haben, für sie zu braten. Sie haben sie gerupft und in die Küche getragen, und Emilka hat sie gewürzt und ins Bratrohr geschoben. Als knusprig braune Häuflein kommen sie heraus, fünf arme, winzige Puppenhühnchen. Ich darf kosten, mag aber nicht. Die Buben schnabulieren sie auf, samt den hauchzarten Knöchelchen. Es knackst, und mir wird gruselig beim Zuschauen.

Ich bin ein Sandwichkind, fünf und vier Jahre jünger als die Buben und sechs Jahre älter als Michi, der Jüngste. Der Kleine ist zu klein, und die Großen sind zu groß, um mir wirkliche Spielgefährten zu sein. Ich bin also viel allein. Das bedeutet, dass ich mir meine eigene Welt erschaffen muss, eine angelesene und angeträumte, zu der niemand Zugang hat. Dabei spielt mein Schreibtisch eine wichtige Rolle. Dieses Möbel ist mein Heiligtum. Es hat mehrere Schubladen, eine davon ist geheim und birgt meine kostbarsten Schätze. Sie müssen zuerst gerettet werden, wenn einmal das Haus brennen sollte. Dazu gehören mein Tagebuch, ein Würfel aus Bernstein und eine selbstgenähte Tasche aus blauem Samt mit den Briefen, die mein Bär Bimbi mir geschrieben hat. Bimbi, ein Waschbär mit freundlichen Knopfaugen, ist mein engster Kumpan. Seine Briefe sind meist Hilferufe in höchster Not, wenn Bimbi etwa von Räubern entführt und als Geisel gehalten wird. Die Briefe erreichen mich in letzter Minute, aber rechtzeitig, damit ich ihn unter Lebensgefahr retten kann.

Der Schreibtisch ist das wichtigste Stück in meinem Zimmer. Dieses Zimmer ist meine Fluchtburg und mein Refugium. Mein grünweißes Couchbett steht hier, ein Tisch, ein Sofa, auf dem die Stofftiere inklusive Bimbi sitzen, ein Waschtisch und ein Bücherregal. Über meinem Bett hängt ein herrliches Bild, viele Engel darstellend. Das Fenster geht nach Osten. Ich kann zuschauen, wenn hinter dem Park vor unserem Haus die Sonne aufgeht und die grauen Häuser dahinter in ein rosiges Licht taucht. Ich liebe mein Zimmer. Es ist eigentlich zu schön für ein Kind. Nebenan schlafen die Buben und auf der andern Seite das Fräulein und Michael.

Sobald ich lesen kann, wird die Welt der Bücher meine Welt, und die Gestalten in den Büchern werden fast wichtiger als die Menschen im wirklichen Leben. Die Stunde, in der ich lesen lerne, ist eine Sternstunde, an die ich mich noch heute ganz genau erinnere. Ich liege auf dem Bauch in meinem Zimmer auf dem Teppich, vor mir ein grüngebundenes Buch mit dem Titel »Hans Eichhorn, der Lausbub«. Es handelt von einem Eichhörnchen. Ich tue so, als ob ich lese, wie ich es bei den Erwachsenen gesehen habe. Aber plötzlich formen sich die Buchstaben, die ich gelernt habe, zu Wörtern und die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu einer Geschichte. Ich kann lesen! Die Eichhörnchengeschichte ist übrigens enttäuschend. Aber andere Geschichten folgen, und die sind wunderbar. Ab jetzt, sagt mein Vater, musst du dich nie mehr langweilen. Er hat recht. Wie die meisten einsamen Kinder habe ich fortan ständig die Nase in einem Buch, so lange, bis mich irgendein Erwachsener mit dem Ruf: »Du verdirbst dir ja die Augen«, an die frische Luft scheucht.

Barbara mit ihren Brüdern Hans Heinrich, Jakob und Michael

Michi, der Jüngste in der Familie, ist ein Spätling, ein verträumtes Kind, dem ich übelnehme, dass es keine Anzeichen erkennen lässt, dem gängigen Ideal des deutschen Jungen zu entsprechen. Er ist ganz und gar, noch mehr als ich, dem Fräulein ausgeliefert. Täglich muss er mit diesem spazieren gehen, und er erzählt mir viel später, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass das Fräulein bei diesen Spaziergängen heimliche Rendezvous mit ihrem Freund absolviert hat und Michi derweil bei einer Vertrauten warten musste. Dieser geheimnisvolle Freund ist manchmal ein SS-Mann und manchmal ein gewisser Ingenieur Springer, ein etwas bedrohlicher Mensch mit einem Schlapphut. Was davon Phantasie und was Tatsache ist, wird nie wirklich klar. Genau weiß man das bei Michi nie. Unserer Mutter erzählt er von alldem nichts.

Die Namen von uns Geschwistern haben alle ihre Bedeutung. Hans Heinrich heißt nach seinen zwei Großvätern, Heinrich Coudenhove und Hans Pálffy. Jakob nach einem niederländischen Vorfahren, der einst die Schreckensnachricht vom Sacco di Roma durch die kaiserlichen Landsknechte dem Kaiser Karl V. überbringen musste. Diese Geschichte inspiriert mich zu romantischen Phantasien: wie der Bote auf schaumbedecktem Pferd, mit verhängten Zügeln, Tag und Nacht durchgaloppiert, den langen Weg von Rom nach Madrid. Wie er zwischendurch nur schnell das Reittier wechselt und dann, völlig erschöpft, seinem Kaiser Bericht erstattet. Er wird reich belohnt, obwohl er schlimme Dinge zu berichten hat.

Mein Name, Barbara, erinnert an die heilige Barbara, Schutzpatronin der Artillerie. Ihrer Fürsprache ist es zu verdanken, wird mir gesagt, dass mein Vater, der Artillerist, den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat. Einzig Michael heißt, wie er heißt, weil der Name meinen Eltern gefallen hat. Er ist der Name eines Erzengels, aber er ist – anders als der alttestamentarische Name Jakob – auch nazitauglich, weil der »deutsche Michel« jetzt eine populäre Figur ist. Manchmal betet mein Vater mit seinem Jüngsten am Abend das alte Kirchengebet »Heiliger Michael, verteidige uns im Kampfe gegen die Bosheiten und Nachstellungen des Teufels. Der Herr gebiete ihm, so bitten wir flehentlich, du aber, o Fürst der himmlischen Heerscharen, stürze mit der Kraft Gottes den Satan und die übrigen bösen Geister, die zum Verderben der Seelen die Welt bedrängen, in die Hölle hinab«. Michi liebt dieses Gebet. Er hat seinen Kopfpolster parat und schleudert diesen an der passenden Stelle, wie der Erzengel Michael den Satan, mit Schwung in die Ecke. Amen, ruft er laut. Das gibt dem Satan endgültig den Rest.

Außer uns und dem Fräulein leben noch drei tschechische Mädchen bei uns im Haus. Alle kommen aus Breznitz, dem Heimatort meiner Mutter. Diese hat sie nach ihrer Heirat in die Stadt mitgebracht. Was drei Hausangestellte in einem relativ bescheidenen Haushalt wie dem unseren eigentlich den ganzen Tag zu tun haben, ist nicht recht klar. Wir haben später oft darüber gerätselt. Aber meine Mutter ist von zu Hause viel Personal gewöhnt und denkt, das müsse so sein. Emilka und Mařenka sind Schwestern. Emilka soll kochen und Mařenka ihr dabei helfen und putzen. Márinka, die eigentlich auch Mařenka heißt, aber wegen der Verwechslungsgefahr Márinka genannt wird, kann schneidern und soll sich um unser aller Garderobe kümmern und die Kinderkleider machen. Emilka ist klein und rund, Márinka ist groß und schön. Sie wohnen im Dachgeschoss. Wir können sie alle gut leiden und lernen von ihnen die schönen tschechischen Volkslieder, die sie manchmal bei der Arbeit singen. Mein liebstes ist das traurige vom Klee und von Janek, der eines Tages erschlagen im herrschaftlichen Kleefeld am Bach liegt. »Jetel, ten jetel, jetelíček u vody« – der Klee, der Klee, dieses Kleechen am Wasser.

Unser Haus ist in den Zwanzigerjahren gebaut worden. Onkel Hansi, der wohlhabende Bruder meines Vaters, hat es diesem geschenkt, als die Kinder kamen. Es ist ein recht konventionelles Haus, gelb gestrichen, eine sogenannte Villa. In Prag heißt jedes Einfamilienhaus Villa. Unseres ist leider weit entfernt von den kubistischen Villen im Stil der klassischen Moderne, von denen es in der Hauptstadt der Tschechoslowakei viele gibt. Aber es hat einen Garten mit einer Wiese, auf der ein Kirschbaum steht, mit ein paar Rosenbeeten und drei Birken rund um eine Sandkiste. Der Kirschbaum trägt gelbe Kirschen, die sehr gut schmecken. Der ganze Stolz meiner Mutter ist der sogenannte Border, ein Blumenbeet, in dem immer irgendetwas blühen soll. Meine Mutter werkt mit Hingabe an diesem Border herum. Sie ist eine begeisterte, allerdings nicht immer erfolgreiche Gärtnerin.

Im Garten wohnt auch unsere Schildkröte. Die Buben haben sie einmal mit Ölfarben angemalt, jedes Viereck in ihrem Panzer in einer anderen Farbe. Es sieht sehr schön aus, wenn sie sich gravitätisch durch das Gras bewegt, ein mobiles Kunstwerk. Wenn sie Gefahr wittert oder ihr etwas nicht gefällt, zieht sie Kopf und Beine ein und verbarrikadiert sich in ihrem Panzergehäuse. Muss kuschlig sein da drinnen, denke ich mir. Aber eines Tages ist die Schildkröte plötzlich weg. Ist sie weggelaufen? Ist sie in irgendeinem Versteck gestorben? Hat ihr womöglich die Bemalung geschadet? Wir erfahren es nie, und ihr Verschwinden macht mir lange Zeit große Sorgen.

»Ein Böhme deutscher Zunge«

Unser Haus liegt am Fuß des Weißen Berges am Stadtrand von Prag. Die Gegend ist ein ruhiges Villenviertel, wobei eigentlich nur ein Haus darin die Bezeichnung Villa wirklich verdient. Es ist ein riesiges, palastartiges Gebäude mit Säulen und einem großen Garten, das hinter unserem Haus liegt. Es gehört dem Millionär Belada, einer geheimnisumwitterten Figur, die wir nie sehen. Wo wohnst du?, fragen mich die großen Brüder. Die korrekte Antwort darauf lautet: Nad Bud’ánkami Nummer fünf, Smíchov, Prag, Tschechoslowakei, Europa, Erde, Universum.

Wenn Michi und ich mit dem Fräulein spazieren gehen, führt unser Weg oft hinauf in Richtung Weißer Berg. Dort, das wissen wir, fand einst die Schlacht am Weißen Berg statt, an die heute noch ein kleines Kapellchen erinnert. Der Weg führt an einem aufgelassenen Steinbruch vorbei, der mit allerhand Gesträuch zugewachsen ist. Wir dürfen nicht zum Steinbruch hinuntersteigen, denn im Steinbruch wohnt der Felsenmann. Das ist eine von Mythen umrankte Gestalt, über die ich mir natürlich auch eine romantische Geschichte zurechtgelegt habe. Vielleicht ist der Felsenmann ein Unglücklicher, der nach einer enttäuschten Liebe ein Leben als Einsiedler gewählt hat. Vielleicht ist er ein internationaler Verbrecher, gesucht von der Polizei vieler Länder, der hier in unserem Steinbruch Unterschlupf gefunden hat. Oder ein Büßer wie der heilige Hieronymus im Gehäus.

Wie der Felsenmann wirklich heißt, weiß niemand. Auch seine Geschichte kennt keiner. Man weiß nur, dass er im Steinbruch lebt und die Menschen meidet. Ihn selbst bekommen wir beim Vorbeigehen fast nie zu Gesicht. Er ist ein struppiger Geselle, und wir fürchten uns ein wenig vor ihm. Noch mehr als ihn fürchten wir seinen Hund, einen großen Schäfer. Der hängt an einer langen Leine, die ihrerseits mit einem Draht verbunden ist. Der Draht ist über den ganzen Steinbruch gespannt, sodass der Hund das Gelände bewachen und alle Eindringlinge verjagen kann. Wir hören ihn bellen und knurren. Auch wenn wir es gedurft hätten, nie hätten Michi und ich es gewagt, ins Reich des Felsenmannes vorzudringen. Die Buben freilich, kühn wie sie sind, haben ihn einmal besucht. Er sei sehr nett gewesen, berichten sie nachher. Er wohne in einer Art Höhle. Sie seien mit ihm vor der Höhle gesessen und hätten mit ihm gemeinsam ihr Jausenbrot verzehrt. Der Hund war auch dabei.

Wenn man von unserem Haus aus den Weg auf die andere Seite einschlägt, kommt man zu einem kleinen Wald, einem schütteren Laubwald, und mitten in diesem Wald liegt ein Felsen, den die Buben Devil’s Head getauft haben. Man steigt über rutschige Tannennadeln zum höchsten Punkt des Waldes und steht plötzlich vor einem kleinen Abgrund. Eine Felswand fällt ein paar Meter ab. Und in dieser Felswand gibt es eine Höhle. Zum Devil’s Head gehe ich ohne Fräulein, mit den Buben. Wir klettern auf der Felswand herum, sie ist nicht hoch. Niemand außer uns, denke ich mir, kennt die Höhle. Sie ist so groß, dass ein Kind gerade darin stehen kann. Ich stelle mir vor, wie ich, wenn Gefahr droht, mich in dieser Höhle verstecke, nur von Bimbi dem Bären begleitet. Wir schlafen auch dort. In der Nacht ist es ein bisschen unheimlich, aber doch auch kuschelig. Wir haben Proviant mit und eine Decke. Wir sehen in der Ferne das Licht von Taschenlampen und hören Rufe. Unsere Häscher suchen uns. Aber vergeblich, hier kann uns niemand finden. Wir sind allein in der Wildnis, wie in dem Buch »Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund«. In diesem Traum sind wir stark und furchtlos, wie in allen ausgedachten Geschichten.

Viele Jahre später habe ich einmal den Steinbruch und den Wald mit dem Felsen noch einmal aufgesucht. Ich erkannte die Gegend kaum wieder: Der Steinbruch war zugebaut, eine Siedlung war dort entstanden. Aus dem Wald mit dem Devil’s Head war ein öffentlicher Park geworden, mit Kinderspielplätzen und gepflegten Wegen. Die Wildnis unserer Kindheit, die wohl auch damals nicht ganz so wild war wie in meiner Erinnerung, gab es nicht mehr.

Unser Viertel, die Bud’ánka, liegt auf einer Anhöhe. Eine lange Stiege, mit vielen Stufen und vielen Windungen, führt hinunter zur Pilsner Straße, der Plzeňská ulice, der Hauptverkehrsader des Bezirks Smíchov. Smíchov ist ein Industrie- und Arbeiterbezirk, hier liegen die Ringhoffer Werke. Oben auf der Bud’ánka ist es grün und frisch, unten ist es grau und staubig. Will man in die Innenstadt, muss man entweder die lange Stiege hinuntersteigen oder den noch längeren Weg durch den Klamovka-Park nehmen und dann in die Straßenbahn einsteigen. Wir sagen: die Elektrische.

Die Linie 9 und die Linie 15 fahren stadteinwärts, und diese nehmen wir auch, um in die Schule zu kommen. Nur wenn das Wetter schön ist, nehmen wir das Fahrrad. Wir haben unseren Schülerausweis, die Legitimation, die wir kurz »Leggi« nennen. Hast du deine Leggi mit?, werden wir in der Früh gefragt. Der Neuner und der Fünfzehner halten leider nicht am Aufgang zu unserer Stiege. Es gehört daher zum guten Ton, an der richtigen Stelle aus der fahrenden Elektrischen herauszuspringen. Es ist nicht schwer, die Bahn verlangsamt in der Kurve ihre Fahrt, und automatische Türen gibt es noch nicht. Man steht auf der offenen Plattform, gibt sich einen kleinen Mut-Anstoß und springt. Es kommt darauf an, in die Fahrtrichtung zu springen und beim Aufsetzen ein paar Schritte zu laufen, den Schwung des Sprungs fortsetzend. Eine weitere kleine Mutprobe: eine Fünfzig-Heller-Münze auf die Schiene legen und warten, bis die Elektrische drüberfährt. Danach ist das Geldstück dünn und spiegelglatt.

Man kann aber auch eine Station früher aussteigen, am Eingang in die Klamovka. Diese hat ihren Namen von der aristokratischen Familie Clam, in deren Besitz das Areal früher war. Gleich hinter dem Eingang steht eine winzige Kapelle, die immer geschlossen ist. Aber in der Tür ist ein Gitter, und durch dieses kann man, stellt man sich auf die Zehenspitzen, den gewölbten Plafond sehen, blau, besät mit goldenen Sternlein. Ich versäume es nie, beim Vorbeigehen einen Blick auf diesen kleinen Sternenhimmel zu werfen. Es ist wie ein Blick in den richtigen Himmel, eine Art Vorgeschmack auf die himmlische Herrlichkeit, wo der liebe Gott und die Engel wohnen.

Die Klamovka ist der Schauplatz unserer kleineren Spaziergänge. Schöne große Kastanienbäume gibt es hier und viel Flieder, der im Frühling wunderbar blüht. Mittendrin steht die Sokolovna, das Heim des tschechischen Jugendverbandes Sokol. Sokol heißt Falke. Bis zum Einmarsch der Deutschen 1939 gehen hier die Sokol-Buben ein und aus, mit ihren runden Mützen mit dem roten Punkt in der Mitte. Der Sokol ist der deutschen Turnerbewegung nachempfunden, seine Mitglieder sind patriotisch, sportlich und stolz. Kurz vor dem Ende der unabhängigen Tschechoslowakei gibt es in Prag ein großes Turnerfest, den Slet, ein Treffen aller Falken aus der ganzen Republik, die im Stadion ihre Künste vorführen. Sie turnen präzise, wie ein riesiges bewegtes Bild sehen sie aus, wenn sie in Massen in perfektem Gleichklang sich strecken, beugen, schreiten und drehen. Aber wir haben damit nichts zu tun. Wir deutschen Kinder erleben all das nur aus der Ferne.

Die Sokol-Buben sind eine der wenigen Erinnerungen, die mir an die Zeit der tschechoslowakischen Republik geblieben sind. Mein erstes Volksschuljahr fällt in diese Epoche. Wir sind tschechoslowakische Bürger, gehören aber der deutschen Minderheit an. Wir gehen in die deutsche Schule und lernen dort die tschechische und die slowakische Hymne jeweils in deutscher Sprache. »Wo ist mein Heim, mein Vaterland«, singen wir und danach: »Auf der Tatra blitzt und dröhnt und donnerkracht es.« Auf der ersten Seite im Lesebuch ist das Bild von Tomáš G. Masaryk zu sehen, dem allseits verehrten Gründervater der Tschechoslowakischen Republik.

Meine Eltern sind loyale Bürger dieser Republik, aber sie fühlen sich, wie die meisten Deutschböhmen, innerlich nicht als Tschechoslowaken. Unser Vater bezeichnet diese Menschen später in den Worten des britischen Historikers Arnold Toynbee als »a group in a society, but not of it«. Vom Aufbau des jungen Staates, für die meisten Tschechen ihrer Generation eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs, bekommen sie wenig mit.

Prag ist die Hauptstadt eines unabhängigen Staates und beherbergt viele ausländische Gesandtschaften, in denen meine Eltern verkehren. Der Schweizer Gesandte und seine amerikanische Frau sind gute Freunde der Eltern, wir sehen sie oft. Und auch in der österreichischen Gesandtschaft sind Papi und Mami oft eingeladen. Der österreichische Gesandte Ferdinand Marek, der später in einem sowjetischen Lager stirbt, vor allem aber seine Frau sind uns Kindern ein Begriff. Diese Dame, die bei diplomatischen Gesellschaften intellektuelle Gespräche liebt, wird von meinem Vater oft mit leiser Ironie zitiert, sie ist für ihn der Inbegriff des Blaustrumpfs. Als sie ihn bei einem Botschaftsempfang einmal einem anderen Gast vorstellt, fügt sie erklärend hinzu: »Ein Graf, und doch gescheit.« Dieser Ausspruch wird bei uns zum geflügelten Wort.

Einmal, als ich in Begleitung der Buben in der Stadt bin, laufe ich unbedacht über die Straße und werde von einem noblen Auto angefahren. Es ist nicht viel passiert, ich habe nur ein paar Kratzer davongetragen. Aber anderntags kommt die Besitzerin des Wagens zu uns nach Hause und bringt mir zum Trost eine Riesenschachtel herrlichster Pralinen mit. Es ist, wie sich herausstellt, die Frau des amerikanischen Gesandten in der Tschechoslowakei.

Tschechische Freunde haben wir nicht, weder wir Kinder noch meine Eltern. Diese sind keineswegs antitschechisch, aber die tschechische Mehrheit und die deutsche Minderheit leben in jenen Jahren nicht wirklich miteinander, sie leben nebeneinander. Und meine Eltern bilden darüber hinaus auch noch eine Minderheit in der Minderheit. Sie gehören dem deutschsprachigen böhmischen Adel an, einer ziemlich geschlossenen Gruppe, die auch zur deutschen bürgerlichen Gesellschaft kaum Kontakt pflegt. Die Gäste bei uns zu Hause sind fast ausschließlich Menschen aus dieser Bevölkerungsschicht, in der alle irgendwie miteinander verwandt sind und so etwas wie eine große Familie bilden. Meine Eltern besuchen an den Wochenenden die Schlösser in der Umgebung oder treffen die Bekannten in der »Ressource«, dem Adelsklub, in den die Landleute gehen, wenn sie in Prag zu tun haben.

Welche Nationalität haben die böhmischen Aristokraten eigentlich? Sie sind nicht Sudetendeutsche, wie sich die Deutschen in der Tschechoslowakei gern nennen, in bewusster Abgrenzung von den Tschechen. Das auf keinen Fall. Aber sie sind auch keine Tschechen. Mein Vater bezeichnet sich selbst als »Böhme deutscher Zunge«, in den Worten des Philosophen Bernard Bolzano, der in der Zeit vor 1848 für eine Art von böhmischer Identität außerhalb der nationalen Gegensätze eintrat. Ein Böhme deutscher Zunge ist kein Deutscher und kein Tscheche, sondern eben ein Böhme, und das sei, wie mein Vater hinzufügt, »eine ausgestorbene Spezies«, wie das Mammut. Der Patriotismus des Böhmen orientiert sich an seinem Land, nicht an seiner Sprache. Es ist ein altmodischer Patriotismus, der in die vornationale Epoche des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Im Rückblick scheint es mir, dass meine Eltern und deren Standesgenossen auch sonst ein Überbleibsel aus dieser Zeit dargestellt haben, nicht wirklich im 20. Jahrhundert angekommen.

Das Wort Böhme und Böhmen gibt es übrigens in der tschechischen Sprache gar nicht. Die Tschechen sprechen von Sudetendeutschen, »sudetáci«, wenn sie die nationalgesinnten Deutschen in ihrem Lande meinen. Wenn von deutschsprachigen Bürgern die Rede ist, die gleichwohl gute Bürger der tschecholowakischen Republik sind, heißt das »naše Němci«, unsere Deutschen. Diese finden sich vornehmlich unter den Aristokraten, die zu Hause deutsch sprechen, aber ihre familiären Wurzeln oft anderswo in Europa haben, und unter den Juden.

Sowohl die Aristokraten als auch die Juden sprechen auch Tschechisch, was die Sudetendeutschen meistens nicht tun. In der Zeit des Sprachenstreits in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts musste der österreichische Ministerpräsident Kasimir Badeni zurücktreten, weil er ein Gesetz befürwortete, das von den Landesbeamten im Kronland Böhmen die Kenntnis der Landessprache verlangte. Das wollten die Deutschen im deutschsprachigen Landesteil auf keinen Fall akzeptieren. Ich bin stolz darauf, diese Dienstbotensprache nicht zu sprechen, erklärte damals ein deutschnationaler Abgeordneter. Das sei wohl das Allerdümmste, erklärt uns mein Vater. Wenn man schon auf etwas stolz sein müsste, dann auf etwas, das man könne, und keinesfalls auf etwas, das man nicht könne.

Er selbst, ebenfalls aus dem deutschsprachigen Westböhmen stammend, hat erst als junger Erwachsener Tschechisch gelernt, als die Tschechoslowakei unabhängig wurde und er sich plötzlich nicht mehr als Österreicher, sondern als Tschechoslowake wiederfand. »Wer wird uns denn jetzten regiern«, sang man damals, »ja, der Tschechoslowak, mit Zylinder und Frack, und der Böhm, der sagt to je tak«. Papi spricht korrekt, aber nicht wirklich gut tschechisch. Meine Mutter, in Südböhmen aufgewachsen, spricht es fließend. Wir Kinder schnappen die Sprache von unseren Hausangestellten auf und von den sogenannten Meierhofkindern, mit denen wir im Sommer auf dem Land, bei unseren Großeltern, zusammenkommen. Unser Tschechisch ist ein »Kuchltschechisch«, fast akzentfrei und flüssig gesprochen, aber auf eher bescheidenem Niveau. Die Buben kultivieren mit Genuss einen breiten Prager Vorstadtslang. Dann sagt die Großmama mit sanftem Tadel: »Kinder, nicht im Salon.«

Außer unseren Hausmädchen kennen wir praktisch keine Tschechen näher. Da sind nur die Leute in den Geschäften, die Kondukteure in der Elektrischen, unsere Nachbarn, mit denen wir »auf Grüßfuß« stehen. Aber Bekannte der Eltern, die in unserem Haus aus und ein gehen? Niemand fällt mir ein. Mein Vater hat einen gewissen Zugang zur Welt der Tschechen, er hat am Orientalischen Institut der deutschen Universität einen Lehrauftrag für japanische Sprache und Kultur und kennt ein paar tschechische Fachkollegen. Das sind Gelehrte, die er mag und schätzt, aber einander wechselseitig zu Hause besuchen – nein. Man trifft sich an drittem Ort, bei akademischen Veranstaltungen. Die jeweiligen Ehefrauen kennen einander nicht. Und die jeweiligen Kinder schon gar nicht. Von der blühenden tschechischen Kultur jener Jahre – in der Literatur, im Theater, in der Publizistik – bekommen wir denn auch wenig mit. Die Eltern gehen manchmal ins tschechische »Freie Theater«, um den hervorragenden Schauspieler Vlasta Burian zu sehen. Oder ins Nationaltheater, vor allem wenn Bedřich Smetanas »Verkaufte Braut« gegeben wird. Aber im Grunde gehören wir nicht dazu.

Die Tschechen, das sind für uns die »kleinen Leute«. Etwas unwiderstehlich Komisches haftet ihnen an. Man muss immer lachen über sie. Der derbe Witz ihrer Sprache ist eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens. Eigentlich alles, was man auf Tschechisch erzählt, ist komisch, schon dadurch allein wird eine Geschichte witzig. Etwas Erhabenes oder gar Pathetisches auf Tschechisch zu sagen ist praktisch unmöglich, und wenn es jemand versucht, ist es erst recht lächerlich.

Noch Jahrzehnte später, als ich auf einer Prager Bühne ein Shakespearestück auf Tschechisch sehe, muss ich eine gewisse Lachlust unterdrücken und mich fragen: Warum kommt es dir eigentlich komisch vor, wenn Hamlet tschechisch spricht und nicht englisch oder deutsch? Etwas von der alten österreichischen Herablassung gegenüber dem »Dienstbotenvolk« liegt in dieser Haltung, die die Deutschböhmen und Österreicher auch noch Generationen nach dem Zerfall der k.u.k. Monarchie verinnerlicht haben. Noch heute ist das Böhmakeln auf jeder Wiener Theaterbühne ein garantierter Lacherfolg. Andererseits ist der tschechische – wir sagen böhmische – Humor tatsächlich, wie der englische, etwas Besonderes: plebejisch und direkt, respektlos, immun gegen Prätentionen und vornehmes Getue. Und haarscharf treffend. Er ist die Waffe eines unterdrückten Volkes, in Jahrhunderten herausgebildet, gegen seine fremden Herren.

Die tschechische Prager Gesellschaft bleibt uns verschlossen, nicht aber die Stadt Prag. Mein Vater liebt die Stadt und kennt sie gut, und für mich ist sie von frühester Kindheit an etwas Wunderbares, Verzaubertes, ein Ort der tausend Geheimnisse und das Schönste, das ich kenne und das ich mir überhaupt vorstellen kann. Wir kommen als Kinder von unserer Bud’ánka aus nicht oft in die Innenstadt, aber wenn, dann ist das jedes Mal ein Fest. Unser Vater weiß zu jeder Straße, zu jedem Palais, zu jeder Kirche eine Geschichte. Ich nehme mir schon als kleines Mädchen fest vor: Wenn ich groß bin, will ich das auch wissen. Ich will jedes Haus und jeden Winkel kennen und jedes Geheimnis, das sich darin verbirgt. Ich will Prag »lernen«, bis ich es so »kann« wie jemand, der hier so heimisch ist wie unsere Schildkröte in unserem Garten.

Und ich bin süchtig nach den vielen Prager Sagen und Legenden, die sich um praktisch jeden Ort in der Stadt ranken. Von den Goldmachern, die im Goldmachergässchen auf dem Hradschin im Auftrag des Kaisers Rudolf II. unermüdlich versuchen, Gold herzustellen. Vom Ritter Dalibor, der in der Daliborka, dem Hradschinturm, schmachtet und sich nach seiner Liebsten sehnt. Vom guten Pferd Šemík, das vom hohen Vyšehrad-Felsen in die Moldau springt und seinen Reiter, einen gefangenen Ritter, so vor dem Tode rettet.

Die meisten Bekannten unserer Eltern wohnen auf der Kleinseite, dem alten Stadtteil am linken Moldauufer. Hier wimmelt es von barocken Palais, die in jenen Jahren vielfach noch von den ursprünglichen Adelsfamilien bewohnt werden, die sie erbaut hatten. Das größte und prächtigste von ihnen ist das Palais Waldstein, einst Wohnsitz des großen Wallenstein. Jetzt gehört es dessen Nachfahren Onkel Kari Waldstein, einem der besten Freunde der Eltern. Die Waldsteins haben sechs Kinder in unserem Alter, und wir dürfen gelegentlich gemeinsam mit ihnen im herrlichen Waldsteingarten spielen. Irgendwo im Palais wohnt auch noch die uralte Tante Marinka Waldstein, die, als 1939 die Deutschen einmarschieren, lakonisch erklärt: 1866 sind sie von der anderen Seite gekommen.

Ein anderes Kleinseitner Ziel unserer Kinderzeit ist die Thomaskirche, ein schöner gotischer Bau unweit der Karlsbrücke. Hier ist P. Paulus Sladek der Pfarrer, ein Augustiner Chorherr, berühmter Prediger und Mentor der Prager deutschen Katholiken. Normalerweise gehen wir sonntags in unserem Bezirk Smíchov in die dortige Kirche, ein Jugendstilgebäude, das ich nicht mag und wo tschechisch gepredigt wird. Ich verstehe davon kaum die Hälfte. Die Predigt dauert endlos, und immer kommt darin »ein französischer Schriftsteller« vor, der entweder durch seine Gottlosigkeit oder, im Gegenteil, durch seine Bekehrung bemerkenswert ist. Wir jammern die Eltern an, ob wir nicht erst nach der Predigt kommen könnten, um dann streng zurechtgewiesen zu werden: Macht’s keine Gschichten, denkt’s daran, was die Märtyrer alles haben aushalten müssen. Das ist auch wieder wahr. Aber in der Thomaskirche wird deutsch gepredigt, und nachher trifft man Bekannte und »macht ein Standl«, das heißt, man steht noch ein wenig auf der Straße und plaudert.

Die Kleinseite war im 19. Jahrhundert stark deutsch dominiert, an den Häusern sieht man noch heute viele deutsche Aufschriften. Es gibt viel Barock, viele Klöster und Kirchen, die größte ist die Niklaskirche auf dem Kleinseitner Ring. Ich fürchte mich darin ein wenig, denn im großmächtigen Kirchenschiff stehen einige riesige Statuen der Kirchenväter, von denen einer gerade einen kleinen Teufel aufspießt. Der Teufel repräsentiert das Laster, erfahre ich, aber irgendwie fühlt man sich auch selber betroffen. Die drohenden und durchaus nicht väterlichen Kirchenväter sollten einst wohl auch die unbotmäßigen Protestanten im Lande einschüchtern. Die Kleinseite ist »unsere« Seite, aber auch die Tschechen lieben sie von jeher als eine Art romantische Enklave in ihrer Stadt. Künstler zogen gern dorthin, und der Autor Jan Neruda hat hier seine berühmten »Kleinseitner Geschichten« angesiedelt.

Der idyllischste Teil der Kleinseite ist die Kampa, ein Inselchen in der Moldau, deren Nordspitze halb unter der Karlsbrücke gelegen ist. Eine alte Mühle steht dort, samt riesigem hölzernem Mühlrad. Auf der Kampa gibt es einmal in der Woche den Töpfermarkt, auf dem allerhand tönernes Geschirr feilgeboten wird, Krüge, Schalen, Töpfe. Und das Beste: auch winziges tönernes Puppengeschirr. Ich habe ein paar Kampa-Töpfchen zu Hause in meinem Kinderzimmer, kostbare Schätze.

Mich hat das Kleinseitner Barock fürs Leben geprägt. Nicht die Malerei, aber die Architektur des Barock ist mein Stil. Die Tschechen hingegen haben darin immer die Kunst der Gegenreformation, der Habsburger, der Fremdherrschaft gesehen. Ihre Liebe gehört der Gotik, dem Historismus und der klassischen Moderne, kurz, der eigenen Kunsttradition. Für mich aber war und ist das Barock das Schönste, auf der Kleinseite vor allem die Heiligenfiguren auf den Dächern, die aussehen, als ob sie sofort abheben und wegfliegen wollten.

Jenseits der Moldau liegt im Süden die Neustadt und im Norden die Altstadt – wieder eine andere Welt und Ursprung von tausend Geschichten und Geheimnissen, von denen ich nicht genug bekommen kann. Die Sternenuhr auf dem Altstädter Rathaus mit dem Totengerippe, das zur vollen Stunde das Totenglöckchen läutet. Der Altstädter Ring, wo die protestantischen böhmischen Herren geköpft wurden, unter ihnen als einziger Katholik ein Graf Czernin, dessen Nachfahren wir gut kennen, während ein anderer Czernin auf der Richtertribüne saß und diskret seinen Platz verließ, als sein Cousin an die Reihe kam. Die Teynkirche, in der irgendwo die Köpfe der Rebellen bestattet sind, niemand weiß, wo. Die Judenstadt, wo der Golem umging. Ein bisschen unheimlich ist das alles, sehr anders und sehr faszinierend.

Wir kommen nicht oft in die Altstadt. Niemand, den wir kennen, wohnt dort. Aber einmal nimmt mich eine Schulkollegin dorthin mit, das Engele. Das Engele ist ein kleines, rothaariges Mädchen namens Gertrude Engel. Sie hat Polypen, sie spricht mit seltsam näselnder Stimme und sieht, hexenhaft blass, mager und sommersprossig, selbst ein wenig aus wie eine Gestalt aus einem der Altstädter Sagenbücher. Ihre Eltern haben einen Kellerladen am Altstädter Ring, den will sie mir zeigen. Man muss ein paar Stufen hinuntersteigen, um das Geschäft zu betreten. Es ist kühl und dämmerig. Blumen und Pflanzen werden hier verkauft, vor allem aber Kakteen. Da stehen sie in langen Reihen, große und kleine, stachelige und flaumige, gurkenförmige und kugelförmige. Ich mag keine Kakteen. Wie lauter abgeschnittene Köpfe, muss ich plötzlich denken, in Anlehnung an die geköpften Herren vom Prager Blutgericht. Mir wird mulmig zumute. Panik erfasst mich. Hastig verabschiede ich mich vom verblüfften und enttäuschten Engele und renne hinaus, froh, wieder draußen zu stehen auf dem sonnigen Platz. Nichts wie nach Hause. Und natürlich verirre ich mich auf dem Heimweg auch noch in dem Labyrinth von winkligen Gassen und Gässchen des Viertels.

Die Neustadt mit dem Wenzelsplatz ist wieder ein anderes Kapitel. Hier ist das deutsche Gymnasium, wo die Buben hingehen. Hier sind die großen Kinos, die sie leidenschaftlich gern besuchen. Einmal darf auch ich mitgehen und Walt Disneys »Schneewittchen« sehen, in tschechischer Sprache. Der kleinste Zwerg heißt tschechisch Šmudla, so nennen wir, was er gar nicht mag, gelegentlich meinen jüngsten Bruder Michi. Auf dem Wenzelsplatz gibt es auch das Automatenbuffet Koruna, wo man um fünfzig Heller ein wunderbares Sandwich kaufen kann. Eine Vitrine dreht sich und gibt das belegte Brötchen preis. Ein Wunderwerk der Moderne. Die Buben wissen einen bestimmten Trick, der bewirkt, dass die Maschine gleich zwei Brötchen ausspuckt. Auf der Národní třída, der vornehmsten Einkaufsstraße, sind auch die Escompte Bank und die deutsche Buchhandlung André. Dort macht meine Mutter Besorgungen, »Kommissionen«, wie sie das nennt, und manchmal begleite ich sie dabei.

Prag richtig kennenzulernen und durch dessen Straßen zu strabanzen ist der Traum meiner Kindheit. Erst im letzten Jahr vor unserer Vertreibung wird er wahr. Ich bin schon im Gymnasium, dem Fräulein entwachsen. Nach der Schule oder auch am Nachmittag streife ich durch meine Lieblingsgegenden, mit einer Freundin oder, noch lieber, allein. Durch den Seminargarten hinauf zum Strahover Kloster. Der Flieder blüht dort in üppigen Dolden, sein Duft begleitet einen den ganzen Weg. Auf den Laurenziberg. Über die große Stiege zum Hradschin. Nahe dem Kleinseitner Ring gibt es eine kleine Kunsthandlung, dort kaufe ich von meinem Taschengeld eine Fotoreproduktion des Bamberger Reiters und eine von der Skulptur des Engels auf dem Naumburger Dom. Diese gotische Jünglingsfigur ist ein Lieblingsmotiv der Nazis, Inbegriff germanischer Schönheit. Aber auch mir gefällt dieser ernste junge Mann. Ich lasse das Foto rahmen und hänge es über mein Bett.

Es ist eine Art Erwachen, das ich als Zwölfjährige in jenem Frühjahr erlebe, ein Gewahrwerden der Schönheit der Welt, der Möglichkeiten, die sie bietet, der Verheißungen des Erwachsenwerdens. Ist es eine Vorahnung dessen, was kommen wird? Ich stehe auf der Smíchover Brücke und schaue hinüber auf das berühmte Panorama mit dem Hradschin. Es ist ein Schlüsselmoment, der sich mir einprägt. Schau dir das gut an. Vergiss es nicht. So etwas Schönes, sage ich mir ganz bewusst, wirst du nie, nie, nie mehr sehen.

Wenig später verlassen wir Prag, und es wird Jahre dauern, bis ich wieder an dieser Stelle stehe.

Ein Schloss in Böhmen

Den Sommer und alle Ferien verbringen wir bei unseren Großeltern auf dem Lande, in Breznitz. Jakob und auch Michi sind die Breznitzer, die das Landleben lieben. Hans Heinrich und ich sind die Prager, die überzeugten Stadtbewohner. Trotzdem ist Breznitz selbstverständlicher Teil unseres Lebens, vor allem für Michi und mich, die Kleinen. Samt Fräulein werden wir dort deponiert, wenn die Eltern anderswohin fahren. Meistens holt Herr Vošahlík, der Chauffeur meines Großvaters, uns mit dem Auto ab. Wenn sich unser Ziel nähert, lauern wir gespannt auf die wohlbekannte Kurve, an der der Turm des Breznitzer Schlosses zum ersten Mal sichtbar wird. Dann muss man rufen: »Der Turm, der Turm, ich seh den Turm.« Wer zuerst schreit, hat gewonnen.

Schloss und Herrschaft Breznitz gehören den Pálffys, der Familie meiner Mutter. Diese stammt aus Westungarn, der heutigen Slowakei. Die Pálffys waren vor allem Haudegen und Türkenbekämpfer, in der Schlacht von Mohács 1526, höre ich, sind 21 Mitglieder der Familie gefallen. Es blieben aber immer noch genug übrig. Sie waren, anders als andere ungarische Magnaten, traditionell habsburgtreu. Als die spätere Kaiserin Maria Theresia mit dem kleinen Joseph auf dem Arm nach Pressburg kam, um die Hilfe der Magyaren gegen die Preußen zu erbitten, war es der damalige Palatin Pálffy, der ausrief: »Vivat unser König Maria Theresia«, und seine Standesgenossen damit mitriss. Das Bild von diesem Ereignis ist in meinem Geschichtsbuch zu sehen, und es gefällt mir sehr.

Die Pálffys sind keine angestammten Böhmen, erst vor drei Generationen hat sich ein Pálffy in Südböhmen angesiedelt. Mein Großvater wird denn auch von seinen österreichischen Verwandten Onkel Hans genannt, von den ungarischen Onkel Janos und von den böhmischen Onkel Honza. Manchmal auch »Honza blázen«, Honza, der Narr, denn er war in jüngeren Jahren ein tollkühner Reiter, der kein Risiko scheute und drauflos fetzte wie ein Verrückter.

Auf dem Schreibtisch meiner Großmutter steht als Briefbeschwerer ein gebrochener Steigbügel. Darauf ist eingraviert: »Dieser Bügel brach entzwei, / das war Hans Pálffy einerlei, / er ist als erster doch gekommen / und hat die Steeplechase gewonnen.« Den holprigen Vers haben Großpapas Freunde gedichtet und das Erinnerungsstück der Großmama, damals eine junge Braut, überreicht. Bei der Steeplechase handelte es sich übrigens um nichts Geringeres als die »Große Pardubitzer«, das schwerste Hindernisrennen in der ganzen österreichisch-ungarischen Monarchie. Das gefürchtetste Hindernis war der sogenannte Taxisgraben, eine Hecke plus Wassergraben, die es zu überspringen galt. Viele Pferde und Reiter hatten sich hier schon die Knochen gebrochen.

Aber das ist lange her. Zu unserer Zeit gibt es den Rennstall Pálffy nicht mehr. Nur eine Kollektion von Siegespreisen in Großpapas Arbeitszimmer, Schreibzimmer genannt, erinnert an ihn. Ich stehe manchmal davor und bewundere sie: silberne Pferdefiguren, Pokale, Tabletts. Dieses Schreibzimmer ist Großpapas Sanctissimum, das Kinder allein nicht betreten dürfen. Mir gefällt es am besten von allen Zimmern im Haus. Es gibt hier tiefe Wildlederfauteuils, hinter dem Schreibtisch auf einer Staffelei ein schönes Porträt von der Großmama als junger Frau, mit hochgetürmter Jahrhundertwende-Frisur, und an den Wänden jede Menge Jagdtrophäen aus Afrika. Am eindrucksvollsten ist der schwarze Riesenkopf eines Büffels mit furchterregenden Hörnern. Das Beste am Schreibzimmer aber ist sein Duft. Es riecht nach Zigarren und Leder, ein angenehmer, maskuliner Duft, den ich später so nirgendwo mehr angetroffen habe und den ich jederzeit wiedererkennen würde.

Schloss Breznitz: ehemaliger Wohnsitz der Großeltern Pálffy, 1987

Das Breznitzer Schloss ist ein schöner Renaissancebau mit einem Arkadenhof in der Mitte. Es hat im Lauf der Jahrhunderte viele Eigentümer gehabt. Der Berühmteste war der Blutrichter von Prag, der für seine Verurteilung der protestantischen böhmischen Rebellen im Jahre 1621 mit der Breznitzer Herrschaft belohnt wurde. Irgendwo im Hause hängt ein Porträt von ihm: ein finsterer Geselle. Sein Vorgänger als Schlossherr, Georg von Loksan, war ein Verwandter der Philippine Welser, der morganatischen Gemahlin des »Tiroler« Habsburgers Ferdinand, des jüngeren Sohnes des Kaisers Ferdinand I. In der Breznitzer Schlosskapelle hatten die beiden heimlich geheiratet. Es wurde eine der glücklichsten Ehen in der Geschichte der Habsburger. Und glücklich war offensichtlich auch die Ehe der Loksans. An das Ehepaar erinnert eine Steintafel mit der Inschrift: »viator quid spectas? georgi loksani et caterinae aquilae sacrosanctum matrimonium vides. abi et vale.« Der Spruch gefällt meinem Vater, auch er ein ausnehmend glücklicher Ehemann, besonders gut. Er übersetzt ihn uns so: Was gibt’s da zu gaffen? Du siehst die heilige Ehe des Georg Loksan und der Caterina Aquila. Hau ab und adieu.

Großpapa Pálffy hat wenig übrig für alte lateinische Gedenktafeln. Er ist kein Intellektueller, aber er hat Charme. Ein mittelgroßer, drahtiger Mann mit einem entwaffnenden lauten Lachen. Die Frauen mögen ihn. Die Leute, die für ihn arbeiten, haben ihn auch ganz gern. Unter einer rauen Schale hat er ein weiches Herz. Wenn man wirklich etwas braucht, heißt es, kann man immer zu ihm kommen. Aber er ist ein berüchtigter Zornbinkel. Sein Jähzorn ist legendär, noch Jahre nach seiner Vertreibung erzählen die Breznitzer davon. Wenn er im Park einen unbefugten Eindringling entdeckt, flucht er aufs Schaurigste. Manchmal zieht er einen Stiefel aus und schleudert ihn gegen den Sünder. Sein Hund muss das Wurfgeschoss dann wieder zurückbringen. Auch ich fürchte Großpapas Zorn. Er will mir das Reiten beibringen und brüllt mich gleich beim ersten Mal an: Rücken grade, Fußspitzen zum Pferd, Himmelherrgott. Ich erschrecke so, dass ich nie wieder auf ein Pferd steigen will.

Großpapas große Passion ist die Jagd. Er schießt Hasen und Fasanen, Hirsch und Reh, er hat, der Gämsen wegen, ein Hochwildrevier im Salzburgischen und hatte früher ein weiteres in Ungarn, wo die kapitalen Hirsche zu Hause sind. Früher, vor dem Ersten Weltkrieg, machte er mehrmals Jagdexpeditionen nach Afrika. Dort sei es am allerschönsten, erzählt er gern. Viele Trophäen erinnern an Jagdfahrten dorthin und auch in andere ferne Gegenden. Auf der Tierstiege reckt eine ausgestopfte Giraffe ihren langen Hals über die Stufen, ein Gnu erhebt seine Hörner, und im Speiszimmer liegt ein Löwenfell samt Kopf. Und überall Geweihe und Rehkrickeln, sie bedecken die Wände der vielen Gänge und Stiegenhäuser, dicht an dicht, soweit das Auge reicht. Jedes trägt eine Aufschrift, fein säuberlich ist das Datum eingetragen und das Revier, wo das Wild erlegt wurde. Ob die Sachen je jemand abstaubt?

Die Jagdsaisonen bestimmen Großpapas Kalender. Während der Hirschbrunft ist er für niemanden zu sprechen, die Termine für die Hochzeiten seiner Kinder wurden sorgfältig ausgewählt, damit sie sich nur ja nicht mit irgendwelchen Jagdterminen überschneiden. Dass sein einziger Sohn einmal lieber in ein Konzert nach Prag fuhr, als an einer Jagd teilzunehmen, fand er völlig unverständlich und eigentlich unmöglich.

Mein Vater, kein Jäger, schüttelt den Kopf über die Jagdleidenschaft seines Schwiegervaters. Dieser ist nicht der einzige unter seinen Standesgenossen, dem die Jägerei über alles geht. Man lädt seine Freunde zu Jagden ein und wird von diesen eingeladen. Das Thema ist unerschöpflich. Das komme davon, sagt Papi, dass der Adel spätestens seit dem Ende der Monarchie seine Funktion verloren hat. Die Leute hätten keine Aufgabe mehr, keinen festen Platz in der Gesellschaft, kein Ziel. Da liege viel Potential brach. Viele unter den böhmischen Herren hätten durchaus Begabung, Energie, Einsatzbereitschaft – aber niemand brauche sie. Da werde eben die Jagd zur Ersatzbefriedigung, die kompensieren müsse, was früher in anderen Tätigkeiten seinen Ausdruck fand, in Politik, Militär, Diplomatie. Das mit dem ungenützten Potential gilt übrigens auch für Papi selber, freilich ohne die jagdliche Ersatzbefriedigung.

Mein Bruder Jakob ist auch jagdbegeistert, was Großpapa mit Wohlwollen zur Kenntnis nimmt. Jakob hat die Generalerlaubnis, sich, wenn er in Breznitz ist, aus dem Gewehrschrank die »dvojka« zu nehmen, die doppelläufige Schrotflinte, und damit frühmorgens vor dem Frühstück auf Kaninchenjagd zu gehen. Sein großer Moment kommt, als er als Fünfzehnjähriger seinen ersten Rehbock schießen darf. Es ist auf dem sogenannten Grangler, Großpapas Revier im Lungau, und Jakob darf mit dem Jäger Peter auf die Pirsch gehen. Er erzählt uns später mit leuchtenden Augen, wie das war. Frühmorgens auf dem Berg, ein kapitaler Bock tritt aus dem Wald, Jäger Peter sagt: Schieß – und Jakob trifft perfekt. Blattschuss. Seligkeit. Eine Woche später, Jakob ist zurück in Prag, wird er als Luftwaffenhelfer eingezogen und nach Jugoslawien geschickt. Er wird einer Flakbatterie zugeteilt und schießt jetzt auf amerikanische Flugzeuge. Ende einer Kindheit.

Großeltern mütterlicherseits: Hans und Edeltraud Pálffy

Ich, das Stadtkind, habe nichts übrig für Jagd und Jäger. Ich erinnere mich an eine schreckliche Szene im Breznitzer Speiszimmer. Wir sitzen beim Essen, es ist von Jagd die Rede. Großpapa will wissen, wie in der Jägersprache die Augen und Ohren des Wildes heißen. Ich weiß es natürlich ganz genau: Lichter und Lauscher. Aber ich schweige trotzig. Nichts kann mich dazu bewegen, etwas so Albernes und Unnatürliches über die Lippen zu bringen wie Lichter und Lauscher. Großpapa wird zornig. Ich schweige weiter. Und ich denke mir: Lieber sterben, als Lichter und Lauscher sagen. Wirklich lieber sterben? Ja, lieber sterben. Ich bin mir ganz sicher. Plötzlich ist es eine Frage der Ehre geworden. Jetzt nachgeben hieße, mir selber untreu werden. Ich wäre nicht mehr ich, ich wäre übergelaufen zu den andern. Und das will ich nicht. Nie nie nie. Es endet damit, dass ich aus dem Zimmer geschickt werde, ohne Nachspeise. Das Ganze ist furchtbar, aber ich bin trotzdem froh.